Zur gegenwärtigen Situation
der Universität Basel
Rektoratsrede
gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel
am 26. November 1971
Verlag Helbing & Lichtenhahn. Basel 1971
© 1971 by Helbing &Lichtenhahn, Verlag, Basel
Druck von Friedrich Reinhardt AG, Basel
Manuskript abgeschlossen am 22. September 1971
Zur gegenwärtigen Situation der Universität Basel
Eigentlich ist es Tradition, daß der jeweilige Rektor,
eine flüchtige Erscheinung in der relativen Konstanz des
Universitätsganzen, anläßlich der Jahresfeier der Hohen
Schule in mehr oder minder allgemein verständlicher
Sprache aus dem Fache berichtet, das er an der Universität
vertritt. Er wendet sich an eine begrenzte
Öffentlichkeit, die sich für die Universität ex officio
interessieren muß, aber auch aus echter Verbundenheit,
aus eigenem Bedürfnis und vielleicht aus sympathischer
Neugier an ihrem Ergehen Anteil nimmt. Die Hochschule
sollte es ja sein: Anliegen möglichst großer Teile
unserer Bevölkerung.
Die Rede, die der Rektor zu halten gedenkt, wie es
die baslerisch vorsichtige Ankündigung besagt, möchte
nicht zuletzt auch eine in ihrer Mentalität wie im fachlichen
Bereich in mancher Hinsicht in Divergenz begriffene
inneruniversitäre Korporation zu berühren versuchen.
Solches bedenkend, wird der Sprechende sich
fragen, ob es für uns, die wir hier versammelt sind, nicht
Bedürfnis sei, uns klarer darüber zu werden, was zur
Zeit an dieser Hochschule geschieht. Geht es nicht
wesentlich auch darum, ob faktisch noch existent sei,
was man die Idee der Universität genannt hat: wegweisende,
geistige Mitte für viele Menschen zu sein. Möchten
wir uns nicht darüber Rechenschaft geben, ob bei aller
Berücksichtigung von Nützlichkeitsaspekten, die nach
sozialen, wirtschaftlichen und somit auch nach politischen
Interessen ausgerichtet sind, das Bestreben an der
Universität noch Boden habe, einem verantwortungsbewußten,
wahrheitssuchenden Wissen und Verstehenwollen
dienlich zu sein? Sind wir nicht auch in Sorge,
ob gar planmäßig gelenkte Agitationen destruktiver
Minoritäten letztlich unsere Freiheit gefährden könnten?
Dann aber kann es in kritischer Phase, in der sich
unsere Universität befindet, nicht Aufgabe des Mediziners
und Ophthalmologen sein, sich hier fachbezogen zu
äußern. In einer Zeit experimentierenden Überganges zu
neuer gesetzlicher Ordnung, des umstrittenen Umbruchs
vieles Herkömmlichen, mancher bisher als unantastbar
betrachteter hierarchischer Strukturen, schiene es
mir abwegig, mich Ihnen als Fachvertreter im gesamtuniversitären
Rahmen vorzustellen. Freilich, es ließe
sich Besinnliches über Größe und Not zugleich der
heutigen Medizin sagen — elle va perdre son caractère
humain, hat Georges Duhamel gemeint — oder man
könnte über die dem Ganzen der Heilkunde dienende
Aufgabe der Ophthalmologie berichten. Der entscheidende
Begründer heutiger Konzeption dieses weiten
Faches, Albrecht von Graefe, unentwegter Kämpfer auch
gegen stupide Uneinsichtigkeiten staatlicher Berliner
Instanzen, hat sich vor 130 Jahren der Ophthalmologie
mit der ungewöhnlichen Kraft seines Ingeniums zugewandt,
weil, wie er fand, das Auge in seiner Durchsichtigkeit
und Klarheit auf manche Frage der Pathologie
die beste Antwort geben könne 1. In solch fachlichem
Bereich fühlte sich der Sprechende kompetenter,
setzte sich in geringerem Maße der Kritik aus, die in
Basel ohnehin auftriebschaffendes Bedürfnis scheint.
Er glaubt jedoch, angesichts der Aktualität unserer
unruhigen Hochschulsituation solle es seine Aufgabe
sein, eine allerdings nur andeutend mögliche Antwort zu
suchen auf die Frage, wie er die gegenwärtige Situation
unserer Universität, ihre eigentlichen und von der Zeit
bestimmten Aufgaben, die durch eng gezogene Grenzen
gegebenen Möglichkeiten zu sehen vermag. Es kann dies
nur subjektiv, in kaum emotionsfreier Mangelhaftigkeit
geschehen, auch deswegen, weil es nicht möglich scheint,
den heute komplex gewordenen und verschieden aufgefaßten
Begriff der Universität eindeutig zu formulieren.
