Zur gegenwärtigen Situation der Universität Basel

Rektoratsrede gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel

am 26. November 1971
Verlag Helbing & Lichtenhahn. Basel 1971

© 1971 by Helbing &Lichtenhahn, Verlag, Basel
Druck von Friedrich Reinhardt AG, Basel
Manuskript abgeschlossen am 22. September 1971

Zur gegenwärtigen Situation der Universität Basel

Eigentlich ist es Tradition, daß der jeweilige Rektor, eine flüchtige Erscheinung in der relativen Konstanz des Universitätsganzen, anläßlich der Jahresfeier der Hohen Schule in mehr oder minder allgemein verständlicher Sprache aus dem Fache berichtet, das er an der Universität vertritt. Er wendet sich an eine begrenzte Öffentlichkeit, die sich für die Universität ex officio interessieren muß, aber auch aus echter Verbundenheit, aus eigenem Bedürfnis und vielleicht aus sympathischer Neugier an ihrem Ergehen Anteil nimmt. Die Hochschule sollte es ja sein: Anliegen möglichst großer Teile unserer Bevölkerung.

Die Rede, die der Rektor zu halten gedenkt, wie es die baslerisch vorsichtige Ankündigung besagt, möchte nicht zuletzt auch eine in ihrer Mentalität wie im fachlichen Bereich in mancher Hinsicht in Divergenz begriffene inneruniversitäre Korporation zu berühren versuchen. Solches bedenkend, wird der Sprechende sich fragen, ob es für uns, die wir hier versammelt sind, nicht Bedürfnis sei, uns klarer darüber zu werden, was zur Zeit an dieser Hochschule geschieht. Geht es nicht wesentlich auch darum, ob faktisch noch existent sei, was man die Idee der Universität genannt hat: wegweisende,

geistige Mitte für viele Menschen zu sein. Möchten wir uns nicht darüber Rechenschaft geben, ob bei aller Berücksichtigung von Nützlichkeitsaspekten, die nach sozialen, wirtschaftlichen und somit auch nach politischen Interessen ausgerichtet sind, das Bestreben an der Universität noch Boden habe, einem verantwortungsbewußten, wahrheitssuchenden Wissen und Verstehenwollen dienlich zu sein? Sind wir nicht auch in Sorge, ob gar planmäßig gelenkte Agitationen destruktiver Minoritäten letztlich unsere Freiheit gefährden könnten?

Dann aber kann es in kritischer Phase, in der sich unsere Universität befindet, nicht Aufgabe des Mediziners und Ophthalmologen sein, sich hier fachbezogen zu äußern. In einer Zeit experimentierenden Überganges zu neuer gesetzlicher Ordnung, des umstrittenen Umbruchs vieles Herkömmlichen, mancher bisher als unantastbar betrachteter hierarchischer Strukturen, schiene es mir abwegig, mich Ihnen als Fachvertreter im gesamtuniversitären Rahmen vorzustellen. Freilich, es ließe sich Besinnliches über Größe und Not zugleich der heutigen Medizin sagen — elle va perdre son caractère humain, hat Georges Duhamel gemeint — oder man könnte über die dem Ganzen der Heilkunde dienende Aufgabe der Ophthalmologie berichten. Der entscheidende Begründer heutiger Konzeption dieses weiten Faches, Albrecht von Graefe, unentwegter Kämpfer auch gegen stupide Uneinsichtigkeiten staatlicher Berliner Instanzen, hat sich vor 130 Jahren der Ophthalmologie mit der ungewöhnlichen Kraft seines Ingeniums zugewandt, weil, wie er fand, das Auge in seiner Durchsichtigkeit und Klarheit auf manche Frage der Pathologie die beste Antwort geben könne 1. In solch fachlichem Bereich fühlte sich der Sprechende kompetenter, setzte sich in geringerem Maße der Kritik aus, die in

