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VON DEM BEWUSSTSEIN DER KULTURÜBERTRAGUNG

FESTREDE

ZUR FEIER DES STIFTUNGSTAGES

DER HOCHSCHULE ZÜRICH

AM 29. APRIL 1864
GEHALTEN
VON DEM ZEITIGEN RECTOR
Dr. MAX BÜDINGER
ORD. OEFF. PROFESSOR DER ALLGEMEINEN GESCHICHTE
ZÜRICH
SCHABELITZ'SCHE BUCHHANDLUNG
(CAESAR SCHMIDT)

VON DEM BEWUSSTSEIN DER KULTURÜBERTRAGUNG

Hochgeachtete und verehrte Herren!

Nicht unwürdig des heutigen Festes und dieser Versammlung dünkt es mich, die herkömmlich übliche wissenschaftliche Betrachtung von Neuem an das Ereignis selbst anzuschliessen, das wir feiern. Denn die Stiftung unserer Hochschule vor nunmehr ein und dreissig Jahren erscheint schon an sich als ein Akt ungleich allen ähnlichen, die ihm vorangiengen und bedeutend genug für solchen Zweck. Zum ersten :Male ist es hier geschehen, dass die Bürger eines Freistaates bei der Gründung einer neuen Stätte der Wissenschaft zugleich weder irgend einer andern geistlichen oder weltlichen Gewalt das Recht einer Gutheissung zugestehen, noch auch die von der Vorzeit überlieferten Formen akademischer Organisation in irgend welcher wesentlichen Eigenthümlichkeit ausser Acht lassen wollten.

Und so bewegt sich das Leben unserer Universität noch heute nach jenen äusseren Scheidungen und Ordnungen, wie sie vor mehr als sechs Jahrhunderten sich gebildet haben unter der Herrschaft eng umschriebener und drückender Autoritäten — in Zeiten, da die freie Selbstbestimmung des Bürgers, wie wir sie fassen, so gut wie unbekannt war. Aber ein ganz anderer Inhalt freiester Aufnahme und Ausspendung der Wissenschaft als jenen grossen, auch für Deutschland und die Schweiz formgebenden Instituten von Frankreich und Italien war doch gleich von Anfang der zürcherischen Hochschule verliehen. An die Losung anknüpfend, die seit der Wiedererweckung der Antike den Kulturnationen ertheilt ist, hat desshalb gleich bei der ersten Stiftungsfeier der höchste Magistrat dieses Freistaates das stolze Wort sprechen dürfen: "Kein gebildetes Volk, das von unserm Unternehmen Kunde erhält, wird uns die Theilnahme versagen, die ächter Humanität gebührt".

In uns aber mag sich die Frage erheben, wie bei so verändertem Inhalte die alten Lebensformen sich rechtfertigen. Nicht die Nachahmung zahlreicher ähnlicher Anstalten in den Ländern deutscher Zunge allein ist es, welche bei der Stiftung der unsrigen leitete, obwohl damals dieser Gesichtspunkt in erste Linie gerückt worden ist; vor Allem herrschte und herrscht doch das Gefühl, dass die öffentliche Meinung in jenen Landen, absehend von allen Privatansichten, dermalen nur eine im Wesentlichen so und nicht anders eingerichtete hohe Schule als Universität betrachten werde. Hier treffen in der That die verschiedensten Auffassungen des akademischen Berufes zusammen: von der niedrigsten, die ihn ausschliesslich auf beschränkte und vergängliche Thätigkeiten nach dem Rufe des Tagesbedürfnisses gerichtet wähnt, bis zu der höchsten, die ihn zu einem wirksamen Gliede in der Kette freier Geistesentwickelungen vorgebildet sieht: sie alle kommen darin überein, dass man diese von abstractem Denken kaum zu rechtfertigenden Formen doch noch festhalten müsse.

Sucht man zu dem Grunde dieser Anschauung durchzudringen, so wird es wenig fördern, ihn in schwachen Seiten der Menschennatur überhaupt zu erkennen oder in solchen, die bei den jedesmaligen Zeitgenossen zum Tadel einladen. Immer wird man auch hier zunächst auf die Anerkennung zurückkommen, die jedes folgende Geschlecht, wie sehr es auch seine eigenen Anschauungen zur Geltung zu bringen sucht, auf den Gebieten der Sitte dem vorhergehenden zollt. Sofort stellt sich aber bei schärferer Prüfung noch ein tiefer liegendes Moment dar: es lässt sich als das Gefühl der Abhängigkeit bezeichnen, welche in der grossen Reihe der Kulturarbeiten die folgenden Theilnehmer den frühern gegenüber empfinden. Eben in den Uebertragungsformen wissenschaftlicher Forschung und Uebung stellt sich jenes Gefühl mit einer überraschenden Pietät dar — einer Pietät, die unabhängig von der Willkür des Einzelnen das Walten noch tieferer und allgemeinerer Normen voraussetzt.

Gestatten Sie mir, in dem weitesten Gebiete menschlicher Entwickelung diesen Normen nachzugehn. Indem ich solchen Versuch wage, verzichte ich darauf, Schleier völlig zu heben,

die bis jetzt so gut wie unberührt geblieben sind; aber ich hoffe doch auch nicht hinauszuschreiten über das, was heute menschlicher Einsicht gegönnt ist, wenn ich aus einer Reihe von Kundgebungen mindestens einen Theil des Gesetzes zu enthüllen suche, nach welchem im Völkerbewusstsein die Uebertragungen der Kultur sich überhaupt vollziehen.