Es will den Sprechenden fast Beklommenheit erfassen,
wenn er der Ehrwürdigkeit dieses hohen, kühlen
Münsterraumes inne wird, wo am 4. April 1460 der von
Pius II. ernannte Universitätskanzler, Bischof Johann
von Venningen, Georg von Andlau als ersten Rektor
designiert hat, ihm den feierlichen Eid abnehmend, nach
Kräften das Beste der Universität zu fördern, ihr Schaden
abzuwenden und seine Pflichten treu zu erfüllen 2.
Wenn wir uns die Frage stellen: Wo stehen wir heute,
wird der Arzt, der versucht, nicht einseitiger Spezialist
zu sein, sich danach richten, daß der Mensch mehr ist
als seine Teile, und sich bemühen, mit Hilfe von Anamnese
und kritischer Befundermittlung zu möglichst richtiger
Diagnose zu kommen. Dabei will er nicht vergessen,
daß es bei der Beurteilung von etwas, das «lebend
sich entwickelt», das auf komplex konstellierten, konstitutionellen
wie konditionellen Begebenheiten ruht —
ähnlich wie bei der Krankheit — um etwas individuell
Einmaliges geht, in seiner letzten Wesenheit nie ganz zu
Erfassendes. Das mag auch für unsere Universität gelten,
die zur Zeit durch gleichsam epidemisch sich ausbreitendes
geistiges Kranksein behindert scheint.
Wenn ich mich an Jaspers 3 Antwort auf das «Wo stehen
wir heute?» erinnere: «Frage und Antwort haben
Wahrheit nur in der Bewegung zum Entschluß des
eigenen Tuns», dann mag das weitere Rechtfertigung
sein, wenn wir uns jetzt mit einer Beurteilung der gegenwärtigen
Lage unserer Universität zu befassen versuchen.
Will man diese Situation einigermaßen richtig
sehen, so kann das nur in Berücksichtigung weltweiter
Entwicklungstendenzen, des rational kaum faßbaren
Zeitgeistes geschehen. Nur so werden mannigfaltige
Schwierigkeiten begreiflicher, mit denen diejenigen konfrontiert
sind, die für das heutige Wirken der Hochschule
ebenso verantwortlich sind wie für das Sorgen um ihren
weiteren Weg in zeitlich angemessener, quantitativ und
qualitativ richtig dosierter Planung und vernünftig koordinierter
Aufgabenverteilung.
Solche Prämissen sind nötig; überflüssig wohl, sie
näher zu charakterisieren. Wir wissen um Fährnisse und
Problematik unserer Zeit, obschon wir sie zu verdrängen
pflegen, um eigenes Tagewerk und Wunsch nach
Daseinsfreude nicht in Frage zu stellen. Wenn wir andeutend
von einer generellen Zeitsituation sprechen, so
deshalb, weil wir meinen, was Jaspers 4 anläßlich der
500-Jahrfeier gefordert hat, müsse für alle Teile der
Hochschule ein freilich schwer erreichbares Ziel sein:
Die Universität solle die Stätte des hellsten Bewußtseins
des Zeitalters sein, wo das Äußerste zur Klarheit komme,
sei es, daß wenigstens an einer Stelle völlig bewußt
werde, was geschieht, sei es, daß die Klarheit, in die
Welt wirkend, hilfreich werde. Ist uns das überhaupt
möglich? Vorbedingung wäre wohl, daß wir es als ebenso
schlichte wie schwere Aufgabe betrachteten, in einer
Zeit verbreiteter weltanschaulicher Unsicherheit, geringer
Standfestigkeit und deshalb verbreiteter Ruhelosigkeit
und schließlich aggressiver Zerstörungstendenzen,
drohenden Verfalls der Ordnung, durch das, was die
Franzosen charité, amour du prochain, nennen, in undogmatischer
Denkweise gemeinsam tragenden Grund
zu suchen, die Verantwortlichkeit wissenschaftlichen
Denkens und Tuns zu sehen. Ist es utopisch, sich vorzustellen,
man könne sich an der Universität, über alle
Differenzen des Hoffens, Wollens und Könnens hinweg,
beispielgebend verständnisvoll die Hand reichen und so
«in die Welt wirkend hilfreich sein»; sie hätte es so nötig.
