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Zeitgemäßes Recht

Rektoratsrede von

Prof. Dr. Rolf Bär
Verlag Paul Haupt Bern 1973

ISBN 3-258-01273-3
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 1973 by Paul Haupt Berne
Printed in Switzerland
Druck: Paul Haupt Bern

Beginnen wir unsere Betrachtungen ganz in unserer Nähe, in der Universität: Wird eine Kommission gebildet oder mus eine Frage für die nächste Sitzung näher geprüft oder etwas formuliert werden, erschallt der Ruf nach dem Juristen, mag auch das Ganze mit Recht nichts zu tun haben. So gesehen, sind wir die beliebtesten Sozietäre der akademischen Selbstverwaltung und tragen schwer an Überbeanspruchung. Äußert aber ein Jurist in einer Rechtsfrage Bedenken gegen eine Lösung, die den übrigen Anwesenden aus irgend einer Erwägung die sympathischste wäre, dann trifft ihn merklicher Unwille: Er ist ein Hemmnis. Und ebenso ergeht es dem Juristen in Advokatur, Verwaltung, Handel und Industrie. Entweder hat er Glück und kann als zulässig bestätigen, was den Adressaten seines Rats vorschwebt, worauf seine Bestätigung als selbstverständlich und daher überflüssig aufgenommen wird, oder er ist (damit komme ich zu einer Vulgärdefinition des Juristen) einer, der mit absonderlichen Überlegungen dem gesunden Menschenverstand entgegenwirkt. Der Richter hat stets beide Rollen zugleich: Derjenige, dem er Recht gibt, geht grußlos von dannen, denn er hat nur erfahren, was er bereits wusste, und seine Zeit verloren, und der andere beklagt sich, der Richter habe nicht begriffen, um was es gehe.

Wenn Sie freundlich als Prämisse gelten lassen wollen, dass Juristen nicht als ganze Gattung vernunftunbegabte Wesen sind, dass sie bis und mit der Maturität Leute wie andere waren und ihnen höchst unwahrscheinlich das Studium die vorbestehende und durch die Reifeprüfung erwähne Vernunft nimmt, dann müssen Mißverständnisse vorliegen.

Der Berliner Internationalrechtler Wilhelm Wengler hat in seinem Aufsatz «Über die Unbeliebtheit der Juristen» 1 als wesentlichen Konfliktspunkt hervorgehoben, das der Jurist scheinbar willkürlich nicht den ganzen Sachverhalt berücksichtige, weil er neben der materiellen Gerechtigkeit auch die Rechtssicherheit und die Praktikabilität mitbedenke; seine Tätigkeit erscheine daher als Manipulation zur Erreichung

bestimmter Ergebnisse (obwohl ihm umgekehrt auch solche Ansinnen gestellt werden). Und Wengler bedauert an der öffentlichen Kritik (etwa an Milde oder Strenge eines Strafurteils) die «hemmungslose Respektlosigkeit gegenüber der richterlichen Unabhängigkeit». — Der Jurist erwägt offenbar zusätzliche Gesichtspunkte, die entweder nicht Gemeingut sind oder aber im Strudel der ganz konkreten Ereignisse allzu leicht vergessen werden. Da er aber nur selten Gelegenheit erhält, grundsätzliche Aspekte seiner Methode einem aufnahmefähigen und willigen Publikum näherzubringen 2, muss ich heute die Gelegenheit beim Schopf packen. So haben denn schon meine nächsten Juristenvorgänger im Rektorat Sorge getragen, mit ihrer Rede auch um besseres Verständnis zu werben, und sie haben sich, wie mir scheint, von Mal zu Mal mehr darum bemüht. Ich denke an Peter Liver («Der Wille des Gesetzes», 1953), Hans Huber («Das Recht im technischen Zeitalter», 1959), Hans Merz («Das Recht als soziale Ordnungsmacht», 1963). Heute hat das Mißverständnis auch auf das eigene Haus, die Ordnung unserer universitären Angelegenheiten, derart übergegriffen, dass ich es wagen möchte, aus der Tradition der Rektoratsrede als gediegenem, wenn auch verständlichem Fachvortrag auszubrechen, meinen Blick ganz auf die Nichtjuristen zu richten und den Ehrgeiz, auch an die Fachliteratur einen tief lotenden Beitrag zu leisten, aufzugeben.

Daher schon der herausfordernde Titel «Zeitgemässes Recht»; herausfordernd deshalb, weil Sie sich nach dieser Ankündigung sogleich Fragen stellen mussten: Ist das Feststellung oder Postulat? Und was meint hier «Recht»: die Rechtsordnung als solche oder aber einzelne Rechtsregeln und Regelnkomplexe? — Ich meine je beides in bestimmter Kombination.

Zunächst als Feststellung: Das Recht als Ordnung ist nach wie vor zeitgemäß. Obwohl nur wenige die Verbindlichkeit der Rechtsordnung

ernsthaft anzweifeln und die Folgen der Relativierung konsequent tragen möchten, ist auch auf Seite der Vielen eine gewisse unwirsche Tendenz gegen die Stetigkeit des Geltungsanspruchs unverkennbar. Diese Tendenz und die daher rührende Berieselung mit entsprechenden Redensarten wird auf die Dauer nicht ohne Folgen bleiben. Die Berufung aufs Recht wird alle Tage als «formaljuristische apostrophiert, und die «doppelte Legalität» (Recht gilt, wenn's mir nützt), ist mindestens als gekonnter Jargon beliebt. Zwei zufällig herausgegriffene jüngste Beispiele aus der Tagespresse mögen weiter zeigen, was ich meine: In einem sehr bürgerlichen Blatt fand ich die Überschrift «Zwischen Legalität und Fortschritt» (wie wenn das ein notwendiger Gegensatz wäre!), und ein Strafverteidiger soll erklärt haben, er wage es nur darum nicht, für den Angeklagten bloss auf fahrlässige Tötung zu plädieren, «weil angesichts der Schockwirkung des tragischen Ausgangs des Schusses diese These vor der Öffentlichkeit kaum eine Chance gehabt hätte». Derart senkt sich allmählich die Meinung in viele Köpfe, eine Diskrepanz zwischen gesetztem Recht und als richtig empfundenem Recht sei irgendwie normal, nicht bloss eine Ausnahme.