Nicht auf das dunkle Gebiet der Uebertragung stofflicher Ergebnisse von ältern Völkern zu neu eintretenden gedenke ich mich zu verirren: zu viel Halbwahres und völlig Unerweisliches ist hier als Vermuthung aufgestellt, als Dogma behauptet, als Irrthum widerlegt worden, als dass meine Neigung dahin gehen könnte, ausgetretene Pfade, die in die Leere führen, noch einmal zu beschreiten. Nur so viel wird sich sagen lassen, dass in der grossen und festgeschlossenen Kette der Kulturvölker, wie sie vom Orient beginnend zu den Griechen, Römern, Germanen sich hinzieht, eben die für uns nächstliegenden Gaben, mit denen die Kulturergebnisse sich am sichtbarsten übertragen haben, wie Schrift und Kunst und Glaube, keineswegs von den neuen Empfängern als Güter betrachtet worden sind, für die sie den alten Vorgängern zu besonderm Danke verpflichtet seien; eher sind die Verdienste derselben noch früheren Zeiten zugeschrieben worden, als dass man sie den missachteten letzten Kulturträgern zugewiesen hätte. Wie hätten auch die siegreichen Völker, noch frisch in der stolzen Freude des Gelingens, des sichern Vorschreitens aus eigener Kraft, den Uebertroffenen, Ermattenden — wie hätten Griechen den Orientalen, Römer den Griechen, Germanen den Römern Dank wissen mögen für die Hervorbringung der kostbaren Güter, die zunächst von den Neueintretenden, oft gerade in den glänzendsten Repräsentationen, missachtet, mit Füssen getreten wurden. Nur vereinzelt begegnen in den neuen Völkern Stimmen billigender Anerkennung: der eine und andere hervorragende Kriegs- oder Staatsmann hat sich zu einer solchen herbeigelassen, keiner ohne herben Tadel zu finden. Auf einer Linie stehen hierin der Spartanische Sieger von Plataiai, der in Byzanz in persischer Tracht gesehen wurde, der römische Sieger über den Hellenistenkönig

Syriens, der sich in griechischem Kleide selbst bildlich darstellen liess, und der gothische Miterstürmer Roms, der seine Vermählung in römischem Gewande feierte. Von den Massen der in strahlender Herrlichkeit neu als Kulturträger sich erhebenden Völker ist vielmehr zu constatieren, dass sie von der Eigenart wie von den Verdiensten ihrer Vorgänger sich mit schroffem Widerwillen und niedertretendem Hohne abgewendet haben. Selbst das Christenthum, mit welchem das Römerreich die letzten Ergebnisse seiner Wirksamkeit den Germanen überlieferte, hat die Empfindungen des nachfolgenden Siegers gegen den unterlegenen Vorgänger nicht wesentlich zu ändern vermocht: nachweislich bis in das zwölfte Jahrhundert fiel im baierischen Gebirgslande der Name des Römers mit dem des Minderberechtigten zusammen.

Nicht immer freilich hat das ungerechte Siegergefühl der Empfindung der Nachfolgerschaft in dem grossen Amte fortzusetzender Geistesarbeiten Abbruch thun können; wie sich denn kaum eine bessere Antwort finden lässt auf die Klage jenes edlen Germanenvolkes über die Entnervung seines jungen Königs durch römische Studien, als dass das Bedürfnis griechischer endlich doch von dem alten Griechenfeinde Cato anerkannt worden ist. Aber wie gesagt: in diesem Auf- und Abfluthen gleichsam persönlicher Stimmungen, in diesem selbstbewussten Sichabwenden und unvermeidlichen Zuwenden gegenüber den Leistungen der früheren Kulturträger ist vorläufig ein Masstab fester Ordnung noch nicht nachzuweisen.

Sollte sich nun nicht etwa für die Summe des Ereignisses selbst ein solcher finden? Sollte es in der That dem neuen Kulturvolke so ganz an dem hellen Bewusstsein von seinem Verhältnisse zu dem ältern gebrechen? Und sollte, wenn es nicht daran gebricht, für dies Bewusstsein ein klarer Ausdruck fehlen? In der That liegt ein solcher vor, wesentlich gleich, soweit Menschengeschichte in sicherer Folge sich dem Auge bietet, meist unwillig von den Zeitgenossen, mit Spott von späteren Geschlechtern aufgenommen, folgenden Jahrhunderten ein Räthsel. Wir gehen auch hier von einer allgemeineren Beobachtung aus.

Jedermann weiss von den langen erbitterten, endlich siegreichen Kämpfen der Hellenen wider das Perser-, der Germanen wider das Römerreich; jeder hat von den Tagen gehört, da die goldenen Häuser der Grosskönige von makedonischen, das goldene Haus der Imperatoren von vandalischen Schaaren betreten wurden. Aber bis es dahin kam und nachdem es selbst soweit gekommen war, hat es doch Beziehungen zwischen jenen Völkern gegeben, die einen ganz anderen Charakter zeigen. In vollem Gegensatze zu jenen Kriegsscenen denkt man etwa an die freundliche Berührung phönikischen Kunstfleisses im homerischen Zeitalter, an den herzlichen Verkehr eines freien deutschen Stammes in der glänzenden Hauptstadt der benachbarten römischen Provinz. Man gedenkt auch der vielen Tausende Griechen und Germanen, die hier in orientalischem, dort in römischem Kriegsdienste, ohne Tadel in der Heimat zu erfahren, Gold und Ehren gewannen. Welche Ruhmeskränze haben doch griechische Schaaren in persischem Solde erworben! Wie stolz gedenkt der feurige Tyrannenfeind Alkaios der schönen Waffe, die sich sein Bruder im Dienste des Babylonierkönigs als Preis errungen! Mit nicht geringerem Selbstgefühle weist der Bruder des Arminius, unberührt von dessen Freiheitskampf und unzugänglich für seine Ideen, auf die prächtigen Zeugnisse des Kriegsmuthes, den er für die Zwecke des Imperators bewiesen. Sein Sohn, in römischem Bürgerrechte und römischer Sitte erwachsen, stolz auf des Vaters Treue im römischen Dienste, ist doch von seinen germanischen Stammgenossen als König berufen worden. Und in dieselbe Reihe von Beobachtungen gehört der ähnliche, wenn gleich bei Weitem minder schroffe Gegensatz in den römisch-griechischen Beziehungen. Jedem sind neben den Scenen des Verderbens, das die Römer über so manche Stätte altgriechischer Kultur gebracht haben, doch auch die zahllosen Zeugnisse freudiger Anlehnung, innigen Verschmelzens mit griechischer Sitte erinnerlich: ohne Tadel haben Römer in einer noch sehr altväterischen Epoche griechische Namen wie einen Schmuck sich beigelegt. Ueberall aber, wie gesagt, hat die durch die Erscheinungen von Kampf und Unterdrückung brechende Anerkennung noch einen unzweideutigeren, einen geradezu rechtlichen Ausdruck erhalten.