Basel ohnehin auftriebschaffendes Bedürfnis scheint. Er glaubt jedoch, angesichts der Aktualität unserer unruhigen Hochschulsituation solle es seine Aufgabe sein, eine allerdings nur andeutend mögliche Antwort zu suchen auf die Frage, wie er die gegenwärtige Situation unserer Universität, ihre eigentlichen und von der Zeit bestimmten Aufgaben, die durch eng gezogene Grenzen gegebenen Möglichkeiten zu sehen vermag. Es kann dies nur subjektiv, in kaum emotionsfreier Mangelhaftigkeit geschehen, auch deswegen, weil es nicht möglich scheint, den heute komplex gewordenen und verschieden aufgefaßten Begriff der Universität eindeutig zu formulieren. Es will den Sprechenden fast Beklommenheit erfassen, wenn er der Ehrwürdigkeit dieses hohen, kühlen Münsterraumes inne wird, wo am 4. April 1460 der von Pius II. ernannte Universitätskanzler, Bischof Johann von Venningen, Georg von Andlau als ersten Rektor designiert hat, ihm den feierlichen Eid abnehmend, nach Kräften das Beste der Universität zu fördern, ihr Schaden abzuwenden und seine Pflichten treu zu erfüllen 2.

Wenn wir uns die Frage stellen: Wo stehen wir heute, wird der Arzt, der versucht, nicht einseitiger Spezialist zu sein, sich danach richten, daß der Mensch mehr ist als seine Teile, und sich bemühen, mit Hilfe von Anamnese und kritischer Befundermittlung zu möglichst richtiger Diagnose zu kommen. Dabei will er nicht vergessen, daß es bei der Beurteilung von etwas, das «lebend sich entwickelt», das auf komplex konstellierten, konstitutionellen wie konditionellen Begebenheiten ruht — ähnlich wie bei der Krankheit — um etwas individuell Einmaliges geht, in seiner letzten Wesenheit nie ganz zu Erfassendes. Das mag auch für unsere Universität gelten, die zur Zeit durch gleichsam epidemisch sich ausbreitendes geistiges Kranksein behindert scheint.

Wenn ich mich an Jaspers 3 Antwort auf das «Wo stehen wir heute?» erinnere: «Frage und Antwort haben Wahrheit nur in der Bewegung zum Entschluß des eigenen Tuns», dann mag das weitere Rechtfertigung sein, wenn wir uns jetzt mit einer Beurteilung der gegenwärtigen Lage unserer Universität zu befassen versuchen. Will man diese Situation einigermaßen richtig sehen, so kann das nur in Berücksichtigung weltweiter Entwicklungstendenzen, des rational kaum faßbaren Zeitgeistes geschehen. Nur so werden mannigfaltige Schwierigkeiten begreiflicher, mit denen diejenigen konfrontiert sind, die für das heutige Wirken der Hochschule ebenso verantwortlich sind wie für das Sorgen um ihren weiteren Weg in zeitlich angemessener, quantitativ und qualitativ richtig dosierter Planung und vernünftig koordinierter Aufgabenverteilung.

Solche Prämissen sind nötig; überflüssig wohl, sie näher zu charakterisieren. Wir wissen um Fährnisse und Problematik unserer Zeit, obschon wir sie zu verdrängen pflegen, um eigenes Tagewerk und Wunsch nach Daseinsfreude nicht in Frage zu stellen. Wenn wir andeutend von einer generellen Zeitsituation sprechen, so deshalb, weil wir meinen, was Jaspers 4 anläßlich der 500-Jahrfeier gefordert hat, müsse für alle Teile der Hochschule ein freilich schwer erreichbares Ziel sein: Die Universität solle die Stätte des hellsten Bewußtseins des Zeitalters sein, wo das Äußerste zur Klarheit komme, sei es, daß wenigstens an einer Stelle völlig bewußt werde, was geschieht, sei es, daß die Klarheit, in die Welt wirkend, hilfreich werde. Ist uns das überhaupt möglich? Vorbedingung wäre wohl, daß wir es als ebenso schlichte wie schwere Aufgabe betrachteten, in einer Zeit verbreiteter weltanschaulicher Unsicherheit, geringer Standfestigkeit und deshalb verbreiteter Ruhelosigkeit

und schließlich aggressiver Zerstörungstendenzen, drohenden Verfalls der Ordnung, durch das, was die Franzosen charité, amour du prochain, nennen, in undogmatischer Denkweise gemeinsam tragenden Grund zu suchen, die Verantwortlichkeit wissenschaftlichen Denkens und Tuns zu sehen. Ist es utopisch, sich vorzustellen, man könne sich an der Universität, über alle Differenzen des Hoffens, Wollens und Könnens hinweg, beispielgebend verständnisvoll die Hand reichen und so «in die Welt wirkend hilfreich sein»; sie hätte es so nötig.

