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Von Kristallen und Gesteinen

Rektoratsrede gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel

am 27. November 1970
Verlag Helbing & Lichtenhahn • Basel 1970

Die Steine, die uns in diesem Gotteshaus umgeben, waren bei der Gründung unserer Universität zugegen. Sie sind die einzigen hier anwesenden Zeugen des Aktes des Jahres 1460 und sind Sinnbild von Althergebrachtem, Bleibendem wie auch von Bodenständigem, denn der Sandstein entstammt der regio basiliensis.

Die wechselvolle Geschichte des Münsters, in die selbst Naturgewalten eingegriffen haben, mahnt aber zugleich an Vergänglichkeit und an den Wandel aller Dinge. Wohl hat seit der Gründung der Universität kein Erdbeben mehr die Grundfesten erschüttert und haben die tragenden Pfeiler alle Wirren von Reformation und Revolution überstanden; doch der Zahn der Zeit nagt an der Fassade. Der rote Sandstein widersteht dem Industrieklima der Stadt schlecht und muß stückweise ersetzt werden. Das wettergeschützte Innere des Baues ist anderen Anfechtungen der Neuzeit ausgesetzt: Reformen vergangener Zeiten werden heute als falsch empfunden und sollen rückgängig gemacht werden.

Der Bundsandstein mit seiner dekorativen Kreuzschichtung ist vor 220 Millionen Jahren in einer Seichtsee über dem sich damals absenkenden Grundgebirge der späteren Vogesen und des Schwarzwaldes entstanden. Der lose Sand wurde innerhalb der Erdrinde zu Sandstein verfestigt. Erst etwa 150 Millionen Jahre später wurden die Schichten wieder gehoben und bloßgelegt,

lange bevor die Geschichte der Menschheit begann. Im Mittelalter wurden in der Umgebung unserer Stadt darin Steinbrüche angelegt, die heute längst verfallen sind. Aus ihnen stammen die ältesten Quader des Münsters; sie haben während Jahrhunderten ihren Dienst versehen und tragen noch die alten Steinmetzenzeichen.

Der graurote Sandstein, dessen resistente grobkörnige Typen heute nicht mehr ausgebeutet werden und leider kaum mehr zu beschaffen sind, ist der historische Baustein der Monumentalbauten und vieler Bürgerhäuser unserer Stadt wie auch des ganzen Kulturkreises am Oberrhein, zu dessen geschlossenem Charakter die Einheitlichkeit des Werkstoffes entscheidend beigetragen hat.

Heute bemühen sich Behörden und Private, Altes in einer veränderten Umwelt würdig zu konservieren und weiterleben zu lassen. Sie stehen dabei vor schwierigen Problemen, nicht bloß materieller Art. Es ist auf weite Sicht zu entscheiden, was echt und was falsch ist, was erhalten und was gemäß den Bedürfnissen von heute und morgen von Grund auf erneuert werden muß.

In unserer Stadt — zum Glück erst abseits vom Münsterplatz — werden mittelalterliche Häuser ausgehöhlt und im Inneren umgestaltet, nur die gotische Fassade bleibt bestehen. Dem aufmerksamen Beobachter entgeht beim Gang durch unsere Gassen und Vorstädte nicht, daß dabei die Unehrlichkeit oft schon darin zum Ausdruck kommt, daß die verwitterten Gesimse und Rahmen aus Naturstein durch einen gestern in einer Fabrik entstandenen modischen himbeerroten Kunststein ersetzt werden.

Was über 200 Millionen Jahre alt ist, was sich während Jahrhunderten bewährt und die Experimentierphase glänzend bestanden hat, erscheint heutigen Baumeistern, Bauherren und Denkmalpflegern bisweilen suspekt

und wird durch einen billigen Kunststoff ersetzt, dessen Dauerhaftigkeit wir nicht kennen. Aufgeschlossenheit gegenüber Neuem ist zu loben; sie ist jedoch materiell hier nicht begründet und hauptsächlich ist das Ziel schlecht überdacht. Begeben wir uns nicht ahnungslos in eine Welt des Scheins: Das Spalentor ist echt; die Vorstadt läuft Gefahr, infolge vermeidbarer Fehler schrittweise zur mittelalterlichen Kulisse zu werden!