Ich enthalte mich, auf die Andeutungen desselben einzugehen, welche für die Kulturübergänge von den Egyptern zu den Semiten, von diesen zu den Ariern vorliegen mögen: ich muss es einer kundigeren Hand überlassen, aus etwa vorhandenen und hieher gehörigen glaubwürdigen Berichten diese Lücke zu ergänzen. Wie für die Germanen die Römer-, wie den Römern die Griechen-Herrschaft Alles umschloss, was frühere Epochen an Wissens- oder Nachahmungswürdigem bieten mochten, so war es in historisch zu fixierender und über das Gebiet der Hypothese hinausreichender Weise im Wesentlichen auch erst das Perserreich, welches die gleiche Stellung zu den Griechen einnahm. Eben hier lässt sich denn auch für unsere Betrachtung ein definitives Ergebnis gewinnen.

Wenn eine unbefangenere Prüfung der ursprünglichen Zeugnisse überhaupt gelehrt hat, die Vorstellungen der Griechen von den Persern vor den Niederlagen dieser letzteren als sehr bescheiden in Bezug auf Kriegsgewalt und Staatsordnung zu würdigen, so darf man nicht glauben, dass die Verdrängung persischer Waffen auch die Idee der Autorität des persischen Reiches so ganz beseitigt hätte. Den Anspruch der dortigen Regierung, 'das Königthum dieser grossen Erde auf fernhin', wie sie es nannten, zu besitzen, erkannte man freilich nicht an: eben ihn in seinen praktischen Folgerungen abzuwehren, waren ja die grossen Kriege mit so vieler Anstrengung und zu so glorreichem Ende geführt worden. Aber fortan bleibt doch der Name eines Königs schlechthin dem persischen gewahrt, ohne Rücksicht auf gleichnamige einheimische und benachbarte Fürstengewalten. Und wenige Jahre nach dem letzten grossen Treffen findet man eine Anzahl griechischer Gesandten am persischen Hofe zu ergebnislosen Verhandlungen versammelt, nur dass bei denselben ein landesverrätherischer griechischer Staat sich ein königliches Freundschaftszeugniss ausbittet.

Inder Blüthezeit Athens und in den ersten Stadien seines grossen Krieges mit Sparta ist von Persien überhaupt wenig zu sagen: der alte Ehrgeiz des Reiches, sich nach Westen auszudehnen, scheint mit anderen Prätensionen erloschen; aber mit Erstaunen begegnet man ihm in diesem für jeden Angriffskampf schlechterdings

unfähig gewordenen Reiche in den späteren Jahren jenen Krieges. Ein gewandter und einsichtiger Beamter wusste damals den geeigneten Moment zu finden, um die persischen Ansprüche auf ein höchstes Ansehen wieder in Erinnerung zu bringen.

Wir sehen hierbei durchaus ab von den bei der Entwicklung dieser Begebenheiten äusserlich wirksamen, auf der Oberfläche liegenden, individuellen und wechselnden politischen Momenten und suchen ausschliesslich von der zufälligen Erscheinung zu der innern Natur der Dinge zu gelangen. Der zugleich persönliche und patriotische Ehrgeiz jenes Beamten traf nun zusammen mit dem durchaus selbstischen Vorwärtsdringen des geistesgewaltigen Mannes ohne Ehre und ohne Ueberzeugung, des Alkibiades. Wie ganz glaubte der, losgelöst von aller Menschensitte, die ihm nur zum Hohne diente, sämmtliches Menschenmaterial für die Interessen seiner jedesmaligen Stellung benutzen zu dürfen — aus seinem eigenen Munde, mit einer selbst bei ihm auffallenden Unverhülltheit, kennen wir seinen Ideengang in der entscheidenden Wendung — und eben er erscheint doch nur als kümmerliches Werkzeug in einer grossen Verflechtung. Genug, er brachte es dahin, dass man zuerst auf spartanischer, später auf athenischer Seite den traditionellen Abscheu vor einer Verbindung mit dem Perserreiche überwand und Beziehungen zu demselben anknüpfte, die sachlich, und bei aller Schonung selbstformell, dem Grosskönige eine überlegene Stellung zuweisen mussten.