Dazu brauchte es in erster Linie Toleranz. Der deutsche
Sozialdemokrat Carlo Schmid 5 hat einmal gesagt:
Tolerant sein heiße nicht nur den Anderen ertragen,
sondern daß wir wollen, daß es den Anderen gibt, daß
es sein Anders-Sein gibt. Freilich, zu solcher Toleranz
bedarf es für die nach Mitscherlich «von Natur hoch
aggressive Spezies Mensch» ein großes Maß an Selbstüberwindung,
zu der wir alle nicht immer fähig sind.
Allerdings wird Toleranz zur verwerflichen Schwäche,
falls sie tatenlos zusieht, wenn zerstörende Kräfte den
Bestand eines demokratischen Rechtsstaates in Frage
stellen. Könnte die Universität nicht auch ein Ort sein,
wo zunächst die Lehrenden, mehr auch nach dem Anderen
fragten, gelegentlich des Bruders Hüter, statt sich
gleichgültig, geringschätzig, spöttisch, empört von ihm
abzuwenden? Sollten wir nicht über die Mahnung eines
Richard Schwarz 6 nachdenken: Es sei die Tragödie der
heutigen Wissenschaft, daß sie im Namen reiner Wissenschaftlichkeit
das Menschliche glaube beiseite lassen
zu können.
Wissenschaftliche Forschung muß frei sein, aber sie
ist verpflichtet, sich über Verwendung ihrer Ergebnisse
Rechenschaft zu geben, sich darum zu kümmern, was
Technik und Industrie, die Wirtschaft, daraus machen.
Das Suchen nach gemeinsamem ökumenischem Stand-Ort
—im weitesten Sinne —nach zusammen erarbeiteten
Wertentscheidungen, nach der Freiheit vom «Nur-Ich»,
die es möglich macht, mutig einen eigenen Standpunkt
zu vertreten, gerade weil man sich selbst eine
Grenze zu setzen vermag, all das fällt schwer, weil uns
oft ein letztlich sinngebender Maßstab, ein normatives
Ethos fehlt. Stattdessen trachten wir vielleicht zu sehr,
uns gegenseitig anzutreiben, zu überholen, dennoch
meist ohne es dem Anderen zu bekennen, gelegentlich
bange nach dem Sinn eigener Existenz fragend, in ambivalentem
Unbehagen. Zu neuem Verständnis der Aufgaben
und Funktionen der Universität gehört zunächst
wohl die Einsicht des Einzelnen in die mögliche Notwendigkeit
eines Gesinnungswandels, ob man nun die
Hochschule als Institution, die dem Geistigen an sich,
voraussetzungsloser Forschung zu dienen habe, ansieht,
oder zunächst als Organisation, die der Gesellschaft
nützen soll, indem sie zu Führungsaufgaben Qualifizierte
aus allen Schichten des Volkes ausbildet. Haben für uns
stattdessen nicht oft utilitaristische Vorstellungen Vorrang,
Nützlichkeiten für ein Gedeihen im Äußeren, für
Ehrungen aufgrund manchmal recht flüchtiger publizistischer
Erfolge? Ist uns Besitz, sich leisten zu können,
was materiell möglich ist, nicht noch zu wichtig? Und
bedeutsamer noch: Der Zürcher Physiker Heitler 7 hat
es so formuliert: «Die Überwertung quantitativer Resultate,
der Prävalenz des Kausalgesetzes, treibt die zumal
in naturwissenschaftlich-medizinischen Bereichen an
der Universität gepflegte Wissenschaft und die von ihr
beeinflußte Welt letztlich in Enge und Not». Die explosive
Entwicklung der Naturwissenschaften und ihrer
Produkte der Technik, großartige Leistungen menschlicher
Intelligenz und Kreativität, werden zur Gefahr,
wenn sie nicht durch die Zucht des Verantwortungsgefühls
maßvoll gelenkt und gebraucht werden. Die
Länge der Verweildauer im Weltenraum und die Höhe
eines nationalen Sozialproduktes sind nicht entscheidend
für verhältnismäßiges Wohlbefinden schon für
Viele im eigenen Land, geschweige denn für größte
Teile einer heute in Kriegs- und Hungersnot und elementarer
Existenzangst dahinlebenden, sich dabei unsinnig
vermehrenden Menschheit 8.