Äußert sich Unaufrichtigkeit aber nicht schon am Petersplatz? Das repräsentative und zweckdienliche Kollegiengebäude ist aus neuzeitlichem Baustoff errichtet; seine Fassade ist mit dünnen Platten von klassischem Travertin verkleidet, einem Baustein, der den lokalen klimatischen Gegebenheiten vollends nicht gewachsen ist, viel weniger als ein Kalkstein aus dem Jura. Aber wir bauen ja nicht mehr für Jahrhunderte, sondern nur noch für Jahrzehnte, und stellen stillschweigend in Rechnung, daß die alte Universität am Rhein als Symbol alles andere überleben wird. Es geht hier nicht um die geologischen Millionen Jahre, sondern bloß um die Jahrhunderte, welche die Geschichtsschreibung überblickt.

Mit diesen einleitenden Bemerkungen sei angedeutet, daß wir Steine als Gleichnis für ganz andere Betrachtungen wählen können, daß wir von Steinen umgeben sind und daß es naheliegt, an diesem Ort einige Aspekte der Lehre von Kristallen und Gesteinen zu beleuchten.

Gesteine bestehen aus Mineralkörnern; so besteht beispielsweise der Münstersandstein hauptsächlich aus Quarzkristallen. Mineralien bilden die homogenen Bestandteile der Erdkruste. Mineralbestand und Gefüge bestimmen das Gestein.

Die Lehre von den Mineralien besitzt — wenn wir vom praktischen Nutzen absehen und auch ihre besondere wissenschaftliche Bedeutung für die Geologie zunächst beiseite lassen —einige Aspekte, die dem kleinen Fach eine Mittelstellung zwischen den großen naturwissenschaftlichen Disziplinen gesichert haben. Die Mineralogie ist Ausgangspunkt und Zentrum der Lehre vom kristallinen Zustand schlechthin. Das Suchen nach dem Allgemeingültigen im Bau der Kristalle hat diesen Wissenschaftszweig früh aus der beschaulichen Atmosphäre der Kuriositätenkabinette, der Vorläufer der akademischen Sammlungen und Institute, herausgeführt und hat die Kristallographie als Grundpfeiler der Mineralogie in Beziehung gebracht zur Mathematik, Physik und Chemie. Die Lehre von den Kristallen hat den Naturwissenschaften wichtige Impulse gegeben; sie hat umgekehrt von den großen Nachbarfächern wesentliche Anregungen empfangen. Diese Mittelstellung ist in den letzten Jahren nochmals gestärkt worden: Die zuerst aus natürlichen Kristallen, aus Mineralien abgeleitete Ordnung und Gesetzlichkeit und die dabei entwickelten Methoden sind grundlegend geworden für die hoch spezialisierte Erforschung des Lebens. Die Verleihung von Nobelpreisen für Leistungen auf diesem Gebiet, vor allem für die Abklärung der Struktur großer Moleküle mit Hilfe der Röntgenbeugung am Kristallgitter, hat das deutlich zum Ausdruck gebracht.

In einer Zeit, in der die Bildung von Schwerpunkten und die konzentrierte Förderung solcher Kerngebiete gefordert wird, ist es reizvoll, beim zunächst unscheinbaren kleinen Fach zwischen den Fächern zu verweilen und seinen Werdegang zu verfolgen.

Ausgangspunkt war die Gestalt frei gewachsener Kristalle, von Kostbarkeiten der Natur. Die verwirrende Mannigfaltigkeit der vorhandenen Formen bot zu Beginn Schwierigkeiten, die erst überwunden werden