Damit sind wir bei der zweiten Kombination, beim Postulat nämlich, der Inhalt der einzelnen Rechtsregeln habe zeitgemäss zu sein. Unter diesem Aspekt hadern auch durchaus überlegte Leute zuweilen mit dem Recht, und zwar hadern sie seltener mit dem Gesetzgeber als mit einer rechtsanwendenden Behörde. Auf dieses Teilthema vor allem lohnt es sich, in Ihrem Kreis einzugehen. Die Frage ist, wie man erkenne, was zeitgemäss ist, und vor allem, welche Möglichkeiten der inhaltlichen Aktualisierung eine rechtsanwendende Behörde (ich bezeichne sie hinfort pars pro toto als «Richter») besitze und warum die Möglichkeiten nicht unbeschränkt sind 2a.

I.

An die Spitze müssen wir die Anpassung der Rechtsinhalte an die Erfordernisse der Zeit durch den Gesetzgeber stellen, weil diese Art und Weise der Anpassung die normalste, kompetenzmäßig allein unproblematische ist. Die zahlreichen gesetzgebungstechnischen und inhaltlichen Fragen, die sich allerdings auch in diesem Verfahren stellen 3, müssen wir übergehen. Bloss ein Hinweis: Die Rechtssoziologie 4, welche sich mit der wechselseitigen Einwirkung von Recht und Sozialleben befaßt, hat eine bedeutende Aufgabe im Dienste sachgemäßer Gesetzgebung und Rechtsprechung zu erfüllen, sofern sie den soziologischen mit dem juristischen Sachverstand verbindet und mittels der wissenschaftlichen Methoden der praktischen Sozialforschung die Sachverhalte auf breiter Basis und vorurteilslos ermittelt. Zwar bemühen sich heutige Juristen nach Kräften um diese Bezüge des Rechts, doch hängen ihre Einsichten von den Zufällen der persönlichen Erfahrung und vom Hörensagen ab. — Im übrigen stellen wir als Ausgangspunkt fest: Die Anpassung des Rechts an veränderte Umstände ist in erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers.

Il.

Welche Möglichkeiten hat nun aber der Richter? Diese Frage müssen wir in den Rahmen der Rechtsanwendungslehre stellen, auch soweit diese nicht direkt unser spezielles Thema betrifft, doch damit Sie sich

Rechenschaft über das Instrumentarium zu geben vermögen, das einem Richter zur Verfügung steht 5.

Der Richter trifft entweder auf eine Norm (die ich hier im Zweifel stets als geschriebenes, als gesetztes Recht verstehe), die er auszulegen hat, um zu sehen, ob sie den zu beurteilenden Fall erfasse, oder er trifft auf nichts, auf eine sogenannte Lücke, die er auszufüllen hat, denn er muß den Fall entscheiden. «Le juge qui refusera de juger, sous prétexte du silence, de l'obscurité ou de l'insuffisance de la loI, pourra être poursuivi comme coupable de déni de justice» (Art. 4 des französischen Code civil). Allerdings sind die beiden Gedankenoperationen Auslegung und Lückenfüllung nicht voneinander unabhängig, weil erst die Auslegung eine Lücke festzustellen erlaubt. Nur im Falle gähnender Lücken wird dem ausgebildeten Juristen gar nicht bewußt, das er auslegend zuerst das Gesetz befragt hat, ob es eine Regel enthalte. Doch für den Unterricht und wo immer es um eine Einführung geht, müssen Auslegung und Lückenfüllung getrennt dargestellt werden 6.

«Inhalt des Gesetzes ist, was darin steht» heißt es erfrischend in einem Bundesgerichtsentscheid (BGE 84 II 103). Was darin steht, ergibt die Auslegung, das heißt Sinndeutung. Sie wird nötig, weil der Gesetzgeber übermenschlicher Denk- und Formulierungskräfte bedürfte, wenn er seine Regeln in einer Weise niederlegen müßte, daß nicht der geringste Zweifel an der sprachlichen Bedeutung aufkommen kann, und wenn er vordem die von ihm aufgestellten Regeln so durchdenken müßte, daß nie zweifelhaft würde, welche Sachverhalte darunter fallen, das heißt wie weit genau der gesetzgeberische Gedanke, die sogenannte Ratio legis, reiche, etwa auch hinsichtlich von Sachverhaltensvarianten, die ihm in dieser Art noch nie vorgekommen sind.

1. Die Auslegung bedient sich verschiedener Gesichtspunkte, die sich oft durchdringen: der sprachliche (Wortbedeutung, Satzbau), der logische, der systematische Gesichtspunkt (Stellung der auszulegenden Norm im Gesamtzusammenhang des Gesetzes), endlich der sogenannte teleologische Gesichtspunkt, die Frage nach dem Gesetzeszweck.

Ein Beispiel: Vor Jahren beschwerte sich in einem Leserbrief in einer Tageszeitung ein Scheidungsbeklagter darüber, daß er vom Richter für die Zeit während des Scheidungsprozesses zu Unterhaltszahlungen an seine Frau, die Scheidungsklägerin, verurteilt worden sei. Das Gesetz (Art. 145 ZGB) laute doch: «Ist die Klage angebracht», könne der Richter u. a. Unterhaltsbeiträge anordnen. Die Klage sei aber nicht angebracht, denn seine Frau habe keinen Scheidungsgrund. — Für den Juristen ist diese Auslegung verblüffend abwegig, denn er weiß, daß «anbringen» einer Klage eine Ausdrucksweise für Anhängigmachen eines Prozesses, Befassen eines Gerichts mit dem Verfahren ist, allerdings nicht der heute gebräuchliche Terminus technicus «Anhängigmachen», wozu er wiederum weiß, daß das als «volkstümlich» konzipierte ZGB die in der Wissenschaft gebräuchlichen Ausdrücke mindestens nicht sucht. Er wird ferner darauf hinweisen, daß einerseits während

der Ehe die Ehefrau ein allgemeines, von Zerwürfnissen und deren Ursachen unabhängiges Unterhaltsrecht gemäss andern Bestimmungen 7 ohnehin habe, und das anderseits das Unterhaltsrecht nach der Scheidung, wenn also die Ursachen richterlich gewertet sind, an dritter Stelle geregelt sei 8. Art. 145 wolle nicht den allgemeinen Unterhaltsanspruch abändern (und wäre insofern entbehrlich), sondern diesen auch für das Stadium des vollständigen Zerwürfnisses, des Scheidungsprozesses, außerhalb jeden Zweifels stellen und den Scheidungsrichter —unabhängig vom kantonalen Prozeßrecht — für zuständig erklären. —Sie sehen: sprachliche, systematische, logische, teleologische Gesichtspunkte.