Dazu brauchte es in erster Linie Toleranz. Der deutsche Sozialdemokrat Carlo Schmid 5 hat einmal gesagt: Tolerant sein heiße nicht nur den Anderen ertragen, sondern daß wir wollen, daß es den Anderen gibt, daß es sein Anders-Sein gibt. Freilich, zu solcher Toleranz bedarf es für die nach Mitscherlich «von Natur hoch aggressive Spezies Mensch» ein großes Maß an Selbstüberwindung, zu der wir alle nicht immer fähig sind. Allerdings wird Toleranz zur verwerflichen Schwäche, falls sie tatenlos zusieht, wenn zerstörende Kräfte den Bestand eines demokratischen Rechtsstaates in Frage stellen. Könnte die Universität nicht auch ein Ort sein, wo zunächst die Lehrenden, mehr auch nach dem Anderen fragten, gelegentlich des Bruders Hüter, statt sich gleichgültig, geringschätzig, spöttisch, empört von ihm abzuwenden? Sollten wir nicht über die Mahnung eines Richard Schwarz 6 nachdenken: Es sei die Tragödie der heutigen Wissenschaft, daß sie im Namen reiner Wissenschaftlichkeit das Menschliche glaube beiseite lassen zu können.

Wissenschaftliche Forschung muß frei sein, aber sie ist verpflichtet, sich über Verwendung ihrer Ergebnisse Rechenschaft zu geben, sich darum zu kümmern, was Technik und Industrie, die Wirtschaft, daraus machen.

Das Suchen nach gemeinsamem ökumenischem Stand-Ort —im weitesten Sinne —nach zusammen erarbeiteten Wertentscheidungen, nach der Freiheit vom «Nur-Ich», die es möglich macht, mutig einen eigenen Standpunkt zu vertreten, gerade weil man sich selbst eine Grenze zu setzen vermag, all das fällt schwer, weil uns oft ein letztlich sinngebender Maßstab, ein normatives Ethos fehlt. Stattdessen trachten wir vielleicht zu sehr, uns gegenseitig anzutreiben, zu überholen, dennoch meist ohne es dem Anderen zu bekennen, gelegentlich bange nach dem Sinn eigener Existenz fragend, in ambivalentem Unbehagen. Zu neuem Verständnis der Aufgaben und Funktionen der Universität gehört zunächst wohl die Einsicht des Einzelnen in die mögliche Notwendigkeit eines Gesinnungswandels, ob man nun die Hochschule als Institution, die dem Geistigen an sich, voraussetzungsloser Forschung zu dienen habe, ansieht, oder zunächst als Organisation, die der Gesellschaft nützen soll, indem sie zu Führungsaufgaben Qualifizierte aus allen Schichten des Volkes ausbildet. Haben für uns stattdessen nicht oft utilitaristische Vorstellungen Vorrang, Nützlichkeiten für ein Gedeihen im Äußeren, für Ehrungen aufgrund manchmal recht flüchtiger publizistischer Erfolge? Ist uns Besitz, sich leisten zu können, was materiell möglich ist, nicht noch zu wichtig? Und bedeutsamer noch: Der Zürcher Physiker Heitler 7 hat es so formuliert: «Die Überwertung quantitativer Resultate, der Prävalenz des Kausalgesetzes, treibt die zumal in naturwissenschaftlich-medizinischen Bereichen an der Universität gepflegte Wissenschaft und die von ihr beeinflußte Welt letztlich in Enge und Not». Die explosive Entwicklung der Naturwissenschaften und ihrer Produkte der Technik, großartige Leistungen menschlicher Intelligenz und Kreativität, werden zur Gefahr,

wenn sie nicht durch die Zucht des Verantwortungsgefühls maßvoll gelenkt und gebraucht werden. Die Länge der Verweildauer im Weltenraum und die Höhe eines nationalen Sozialproduktes sind nicht entscheidend für verhältnismäßiges Wohlbefinden schon für Viele im eigenen Land, geschweige denn für größte Teile einer heute in Kriegs- und Hungersnot und elementarer Existenzangst dahinlebenden, sich dabei unsinnig vermehrenden Menschheit 8.