konnten, nachdem geeignete Untersuchungs- und Darstellungsmethoden entwickelt worden waren, die das Modell, das Idealbild jeder Kristallart, zum Ausdruck brachten und alles Individuelle, Zufällige beiseite ließen, wie etwa die relative Größe der verschiedenen Flächen. Im Jahre 1669 wurde am Bergkristall die Winkelkonstanz entdeckt, gleichzeitig übrigens wie eine andere grundlegend wichtige Erscheinung, die Doppelbrechung des Kalkspatkristalles, Ausgangspunkt der Kristalloptik. Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert wurden die Auswahlgesetze abgeleitet, die bedingen, daß an Kristallen nicht irgendwelche Flächen auftreten, sondern stets nur solche, die in einem bestimmten, einfachen, ganzzahligen Verhältnis zueinander stehen. Es folgte die Erkenntnis der Symmetrie, eines Prinzips, das die ganze Kristallwelt beherrscht. Ein bestimmtes Motiv wird gleichartig wiederholt durch Spiegelung an einer Ebene, durch Drehung um eine Achse oder durch Inversion an einem Punkt. Die Ableitung durch Hessel ergab im Jahre 1830, daß es in Kristallen nur 32 Kombinationen von solchen Symmetrieelementen gibt. Die damals bekannten Erscheinungen wiesen darauf hin, daß alle Kristalle, gleichgültig ob sie jetzt von unregelmäßigen oder von ebenen Flächen umgrenzt sind, aus gesetzmäßig angeordneten elementaren Einheiten bestehen müssen. 1848 gelang es Bravais, mit Hilfe des Begriffes der Raumgitter Anordnungen diskreter materieller Teilchen zu entwickeln, welche die makroskopische Symmetrie widerspiegeln.

1891 wurden durch den deutschen Mathematiker Schoenflies und gleichzeitig auf unabhängigem Wege durch den russischen Mineralogen Fedorow alle mit den Kristalleigenschaften verträglichen Teilchenanordnungen erschöpfend abgeleitet. Schon vier Jahre vor der Entdeckung der Röntgenstrahlen lag also die mathematische Grundlage einer allgemeinen Kristallstrukturtheorie

vor, doch blieb alles Arbeitshypothese, der noch zu Beginn unseres Jahrhunderts nur vereinzelte Forscher, so vor allem der Mineraloge Groth, größere Beachtung schenkten. Der experimentelle Nachweis gelang von Laue und Mitarbeitern 1912, die damit gleichzeitig die Wellennatur der Röntgenstrahlen und die Gitterstruktur der Kristalle bewiesen.

Von diesem Experiment in einem ausgesprochenen Grenzgebiet sind ungeheure Impulse ausgegangen auf die verschiedensten Disziplinen. Erwähnt seien hier nur einige Auswirkungen auf die Mineralogie:

In rascher Folge wurden in den folgenden Jahrzehnten die Strukturen der natürlich vorkommenden Kristalle und der technisch wichtigen Elemente bestimmt und dadurch die Kristallchemie begründet. Die Stereochemie der Silikate führte zu einer grundsätzlich neuen Systematik und Deutung dieser wichtigsten Mineralgruppe der Erdkruste. Ergebnisse der Kristallphysik verlangten unter anderem eine Neubeurteilung des amorphen Zustandes und von polymorphen Umwandlungen, der Beziehungen von Idealkristall zu Realkristall und der Rolle von Ordnung und Unordnung.

Naturgemäß wurden zuerst die Strukturen von hochsymmetrischen und chemisch einfach zusammengesetzten Kristallen bestimmt; mit dem Ausbau der theoretischen Grundlagen und der Entwicklung geeigneter Apparaturen konnten schrittweise auch niedrig-symmetrische und kompliziertere Verbindungen erforscht werden, die viel größere Anforderungen stellen.

In der Zeitschrift Science ist kürzlich die Auswirkung der Automation der Datengewinnung und des Einsatzes hochleistungsfähiger Computer zur Strukturbestimmung von Molekülen mit Hilfe der Röntgenstrahlinterferenzen als «Revolution in Crystallography» bezeichnet worden. Der konzentrierte Einsatz moderner Hilfsmittel zeitigt tatsächlich spektakuläre Erfolge in der Erforschung

von organischen Verbindungen. Das Reich der Kristalle umfaßt nicht bloß die leblose Welt von Erde, Mond und anderen Himmelskörpern, die uns als Meteoriten Boten herniedersenden, und nicht bloß die anorganischen Verbindungen, die der Mensch selbst herzustellen gelernt hat, sondern auch Substanzen, die grundlegend sind für die Prozesse des Lebens.

Ein Wissenschaftszweig, die klassische Kristallographie, entsteht, erarbeitet in aller Stille Grundlagen, die später auch Nachbarfächern zugute kommen; er empfängt seinerseits bedeutende Impulse von angrenzenden Disziplinen und tritt periodisch ins Rampenlicht. Grenzgebiete erweisen sich als besonders fruchtbar. Im voraus ist nicht zu ermessen, welcher der vielen Wege zum Erfolge führt; diese Dynamik verleiht der Forschung ja ihren besonderen Reiz.