2. Doch wie steht es mit der Volkstümlichkeit, oder etwas allgemeiner: Hat die Auslegung nicht darauf abzustellen, wie der Normadressat das Gesetz versteht? Wer aber ist «der Normadressat»? Wir alle hier im Saale sind Normadressaten, doch hätten wir in unserem Beispiel sicher nicht ohne Ausnahme das Wort «angebracht» gleich verstanden. Recht will aber für alle mit gleichem Sinn gelten, denn die vom Recht bezweckte soziale Ordnung mus verwirklicht werden 9. Daher der alte Satz «error iuris nocet», Rechtsirrtum schadet, oder: Niemand kann sich darauf berufen, das Recht nicht gekannt oder mißverstanden zu haben. Dieser Satz gilt zwar nicht uneingeschränkt, nämlich im Prinzip dort nicht, wo das Recht auf Verschulden abstellt, also eine Sanktion nur ergreift, wenn einer Person aus der Mißachtung einer Verhaltensregel ein moralischer Vorwurf gemacht werden kann. Darum kann man unter Umständen sagen, es habe jemand vorwurfsfrei die Rechtswidrigkeit seines Tun verkannt. Das ist zwar, jedenfalls im Zivilrecht, nicht

unproblematisch, doch trüge dieser besondere Aspekt zu unserem Thema nichts bei, zu welchem wir dagegen festhalten, das Auslegung nicht auf die Verständnismöglichkeit des Einzelnen abstellen kann, so sehr es natürlich das Ideal ist, Rechtssätze derart adäquat zu formulieren, daß jedermann sie klar und gleich verstehen kann und muss. Denn, so hat das Bundesgericht einmal gesagt, ist der Wortlaut klar, «gibt es gar nichts auszulegen» 10. Derart entschieden kann man sich indessen nur äußern bei zum vornherein völliger Gewißheit, das der Wortlaut klar sei und den gewollten Sinn treffe. Zuweilen wird dem Gedanken des Vertrauensschutzes noch insofern Rechnung getragen, als für ein Abweichen vom klaren Wortlaut «triftige» Gründe verlangt werden 11, also offenbar die gegenläufigen Auslegungsgesichtspunkte besonders gewichtig sein müssten. Und wieder etwas milder hat das Bundesgericht geäußert: «Freilich enthebt der Umstand, dass eine Bestimmung ihrem Wortlaut nach klar ist, den Richter nicht der Pflicht, nach dem vernünftigen Sinn des Gesetzes zu forschen und notfalls» vom Wortlaut abzugehen 12. «Notfalls» steht noch immer für eine Hemmung, den Wortlaut nicht gelten zu lassen; verständlicherweise, denn nicht seine Absichten, sondern diese Worte hat der Gesetzgeber formell verkündet. Und doch bleibt die Hemmung mehr verbal, denn der «Notfall» liegt offenbar stets vor, wenn das Gesetz etwas anderes bezweckt. Wer das aber nicht glauben möchte, stößt endlich auf eine Entscheidung zu einem an und für sich klaren Wortlaut, der aber als nur «scheinbar klar» bezeichnet wird 13, weil der Gesetzeszweck eine Einschränkung verlangte.

Versuchen wir, etwas zusammenzufassen: Worte gewinnen erst im Verständnis ihrer einzelnen Adressaten Gehalt, also durch Deutung des Sprachsinnes. Für Gesetzesbestimmungen müsste man aber zu einem

Idealmaßstab greifen, was das Ende jedes subjektiven Vertrauensschutzes bedeutet: Klar ist jene Gesetzesbestimmung, die von allen vernünftig Denkenden mit genügendem Ausbildungs- und Bildungsstand gleich verstanden wird; dahingestellt bleibe hier, welche Anforderungen damit gestellt sind, und wie es sich verhalte, wenn der Gesetzgeber zur Fachsprache greift. Dazu kommt nun aber die auslegungsmäßige Kontrolle, vor allem mittels des Gesetzessinnes, andernfalls das Klare nicht maßgebend ist. Sie sehen: Mit dem «Klaren» verhält es sich eher verwickelt. — Diese Überlegungen schienen mir wichtig zu sein, weil sich am «klaren Wortlaut» manche Kontroversen zwischen Laien und Juristen entzünden. Ich halte aber auch fest, das es erfahrungsgemäß durchaus zahlreiche klare Gesetzesbestimmungen gibt, wo also der Gesetzgeber unzweifelhaft das Bezweckte in einer für vernünftige Leute adäquaten Weise ausgedrückt hat. Das ist es, was wir in unseren weiteren Überlegungen als «klare» Norm verstehen wollen. Maßgebend ist aber stets, und damit schreiten wir weiter, der Zweck der Norm; der König der Auslegungsgesichtspunkte ist der teleologische.

3. Hier nun stoßen wir auf eine Kontroverse, die für den besondern Blickpunkt, unter welchem wir die Gesetzanwendungsmethode durchgehen, von erheblicher Bedeutung ist, und die vor genau zwanzig Jahren bereits Peter Liver zum Gegenstand seiner Berner Rektoratsrede gemacht hat: Ist maßgebend der Sinn, den der Gesetzgeber der Norm zumessen wollte (sogenannte historische Auslegung), oder ist es der Sinn, den man heute der Norm zumißt, oder etwas deutlicher: den man heute gerne am Grunde der Norm sähe (sogenannte geltungszeitliche oder besser anwendungszeitliche Auslegung)14.