«Die wissenschaftliche Forschung hat Grenzen», hat
uns Paul Huber 9 gemahnt. Dem entspricht Claude
Bernards: «L'élément ultime est physique, l'arrangement
est vital.» In solcher Lage hat man an der Universität
auch dafür Verantwortung, daß unsere irreversibel
technisierte und industrialisierte Welt nicht
durch weitere Zerstörung natürlicher Landschaften,
durch Gewässerverschmutzung und Luftverunreinigung,
durch ungenügende Sicherung sinnvoller Lebensgestaltung
einer wachsenden Zahl alter Menschen an
ihrem vermeintlichen Fortschritt erstickt, statt daß wir
uns in vernünftiger Beschränkung einen Lebensraum
schaffen, in dem man mit einiger Freude existieren
kann. Menschliches Leben, so hat J. Weltmann 10 es kürzlich
gesagt, werde de facto zur moralischen Aufgabe, es
gehe um glückliches Leben im Frieden des Daseins.
Freilich dürfte es schwer fallen, generell zu erklären,
was man unter Glück und Frieden verstehen wolle.
Auch darum gilt es, das sogenannte Selbstverständnis
der Universität, die Möglichkeiten, welche die Hochschule
dem Einzelnen zu seinem Selbstverständnis bietet,
vorurteilsfrei zu überprüfen, das heißt, sich in allen
ihren Bereichen klarer zu werden, was tieferen Sinn,
Konsequenz universitärer Arbeit in Lehre, Forschung
und Dienstleistungen seien. Dabei führen uns weder utopische
Emotionalitäten noch starres Festhalten am tradierten
Denken weiter. Man wird sich fragen müssen,
ob die Menschen, die in der Hochschule lehrend und
lernend in nicht unreziproker Beziehung wirken, nicht
hoffnungslos überfordert seien — wenn ihnen die Aufgabe
gestellt ist — für Bildung, menschliches Verantwortungsbewußtsein
vor allem, besorgt zu sein, gleichzeitig
neben Reformierung der Ausbildungsgänge und
-ziele in pädagogischer Verpflichtung soziale Funktionen
wahrzunehmen und dabei in wissenschaftlicher Forschung
weiter zu kommen. Möglich, aber dann muß man
Unwichtigeres zurückstellen. Doch das braucht nicht
so zu sein; ja das Eine ließe sich im Geiste des Anderen
bei zweckmäßiger Neuordnung und Aufgabenverteilung
vielleicht in einer dem Menschen angemesseneren Weise
erfüllen. Einsicht in die Notwendigkeit gemeinsamen
Suchens nach einem Neuverständnis der Hochschule
braucht weder die curiosités intellectuelles, noch die
méthodes de bien penser zu hemmen. Allerdings für
allmähliches Gelingen ist für uns Alle Voraussetzung:
Glaube an die Richtigkeit des Weges, Wille ihn zu
finden und zu gehen und auch weitgehendes Unbehelligtsein
durch Zeitvergeudung in vermeintlich unvermeidlichen
Sitzungen, die uns unnötig komplizierte
Organisationen bescheren könnten; Voraussetzung nicht
zuletzt auch, daß es uns gelingt, destruktive Oppositionskräfte
geistig zu überwinden, in voller Erkenntnis
aller Mangelhaftigkeiten dessen, was man Establishment
zu nennen pflegt. De Madariagas 11 Forderung
«Durch Freiheit zum Dienen, durch Dienen zur Ordnung,
durch Ordnung zur Freiheit» haben wir wohl noch
nicht erfüllt. Wenn wir die Situation unserer Universität
kritisch betrachten, so wäre es nicht recht, zunächst
nicht froh zu sein, daß dank einem günstigen historischen
Schicksal unser Land und diese Stadt vor eigentlichen
Katastrophen bewahrt wurden, daß wir uns in
großer Prosperität beachtlicher Ruhe erfreuen, daß viel
Positives in Stille geleistet wird. Das will nicht heißen,
bei uns sei alles leidlich in Ordnung, die Zukunft noch
hoffnungsvoll, relativer Frieden ein dauerhaftes Geschenk.
Gerade die letzten Jahre haben uns wohl klargemacht,
daß es um Überdenken der universitären Aufgaben
und ihrer Realisierungsmöglichkeiten geht. Das
muß uns Anlaß sein, Gefahren, die in uns und um uns
drohen, aufmerksam zu erkennen. Zu fruchtbarer
Weiterentwicklung ist ein affektfreies Überdenken der
Zielsetzungen in allen Disziplinen notwendig. Zunächst
bedürfen wir eines verständnisvollen Zusammenwirkens
der Gruppierungen, vor allem der Lehrenden und Lernenden.
«Das Kollektive kann», wir stimmen Heinrich
Ott 12 zu, «durch das Gespräch schöpferisch werden» freilich
nicht durch Geschwätz. Entscheidend aber ist die
Einsicht des Einzelnen, in welchem Geiste er, die Relativität
seines Sachverstandes bedenkend, dem Ganzen
dienen könne. Vorurteilsverhaftetes Denken eignet dem
im Grunde selbst Unsicheren, der Halt im Herkömmlichen
braucht. Sein hochmütiger Dogmatismus ist oft
Ausdruck der Angst, zu versagen. Das gilt auf der
Rechten wie auf der Linken, für jung und alt.