Während die Erforschung der Baugesetze der Kristalle, das historische Anliegen der Mineralogie, zugleich ein Thema vieler Nachbardisziplinen bildet, sind andere Sparten speziell den Erdwissenschaften verpflichtet. Dies gilt auch für die in manchen Belangen mit der Kristallchemie verflochtene und gleichzeitig entwickelte Geochemie, die ebenfalls aus einer Grenzsituation hervorgegangen ist. Ihr Name wurde vom Basler Chemiker Schönbein geprägt; zum eigenen Wissenschaftszweig stieg sie aber erst im 20. Jahrhundert empor, vor allem durch die Pionierleistungen der drei Mineralogen Goldschmidt, Vernadsky und Fersman. Manche ihrer Resultate — es sei bloß an die Spurenelemente und ihre Bedeutung für die Bodenkunde und viele Mangelkrankheiten erinnert — sind auch für ganz andere als die im Namen Geochemie genannten Fächer von Bedeutung. Der Kundenkreis eines geochemischen

Labors umfaßt —wie das Basler Beispiel zeigt —ein breites Spektrum von Pathologen und Zahnärzten bis zu Festkörperphysikern und Astronomen.

Aus der Vielzahl von erdwissenschaftlichen Fragestellungen des Mineralogen sei als Beispiel ein im internationalen Gespräch besonders aktuelles und in unserem Lande im letzten Jahrzehnt stark gefordertes Thema der Petrologie, der Lehre von den Gesteinen, herausgegriffen; es soll das Fach und seine Arbeitsweise vorstellen.

Eingangs ist kurz auf die Vergänglichkeit des Münstersandsteines, auf seine Verwitterung im Basler Klima, hingewiesen worden. Umwandlungen viel tiefer gehender Art vollziehen sich intermittierend innerhalb der Erdkruste und werden als Gesteinsmetamorphosen bezeichnet.

Die meist an Gebirgszüge gebundenen, schmalen langgestreckten Zonen, in denen alle an der Erdoberfläche aufgeschlossenen und der Forschung direkt zugänglichen Gesteine in stark umgewandelter Form vorliegen, sind auf physikalisch-chemische Prozesse zurückzuführen, die vom tieferen Untergrund ausgehen. Die regional metamorphen Gürtel der Kruste bieten Probleme, die zur Zeit auf allen Kontinenten intensiv verfolgt werden, zu deren Lösung sich jedoch in den Alpen besonders günstige Voraussetzungen bieten. Vor allem in den südlichen Abschnitten der Schweizer Alpen sind im Tertiär, also in der geologischen Neuzeit, Gesteine unter hohen Temperaturen und Drucken umkristallisiert, ist ihr Gefüge umgeformt worden und sind in bestimmten Zonen granitische Schmelzlösungen entstanden aus Gesteinsmaterial, das vorher kein Granit war. Diese Vorgänge haben auf der Südseite der heutigen Alpen eingesetzt kurz nach der Zeit, da in der regio basiliensis der Blaue Letten, der den tieferen Baugrund der heutigen Stadt bildet und in den Fundamenten

von Großbauten (Spiegelhof, Storchengarage, Heuwaageviadukt) immer wieder bloßgelegt wird, in einem seichten Meeresarm abgelagert wurde. Diese Tongesteine sind seither nicht metamorphosiert worden; unsere Region ist seit fast 300 Millionen Jahren von heißen geologischen Umwälzungen verschont geblieben. Auf der Südseite der Alpen entstanden in diesem Zeitraum aber aus tonigen Sedimenten Glimmerschiefer und auch Gneise mit granitischen Linsen und Adern.

Das Studium der schrittweisen Umwandlung von Gesteinsserien unter steigender Temperatur und steigenden Drucken ist zu einem ungemein anziehenden Forschungsthema geworden seit dem raschen Ausbau der experimentellen Petrologie in der Nachkriegszeit. Die einfacheren der in der Natur stattgefundenen Mineralreaktionen können im Laboratorium unter kontrollierten Bedingungen nachgeahmt werden.

