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Medizin am Scheideweg

Rektoratsrede
gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel
am 29. November 1974
Verlag Helbing &Lichtenhahn • Basel 1974

Bewußt oder unbewußt stehen wir Menschen von heute unter dem Damoklesschwert einer mit immer größerer Bedrohung und Beschleunigung auf uns zustürmenden Zukunft. Schockartig hat unsere fortschrittsgläubige, auf ihre spektakulären Erfolge in Wissenschaft und Technik so stolze Generation die Erkenntnis überfallen, daß Fortschritt auch Unheil bedeuten kann. Waren es bisher die Erfahrungen der Vergangenheit, welche unser Verhalten in der Gegenwart beeinflußten, müssen wir heute Zukunftsperspektiven in unser tägliches Denken, Planen und Handeln integrieren. «Wenn wir aus der Geschichte nicht lernen, könnten wir gezwungen sein, sie noch einmal zu erleben. Aber wenn wir die Zukunft nicht planen, werden wir gezwungen sein, sie einfach hinzunehmen. Und das könnte schlimmer sein», warnt der Amerikaner ALVIN TOFFLER, Verfasser der Bücher «Der Zukunftsschock» und «Kursbuch ins dritte Jahrtausend».

Lange vor den uns mit ihren Voraussagen bedrängenden Futurologen haben schon in den 30er und 40er Jahren Schriftsteller und Philosophen mit seherischem Gespür auf die der Menschheit erwachsenden Gefahren aufmerksam gemacht. In seinen Romansatiren auf eine in Mechanismus und Materialismus erstarrte Welt «Brave New World» und «After many a Summer» zeigt der Engländer ALDOUS HUXLEY in der Entwicklung des modernen Lebens teuflische Tendenzen auf. Sein Landsmann GEORGE ORWELL warnt in dem aufsehenerregenden Buch «Nineteen Eighty-Four» vor den möglicherweise katastrophalen Folgen

des Totalitarismus jeglicher Färbung. Gleichzeitig fordert der in der Schweiz lebende philosophische Schriftsteller JEAN GEBSER durch seine Werke «Abendländische Wandlung» und «Ursprung und Gegenwart» die Metamorphose des modernen Menschen zu einem neuen Zeitbewußtsein. In dem im Jahr 1958 erschienenen gesellschafts- und zeitkritischen Einakter «Biedermann und die Brandstifter» zeichnet MAX FRISCH den Jedermann des 20. Jahrhunderts, den Massenmenschen, Untertan von Technifizierung, Automation und Verwaltung, unfähig, selber neue Werte zu schaffen. Und wenig später beschwört FRIEDRICH DÜRRENMATT in dem Drama «Die Physiker» unser Zeitalter der Angst vor einer totalen Zerstörung der Welt durch hemmungslose technische Auswertung wissenschaftlicher Erkenntnisse.

Seitdem verunsichern uns die wie Pilze aus dem Boden schießenden Alarmprognosen der Futurologen. Der weltweit beachtete, aber auch heftig angegriffene Bericht des «Club of Rome» über die Grenzen des Wachstums löste eine Welle ähnlicher Untersuchungen in allen Lebensbereichen aus. Eine Sturzflut von Problemen ergießt sich über uns, die für heute und morgen gelöst sein wollen: Bevölkerungsexplosion und Hunger, ungehemmte Forschung, Technifizierung und Automation, übertriebene Ansprüche der modernen Gesellschaft auf Wohlstand, auf Gesunderhaltung und Lebensverlängerung um jeden Preis und — als Folge davon — Material- und Energieverknappung, Umweltverschmutzung, Kostenexpansion.

Die Medizin bleibt nicht unberührt von dieser lebensbedrohenden Krise der Fortschrittsgesellschaft. Ihren spezifischen Problemen widmete sich u. a. das Roche-Symposium 1971 «The Challenge of Life», an dem namhafte Vertreter verschiedener Sparten der Wissenschaften Stellung nahmen zu der zwischen biomedizinischem Fortschritt und menschlichen Werten bestehenden Spannung. Ganz allgemein gilt auch für die Medizin, daß jeder Fortschritt, sei er nun erkenntnistheoretischer, technischer oder sozialer Natur, unweigerlich auch gewisse Nachteile für