Wir sprachen von experimentierendem Aufbruch zu
neuer gesetzlicher Ordnung. Daß wir uns in einer zur
Entscheidung drängenden Phase der Hochschulevolution
befinden, für die wir Alle Mitverantwortung tragen,
dürfte evident sein. Die Experimentierphase kann für
die Fassung des Universitätsgesetzes bedeutsam sein.
Der entsprechende Ratschlag, von den Verantwortlichen
des Erziehungsdepartementes ausgearbeitet, liegt
bei der Regierung. Wir glauben ihn zu kennen. Kommissionsberatungen
des Großen Rates dürften erneut
in vielseitig divergierenden Vernehmlassungen beträchtliche
Modifikationen bewirken. Diese Experimentierphase
sollte, auf klar umschriebene Problemkreise bezogen,
Entscheidungsgrundlagen möglich machen. Eindeutig
ist freilich eine solche grundlegende Problematik
nicht definiert, die das neue Gesetz durch die
Struktur, die es schaffen möchte, lösen sollte: bildende
und ausbildende, fortschreitende Funktionsfähigkeit der
Hochschule möglich zu machen. Erschwerend und erklärend
für eine gewisse Unsicherheit der Konzeption
ist das Fehlen einer eindeutigen gesamtschweizerischen
Bildungspolitik, die inkommensurable Modifikationsgröße
möglicher Entscheidungen auf Bundesebene, die
aus unserer Universität hoffentlich nie eine eidgenössische
Hochschule machen werden.
Dank einer Gesetzesnovelle war in Basel ein grundlegendes
Experiment möglich, das unser Gesetz von
1937 nicht zugelassen hätte. Die Regenz ist im vergangenen
März zu einem pluralistischen, parlamentartigen
Gebilde zusammengetreten, dem auch 12 Studenten
angehören. Ein Urteil ist noch verfrüht, aber man darf
doch behaupten, bisher habe dieses Parlament in beachtlicher
Disziplin, in erheblicher Verständigungsbereitschaft
insofern nützliche Arbeit geleistet, als es in
demokratischer Weise zu kollektiven Entscheidungen
gekommen ist, als man zu lernen begonnen hat, sich
bei mancher Differenz der Meinungen meist sachlich
auseinanderzusetzen, Vertrauen zwischen den Gruppierungen
wachsen zu lassen. Auch konstruktive neue
Ideen müssen von Andersdenkenden zur Kenntnis genommen,
allenfalls als Alternativen in rationaler Diskussion
angegangen werden. Andererseits konnten sich
Ultraprogressive klar werden, daß Absichten, in der
Universität die Gesellschaft grundlegend etwa nach
fremdem Vorbild umzudemokratisieren, von der überwiegenden
Mehrheit auch der Studenten, als mit einer
rechtsstaatlichen Grundkonzeption neuer universitärer
Ordnung unvereinbar angesehen werden. Echte Demokratisierung,
das bedeutete zunächst Hintansetzung
formaler und Dominanz sachlich begründeter Autoritäten;
sie kommt in echter Teamarbeit zum Ausdruck.
Die pluralistische neue Regenz erheischt freilich intensive
Vorbereitung Aller, mehr geistig-kritische Präsenz
und Diskussionsfähigkeit ihrer Mitglieder. Sachlich
nützliche Dialektik zwischen den Generationen — die
nicht nur durch die Polaritäten der Ordinarien und
Studierenden repräsentiert werden — muß sich noch
besser einspielen, so gut wie in Institut, Seminar und
Klinik. Daß die Beschlußprotokolle der Regenz der
Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden, ist auch
ein Experiment im Dienste der Transparenz der Hochschule.