Auf den von Alkibiades gebahnten Spuren ist es geschehn, dass mit persischer Unterstützung Sparta zuerst Athen bezwang, Athen selbst hierauf sich von dem Drucke des Siegers losmachte und seine Mauern herstellte. Ein Vierteljahrhundert nach jenen Anknüpfungen findet man in Hellas den König mit Erfolg Frieden gebieten, scheinbar im Interesse Sparta's, das ihn von Neuem zu gewinnen vermocht hatte; aber welch ein Triumph war es doch für den Erben des Xerxes, dass er, etwa ein Jahrhundert nach den grossen Niederlagen des Ahnherrn, eine gleichsam momentane Verlegenheit benutzend, gegen die griechischen Staaten nicht ohne Drohung seinen Wahrspruch dahin geben konnte, er halte es für recht, dass ihnen allen, kleinen und grossen, Selbständigkeit zugestanden

werde. Das ist eine thörichte Phrase, die sich freilich noch aus dem Alterthume herschreibt, als ob hier die tückische Härte der Einen gegen die schwache Unschuld der Anderen die Hilfe des mächtigen Fremden herbeigerufen habe: man kann höchstens sagen, dass unter gleich verächtlichen Politikern und unter Zuständen gleichmässiger Erschlaffung aller eine echte Freiheit verbürgenden Kräfte der rücksichtslosere mit gutem Grunde vorübergehende Erfolge gewann. Wenn aber in den raschen Schwankungen der Beziehungen griechischer Staaten zu einander während der letzten Jahrzehnte vor dem siegreichen Eingreifen der Makedonier in den Gemüthern der Menschen irgend etwas festen Bestand zu haben schien, so war es die Autorität des Perserkönigs.

Unter spartanischen Politikern erwog man damals je nach dem Parteistandpunkte, wie sehr die Griechen dermalen leider persisch gesinnt seien, oder auch umgekehrt, wie sehr die Perser griechischen Sonderbestrebungen dienen müssten. Es suchten athenische Redner bei dem letzten Friedenscongresse freier hellenischer Staaten (371 v. Ch.) fast in erster Linie ihre Uebereinstimmung mit den Absichten des Grosskönigs zu constatieren: eben den ausgesprochenen Willen desselben nach seiner Weise interpretierend, glaubte der dem Abschlusse Abgeneigteste seine Meinung durchsetzen zu können: in Gegenwart persischer Gesandten zu Stande gekommen, ward der Friede geradezu der des Königs genannt.

Ein paar Jahre später findet man auch die Botschafter der neu aufgekommenen thebanischen Vormacht Griechenlands am Hofe von Susa: wie so ganz war man doch von den Freiheits- und Nationalitätsbegriffen des vorigen Jahrhunderts abgekommen, wenn ein Patriot von Pelopidas' reinem Feuer in dem neuen Vertrage, den er von des Königs Gunst gewann, der früheren landesverrätherischen Verbindungen seiner Stadt mit Persien gern gedenken liess! Der Satz, dass das Perserreich in einem Verhältnisse natürlicher Feindschaft zu dem gesammten Hellenenthum stehe, Krieg gegen dasselbe eine heilige Pflicht sei, war ja bereits so sehr in die Kreise der falschen Rhetorik und diplomatischen Convenienz gerückt, dass bald

auch ein Demosthenes den Schutz des persischen gegen den makedonischen König anzurufen für durchaus gerechtfertigt gehalten hat.

In der That aber übernahm dieser Letztere auch die von dem Perser bisher eingenommene Stellung, nur mit einem sehr positiven Inhalte: das Freund- und Genossenschaftsbündniss, welches der makedonische Philipp mit demselben geschlossen und dann ungekündet gebrochen hat, kann gleichsam als Signal des Ueberganges jener Autorität gelten. Wenn Alexander der Grosse, auf des Vaters Wegen zum letzten Ziele gelangend, sich persischem Herkommen in höherem Grade fügte, als seinen Kriegsgesellen und der Mehrzahl der Neueren billigenswerth erschienen ist, so dürfen wir an unserem Orte sagen, dass er wie mit der Eroberung so mit der Neuordnung seines Reiches im Einklang stand zu den früheren Entwickelungen. Aus jenen Unterhandlungen und Verträgen mit seinen Vorgängern, den persischen Grosskönigen, ist die wahre Grundlage, gleichsam die Berechtigung, seiner Macht in der Meinung der griechisch redenden Menschen nicht am wenigsten zu erklären.

Das Ergebnis dieser Betrachtung lässt sich aber vielleicht dahin fassen, dass die wesentlichste Hervorbringung der persischen Monarchie, die Schöpfung einer wohlorganisierten grossen Reichsgewalt, in der derselben gestatteten ordnenden Einwirkung auf die griechischen Verhältnisse zu einer dem Gange der Kulturübertragungen entsprechenden Anerkennung gelangt sei.

Sucht man nun nach dem analogen Ausdrucke in den griechisch-römischen Beziehungen, so dürfte man ihn auf dem rein politischen Gebiete nicht erwarten. Das vielzersplitterte Hellenenthum hat römischen Staatsmännern und Gesetzgebern wol im einzelnen Falle belehrende Vergleichungspunkte bieten und zu Modificationen selbst veranlassen können; in einem der Mittelpunkte seines Lebens, in Delphi, haben auch die Römer durch Gesandte sich eingefunden und gute Lehre und Vorbedeutung gesucht. Aber wie wäre von den Römern im Staats- und Rechtsleben eine jenen griechischen ähnliche Concession zu erwarten, von ihnen, die sich hier mit Fug als die Meister und Lehrer der Welt betrachten durften! Und all' die liberalen Zugeständnisse des verkommenden Griechenthums, die Ausscheidung

der Römer aus der Barbarenmasse, ihre Zulassung zu den grossen Festspielen freier Hellenen, Freudengeschrei und Denkmünzen waren doch nur als Akte demüthiger Höflichkeit gemeint und wurden als solche verstanden: der Gegensatz blieb desshalb nicht minder schroff bis in die Kaiserzeit bestehn.