Für letztere hat man sich unter anderem auf philosophische und literaturwissenschaftliche Erkenntnisse berufen und etwa von der Loslösung des Werks von seinem Schöpfer gesprochen, derart, dass sein

Inhalt Autonomie gewinne 15. Die Worte könnten also einen andern Sinn erhalten, als wozu sie von ihrem Autor gewählt worden sind. Die Erhellung käme nicht aus den Absichten dessen, der sich ausgesprochen hat, sondern aus dem Werk selber. Das Geisteswerk gewinne derart eine «überschiessende Bedeutung»; das Gesetz könne klüger sein als sein Gesetzgeber. Soweit das ein Philosoph oder Literaturwissenschafter vertritt, steht mir eine Kritik nicht zu, obwohl ein solcher Vorgang meine Vorstellungskraft und Erfahrung übersteigt. Denn es ist kaum bloss jenes naive und durchaus erfahrbare Phänomen gemeint, daß ich beim Aufnehmen eines Kunstwerkes anderes empfinde, als was dem Künstler das Werk abgerungen hat. Es klingt dann bei mir etwas anderes an; eine Prädisposition kommt zum Ausdruck. Auf dem Boden des Rechts möchte ich aber behaupten, daß nur dieses naive Phänomen möglich ist, wenn es sich — wie bei der juristischen Auslegung — nicht um Erkenntnis objektiver Wahrheit, sondern um Werturteile handelt. Hier sehe ich nur eine Alternative: Entweder man interpretiert unter Zuhilfenahme aller Indizien für den wahren Willen des Gesetzgebers, oder man «interpretiert», indem man aus dem Gesetz das herausliest, was an eigenen Werturteilen mit dem Gesetzestext noch einigermassen vereinbar ist. Die anwendungszeitliche Auslegung legt aus — etwas spitz gesagt —, was sie in das Gesetz legt, und sie gerät in Verlegenheit im Falle des offensichtlichen Einklangs von Wortlaut und gesetzgeberischer Zielsetzung, also im Falle des klaren Wortlauts, den sogar mit einem antiquierten Inhalt zu respektieren sie aus rechtsstaatlichen Gründen nicht herumkommt 16. Wer das Ziel der Auslegung darin sieht, stets zeitgemäße Ergebnisse zu erzielen, dem müßte ein klares Gesetz ein Greuel sein; um Textbezüge für möglichst wandelbare Auslegungen zu erhalten, müsste er sich möglichst unklare Texte wünschen, damit aber den Sinn des geschriebenen Rechts verneinen.

Nur: In der Realität ist das alles weit weniger dramatisch. Zunächst sind viele Bestimmungen klar im früher besprochenen Sinn, sodann ist eine noch größere Zahl zwar auslegungsbedürftig, doch mit gleichem Resultat beider Auslegungsrichtungen, weil nämlich das Neuerungsbedürfnis weit seltener ist, als man annimmt. Viele sogenannte Rechtsinstitute (Normkomplexe für einen ganzen Lebensvorgang) und Einzelnormen sind langzeitlich sinnvoll, etwa weil sie sozial und moralisch eher schwach motiviert sind und es vor allem darauf ankommt, daß überhaupt eine Regel besteht. Ihr Inhalt darf in vielen Fällen bloß der sogenannten «Natur der Sache» nicht geradezu gegen den Strich laufen, unter welcher man, wenn auch umstrittenermaßen 17, jene elementaren inhaltlichen Anforderungen versteht, welche ein Lebensverhältnis an die rechtliche Ordnung stellt; man spricht auch etwa von Sachlogik. Andere Institute wiederum sind zwar vom Stand der elementaren kulturellen und sozialen Auffassungen stärker abhängig (etwa Ehe und Familie), doch diese Auffassungen ändern sich oft nicht im Zeitraum von Jahren oder sogar Jahrzehnten seit Erlaß des Gesetzes, und höchstens einzelne Normen daraus könnten auslegungsmäßig modernisiert werden; dies noch aus einem andern Umstand: Ganze Institute pflegen von klaren Normen dermaßen durchsetzt zu sein, dass eine eigentliche Umformung auf dem Auslegungsweg unmöglich ist. So wäre jüngst die Revision des Adoptionsrechts nicht auch der Gerichtspraxis möglich gewesen. Endlich scheidet der wohl häufigste Fall aus der Kontroverse aus, daß nämlich genügende Indizien für einen spezifisch entstehungszeitlichen Sinn überhaupt nicht feststellbar sind, worauf anzunehmen ist, was heute als sinnvoll gelte, sei es auch damals gewesen. Für die Kontroverse zwischen der historischen und der anwendungszeitlichen Auslegung bleibt daher ein verschwindender Prozentsatz der Normen übrig, doch für diese Fälle muss man sich dennoch zwischen den Methoden entscheiden.

Die dazu entwickelten Theorien taugen aber allesamt nicht zur wirklichen Entscheidung, sei es, daß man nach der «Natur» des Gesetzes

oder nach seinem Geltungsgrund fragt (gilt es, weil vom zuständigen Gesetzgeber erlassen oder weil vom gegenwärtigen Staatsvolk getragen oder —völlig fiktiv! — weil vom gegenwärtigen Gesetzgeber stillschweigend bestätigt, weil von ihm nicht abgeändert? Nur: gilt es dann mit dem ursprünglichen oder einem aktualisierten Sinn?). Gerade die beiden erstgenannten Geltungstheorien ließen sich kombinieren: Das Gesetz gilt zunächst kraft des Erlasses und im damaligen Sinn, der indessen mit der Zeit inhaltlich unannehmbar (vom Volk abgelehnt) werden kann, worauf eine Korrektur —wie wir sehen werden —unabhängig von der Auslegungstheorie erfolgen kann. Vor allen gelehrten Spekulationen steht eine nüchterne Grundfrage: Wie weit soll der Richter an den Willen des Gesetzgebers gebunden sein? Je nach Antwort 18 ergeben sich dann die Theorien von selber. Die Antwort ist für mich nicht zweifelhaft: Die Gewaltentrennung verlangt die Bindung des Richters an das Gesetz. Das Gesetz, zustande gekommen in einem verfassungsmäßigen Verfahren, ist idealerweise klar, das heisst drückt unzweideutig den Willen des konkreten damaligen (sogenannten historischen) Gesetzgebers aus. Dass dieser das Ideal nicht durchwegs erreicht und Auslegungsbedürftiges schafft, kann nichts daran ändern, daß die sozialordnenden Werturteile des historischen Gesetzgebers Gesetz sind, also historisch auszulegen ist. — Das Bundesgericht hält es zwar —verbal sehr entschieden —mit der anwendungszeitlichen Auslegung, wertet aber den Willen des Gesetzgebers sehr stark für die Frage, was als vernünftiger Gesetzessinn zu gelten habe 19. Seit der Rektoratsrede von Peter Liver findet sich indessen in der schweizerischen

Doktrin eine deutliche Rückwendung zur historischen Auslegung 20.