«Die wissenschaftliche Forschung hat Grenzen», hat uns Paul Huber 9 gemahnt. Dem entspricht Claude Bernards: «L'élément ultime est physique, l'arrangement est vital.» In solcher Lage hat man an der Universität auch dafür Verantwortung, daß unsere irreversibel technisierte und industrialisierte Welt nicht durch weitere Zerstörung natürlicher Landschaften, durch Gewässerverschmutzung und Luftverunreinigung, durch ungenügende Sicherung sinnvoller Lebensgestaltung einer wachsenden Zahl alter Menschen an ihrem vermeintlichen Fortschritt erstickt, statt daß wir uns in vernünftiger Beschränkung einen Lebensraum schaffen, in dem man mit einiger Freude existieren kann. Menschliches Leben, so hat J. Weltmann 10 es kürzlich gesagt, werde de facto zur moralischen Aufgabe, es gehe um glückliches Leben im Frieden des Daseins. Freilich dürfte es schwer fallen, generell zu erklären, was man unter Glück und Frieden verstehen wolle. Auch darum gilt es, das sogenannte Selbstverständnis der Universität, die Möglichkeiten, welche die Hochschule dem Einzelnen zu seinem Selbstverständnis bietet, vorurteilsfrei zu überprüfen, das heißt, sich in allen ihren Bereichen klarer zu werden, was tieferen Sinn, Konsequenz universitärer Arbeit in Lehre, Forschung und Dienstleistungen seien. Dabei führen uns weder utopische

Emotionalitäten noch starres Festhalten am tradierten Denken weiter. Man wird sich fragen müssen, ob die Menschen, die in der Hochschule lehrend und lernend in nicht unreziproker Beziehung wirken, nicht hoffnungslos überfordert seien — wenn ihnen die Aufgabe gestellt ist — für Bildung, menschliches Verantwortungsbewußtsein vor allem, besorgt zu sein, gleichzeitig neben Reformierung der Ausbildungsgänge und -ziele in pädagogischer Verpflichtung soziale Funktionen wahrzunehmen und dabei in wissenschaftlicher Forschung weiter zu kommen. Möglich, aber dann muß man Unwichtigeres zurückstellen. Doch das braucht nicht so zu sein; ja das Eine ließe sich im Geiste des Anderen bei zweckmäßiger Neuordnung und Aufgabenverteilung vielleicht in einer dem Menschen angemesseneren Weise erfüllen. Einsicht in die Notwendigkeit gemeinsamen Suchens nach einem Neuverständnis der Hochschule braucht weder die curiosités intellectuelles, noch die méthodes de bien penser zu hemmen. Allerdings für allmähliches Gelingen ist für uns Alle Voraussetzung: Glaube an die Richtigkeit des Weges, Wille ihn zu finden und zu gehen und auch weitgehendes Unbehelligtsein durch Zeitvergeudung in vermeintlich unvermeidlichen Sitzungen, die uns unnötig komplizierte Organisationen bescheren könnten; Voraussetzung nicht zuletzt auch, daß es uns gelingt, destruktive Oppositionskräfte geistig zu überwinden, in voller Erkenntnis aller Mangelhaftigkeiten dessen, was man Establishment zu nennen pflegt. De Madariagas 11 Forderung «Durch Freiheit zum Dienen, durch Dienen zur Ordnung, durch Ordnung zur Freiheit» haben wir wohl noch nicht erfüllt. Wenn wir die Situation unserer Universität kritisch betrachten, so wäre es nicht recht, zunächst nicht froh zu sein, daß dank einem günstigen historischen

Schicksal unser Land und diese Stadt vor eigentlichen Katastrophen bewahrt wurden, daß wir uns in großer Prosperität beachtlicher Ruhe erfreuen, daß viel Positives in Stille geleistet wird. Das will nicht heißen, bei uns sei alles leidlich in Ordnung, die Zukunft noch hoffnungsvoll, relativer Frieden ein dauerhaftes Geschenk. Gerade die letzten Jahre haben uns wohl klargemacht, daß es um Überdenken der universitären Aufgaben und ihrer Realisierungsmöglichkeiten geht. Das muß uns Anlaß sein, Gefahren, die in uns und um uns drohen, aufmerksam zu erkennen. Zu fruchtbarer Weiterentwicklung ist ein affektfreies Überdenken der Zielsetzungen in allen Disziplinen notwendig. Zunächst bedürfen wir eines verständnisvollen Zusammenwirkens der Gruppierungen, vor allem der Lehrenden und Lernenden. «Das Kollektive kann», wir stimmen Heinrich Ott 12 zu, «durch das Gespräch schöpferisch werden» freilich nicht durch Geschwätz. Entscheidend aber ist die Einsicht des Einzelnen, in welchem Geiste er, die Relativität seines Sachverstandes bedenkend, dem Ganzen dienen könne. Vorurteilsverhaftetes Denken eignet dem im Grunde selbst Unsicheren, der Halt im Herkömmlichen braucht. Sein hochmütiger Dogmatismus ist oft Ausdruck der Angst, zu versagen. Das gilt auf der Rechten wie auf der Linken, für jung und alt.