Wol hat es im Römerthume Anwandlungen gegeben, die einer Fügung unter die weiterfahrene Gewandtheit und schöne Ordnung des Hellenengeistes ähnlich sind. Aber wie eine Warnung zugleich und das sprechendste Sinnbild steht bei dem Eintritte der Römer in den Herrscherraum welthistorischer Handlung die hehre Greisengestalt, welche des Königs Pyrrhos Botschafter, den glattzüngigen Vertreter hellenischer Königslust, zwar nicht in Brunnen werfen hiess, wie es in gleichem Falle bei den freien Griechen den Gesandten des Persers geschehen war, aber doch Ausdruck gebend echt römischem Gewissen fortscheuchte aus den Augen des sich fast ungetreuen Senates, aus dem Umkreise der zur Weltgebieterin geborenen Stadt. Nie hat der römische Staat den Mahnruf vergessen, der ihm damals geworden ist.

Sollte es denn wirklich nicht ein anderes Gebiet als das politische geben, auf welchem die unvergänglichen Verdienste von Hellas um die Entwicklung des Menschenthumes sich zu einem rechtlichen Ausdrucke formen konnten? Wenn in irgend einem Falle, dürfen wir einen solchen doch in Rom erwarten, wo die tiefsten, an sich jeder Formel spottenden und widerstrebenden Triebe des Nationalgeistes, seine übersinnlichen Hoffnungen und Täuschungen, zum Rechtszweck ausgebeutet worden sind. In der eigenthümlichen Structur des römischen Staatsgebäudes findet man in der That den ursprünglichsten und wirksamsten Erscheinungen des Griechengeistes eine sehr hervorragende Stellung angewiesen. Denn wer könnte es sich verhehlen, dass der Zauberkreis hellenischer Götter es gewesen ist, aus dem der Menschengeist zu der reinen Freiheit der Kunst emporgehoben wurde? Da hat sich nun der griechische Genius schon in der Zeit des beginnenden Perserreiches gefallen, Aussprüche überirdischer Erkenntnis von manigfacher Herkunft zu sammeln, die von den Berührungsgebieten hellenischer und orientalischer Kultur auf unbekannten Wegen nach Rom gelangten.

Ganz und gar als ein Product populärer, naiv religiöser Vorstellungen der kleinasiatischen Griechen müssen meines Bedünkens die sogenannten sibyllinischen Bücher gefasst werden: in Rom haben die Kundigen sachlich sie auch nicht anders angesehen. Wie hätte man sonst in einer noch ängstlich am religiösen Cerimoniell haftenden Zeit, als die alten Exemplare verbrannt waren, von Staatswegen eine förmliche Botschaft abgesendet, um in einer jonischen Stadt von dortigen Bürgern sich entsprechende Privataufzeichnungen zu verschaffen, die man in ähnlicher Weise auch sonst ergänzte! Diese so wunderlich entstandenen und auf noch wunderlichere Ursprünge zurückgeführten Bücher haben nun in Rom eine Autorität besessen, so hoch und unter Umständen höher, als irgend eine einheimische irdische und himmlische Gewalt.

Und nicht gering fürwahr ist ihr Einfluss oder, wenn sie wollen, der Einfluss der Behörde gewesen, welche zu ihrer Bewachung und Erklärung verordnet war. Neben den alten Göttern des Staates, ja diese selbst zum Theile verdrängend und umformend, haben sie den griechischen Götterkreis nach Rom geführt: eben diese neu eingeführten Kulte, dieser griechische Gottesdienst, wie man ihn auch offiziell genannt hat, sind aber in ganz anderer Weise als die altrömischen, für das Recht der Theilnahme nach Herkunft und Geschlecht beschränkten, Trost und Freude des gesammten Volkes in allen seinen Abstufungen, für jedes Alter und Geschlecht geworden. Das hohe Priesterthum der griechischen Dienste zuerst ist gleichmässig zwischen Patriciern und Plebejern getheilt worden. So erklärt sich, wie die einheimischen religiösen Vorstellungen in kurzer Frist gegen die allmählich neu durch die Sibyllinen eingeführten zurücktraten, einzelne Gottheiten ganz verschollen und der griechische Götterkreis in Rom zu einem neuen Leben erwachte. Der im Lichte geborene, im Lichte wohnende Gott vor Allem, an den sich für die Erhöhung und Wirksamkeit zunächst des dorischen, dann aber des gesammtgriechischen Geistes so grosse Institute wie die delphische Völkereinigung knüpfen — der Führer der Musen Apollon ist von den Hütern der Aufzeichnungen seiner Schwester, Freundin und Dienerin Sibylla, den Priestern der heiligen Bücher, in Rom heimisch gemacht worden. Sie selbst sind bis in die Zeiten des abgestorbenen

Heidenthums seine Priester geblieben: sie haben zu seinen Ehren von Staatswegen die Spiele einrichten lassen, bei denen nach streng festgehaltener Observanz auch die dramatische Kunst Athens alljährlich zu offizieller Uebung in Rom gelangte. Wenn in dem Bewusstsein des Volkes die Göttin des Landbaus Diana allmählich sich mit der griechischen Artemis identifizirte und ihre älteren Eigenschaften in Vergessenheit geriethen, wenn auf der heiligen Tiberinsel der nach dem Befehle der griechischen Bücher eingeführte Aesculapius mit einem uralten, dem vielleicht am meisten gefürchteten Gotte in einem Tempel verehrt werden konnte, so begreift man leicht, welche dem Gange der Kulturübertragung ihrerseits entsprechende Anerkennung des Hellenenthumes hier zu ihrem Ausdrucke gelangt ist.