Der technische Fortschritt hat die Methodik wesentlich verbessert, und die physikalisch-chemische Behandlungsweise gibt vertieften Einblick in die Probleme. Wichtige Voraussetzungen für eine erfolgreiche Auswertung bleiben jedoch nach wie vor, daß die in der Natur sich abspielenden Umwandlungen und die Zusammensetzung der sich dabei bildenden Phasen genau erforscht werden, daß diese kritischen Reaktionen experimentell geprüft werden, und daß die Naturforscher, welche ihr Untersuchungsmaterial im Gebirge holen und es nachher im Labor analysieren, in ständigem Kontakt stehen mit ihren Kollegen, die das gleiche in der Retorte herstellen oder die Theorie von solchen Reaktionen überdenken. Diese Zusammenarbeit ist von entscheidender Bedeutung für den Fortschritt auf diesem Gebiet.

Die Arbeitsweise des Mineralogen beim Studium der Metamorphose ist mit Worten allein schwer zu schildern. Kalkfreie Tone — unser Blauer Letten ist nicht kalkfrei —

sind zur Hauptsache aus den Elementen Sauerstoff, Silicium, Aluminium und Wasserstoff zusammengesetzt. Sie bestehen dementsprechend vor allem aus Tonmineralien wie Kaolinit, also aus wasserhaltigen Alumosilikaten und aus Quarz.

Wird das Gestein erhöhter Temperatur ausgesetzt, so werden die Tonmineralien instabil, und es entstehen an ihrer Stelle Glimmermineralien. Bei stark erhöhter Temperatur und hohen Drucken kann Wasser nicht mehr im Kristallgitter eingebaut werden; auch die Glimmer werden abgebaut, und es kann sich unter Entweichen von Wasserdampf das reine Tonerdesilikat Disthen, bei noch höherer Temperatur die polymorphe Modifikation Sillimanit bilden. Dieses System ist experimentell gut untersucht. Meist sind die Reaktionen jedoch komplizierter: Aus den Mineralien A und B kann sich das Mineralpaar C und D bilden. So entsteht aus Kaliglimmer und Quarz bei Entwässerung das neue Paar Kalifeldspat und Sillimanit; die Gleichgewichtskurve dieser Reaktion ist ebenfalls bekannt.

Bei Temperaturrückgang bleiben normalerweise die höhergradigen Kristalle erhalten. In einem Gebiet, das in einer bestimmten Richtung den schrittweisen Übergang von schwacher zu starker Metamorphose zeigt, können somit in Serien gleicher chemischer Zusammensetzung verschiedene Mineralzonen erkannt werden, welche das sukzessive Auftreten und Verschwinden von Einzelmineralien (sog. Indexmineralien) und von bestimmten Mineralparagenesen anzeigen. Im angeführten Beispiel von tonigen Sedimenten bilden Disthen und Sillimanit solche Indexmineralien. Gesteine der gleichen Mineralzone sind unter gleichen Druck-Temperatur-Bedingungen entstanden; sie sind isograd.

Im Kartenbild bilden die Frontlinien, welche das erste Auftreten einer neugebildeten Mineralphase anzeigen oder welche die äußersten Fundpunkte einer kritischen

Mineralparagenese verbinden, Isograde der Metamorphose. Dieser Begriff stammt von Tilley 1924, und die Methode ist —in der Zeit vor dem Aufschwung der experimentellen Petrologie — in Schottland, später in Skandinavien und Nordamerika, mit wechselndem Erfolg erprobt worden, denn sie setzt manches voraus, was damals nicht bewiesen wurde: Einheitlichkeit der Metamorphose, Herstellung von chemischem Gleichgewicht, keine Störung des Kristallisationshofes durch spätere Krustenbewegungen.

Eigenartigerweise bilden heute die Zentralalpen, vor allem die Lepontinischen Alpen zwischen Simplon und Bernhardin, das vielbesuchte Paradebeispiel eines gründlich erforschten, durch Isograde wohl gegliederten regionalmetamorphen Gürtels, in dem auch neue Methoden erstmals im großen zur Anwendung kamen. Dies ist hauptsächlich der Zusammenarbeit zweier kleiner schweizerischer Hochschulinstitute, der Mineralogisch-Petrographischen Institute der Universitäten Basel und Bern, im letzten Jahrzehnt zuzuschreiben. Es wurde von ihnen nicht ein gemeinsames Monsterprojekt durchgeführt, sondern in gegenseitiger Information, Konsultation und Arbeitsteilung wurden organisatorisch getrennte Projekte koordiniert, bevor solche Bemühungen eidgenössische Politica wurden. Die Zusammenarbeit ergab sich bereits bei der Abklärung der Voraussetzungen zu solchen regionalen mineralparagenetischen Studien: Die Basler belegten durch Gefügeanalyse und das vergleichende Studium der Gebirgsstrukturen, also durch Bezugnahme auf die bei der Alpenfaltung geprägten Gefügekoordinaten, daß die Kristallisationserscheinungen die Deformationen begleitet und überdauert haben. Im betrachteten Bereich südlich des Gotthard sind somit die Glimmerschiefer und Gneise während und nach den Hauptbewegungen umkristallisiert, somit im Tertiär. Die Berner Kolleginnen