Die Universität gehört Allen, die auch ihretwegen
Steuern zahlen. Die Öffentlichkeit hat gerade
heute, wo Vieles, was im Bereich der Wissenschaft geschieht,
Alle berührt, wo jedermann daran Interesse
haben sollte, daß sich die Wissenschaft auch der Lösungsversuche
sozial bedeutsamer Probleme annimmt,
Anrecht auf sachliche Information durch eine faire,
ihrer enormen Verantwortung bewußte Presse, vor
allem aber durch die Universität selbst. Auch die
Öffentlichkeit soll Mitverantwortung für den Weg der
Hochschule übernehmen können. Seit Beginn dieses
Jahres hat es der Rektor unternommen, eine weitere
Öffentlichkeit mit Problemen der Hochschule vertrauter
zu machen. Unter anderem sind erste Nummern
«Basler Universitäts-Nachrichten» erschienen. Sie bedürfen
einerseits des Ausbaues im Sinne eines Mitwirkens
der Fakultäten hinsichtlich sinnvoller Orientierung
eines interessierten Publikums über Lehrprogramme,
Forschungsobjekte und -ergebnisse. Andererseits darf
das universitäre Informationsblatt nicht zu unsachlichen
Aggressionen mißbraucht werden. Kritik, auch
herbe, am Bestehenden und Geplanten, ist gerade in der
Experimentierphase eine notwendige, anregende Kraft.
Sie muß aber, schon um Gehör zu finden, auf Häßlichkeiten
verzichten. Die wichtige inner- und außeruniversitäre
Information ist primär eine Aufgabe des Rektors.
Wenn es auch wohl richtig war, daß er in den
Universitäts-Nachrichten im Interesse der Nativität
der Äußerungen auf Zensur der Einsendungen verzichtete,
so bedurfte die Konzeption dieses Experimentes
doch der Modifikation. Es scheint gegeben, dem
Rektorat mit der Zeit ein kleines Stabsorgan zur Erfüllung
bestmöglicher Informationspflicht beizugeben.
In der neuen Regenz, vielleicht dem späteren Fakultätenrat,
haben Assistenten und Studenten nicht nur
Mitsprache-, sondern in der Relativität, die Minderheiten
eignet, auch Mitbestimmungsrecht. Daß sie
Ähnliches auch für die Fakultätsversammlungen anstreben,
ist verständlich. Die Motive, besonders der
Studierenden, aber sind verschieden. Einem kleinen
Teil geht es um die Durchsetzung politischer Tendenzen,
die einen grundlegenden Strukturwandel für die Gesellschaft
schlechthin am Modell der Universität zum
Ziele haben. Der weit größere Teil der überhaupt am
Institutionalen der Hochschule Interessierten möchte
in den Entscheidungsgremien studentischen Auffassungen
Gehör verschaffen und zu Beschlüssen beitragen.
Das ist in der groß gewordenen Universität in der
natürlichsten Weise durch Gespräch zwischen Dozenten
und Studenten leider kaum mehr möglich. In diesem
Zusammenhang sei darauf hingewiesen, was Karl
Schmid 13 vor zwei Jahren am Dies in St. Gallen gesagt
hat: «Die Studenten —gemeint war die große schweigende
Mehrheit —tragen Mitschuld, wenn die kleine Minderheit
lachender Umstürzler obenaus schwingen sollte.
Wenn man jetzt die runden Tische zimmert, an denen
Mitsprache und Mitbestimmung geübt werden sollen,
müssen die Studenten sehen, daß die Stühle nicht nur
von extremen Aktivisten besetzt werden». Eine Mahnung
geht auch an die Professoren, «die sich nicht vorstellen
wollen, daß Manches an der Hochschule der
Änderung bedarf und die von all dem, was sich unter der
Jugend begibt, von vorneherein denken, es sei übel.»
Wenn sich auch unter den Studierenden differente Meinungsgruppen
unterscheiden lassen, so sei trotz dem
Urabstimmungsergebnis vom letzten Juni nicht übersehen,
daß weithin die junge Generation, mit uns Älteren
in mancher Hinsicht unzufrieden und über uns enttäuscht,
für eine Radikalisierung nicht unempfänglich
ist. Sie, die skeptische Generation Schelskys 14, ist zu beträchtlichem
Teil beunruhigt über die gegenwärtige
soziale, politische und geistige Situation, fürchtet eine
Verschulung der Universität durch einen kapitalistischen
oder sozialistischen Wirtschaftsstaat. Erstaunlich,
daß sie die in solcher Hinsicht ungute Konsequenz
des «Lausanner Modells» übersieht, dieses an sich diskutablen
Projektes der Studienfinanzierung 15. Hüten
wir uns, manche Studenten, die zu konstruktiver Zusammenarbeit
bereit sind, durch repressives Verhalten
zum Ausbruch aus einer ihnen nicht sinnvoll scheinenden
Umwelt zu veranlassen und sie so zu destruktivem
Verhalten zu verleiten. Vergessen wir nicht, daß Manche
aus der jungen Generation nach einer vorbildlichen Autorität
verlangen, die sie im Bereich der Hochschule vielfach
vermissen, daß sie oft auch enttäuscht sind, über Mangel
an Haltung 16, nach einem Sinn ihres Mensch-Seins
suchend.