Man wirft dieser allerdings vor, der Wille des historischen Gesetzgebers sei kaum zuverlässig zu ermitteln: Warum hat das Parlament einem Wortlaut zugestimmt? Und warum hat das Volk zugestimmt oder auch bloß das Referendum unterlassen? Solche Aussagen über den Willen eines politischen Kollektivs zu machen, ist in der Tat oft unmöglich, und wenn schon, wären es höchst globale, zur Auslegung einzelner Normen selten taugliche. Anderseits stellt das Bundesgericht geläufig den historischen Sinn fest, bejaht also die Möglichkeit in einem praktischen Sinn, indem es vor allem auf die Botschaft der Regierung an das Parlament und die Einzelerläuterungen der parlamentarischen Berichterstatter abstellt 21. Bleiben diese unwidersprochen, wird man doch wohl Einverständnis annehmen dürfen, auch wenn die Erfahrung zeigt, dass man sich in allen Beratungsgremien etwa gegen Mittag oder Abend ungern zum Worte meldet, in unserem Fall sogar nur um zu sagen, mit dem Wortlaut sei man einverstanden, man deute ihn bloss anders. Doch wer hier schweigt, wird seinen Vorbehalt immerhin nicht als wichtig betrachten. Ich lasse es bei dieser einzigen parlamentspsychologischen Bemerkung bewenden und füge bloss noch an, dass die Protokolle von Kommissionen, die allerdings oft die ergiebigsten wären, mehr nur als Indizien zu gelten haben, sofern ihr Inhalt nicht mit den bereits erwähnten Mitteln bis ins Parlament weitergezogen wird. Im übrigen kommt für die historische Auslegung noch dazu, was sich aus der allgemeinen historischen Situation ableiten lässt, zum Beispiel aus den damals beklagten Mißständen, welche Anlass zum Eingreifen des Gesetzgebers

gegeben haben. Auf solche Elemente legt die sogenannte objektiv historische Auslegung das Gewicht, auf die parlamentarischen Vorgänge die sogenannte subjektiv historische. Ich lasse das hier beiseite, denn ein gegensätzliches Ergebnis dieser beiden Untermethoden wird doch sehr selten sein. Die objektiv historische entgeht allerdings den angedeuteten Zweifeln an der Schlüssigkeit der Vorgänge bei den politischen Organen, doch selbst diese Zweifel, die — streng betrachtet —berechtigt sind, dürfen nicht in den Vordergrund gestellt werden. Ich hielte es für eine Verkennung der Proportionen, nur um einer solchen Schwierigkeit willen die historische Auslegung abzulehnen, welche allein der Gewaltenteilung nicht zuwiderläuft.

B.

Ist das Gesetz ausgelegt, kann der Fall meist entschieden werden. Doch ausnahmsweise kommt es noch zu schöpferischer Rechtsfortbildung durch den Richter.

1. Enthält das ausgelegte Gesetz keine auf die zu entscheidende Frage zutreffende Norm, stehen wir vor einer Lücke, und zwar vor einer sogenannten echten Lücke 22. Diese hat der Richter gemäss Art. 1 ZGB auszufüllen.

a) Ob eine Lücke vorliege, ist eine Auslegungsfrage. Enthält das Gesetz zum Beispiel eine Regel, doch keine Ausnahme, kann das sinnvoll sein (der Gesetzgeber hat keine Ausnahme gewollt, sogenanntes qualifiziertes Schweigen des Gesetzgebers 23); es kann aber auch eine Lücke sein, wenn eine Ausnahme für bestimmte Fälle die Ratio legis nicht durchkreuzt. Selbstverständlich wirkt sich hier die befolgte Auslegungsmethode

wieder aus. Ganz ähnlich kann eine gegenüber dem Wortlaut restriktive Auslegung eine Lücke freilegen. Eine Lücke liegt im übrigen nicht nur vor, wenn eine Regel fehlt, ohne welche die vorhandenen «in der Luft hängen», oder mit einem andern Bild: wenn von drei notwendig ineinandergreifenden Zahnrädern eines fehlt. Sondern es gibt auch Lücken, die «neben» dem geschriebenen Gesetz liegen; mit anderen Worten: das Gesetz liesse sich durchaus folgerichtig anwenden, aber das Ergebnis ist unbefriedigend. Hier erweist wiederum die Auslegung, diesmal aber die Ermittlung mehr der Grundgedanken des Gesetzes und der Rechtsordnung überhaupt, ob eine Ergänzung noch im Rahmen der allgemeinen Zielsetzung des zu ergänzenden Gesetzes liege, denn wo der sachliche Bereich eines Gesetzes nicht hinreichen kann, gibt es keine Lücken festzustellen, auch nicht «neben» dem Gesetz. Damit meine ich weniger den in der Literatur viel erwähnten sogenannten rechtsfreien Raum, wo nämlich nicht Recht, sondern nur Sitte und Sittlichkeit herrschen sollen (eine Abgrenzung, die übrigens rechtlich ist und zum Beispiel von der Art des im betreffenden Staate gültigen Liberalismus abhängt), sondern auch Teile des der Rechtsordnung an sich zugänglichen Raums. Diese Frage ist wenig erforscht, und es mag uns die Einsicht in die Schwierigkeit genügen. Nur zwei vermutlich nicht anzweifelbare Beispiele: Als die Gerichtspraxis in Ergänzung des Obligationenrechts eine besondere Treuepflicht schon während der Vertragsverhandlungen, die sogenannte Culpa in contrahendo, einführte (man wird zum Beispiel ersatzpflichtig, wenn man seinen Verhandlungspartner ohne Kaufabsicht hinhält), lag das zwar neben dem OR, aber im Regelungsbereich eines Obligationenrechts. Wenn dagegen ein Gericht fände, unser Patentgesetz stelle zu hohe Anforderungen an eine patentierbare Erfindung, und wir müssten auch die sogenannten kleinen Erfindungen schützen, könnte nur der Gesetzgeber helfen. Etwas besonders liegen die Gründe, warum neue Straftatbestände und Steuertatbestände nicht mit Lückenfüllung entstehen können 24

Nach dieser Andeutung der Schwierigkeiten verstehen Sie vielleicht, warum ich nicht einleitend die echte Lücke definiert habe. Alle Umschreibungen, die mir bis heute bekannt geworden sind, sind meines Erachtens nicht gleichzeitig umfassend und präzis genug. Entweder sind sie zu eng (zum Beispiel wo eine Rechtsfrage sich «unvermeidlich» stelle) oder zu unbestimmt (zum Beispiel «Unbefriedigende Unvollständigkeit»). Wo sich das Richtige dem Zugriff einer Formel entzieht, ist es gute Methode, den Einzelfall direkt mit der Problemstellung zu konfrontieren.