Wir sprachen von experimentierendem Aufbruch zu neuer gesetzlicher Ordnung. Daß wir uns in einer zur Entscheidung drängenden Phase der Hochschulevolution befinden, für die wir Alle Mitverantwortung tragen, dürfte evident sein. Die Experimentierphase kann für die Fassung des Universitätsgesetzes bedeutsam sein. Der entsprechende Ratschlag, von den Verantwortlichen des Erziehungsdepartementes ausgearbeitet, liegt bei der Regierung. Wir glauben ihn zu kennen. Kommissionsberatungen

des Großen Rates dürften erneut in vielseitig divergierenden Vernehmlassungen beträchtliche Modifikationen bewirken. Diese Experimentierphase sollte, auf klar umschriebene Problemkreise bezogen, Entscheidungsgrundlagen möglich machen. Eindeutig ist freilich eine solche grundlegende Problematik nicht definiert, die das neue Gesetz durch die Struktur, die es schaffen möchte, lösen sollte: bildende und ausbildende, fortschreitende Funktionsfähigkeit der Hochschule möglich zu machen. Erschwerend und erklärend für eine gewisse Unsicherheit der Konzeption ist das Fehlen einer eindeutigen gesamtschweizerischen Bildungspolitik, die inkommensurable Modifikationsgröße möglicher Entscheidungen auf Bundesebene, die aus unserer Universität hoffentlich nie eine eidgenössische Hochschule machen werden.

Dank einer Gesetzesnovelle war in Basel ein grundlegendes Experiment möglich, das unser Gesetz von 1937 nicht zugelassen hätte. Die Regenz ist im vergangenen März zu einem pluralistischen, parlamentartigen Gebilde zusammengetreten, dem auch 12 Studenten angehören. Ein Urteil ist noch verfrüht, aber man darf doch behaupten, bisher habe dieses Parlament in beachtlicher Disziplin, in erheblicher Verständigungsbereitschaft insofern nützliche Arbeit geleistet, als es in demokratischer Weise zu kollektiven Entscheidungen gekommen ist, als man zu lernen begonnen hat, sich bei mancher Differenz der Meinungen meist sachlich auseinanderzusetzen, Vertrauen zwischen den Gruppierungen wachsen zu lassen. Auch konstruktive neue Ideen müssen von Andersdenkenden zur Kenntnis genommen, allenfalls als Alternativen in rationaler Diskussion angegangen werden. Andererseits konnten sich Ultraprogressive klar werden, daß Absichten, in der

Universität die Gesellschaft grundlegend etwa nach fremdem Vorbild umzudemokratisieren, von der überwiegenden Mehrheit auch der Studenten, als mit einer rechtsstaatlichen Grundkonzeption neuer universitärer Ordnung unvereinbar angesehen werden. Echte Demokratisierung, das bedeutete zunächst Hintansetzung formaler und Dominanz sachlich begründeter Autoritäten; sie kommt in echter Teamarbeit zum Ausdruck. Die pluralistische neue Regenz erheischt freilich intensive Vorbereitung Aller, mehr geistig-kritische Präsenz und Diskussionsfähigkeit ihrer Mitglieder. Sachlich nützliche Dialektik zwischen den Generationen — die nicht nur durch die Polaritäten der Ordinarien und Studierenden repräsentiert werden — muß sich noch besser einspielen, so gut wie in Institut, Seminar und Klinik. Daß die Beschlußprotokolle der Regenz der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden, ist auch ein Experiment im Dienste der Transparenz der Hochschule. Die Universität gehört Allen, die auch ihretwegen Steuern zahlen. Die Öffentlichkeit hat gerade heute, wo Vieles, was im Bereich der Wissenschaft geschieht, Alle berührt, wo jedermann daran Interesse haben sollte, daß sich die Wissenschaft auch der Lösungsversuche sozial bedeutsamer Probleme annimmt, Anrecht auf sachliche Information durch eine faire, ihrer enormen Verantwortung bewußte Presse, vor allem aber durch die Universität selbst. Auch die Öffentlichkeit soll Mitverantwortung für den Weg der Hochschule übernehmen können. Seit Beginn dieses Jahres hat es der Rektor unternommen, eine weitere Öffentlichkeit mit Problemen der Hochschule vertrauter zu machen. Unter anderem sind erste Nummern «Basler Universitäts-Nachrichten» erschienen. Sie bedürfen einerseits des Ausbaues im Sinne eines Mitwirkens