Die universitären Entscheidungsgremien, wie immer
sie auch heißen mögen, sollten — den Erfahrungs- und
Verantwortungsmöglichkeiten der Maßgeblichen entsprechend
zusammengesetzt — in kollegialer Kooperation
arbeiten. Dabei ist der heute die Universität so
weitgehend mittragende Mittelbau seiner Wertigkeit
entsprechend einzubeziehen. Für Alle geht es darum,
von Parolen, von der Phrase, von den autochthonen oder
häufiger induzierten Zwangsvorstellungen, was richtig
sei —auf der Linken wie auf der Rechten —frei zu werden;
wir möchten im Suchen nach dem, was in wissenschaftlich
schöpferischer Freiheit gesehen wahr sein dürfte
und durch sein Wahrsein dem Ganzen dient, vorwärtskommen.
Aber wir wollen uns hüten vor einer «in permanenter
Diskussion paralysierten Universität», wie
sich F. G. Meier 17 in Konstanz kürzlich ausgedrückt hat.
Haben die Verhältnisse an manchen deutschen Hochschulen
nicht gezeigt, daß es eine Form der Demokratisierung
gibt —etwa die Drittelsparität aller Gremien —
die mit den Bedürfnissen von Lehre und Forschung
unvereinbar ist? Bei aller Einsicht, daß nicht leicht
festzulegen ist, was eigentlich nichtstudentische Angelegenheiten
seien, dürfte in zwei Bereichen zwar Mitsprache,
aber nicht Mitbestimmung der Studierenden
richtig sein: bei Berufung von Universitätslehrern und
bei der Vorbereitung von Forschungsprogrammen; hier
ist genügende Sachkenntnis Voraussetzung. Daß die
bisher Zuständigen gelegentlich zu Fehlentscheidungen
gekommen sind, ist kein Anlaß zu Verschlimmbesserungen.
Zusammensetzung und Kompetenzen futurer
Fakultätsversammlungen und Berufungskommissionen
bedürfen im neuen Universitätsgesetz jedenfalls reiflicher
Überprüfung.
Ein wichtiges Experiment ist die Einsetzung der aus
Universitätsangehörigen zusammengesetzten Koordinationskommission,
dieses Stabsorganes des Erziehungsdepartementes.
Sie bereitet analysierend, anhörend,
beratend und planend Entscheidungen vor, die schon
immer letztlich bei der Regierung lagen. In verdankenswerter
Arbeit hat diese Kommission, begreiflicherweise
nicht nur zur Freude der Betroffenen, die Bedürfnisse
der einzelnen Institutionen zur Kenntnis nehmend, die
finanziellen Folgen für unseren so befrachteten Staatshaushalt
bedenkend, mit einer planenden Reorganisation
begonnen, welche die Freiheit der Forschung nicht
behindern soll. Dazu wären Kuratel, Rektorat und
Fakultäten zum mindesten aus Zeitgründen nicht in der
Lage gewesen. Max Weber hat schon 1919 für die deutschen
Universitäten erklärt, innerlich wie äußerlich
seien die Universitätsverwaltungen fiktiv.
Das neue Universitätsgesetz sieht eine zweigliedrige
Universitätsleitung vor. Einerseits Rektorat und Fakultätenversammlung
— alias Regenz — in gewissem Sinne
als Exekutive, andererseits den siebengliedrigen Universitätsrat
mit auch legislativer Funktion. Dem zweiten,
konstanteren Organ wird, seine wissenschaftliche
Sachkenntnis und seine Befähigung zum nötigen Arbeitsaufwand
voraussetzend, deutliches Übergewicht
gegeben, also auf eine Rektoratsverfassung verzichtet.
Dennoch bedürfen Rektorat und Regenz wertiger und
sinnvoller Funktionen. Der Universitätsrat soll zuständig
sein für die Führung der Universität im organisatorisch
Grundsätzlichen, etwa in Verteilung und Prioritätsfestlegung
eines vom Großen Rat bewilligten Globalbudgets,
die Begehren der Fakultäten koordinierend.
Für die Festsetzung der Aufgaben und Kompetenzen
dieses aus staatlichen und universitären Vertretern
unter einem vollamtlichen Präsidenten zusammengesetzten
Leitungsgremiums sind Erfahrungen mit der
jetzigen Koordinationskommission, die in transparenter
Weise zustande kommen sollen, von erheblicher Bedeutung.