b) Die echte Lücke wird gemse Art. 1 ZGB in erster Linie mit Gewohnheitsrecht gefüllt. Nur ist Gewohnheitsrecht sehr selten 25, weil es nicht nur eine lange und konstante Übung, sondern auch die Überzeugung der Rechtsgenossen erforderte, das diese Regel im Sinne verbindlichen Rechts befolgt werde («opinio iuris», auch «opinio necessitatis»). Letzteres ist nicht leicht zu ermitteln; der Beweis kann indessen wohl weitgehend ersetzt werden durch denjenigen einer sehr langen Übung aus freiem Willen, ohne wesentliche Anfechtungen und ohne Verstoss gegen tragende Rechtsideen 26. (Vom Gewohnheitsrecht contra legem, dem Gesetz zuwider, ist nicht an dieser Stelle zu sprechen.) Doch auch dann bleibt Gewohnheitsrecht selten, und vor allem ist grosse Zurückhaltung am Platze gegenüber der Annahme, eine lange, konstante Gerichtspraxis in Auslegungs- und Lückenfüllungsfällen sei zu Gewohnheitsrecht geworden und hinderte von nun an den Richter, die Praxis zu ändern und an ihre Stelle die ihm nach erneuter Überlegung richtiger scheinende Auslegung oder Lückenfüllung zu setzen. Ein juristisch anderer, nur in der Wirkung ähnlicher Gesichtspunkt ist, dass sich der Richter nicht leicht entschliesst, eine konstante Praxis aufzugeben, auf die sich das Rechtsleben eingestellt hat; wenigstens dann, wenn ihm

seine neue Erkenntnis zwar als richtiger, die alte Praxis aber nicht als völlig unvertretbar erscheint 27.

c) Fehlt es an Gewohnheitsrecht, soll der Richter «nach der Regel entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde. Er folgt dabei bewährter Lehre und Überlieferung» (Art. 1 Abs. 2/3 ZGB). Die mäßigende Tendenz des letzten Satzes haben Sie sicherlich erfasst. Insgesamt bedeuten die zitierten Gesetzesstellen aber keineswegs, der Richter habe die Lücke antiquiert zu füllen; vielmehr hat er sie so zu füllen, wie er heute als Gesetzgeber handeln würde. Aber die Füllung der Lücke darf nicht Fremdkörper im System des Gesetzes werden, sondern muss in dessen Zusammenhänge und Rechtsgedanken eingefügt werden. Der Richter hat eben doch das Gesetz zu komplettieren, was rechtspolitisches Vorprellen verhindert; graduell allerdings stärker bei einer kleinen als bei einer großen Lücke. Bei letzterer ist unter Umständen nur noch auf Grundgedanken Rücksicht zu nehmen, während bei den ersteren oft schon der Rückgriff auf eine gesetzliche Regel zu einem analogen Problem genügt, so das rechtsschöpferisch nur noch das Erkennen der Analogie, das heisst der wesentlichen Gleichheit (nicht Identität) ist. Frisch-fröhlichem Judizieren steht ferner die Bindung an «bewährte Lehre und Überlieferung» entgegen, was nicht etwa bedeutet die rechtshistorische Überlieferung (sie wird eher über die von ihr mitgebildeten Grundgedanken wirksam), sondern die Anweisung, der Richter dürfe sich nicht über die in der anerkannten Fachliteratur und in andern Gerichtsurteilen geäußerten Auffassungen zur selben Frage einfach hinwegsetzen, sondern müsse sie jedenfalls reiflich miterwägen. Endlich hat er wie ein Gesetzgeber regelbildend vorzugehen, nämlich nicht

«nach Willkür, nach dem Eindruck der augenblicklichen Umstände, nach Mitleid, Entrüstung oder persönlicher Neigung, sondern so, als würde er gleich dem Gesetzgeber den Satz formulieren, um ihn dann auf den Fall anzuwenden, der seines Urteiles harrt», wie sich Eugen Huber ausgedrückt hat 28. Zur Regelbildung gehört auch die Rücksicht auf alle Aspekte der Gerechtigkeit im weiteren Sinne, nämlich Billigkeit, Sicherheit 29 und Praktikabilität 30 der Lösung; Elemente, die nicht selten in einem Spannungsverhältnis stehen und abgewogen und selektiv oder in dosierten Mischungen verwendet sein wollen. Dass dem Juristen nicht nur die Billigkeit im Einzelfall am Herzen liegt, ist ein Hauptkonfliktspunkt mit dem meist so sympathisch spontanen Nichtjuristen. Diese Anforderungen an die rechtsschöpferische Tätigkeit des Richters gelten auch für die beiden noch folgenden weiteren Fälle.

2. Rechtsschöpferisch wird der Richter nämlich weiter tätig, wo er sogenannte Generalklauseln und überhaupt unbestimmte Begriffe zu «konkretisieren» hat, welche jene Sachverhalte, die das Gesetz ordnet, global enthalten, weil der Gesetzgeber auf eine kasuistische Aufzählung verzichtet. So, wenn der Richter zu entscheiden hat, was als Grund für eine fristlose Kündigung genüge, da das Gesetz in zahlreichen Normen zu Dauerverträgen und Gesellschaften einfach sagt, es müsse dazu ein «wichtiger Grund» bestehen. Andere Generalklauseln sind etwa «Treu und Glauben» (Art. 2 Aba. 1 ZGB), «übermäßige Einwirkung» (Art. 684 ZGB), die Bezugnahmen auf die «Sittlichkeit», auf «Gleichheit», «Freiheit» und dergleichen, der Schutz vor Verletzung «in den persönlichen Verhältnissen» (Art. 28 ZGB). Wie weit geht unter diesem Titel zum Beispiel die Individualsphäre gegenüber den Massenmedien oder die privatrechtliche Wettbewerbsfreiheit? Die «Flucht in die Generalklausel», wie das 1933 Hedemann in einer berühmten Abhandlung abschätzig bezeichnet hat, ist durchaus positiv dann, wenn sich der Gesetzgeber

nicht vor notwendigen und möglichen Wertungen drückt, sondern daran verzweifeln müßte, in einer auch für die Zukunft gültigen Weise näher zu umschreiben, was alles sinngemäß unter eine Sanktion fallen könnte. Völlig blanko kann die Generalklausel allerdings nicht sein, sondern muss eine ganz grobe Bewertungsrichtlinie erkennen lassen. Ihre Konkretisierung hat aktuell, anwendungszeitlich zu geschehen, aber wiederum regelbildend und ohne Widersprüche zum Rechtssystem und tragenden Rechtsgedanken 31.