und Kollegen lösten die Frage auf vollständig unabhängigem Wege, durch Rb-Sr-Altersbestimmungen an Glimmern aus diesen Gesteinen und legten ein reiches Datenmaterial vor. Es wurden im gleichen Gebiet durchwegs miozäne Glimmeralter festgestellt. Nebenbei sei erwähnt, daß eine der ersten Altersbestimmungen (Jäger und Faul, 1959) den Biotit aus dem hellen granitischen Gneis der Valle Verzasca betraf, aus dem die Brüstung unserer Mittleren Rheinbrücke besteht. Das Rb-Sr-Alter des seither zum Weltstandard gewordenen Glimmers von Brione-Verzasca beträgt 16 Millionen Jahre, ist also jugendlicher als der Blaue Letten. Solches zu behaupten war noch vor 25 Jahren ein Sakrileg.

Diese Befunde haben den Weg frei gemacht für die gezielte Erforschung der Mineralparagenesen im letzten Jahrzehnt, unter Einsatz optischer, röntgenoptischer und geochemischer Methoden; denn an der Realität einer durchgreifenden tertiären Regionalmetamorphose in den Lepontinischen Alpen war jetzt nicht mehr zu zweifeln.

Im Zeichen des Naturschutzjahres sei auch hier eine spontane Bemerkung eingeflochten. Solche Untersuchungen verlangen reichhaltige, das ganze Untersuchungsgebiet gleichmäßig umfassende Sammlungen, die als wissenschaftliches Belegmaterial dienen. Diese Proben enthalten unscheinbare gesteinsbildende Mineralien, die meist erst unter dem Mikroskop identifiziert werden können. Es handelt sich also nicht um die wohl ausgebildeten, ästhetischen Großkristalle aus Drusen und offenen Klüften. Diese Schmuckstücke der Natur werden heutzutage in den Alpen von Scharen von Liebhabern gesammelt und verschwinden in Privatkollektionen; die Natur verarmt zusehends. Wir schützen Tiere und Pflanzen, die sich in Jahresfrist wieder vermehren können. Kristalle verlangen für ihr Wachstum geologische Zeiträume. Was heute ausgeraubt wird, ist

für diese Menschheit verloren. Möge sich der Naturschutz dieser Situation annehmen, damit kommende Generationen auch außerhalb der Museen die Kostbarkeiten der Natur noch bewundern können.

Die zur Zeit faszinierenderen, mit den Problemen der Erdkruste eng verflochtenen gesteinsbildenden Mineralien und ihre Paragenesen wurden in den letzten zehn Jahren nach den geschilderten Richtlinien erforscht, und zwar nicht nur in tonerdereichen Serien, sondern simultan auch in den dazwischen geschalteten Gesteinsfolgen anderer stofflicher Zusammensetzung, wodurch sich ausgezeichnete Kontrollmöglichkeiten ergaben. Es wurden auch weitere Kriterien verwendet:

1. Viele gesteinsbildende Silikate bilden Mischkristallreihen mit teilweiser oder vollständiger Substitution von Atomen und Atompaaren. Die Variabilität der sich stellvertretenden Atome hat sich im gut untersuchten System der Ca-Na-Feldspäte als ausgezeichneter Indikator erwiesen, sofern nur gleiche Paragenesen miteinander verglichen werden. Der Ca-Gehalt des Mischkristalles nimmt zu mit steigendem Metamorphosengrad, hauptsächlich mit steigender Temperatur.