der Fakultäten hinsichtlich sinnvoller Orientierung eines interessierten Publikums über Lehrprogramme, Forschungsobjekte und -ergebnisse. Andererseits darf das universitäre Informationsblatt nicht zu unsachlichen Aggressionen mißbraucht werden. Kritik, auch herbe, am Bestehenden und Geplanten, ist gerade in der Experimentierphase eine notwendige, anregende Kraft. Sie muß aber, schon um Gehör zu finden, auf Häßlichkeiten verzichten. Die wichtige inner- und außeruniversitäre Information ist primär eine Aufgabe des Rektors. Wenn es auch wohl richtig war, daß er in den Universitäts-Nachrichten im Interesse der Nativität der Äußerungen auf Zensur der Einsendungen verzichtete, so bedurfte die Konzeption dieses Experimentes doch der Modifikation. Es scheint gegeben, dem Rektorat mit der Zeit ein kleines Stabsorgan zur Erfüllung bestmöglicher Informationspflicht beizugeben.

In der neuen Regenz, vielleicht dem späteren Fakultätenrat, haben Assistenten und Studenten nicht nur Mitsprache-, sondern in der Relativität, die Minderheiten eignet, auch Mitbestimmungsrecht. Daß sie Ähnliches auch für die Fakultätsversammlungen anstreben, ist verständlich. Die Motive, besonders der Studierenden, aber sind verschieden. Einem kleinen Teil geht es um die Durchsetzung politischer Tendenzen, die einen grundlegenden Strukturwandel für die Gesellschaft schlechthin am Modell der Universität zum Ziele haben. Der weit größere Teil der überhaupt am Institutionalen der Hochschule Interessierten möchte in den Entscheidungsgremien studentischen Auffassungen Gehör verschaffen und zu Beschlüssen beitragen. Das ist in der groß gewordenen Universität in der natürlichsten Weise durch Gespräch zwischen Dozenten und Studenten leider kaum mehr möglich. In diesem

Zusammenhang sei darauf hingewiesen, was Karl Schmid 13 vor zwei Jahren am Dies in St. Gallen gesagt hat: «Die Studenten —gemeint war die große schweigende Mehrheit —tragen Mitschuld, wenn die kleine Minderheit lachender Umstürzler obenaus schwingen sollte. Wenn man jetzt die runden Tische zimmert, an denen Mitsprache und Mitbestimmung geübt werden sollen, müssen die Studenten sehen, daß die Stühle nicht nur von extremen Aktivisten besetzt werden». Eine Mahnung geht auch an die Professoren, «die sich nicht vorstellen wollen, daß Manches an der Hochschule der Änderung bedarf und die von all dem, was sich unter der Jugend begibt, von vorneherein denken, es sei übel.» Wenn sich auch unter den Studierenden differente Meinungsgruppen unterscheiden lassen, so sei trotz dem Urabstimmungsergebnis vom letzten Juni nicht übersehen, daß weithin die junge Generation, mit uns Älteren in mancher Hinsicht unzufrieden und über uns enttäuscht, für eine Radikalisierung nicht unempfänglich ist. Sie, die skeptische Generation Schelskys 14, ist zu beträchtlichem Teil beunruhigt über die gegenwärtige soziale, politische und geistige Situation, fürchtet eine Verschulung der Universität durch einen kapitalistischen oder sozialistischen Wirtschaftsstaat. Erstaunlich, daß sie die in solcher Hinsicht ungute Konsequenz des «Lausanner Modells» übersieht, dieses an sich diskutablen Projektes der Studienfinanzierung 15. Hüten wir uns, manche Studenten, die zu konstruktiver Zusammenarbeit bereit sind, durch repressives Verhalten zum Ausbruch aus einer ihnen nicht sinnvoll scheinenden Umwelt zu veranlassen und sie so zu destruktivem Verhalten zu verleiten. Vergessen wir nicht, daß Manche aus der jungen Generation nach einer vorbildlichen Autorität verlangen, die sie im Bereich der Hochschule vielfach

vermissen, daß sie oft auch enttäuscht sind, über Mangel an Haltung 16, nach einem Sinn ihres Mensch-Seins suchend.