Eine verständnisvolle Zusammenarbeit dieser ungleichen
Spitzen der Hochschule wird eine schwierige
Aufgabe sein. Ohne klare Festsetzung der notwendigen
Machtbefugnisse ist eine Führung der Universität so
wenig möglich wie die Leitung eines demokratisch
«durch das Volk für das Volk» regierten Staatswesens. 18
Aber mit der Macht wächst auch hier die Verantwortung.
Die Persönlichkeit des Präsidenten, der nicht nur Manager,
Administrator, sondern für die Wissensbereiche der
Hochschule aufgeschlossen sein muß, wird für das Gelingen
der Konzeption entscheidend sein. Bei seiner
Wahl muß die Universität durch ihr Rektorat mitsprechen
können.
Noch ein Wort zur besonderen Situation der Basler
Universität. Basel, das eng begrenzte, kleine Gemeinwesen,
mit seinen ungewöhnlichen Möglichkeiten des
geographisch wie kulturhistorisch bedingten Blicks in
die Weite, das man um seiner stadtgebundenen geistigen
wie wirtschaftlichen Kräfte willen — wenn auch
heute mit weniger Berechtigung —gerne eine Polis nennt,
hat sich über fünf Jahrhunderte durch alle Unbill mancher
Zeiten seine Universität als wesentlichen Bestandteil
seiner selbst erhalten können 19. Die geleisteten und
noch zu leisten beabsichtigten Opfer für diese Hochschule
bekunden, daß man ihre Existenz als eine Notwendigkeit
betrachtet im Interesse der Eigenart der
Stadt. Basel, das bedeutet spezifische Atmosphäre,
eine Funktion des assimilationskräftigen Ortes wie des
sich wandelnden, hier modifizierten Zeitgeistes. Basel
ist zwar nicht schlechthin eine Universitätsstadt, aber
mehr als eine Stadt mit einer Universität. Wenn wir
diese Universität mit ihrer besonderen Ausstrahlung in
eine nähere und weitere Umwelt erhalten wollen, dann
gilt es Maß zu halten hinsichtlich der ihr zuzumessenden
Größe. Schon der Unterkünfte wegen bedeuten 6000
Studenten zwar nicht ein Optimum, aber vielleicht ein
noch tragbares Maximum. Das riecht nach dem mit
Recht verrufenen numerus clausus! Ich meine, er könne
und müsse gesamtschweizerisch unter einsichtiger Berücksichtigung
des Rechtes aller Teile des Volkes auf
Bildung und in Anbetracht eines eher bescheidenen
Anteils der Akademiker unter den Berufstätigen unseres
Landes vermieden werden. Bei aller gebotenen
Opferbereitschaft sind aber den finanziellen Möglichkeiten
unseres Stadt-Staates Grenzen gesetzt. Lösungen
auf Bundesebene im Geiste eines kooperativen
Föderalismus rasch zu provozieren, ist unsere Regierung
im Interesse von Frieden und Effizienz der Universität
verpflichtet. Hoffen wir, daß in Bern gehandelt wird,
daß sich das schweizerische Hochschulwesen, wie Kurt
Eichenberger 20 schreibt, «aus den Unklarheiten, Ungewißheiten
und Erschwernissen befreien kann». Dabei
möge die Eigenständigkeit unserer Hochschule nicht in
Frage gestellt werden. Dennoch wird man Max Imboden 21
beipflichten, «in ihrer Gesamtheit sollten sich die
Hochschulen unseres Landes zu einem gefügten Ganzen
finden».
Verehrte Zuhörer! Weit davon entfernt, die Problematik
unserer Universität und eines zeitgemäßen Universitätsbegriffes
in adaequater Tiefe und Breite erfaßt
zu haben, wollte Sie der gegenwärtige Rektor, dem sein
Amt in schwieriger Zeit übertragen ist, etwas von dem,
was ihn bewegt, mitempfinden lassen. Der deutsche
Bundespräsident 22 hat kürzlich vor dem Bundestag
gesagt, es helfe nichts, das Unvollkommene heutiger
Wirklichkeit zu höhnen oder das Absolute als Tagesprogramm
zu predigen. Es gelte stattdessen, durch
Kritik und Mitarbeit die Verhältnisse Schritt für
Schritt in Richtung einer besseren Zukunft zu ändern.
Ich denke, im Hinblick auf die Universität sei es unserer
Mühe wert, daß auch wir, als hommes bonae voluntatis,
das so zu halten versuchten. Freuen wir uns, daß in
unserer Hochschule, trotz Schwierigkeiten und Unerfreulichkeiten,
manches auf gutem Wege sein dürfte,
daß ungeachtet einiger düsterer Wolken der Himmel
über uns nicht ohne hoffnungsvolle Helligkeit ist.
Anmerkungen