3. Wenn wir hier vom Rechtssystem und den tragenden Rechtsgedanken gesprochen haben, drängt sich ein Exkurs auf, weil wir damit an einer weitern Quelle von Missverständnissen stehen. Meint der Nichtjurist, das Gesetz sei klar, oder umgekehrt, es sei völlig stumm, nimmt er mit Erstaunen wahr, dass ihm der Jurist Dinge doziert, die er als Recht ausgibt und von denen im Gesetz gar nichts steht. Woher kommen solche Aussagen? — Die Rechtswissenschaft versucht induktiv aus auslegungsmäßig einigermaßen gesicherten Normen zu allgemeinen Sätzen zu gelangen, sie an andern zu messen und weiter aufzusteigen bis dort, wo die Allgemeinheiten nichtssagend zu werden beginnen. Kurz: Sie erforscht die sogenannten Sinnzusammenhänge der Rechtsordnung auf verschiedenen Stufen und entdeckt neue Problemstellungen. Solche Arbeit wird geleistet nicht nur wegen des Anspruchs, eine Wissenschaft zu sein —wenn nicht nach dem Gegenstand, so doch nach der Methode —, sondern vor allem wegen der Möglichkeit, aus den Ergebnissen der Induktion deduktiv offene Fragen zu einer Lösung zu bringen. Die Schwierigkeit ist aber, dass wir nicht regelmäßig zu einem geschlossenen System gelangen, da die Regelungsgesichtspunkte eines Gesetzgebers sprunghaft sein können, jedenfalls aber —wie früher angedeutet — schon die Gerechtigkeit widersprüchliche Elemente enthält. Erst in jüngerer Zeit ist dem Juristen wieder mehr bewusst geworden,

was sich allerdings stets so verhalten hat, dass das juristische Denken ein Denken in Problemen und Gesichtspunkten, ein sogenanntes topisches Denken ist, was indessen nicht hindert zu versuchen, zu einer Erkenntnis von Zusammenhängen zu kommen, die Topoi zu werten und zu ordnen, denn auch topisches Denken muss sich zu einer Lösung durchringen. Die Gesichtspunkte, welche zum Beispiel dazu führen, den Glauben einer außenstehenden Person an die bloß vermeintliche Existenz einer Rechtslage zu schützen, in andern Fällen dagegen nicht zu schützen, lassen sich weitgehend ordnen. Man kann sich zum Beispiel um ein System des Vertrauensschutzes, der Risikoverteilung im Vertragsrecht und dergleichen bemühen. Im übrigen sind alte, von äußern Veränderungen kaum geschüttelte Materien, wie etwa das Obligationenrecht, eher zu systematisieren als jüngere und umständebedingtere.

Was die hier geschilderten Bemühungen zutage fördern, wird meist als juristische «Dogmatik» bezeichnet. Sie enthält Begriffe und Regeln, welche ersparen, das jeder für sich den ganzen Weg der Erkenntnis gehen muss. Doch ist sie stets in Gefahr, ihre Erkenntnisse zu verabsolutieren, und in der sogenannten Begriffsjurisprudenz mit Höhepunkt vor etwa hundert Jahren führte sie ihre minderen Vertreter in Versuchung, die juristische Lösung sozusagen aus einem Rechnen mit Begriffen zu gewinnen. Sofern man sich aber stets vor Augen hält, dass die Dogmatik versucht, das Recht handlich zu machen, und ihre Sätze und Begriffe nur Ergebnisformeln aus dem Studium des lebenden Rechts bedeuten, daher ständig auf ihre noch gegenwärtige Richtigkeit überprüft werden müssen, bleibt sie gerade für die rationelle Rechtsanwendung unentbehrlich 32. Für unsern besondern Aspekt bedeutet

das: Die Dogmatik retardiert nicht, sofern sie nicht träge wird. Der kritische Dogmatiker wird sich gleichzeitig als Rechtspolitiker verstehen und im Hinblick auf Lückenfüllung und Gesetzgebung nach möglichst systemkompatibeln Lösungen suchen.

Wenn wir endlich fragen, woher der Jurist die —gerade bei der Konkretisierung von Generalklauseln besonders wichtigen — Wertmaßstäbe nehme, dann lässt sich das nach den Quellen leicht beantworten (es sind die induktiv zu gewinnenden, vom Gesetzgeber in seinen Erlassen verwendeten Wertungen, weiter die Verfassung, die Moral, die Gerechtigkeit), doch das wahre Problem ist, jedenfalls bei den höherstufigen Quellen, den Inhalt in anwendungsfertiger Form zu erkennen.

Sie werden verstehen, dass ich heute dieses ganz grosse Problem jeder Rechtsanwendung und -fortbildung weder behandeln kann noch mit einigen glatten Worten abtun möchte. Auf unser spezielles Thema bezogen, möchte ich immerhin der Überzeugung Ausdruck geben, dass es jedenfalls dem Gesetzgeber als politischer Behörde vorbehalten ist, vorwärtsgreifend neu zu werten. Ganz ähnlich hat der Rechtsphilosoph Karl Engisch über den rechtsanwendenden Juristen geschrieben: «Ohne Eigensinn muss er sich als Diener der herrschenden sozialen, ethischen und kulturellen Anschauungen fühlen, darf nicht Reaktionär und Revolutionär sein wollen 33 .» Womit natürlich die Frage, wie man's erkenne, noch immer offen bleibt.

4. Dritte Gelegenheit zu richterlicher Rechtsfortbildung ist die Füllung sogenannter unechter Lücken. Hier handelt es sich im Gegensatz zur echten Lücke nicht darum, dass das Gesetz eine erwartete Regel nicht enthielte, vielmehr enthält es durchaus eine Regel 34; sie steht nach Ausschöpfung der Auslegungsmöglichkeiten indessen mit einem Inhalt fest, welcher infolge veränderter Umstände «krass unvollkommen» (BGE 97 Il 385), «unsinnig und unbillig» (BGE 84 II 105), «unverständlich» (BGE 86 IV 94) geworden ist. Hier wird nun dem (ausgelegten)

Gesetz das richtige Recht im materiellen Sinn entgegengehalten; wenn man das in diesem Zusammenhang eher unglückliche Wort «Lücke» retten will, müsste man begründen, nicht das Gesetz, sondern das Recht sei lückenhaft. Man spricht daher auch von einer rechtspolitischen Lücke. Die Ursache der Diskrepanz zwischen Gesetz und richtigem Recht kann in einer Veränderung der äußern Lebensumstände oder in einer völlig gewandelten Rechtsauffassung liegen. Der Richter, der sich anmaßt, das Gesetz zu korrigieren (womit wir es erstmals in unseren Überlegungen zu tun haben), muß sich jedoch bewußt sein, daß es sich um ein Notventil handelt und er zu seiner Selbstkontrolle plausibel begründen sollte 35, warum eine «krasse» Unrichtigkeit, etwas Unannehmbares, drohe. Nicht immer spricht der Richter bei solchem Vorgehen von einer unechten oder rechtspolitischen Lücke; wichtig ist nur, das er derart rechtsstaatlich verantwortungsbewußt handelt und nicht leichthin auf dem Wege anwendungszeitlicher «Auslegung» sein persönliches Werturteil dem Gesetz unterlegt.