Die universitären Entscheidungsgremien, wie immer sie auch heißen mögen, sollten — den Erfahrungs- und Verantwortungsmöglichkeiten der Maßgeblichen entsprechend zusammengesetzt — in kollegialer Kooperation arbeiten. Dabei ist der heute die Universität so weitgehend mittragende Mittelbau seiner Wertigkeit entsprechend einzubeziehen. Für Alle geht es darum, von Parolen, von der Phrase, von den autochthonen oder häufiger induzierten Zwangsvorstellungen, was richtig sei —auf der Linken wie auf der Rechten —frei zu werden; wir möchten im Suchen nach dem, was in wissenschaftlich schöpferischer Freiheit gesehen wahr sein dürfte und durch sein Wahrsein dem Ganzen dient, vorwärtskommen. Aber wir wollen uns hüten vor einer «in permanenter Diskussion paralysierten Universität», wie sich F. G. Meier 17 in Konstanz kürzlich ausgedrückt hat. Haben die Verhältnisse an manchen deutschen Hochschulen nicht gezeigt, daß es eine Form der Demokratisierung gibt —etwa die Drittelsparität aller Gremien — die mit den Bedürfnissen von Lehre und Forschung unvereinbar ist? Bei aller Einsicht, daß nicht leicht festzulegen ist, was eigentlich nichtstudentische Angelegenheiten seien, dürfte in zwei Bereichen zwar Mitsprache, aber nicht Mitbestimmung der Studierenden richtig sein: bei Berufung von Universitätslehrern und bei der Vorbereitung von Forschungsprogrammen; hier ist genügende Sachkenntnis Voraussetzung. Daß die bisher Zuständigen gelegentlich zu Fehlentscheidungen gekommen sind, ist kein Anlaß zu Verschlimmbesserungen. Zusammensetzung und Kompetenzen futurer Fakultätsversammlungen und Berufungskommissionen

bedürfen im neuen Universitätsgesetz jedenfalls reiflicher Überprüfung.

Ein wichtiges Experiment ist die Einsetzung der aus Universitätsangehörigen zusammengesetzten Koordinationskommission, dieses Stabsorganes des Erziehungsdepartementes. Sie bereitet analysierend, anhörend, beratend und planend Entscheidungen vor, die schon immer letztlich bei der Regierung lagen. In verdankenswerter Arbeit hat diese Kommission, begreiflicherweise nicht nur zur Freude der Betroffenen, die Bedürfnisse der einzelnen Institutionen zur Kenntnis nehmend, die finanziellen Folgen für unseren so befrachteten Staatshaushalt bedenkend, mit einer planenden Reorganisation begonnen, welche die Freiheit der Forschung nicht behindern soll. Dazu wären Kuratel, Rektorat und Fakultäten zum mindesten aus Zeitgründen nicht in der Lage gewesen. Max Weber hat schon 1919 für die deutschen Universitäten erklärt, innerlich wie äußerlich seien die Universitätsverwaltungen fiktiv.

Das neue Universitätsgesetz sieht eine zweigliedrige Universitätsleitung vor. Einerseits Rektorat und Fakultätenversammlung — alias Regenz — in gewissem Sinne als Exekutive, andererseits den siebengliedrigen Universitätsrat mit auch legislativer Funktion. Dem zweiten, konstanteren Organ wird, seine wissenschaftliche Sachkenntnis und seine Befähigung zum nötigen Arbeitsaufwand voraussetzend, deutliches Übergewicht gegeben, also auf eine Rektoratsverfassung verzichtet. Dennoch bedürfen Rektorat und Regenz wertiger und sinnvoller Funktionen. Der Universitätsrat soll zuständig sein für die Führung der Universität im organisatorisch Grundsätzlichen, etwa in Verteilung und Prioritätsfestlegung eines vom Großen Rat bewilligten Globalbudgets, die Begehren der Fakultäten koordinierend.

Für die Festsetzung der Aufgaben und Kompetenzen dieses aus staatlichen und universitären Vertretern unter einem vollamtlichen Präsidenten zusammengesetzten Leitungsgremiums sind Erfahrungen mit der jetzigen Koordinationskommission, die in transparenter Weise zustande kommen sollen, von erheblicher Bedeutung. Eine verständnisvolle Zusammenarbeit dieser ungleichen Spitzen der Hochschule wird eine schwierige Aufgabe sein. Ohne klare Festsetzung der notwendigen Machtbefugnisse ist eine Führung der Universität so wenig möglich wie die Leitung eines demokratisch «durch das Volk für das Volk» regierten Staatswesens. 18 Aber mit der Macht wächst auch hier die Verantwortung. Die Persönlichkeit des Präsidenten, der nicht nur Manager, Administrator, sondern für die Wissensbereiche der Hochschule aufgeschlossen sein muß, wird für das Gelingen der Konzeption entscheidend sein. Bei seiner Wahl muß die Universität durch ihr Rektorat mitsprechen können.