2. Untersucht wurde auch die Elementverteilung auf koexistierende Mineralphasen. Die Verteilung von oktaedrisch koordiniertem Aluminium auf helle und dunkle Glimmer des gleichen Gesteins beweist, daß ein Gleichgewichtszustand in der Regel hergestellt wurde. Der Verteilungskoeffizient ändert jedoch mit dem Metamorphosengrad. Die KD-Werte zeigen im Kartenbild eine auffallend ähnliche Anordnung wie die klassischen Isograde.

3. Wir wissen durch die Arbeiten von Winkler und Platen (1957-65), daß sich bei der experimentellen Metamorphose von Sedimenten (Grauwacken und Tonen) bei einem H 2 O-Druck von 2 kb und Temperaturen

um 700°C granitische Schmelzen zu bilden beginnen. Das erste Auftreten von solchen Quarz-Feldspat-Mobilisaten in Adergneisen natürlichen Ursprungs entspricht diesem Grad der Umwandlung.

Alle Evidenz zusammen ergibt für die Lepontinischen Alpen ein eindrücklich geschlossenes Gesamtbild eines Kristallisationshofes mit hochgradigem Kern und schwächer metamorphen Randzonen, mit Systemen von konzentrischen, sich nur lokal etwas überschneidenden Isograden. Das für die Geologie wesentliche Resultat liegt bereits vor; aber zur Abklärung mancher sich jetzt neu stehender petrologischer Fragen ist noch viel Arbeit zu leisten.

Der Mineraloge und Geochemiker stellt also anhand von verschiedenartigen Verteilungsanalysen an Gesteinsserien gleicher chemischer Zusammensetzung, jedoch ungleichen Metamorphosengrades (isochemisch-heterophysikalische Reihen), aber auch in chemisch ungleichen isophysikalischen Serien systematische Unterschiede und Übereinstimmungen fest, die Aussagewert besitzen und für die Zentralalpen ein geschlossenes Gesamtbild ergeben. Auf die Frage nach der Bedeutung der Abfolgen von Isograden, also nach den Gründen für das «so-und-nicht-anders-Sein» gibt die Physikalische Chemie auf Grund von Theorie und Experiment Antworten, die für die Erdwissenschaften überaus wichtig sind.

Die Alpengeologie ist in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts einseitig vom architektonischen Standpunkt aus betrachtet worden. Der jetzige Beitrag der Mineralogie-Petrologie liefert folgende geologische Gesichtspunkte: Im Tertiär haben Kristallisationsphänomene die Alpenfaltung begleitet und überdauert; die Isograde der progressiven Regionalmetamorphose wurden —abgesehen vom äußersten Südrand —nicht gestört

durch spätere Krustenbewegungen. Auf der Südseite der Alpen wurde ein reich gegliederter Kristallisationshof nachgewiesen, der in der durch Erosion bloßgelegten, höchstgradig umgewandelten Zone auf Temperaturen von bis zu 700° C bei Drucken von 3 bis 7 Kilobar schließen läßt. Diese Zone mit dem größten Wärmefluß, zwischen Centovalli und Bergell, ist 100 km lang und etwa 20 km breit. Der schmale langgezogene heiße Körper, in dem bei geeigneter stofflicher Zusammensetzung granitische Schmelzen partiell gebildet wurden, besitzt steile Flanken. Er ist auf physikalische Prozesse zurückzuführen, die von tieferen Erdzonen ausgehen und damit geht das Thema weiter an die Geophysik.

Die Befunde in den Alpen haben ein weltweites Gespräch unter Mineralogen, Petrologen und an Silikatsystemen interessierten Physikochemikern eingeleitet. Sie haben Theoretiker und Praktiker veranlaßt, die Abfolgen von Mineralparagenesen an Ort und Stelle zu überprüfen — in der Natur, die stets recht behält. Die für diese Fragen entscheidenden Schlüsselstellen liegen nicht an den Heerstraßen. Die Zwiesprache mit der Natur führt die Diskussionspartner immer wieder hinaus in die Wildnis, wo am Feierabend Schüler und Lehrer, und Kollegen verschiedener Zunge symbolisch zum Ausdruck bringen: Wir sitzen im Kreis am gemeinsamen Feuer.

Diese Einsicht, daß wir in besonderen und auch in allgemeinen Fragen verschiedene Ansichten vertreten können, daß aber die Förderung des gemeinsamen Anliegens unsere große Aufgabe ist, muß über die Petrologie hinaus unser Handeln bestimmen: Wir sitzen im Kreis am gemeinsamen Feuer.