Damit spannt sich nun der Bogen zurück zum Methodenstreit der Auslegung: Nicht Starrheit des Rechts bringt die historische Auslegung mit sich, sondern eine bewusste Trennung von Gesetzesauslegung und Gesetzeskorrektur: Es gilt, was der Gesetzgeber wollte, doch wo formelles Recht zu materiellem Unrecht wird, darf korrigiert werden. Unter dieser Voraussetzung wäre auch die Bildung von Gewohnheitsrecht contra legem anzuerkennen.

Die Berechtigung zur Korrektur wird in neuerer Zeit meist in Art. 2 Abs. 2 ZGB gesucht: «Der offenbare Mißbrauch eines Rechts findet keinen Rechtsschutz.» Der Mißbrauch liegt im Beharren auf dem (materiell) unrechten Gesetz; aber er muß «offenbar», nämlich eindeutig und bedeutend sein. Das Bundesgericht hat in jüngerer Zeit dreimal ausdrücklich der Versuchung widerstanden, das Gesetz bereits bei einem geringfügigen Nichteinverständnis mit dem Inhalt zu korrigieren 36. Das ist allerdings darum nicht erstaunlich, weil es sich jedesmal um einigermaßen

klare Wortlaute gehandelt hat und sich darum auf das Gesetz auch besinnt, wer zur anwendungszeitlichen Auslegungsmethode neigt. Diese pflegt erst bei unklaren Bestimmungen die bewußte Korrektur der historischen Ratio legis durch die Auslegung zu ersetzen.

Ein anderer Grund zur Gesetzeskorrektur, die uns aber aus unserem rechtspolitischen Blickwinkel wenig interessiert, ist die Korrektur von Versehen des Gesetzgebers, seines «offenkundigen Irrtums» (BGE 97 II 385). Das braucht uns nur insofern zu beschäftigen, als diese Korrektur —anders als diejenige der unechten Lücke von keiner erschwerten Voraussetzung abhängt, man also nicht hierher ausweichen darf. Als blosses Versehen muss sich das unerwünschte Ergebnis aus einer klaren Unstimmigkeit im Gesetz selber oder aus der Entstehungsgeschichte erweisen. Der einwandfreie Musterfall 37 ist, dass der Gesetzesentwurf zwei koordinierte Normen enthielt, im Parlament die eine geändert, die andere nicht angepaßt worden ist und ein Grund zu einer Differenzierung fehlte.

III.

Wir haben uns die Frage der Aktualisierung des Rechts durch die Gerichtspraxis vorgenommen und können nun zusammenfassend die Ernte einbringen:

Der Richter kann den heutigen Auffassungen Rechnung tragen, soweit er immerhin den Gesamtzusammenhang des Gesetzes und der Rechtsordnung nicht stört,

— wenn kein besonderer entstehungszeitlicher Gesetzessinn feststellbar ist,

— wenn er eine echte Lücke füllt, wobei bereits die «Entdeckung» der Lücke, das heißt des ungeregelten Problems, von der Einsicht in die Bedürfnisse der Gegenwart abhängen kann,

— wenn er eine Generalklausel konkretisiert,

— wenn er eine unechte Lücke «füllt», das heißt eine unannehmbar gewordene Norm korrigiert.

Das ist wenig für den, der ungeduldig nach Veränderungen strebt, aber ausreichend für den, dem es zwar nicht um Unwandelbarkeit geht, wohl aber darum, dass in einem gewaltenteiligen Rechtsstaat in erster Linie der Gesetzgeber planmäßig für den Fortschritt sorge. «Planmäßig» will sagen: Nicht punktuell und individuell, wie bei der richterlichen Tätigkeit, sondern im geordneten Verfahren, das erlaubt, die Interessierten anzuhören, die Gesichtspunkte (auch die politischen!) von vielen wägen zu lassen und die Entscheidung in verfassungsmäßiger Weise demokratisch zu fällen.

Dieser Begründung wird von jungen Leuten etwa entgegen gehalten, da der Gesetzgeber «ständig versage», sei die Hoffnung auf den Richter zu setzen. Daran ist erstens übertrieben — wie wir schon gesehen haben — das Ausmaß der Erwartung, zweitens gefährlich der Rückgriff auf eine nicht nur anregende, sondern einsam entscheidende Elite, drittens sehr jugendlich die mangelnde Erfahrung, dass die Schwerfälligkeit der politischen Kollektivorgane hinsichtlich Antrieb und Willensbildung als Unkosten der Demokratie in Kauf genommen werden müssen, ja sogar der ausgleichende (notwendig verwässernde) Konsens statt des schneidenden Austrags aller Gegensätze eine Tugend sein könne. Daß aber diese Tugend manchmal als die einzig anerkannte erscheinen will, ist der ungelöste Rest des hier gemusterten Einwands: Der Vorwurf des allzu häufig fehlenden Muts zum Grundsätzlichen. Zuweilen sollten wir in unserer wohlmeinenden Routine einhalten und uns Rechenschaft geben, dass eine Ordnung zu überzeugen verstehen muß. Unter dieser Voraussetzung hat Recht —damit kehren wir am Ende zum allgemeinsten Aspekt unseres Themas zurück — nicht nur die ewig zeitgemäße Funktion einer «Friedensordnung» im Sinne der geregelten, friedlichen Beilegung von Streitigkeiten, sondern man kann es — ohne Emigration in die «doppelte Legalität» — als einen redlichen Versuch auch dort inhaltlich achten, wo man persönlich einer andern Lösung den Vorzug gäbe.