Und bis in die spätesten Zeiten, wie gesagt, blieb mindestens formell die Autorität der heiligen Bücher bestehn: mit wenigen anderen Kulten überdauerte sie die constantinische und theodosianische Zeit. Erst unter der Staatsleitung und ohne Zweifel mit herzlicher Gutheissung eines der ersten Germanen, die von den Stufen des Kaiserthrones regiert haben, erst unter dem Vandalen Stilicho, sind diese heiligen Bücher vernichtet worden, nachdem sie durch die Jahrhunderte ihren Dienst gethan hatten.

Nicht so ganz ungeeignet ist Stilicho's Name, uns in die neuen Kreise einzuführen, deren Betrachtung uns noch übrig bleibt. Nur dass man sich gegenwärtig halte, wie gewaltig die Massen des Kulturstoffes anwachsen, den die späteren Träger ihren Nachfolgern zuweisen. In der That ist das von den Römern den Germanen gegenübergestellte Gut bei Weitem das imposanteste gewesen, das uns in dieser Aufeinanderfolge vorliegt. So haben auch die Germanen mehr als irgend welche ihrer Vorgänger, soweit mir sicheres Material erkennbar ist, den Charakter der Reichsgewalt geachtet, deren sachlichen Bestand eben sie vor Allen zerstörten. In doppelter Weise macht sich diese Achtung bemerklich: eine ganze Reihe germanischer Männer lässt sich vorführen, die ihre Lebensaufgabe darin sahen, das wankende Römerreich zu erhalten, eben Stilicho mag als zweiter unter ihnen gelten: dann aber hat die Reihe eben der Führer, welche an der Spitze von Volksheeren das Reich am tiefsten

erschütterten, den Rechtsanspruch desselben auf die Weltherrschaft am lautesten anerkannt.

Und dass man nicht glaube, wozu die Stümper in historischen Dingen bis heute neigen, nach Willkür und der Laune des Moments hätten beide Reihen von Männern gehandelt: nur an Muth und dem rechten Sinne für ein freies Volksthum habe es den ersteren, nur an höherer Einsicht den letzteren gefehlt. Mit schneidender Schärfe lehren die Ereignisse selbst ein Anderes: sie lehren ein stark waltendes Gesetz in fest bestimmten Schranken.

Denn es wäre freilich der Versammlung, zu welcher mir heute zu sprechen vergönnt ist, wenig würdig, wenn ich aus der Fülle von Jedermann bekannten Thatsachen, welche vorliegen, um das für meinen Gegenstand Wesentliche darzuthun — wenn ich aus diesen zahlreichen Beweisen durch dürftige Zusammenstellung und kleinlich ansprechende Gruppierung Einzelheiten nach Belieben zu bieten wagte. Aber ich darf in Ihre Erinnerung wol die bezeichnendsten Ereignisse zurückrufen, in welchen jenes Gesetz sich äussert. Zu seiner Fixierung gestatten Sie mir wiederum mit einer allgemeineren Bemerkung zu beginnen.

In zwei Hälften zerfiel das römische Reich, seit es den Erdkreis zu umspannen mindestens den Anspruch machte, zuerst sprachlich, seit Kaiser Hadrian auch administrativ: in eine lateinische und griechische. Gegen beide haben die Angriffe der germanischen Völker sich gerichtet, und sehr mit Unrecht würde man annehmen, dass die östliche griechische Hälfte in deren wichtigsten Landen zu Zeiten von der Ueberfluthung weniger stark berührt gewesen sei, als die westliche lateinische. In der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts, während die definitive Trennung beider Hälften sich vorbereitete und vollzog, hat es vielmehr für die erstere Momente weit dringenderer Bedrohung gegeben als sie gleichzeitig der Westen erfuhr. Auch hat das Anstürmen germanischer Kriegskräfte in dieser Zeit im Osten wesentlich das Ziel verfolgt, wie die ähnlichen Bewegungen im Westen: den Gewinn eines abgeschlossenen sicheren Kulturgebietes zu freiem Wohnsitze.

Nun ist freilich richtig, dass unter dem Zusammentreffen einer starken politisch-religiösen Erregung der eingeborenen Bevölkerung mit reichlichem Zuströmen vorderasiatischer Kriegskräfte alle Absichten einer Germanisierung, ja nur der dauernden Errichtung eines germanischen Reiches scheitern mussten. Auch hat es den gepriesensten Führern germanischer Volksheere, nachdem ihnen einige Versuche in den griechischen Landen missglückt waren, an der richtigen Erkenntnis dieses Verhältnisses nicht gemangelt: der westgothische Alarich wie der ostgothische Theodorich haben nach mühevollem Ringen im Osten den glückverheissenden Zug nach dem Westen angetreten.

Aber andere minder besonnene haben das Land und die Hauptstadt durch einen Handstreich germanischer Völker und Ansiedler in ihre Hände bringen zu können geglaubt. Der erste der das wagte, der nach dem Ausdrucke eines Zeitgenossen römisches Verderben als Kampfpreis aussetzte, hielt sich seiner Sache so sicher, dass er Constantinopel eine bevölkerte Grabstätte nannte und seine Bewohner noch unbegrabene Leichen: nach ein Paar Wochen ward sein eigenes Haupt dort eingebracht. Günstiger für solche Absichten schienen die Dinge ein Paar Menschenalter später zu liegen. Denn auch nach jenem gescheiterten Versuche und trotz der inzwischen zu ungeahnter Höhe angeschwollenen, auf Erhaltung des Reiches gerichteten, geistlichen Bewegung hatten germanische Kriegsschaaren und mit diesen germanische Kriegsfürsten sich wenn nicht unentbehrlich, doch unvermeidlich gezeigt; überaus zahlreich waren ja die seit mehr als einem Jahrhunderte angesiedelten gothischen und diesen verwandte Haufen. So hoch stieg ihre Bedeutung, dass ihr angesehenster Führer nach dem Absterben des Kaisers, den des grossen Theodosius Enkelin mit ihrer Hand erhoben hatte, den Nachfolger desselben nach seiner Gnade bestellte: sich selbst bewahrte er mit dem Cäsarnamen die nächste Stelle am Throne, den er wo! seinem Sohne zu sichern gedachte: da ereilte sie Beide ein vorzeitiges Verhängnis. Aber des gemordeten Cäsar Neffe, der Sohn des Triarios, stand bald mit nicht geringerer Macht da an der Spitze der um das geschehene