Noch ein Wort zur besonderen Situation der Basler Universität. Basel, das eng begrenzte, kleine Gemeinwesen, mit seinen ungewöhnlichen Möglichkeiten des geographisch wie kulturhistorisch bedingten Blicks in die Weite, das man um seiner stadtgebundenen geistigen wie wirtschaftlichen Kräfte willen — wenn auch heute mit weniger Berechtigung —gerne eine Polis nennt, hat sich über fünf Jahrhunderte durch alle Unbill mancher Zeiten seine Universität als wesentlichen Bestandteil seiner selbst erhalten können 19. Die geleisteten und noch zu leisten beabsichtigten Opfer für diese Hochschule bekunden, daß man ihre Existenz als eine Notwendigkeit betrachtet im Interesse der Eigenart der Stadt. Basel, das bedeutet spezifische Atmosphäre, eine Funktion des assimilationskräftigen Ortes wie des

sich wandelnden, hier modifizierten Zeitgeistes. Basel ist zwar nicht schlechthin eine Universitätsstadt, aber mehr als eine Stadt mit einer Universität. Wenn wir diese Universität mit ihrer besonderen Ausstrahlung in eine nähere und weitere Umwelt erhalten wollen, dann gilt es Maß zu halten hinsichtlich der ihr zuzumessenden Größe. Schon der Unterkünfte wegen bedeuten 6000 Studenten zwar nicht ein Optimum, aber vielleicht ein noch tragbares Maximum. Das riecht nach dem mit Recht verrufenen numerus clausus! Ich meine, er könne und müsse gesamtschweizerisch unter einsichtiger Berücksichtigung des Rechtes aller Teile des Volkes auf Bildung und in Anbetracht eines eher bescheidenen Anteils der Akademiker unter den Berufstätigen unseres Landes vermieden werden. Bei aller gebotenen Opferbereitschaft sind aber den finanziellen Möglichkeiten unseres Stadt-Staates Grenzen gesetzt. Lösungen auf Bundesebene im Geiste eines kooperativen Föderalismus rasch zu provozieren, ist unsere Regierung im Interesse von Frieden und Effizienz der Universität verpflichtet. Hoffen wir, daß in Bern gehandelt wird, daß sich das schweizerische Hochschulwesen, wie Kurt Eichenberger 20 schreibt, «aus den Unklarheiten, Ungewißheiten und Erschwernissen befreien kann». Dabei möge die Eigenständigkeit unserer Hochschule nicht in Frage gestellt werden. Dennoch wird man Max Imboden 21 beipflichten, «in ihrer Gesamtheit sollten sich die Hochschulen unseres Landes zu einem gefügten Ganzen finden».

Verehrte Zuhörer! Weit davon entfernt, die Problematik unserer Universität und eines zeitgemäßen Universitätsbegriffes in adaequater Tiefe und Breite erfaßt zu haben, wollte Sie der gegenwärtige Rektor, dem sein Amt in schwieriger Zeit übertragen ist, etwas von dem,

was ihn bewegt, mitempfinden lassen. Der deutsche Bundespräsident 22 hat kürzlich vor dem Bundestag gesagt, es helfe nichts, das Unvollkommene heutiger Wirklichkeit zu höhnen oder das Absolute als Tagesprogramm zu predigen. Es gelte stattdessen, durch Kritik und Mitarbeit die Verhältnisse Schritt für Schritt in Richtung einer besseren Zukunft zu ändern. Ich denke, im Hinblick auf die Universität sei es unserer Mühe wert, daß auch wir, als hommes bonae voluntatis, das so zu halten versuchten. Freuen wir uns, daß in unserer Hochschule, trotz Schwierigkeiten und Unerfreulichkeiten, manches auf gutem Wege sein dürfte, daß ungeachtet einiger düsterer Wolken der Himmel über uns nicht ohne hoffnungsvolle Helligkeit ist.

Anmerkungen

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Rektorats Reden © Prof. Schwinges
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