grollenden germanischen Krieger: er hütete sich vor des Oheims verderblichem Versuche, die Regierung des Romäerreiches in den altherkömmlichen Formen verbinden zu wollen mit der frischen Kriegsführerschaft seiner Stammesgenossen. Er erzwang sich zunächst die anomale Stellung, als kaiserlicher Obergeneral und als König seiner durch das Reich zerstreuten Landsleute anerkannt zu werden: er war bald mächtig genug, einen Ansprecher des Thrones zu vertreiben, ein Geschöpf seiner Gunst auf denselben zu erheben: bald wollte er auch diesen niederstossen lassen: er meinte, die Gothenmacht genüge für das Reich. Aber wie sehr irrte er über die Natur desselben: er erfuhr die Demüthigung, dass ohne sein Eingreifen und ohne erheblichen Widerstand Truppen und Hauptstadt den von dem kühnen Kriegsmanne Vertriebenen zurückriefen: in ziellosen Kämpfen fand er selbst ein unerfreuliches Ende. Noch einmal nahm sein Grossneffe, der sich zur Vertheidigung des orthodoxen Glaubens gegen Ketzerei berufen fühlte, auf seine Stammgenossen gestützt, eine Stelle zunächst dem Throne ein; aber eine nachhaltige Macht besass er schon nicht mehr: mit seiner Ermordung durch den jungen Justinian hatten alle solche Versuche ein Ende.

Ueberaus lehrreich für unsere Beobachtungen bleiben doch diese Unternehmungen und Entwürfe germanischer Kriegsführer im Osten: der starre Hintergrund, auf dem sie sich vollziehen, lässt ihre eigenthümliche Natur um so deutlicher erkennen. Das Bewusstsein, an der Spitze für Sieg und Herrschaft gleichsam geborener Männer zu stehen, durchdringt sich in diesen Führern auf das eigenthümlichste mit einer tiefen Ehrfurcht vor der Majestät des römischen Namens.

Zu vollem Ende geführt erscheinen dagegen die sich hier durchkreuzenden und vor ihrer rechten Ausführung unterbrochenen Ideen im Westen mit wild gewaltsamen Wirkungen. Nach einander begegnen hier Männer von fränkischer und vandalischer, gothischer und suevischer Abkunft, welche die ganze Energie nach Sieg und Herrschaft dürstender Naturen darein setzen, das unter ihren Augen und gleichsam aus ihren Händen dahin schwindende Reich gegen die andringenden Germanen

—mit Waffengewalt, durch Unterhandlung, durch friedliche Aufnahme, selbst mit demüthiger Bitte, wenn es sein muss, aber eben doch vor Allem — zu erhalten. Vergleichen lassen sie sich in gewissem Sinne den rhodischen Brüdern, welche das Perserreich gegen den makedonischen Angriff schützen wollten; doch zu einer eigentlichen Staatsleitung Persiens haben diese nicht gelangen können, wie sie unbestritten jenen Germanen in Rom zustand. Man hat gegen die Letzteren sämmtlich von römischer, gegen mindestens zwei von ihnen von kirchlicher Seite schwere Beschuldigungen erhoben. Es ist vollkommen gewiss, dass der erste aus ihrer Zahl seinen jungen Kaiser getödtet und ein gefügigeres Werkzeug an dessen Stelle gesetzt hat. Drei Kaiser hat der letzte dieser Männer das Schwert in der Hand gestürzt, nicht weniger als vier erhoben. Von den beiden Anderen, von Stilicho und Aëtius, weiss Jedermann, wie ganz und gar sie ohne den Namen das Wesen der obersten Gewalt besassen; aber eben sie lehren doch in schlagendster Weise ein Merkmal dieser Gattung kennen. An den Höfen, die sie beherrschten, hat man behauptet, dass sie nach der Krone strebten: eben desshalb haben sie beide ein vorzeitiges Ende gefunden. Für unsere Beurtheilung ihres Werthes ist der Vorwurf natürlich gleichgiltig; denn von Beiden gilt, was zu des einen Preis gesagt wurde, dass Volk und Reich in ihnen erstrahlte, und vor Allen würdig waren sie des Thrones. Aber es ist so unwahr, dass sie ihn selbst besteigen, als es gewiss ist, dass sie ihn ihrem Hause sichern wollten.

Wol mochte in einer Zeit, da der Germanenansturm noch ferner brauste, ein gothischer Söldner bis zum Imperator emporsteigen können: 'von seiner Herkunft hatte er eigentlich nur eine herzliche Verachtung gegen römische Weichlichkeit behalten. Aber die Männer, welche das ausgehende Reich leiteten, bedienten sich fortwährend und bewusst ihrer germanischen Volksgenossen in grösstem Masstabe; mochten die Römer Knechtschaft in den den Barbaren gewährten Verträgen sehn: mit wundersamer Scheu vor dem Ergreifen der mit altem Zauber ausgestatteten höchsten Gewalt suchen doch diese germanischen Staatslenker gleichmässig das Reich zu wahren.

Und sie drücken nur ein Gefühl aus, das in tausend Formen auch sonst sich kund gibt. Nach jener Einnahme Roms durch die Vandalen ist es ein germanischer König im südlichen Gallien, der, obwol in vollem Siege und Glücke, einen fast unmächtigen römischen Beamten drängt, den Kaiserthron zu besteigen: mit Freuden will er ihm als Kriegsmann dienen.

Es waren Täuschungen, wenn Sie so wollen, in denen alle diese Männer sich bewegten —denn die innere Lebenskraft des westlichen Römerreiches war dahin und gebrochen — aber Selbsttäuschungen, in denen sie grossartig Vergangenheit und Zukunft verknüpften. Und als auch das Schattenbild eines Reiches von Westrom kein Lebensrecht mehr besass, als die germanischen Söldner, den Schein verachtend, dem sie bisher um Gold gedient, und ihrer Macht sich bewusst, auf den Trümmern des erstürmten Pavia ihren Vormann Odovakar mit dem Namen eines Heerkönigs begrüssten — auch da wollten sie doch der Idee des Römerreiches selbst nicht zu nahe treten. Ihr neu erwähltes Haupt hat sehr bald eine Botschaft nach Byzanz veranlasst, die seine Erhebung durch die Behauptung rechtfertigte, dass ein gemeinsamer Kaiser für beide Reichshälften genüge: für sich erbat Odovakar, wie es wenige Jahre früher der Sohn des Triarios gethan, neben seiner germanischen Häuptlingschaft nur eine der obersten romäischen Hofwürden, die seine Vorgänger an der Seite des römischen wie des byzantinischen Thrones besessen hatten.

Unmittelbar sehen wir uns mit diesem zwei Weltalter verknüpfenden Manne auch in die Kreise jener anderen Reihe germanischer Kriegshäupter versetzt, die mit dem Siegerkranze um die Schläfe, voll Geringschätzung gegen die Verkommenheit der den Römernamen tragenden Menschen, doch nach nichts so sehr verlangen, als nach einem in Rechtsform von dem Kaiser verliehenen Lande. Das ist das Tragische in des Westgothen Alarich Geschick, dass er im Osten wie im Westen seinem umhergetriebenen, der Auflösung nahen Volke eine rechtliche Stätte für dauernde Wohnung und Neuordnung sucht und nicht erwerben kann: von dem nahen Ziele weggeschleudert, hat er in einem Momente wilder Verzweiflung sich plündernd auf Rom

selbst gestürzt und ein frühes Ende gefunden. Auf dem Boden aber, den seinen Spuren folgend seine Nachfolger durch kaiserliche Verleihungen gewannen, haben sie das Westgothenreich begründet, und zu dem glanzreichen Staate, den später der grosse Theodorich in Italien errichtete, hatte er sich in ähnlicher Weise von dem Kaiser in Byzanz den Anspruch geben lassen. So wenig die Vandalen der Römer Macht zu fürchten brauchten, so sicher sie bereits ihrer Eroberung waren: sie haben sich auch ihrerseits mit einer nach Zeit und Raum beschränkten Verleihung längere Zeit begnügt. Selbst den später in die Kultur eingetretenen germanischen Stämmen ist es ein gleichsam sittliches Bedürfniss gewesen, ihre Eroberungen unter die Garantie unvordenklich alter Staatsgewalten zu stellen: fast gleichzeitig haben die nordgermanischen Eroberer von Normandie und Russland sich von den Kronenträgern in Frankreich und dem Romäerreiche Anerkennung ihrer Erwerbungen verschafft.

Darf es denn nicht auch hierher gezählt werden, wenn der grösste Frankenkönig sein Haupt mit der die Herrschaft des abendländischen Romreiches bezeichnenden Krone schmücken liess? Und so nichtig auch der Grund des Anspruches ist, den die Päpste hierauf erhoben, das die Weltherrschaft bedeutende Römerreich zu den Franken übertragen zu haben, das Bewusstsein der neu in die Kultur eingetretenen Nationen, zu denen ja auch eben diese Päpste gehören, drückt sich doch in diesem irrigen Anspruche nicht minder treffend aus.

Aber ich halte ein; denn es ist so reizend, als es gefährlich ist, Beobachtungen, die sich nur mit grosser Vorsicht und unter fest bestimmten Voraussetzungen mit voller Unbenommenheit des Gemüthes anstellen lassen, auch auf näher liegenden und, wie mich dünkt, für uns noch verschlossenen Gebieten zu wagen.

Doch gestatten Sie mir, noch einmal auf das Ereignis selbst zurückkommen, von dem aus ich meinen Versuch begonnen habe: den Versuch der Enthüllung eines mindestens den Kulturvölkern eingepflanzten Gesetzes. Von unserer heutigen Feier selbst hatte ich meinen Anfang genommen, und wie sich uns bei derselben unsere Hochschule nach zugleich fremdartigen und heimischen, uralten und doch lebenskräftigen Ordnungen

darstelle. Wol hätten wir gewünscht. in diesen Ordnungen unsern Stiftungstag wieder auf eignern Boden feiern zu können, wie es uns bereits vergönnt ist, in den hellen Räumen zu arbeiten, welche das Volk dieses eidgenössischen Standes uns durch seine Vertreter und Behörden mit hoher Gesinnung angewiesen hat. Aber ich darf wol die Hoffnung aussprechen, dass der Tag, an welchem wir unsere Festräume beziehen, gemeinsam mit der binnen wenigen Jahren zu so hohem Ruhme gestiegenen, uns verschwisterten Schule, ein Feiertag sein werde, der auch den aussen Stehenden das herzliche Einvernehmen bekunde, in welchem beide unter demselben Dache wirkenden und analoge Ziele verfolgenden Anstalten zu einander stehen wollen.