die menschliche Gesellschaft nach sich zieht. Durch Sachzwänge bedingte Entwicklungen können in Richtungen führen, die keineswegs erwünscht sind; rechtzeitiges Erkennen solcher Fehlentwicklungen ist Voraussetzung für ihre Berichtigung. Dies gilt ganz besonders für die moderne Medizin, von deren Entwicklung wir alle betroffen werden. Jeder von uns nimmt sie als Patient in Anspruch und fordert, daß sie ihr Maximum leiste. Der Arzt soll das ganze Register der diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen fallgerecht ziehen können und ein hochentwickelter Techniker, Biologe und Psychologe sein. Als etwas Selbstverständliches wird dabei vom Arzt Wille, Zeit und Fähigkeit zum ärztlichen Gespräch mit menschlichem Verständnis für den Kranken erwartet. Man fordert deshalb von Staat und Medizinischer Fakultät eine entsprechende Ausbildung der Studenten und Ärzte.

Auf der anderen Seite führen die immer mehr ansteigenden Kosten unserer Kliniken und Spitäler nicht nur zu heftigen Diskussionen über die Grenzen ärztlichen Handelns, sondern auch zu realen Schrumpfungsbeschlüssen, welche zu einer bedrohlichen Scheidewegsituation unserer Medizin führen. Es ist wohl einfühlbar, wenn ich als Rektor dieser Universität nur zu diesem allerdings nicht unwesentlichen Teil des Ganzen hier Stellung nehme. Ich bin mir sehr wohl bewußt, daß die ganze Universität sich in einer sehr schwierigen Lage befindet. Viele der hier vorgebrachten Überlegungen haben cum grano salis auch für die Gesamtuniversität Gültigkeit. Der pathologische Anatom steht insofern im Zentrum der Medizin, als er zu allen Fächern enge Beziehungen und vielleicht den besten Überblick über Erfolge und Mißerfolge der Medizin hat. Hilfeleistung für den Kranken ist und bleibt auch sein Hauptanliegen in täglicher Arbeit, Lehre und Forschung. Drohen aus äußeren Gründen Einschränkungen der ärztlichen Hilfe, so hat er nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, zugunsten der Kranken für eine moderne und sinnvoll angewandte Behandlung zu kämpfen.

Viele und fraglos ebenfalls wichtige Aspekte der hier angesprochenen Kreuzwegsituation müssen leider zufolge Zeitmangels und fehlender Kompetenz unberücksichtigt bleiben oder können nur gestreift werden, wofür ich um Ihr Verständnis bitte.

An der Realität des Kernstückes unserer Betrachtung, der enormen Kostenexpansion auf dem Sektor der öffentlichen Gesundheitspflege, kann wohl niemand mehr zweifeln. Entscheidend sind dabei die jährlichen Ausgaben für die Spitäler. In unserem Stadt-Kanton sind sie in 10 Jahren auf das Dreifache angewachsen. Die geschätzten Ausbildungskosten für die Medizinstudenten der Universität Basel haben sich in derselben Zeitspanne etwa verdreifacht. In der ganzen Schweiz betrugen die Gesamtausgaben für die Spitäler nach der VESKA ca. 3 Milliarden Franken, eine Zahl die uns später noch mehrfach begegnen wird.

Diese Zahlen und insbesondere ihre Wachstumstendenz in den letzten Jahren muß zum Schluß führen, daß es so nicht unbegrenzt weitergehen kann. «Il faut absolument freiner les coûts hospitaliers», hieß es auf dem Jahreskongreß der Schweizerischen Liberal-demokratischen Partei in Pully.

Fragen wir nach den Ursachen für eine solche unproportionale Verteuerung der Spitalbehandlung — die Kosten der hausärztlichen Behandlung sind wesentlich weniger angewachsen —, so sind es in erster Linie die Personalkosten, die in der Schweiz nach HÜGLI und KOHLER 1 in den letzten 20 Jahren um rund das 12fache angestiegen sind. In den staatlichen Spitälern unseres Kantons stiegen sie in den letzten 10 Jahren um das Vierfache.

Neben der längst fälligen Anpassung der Arbeitszeit und der Löhne des Spitalpersonals an die übrigen Berufe, wobei die Höhe der Löhne und die Notwendigkeit eines 13. Monatslohnes

hier nicht zur Diskussion stehen, bedingt die moderne technische Medizin auf vielen Sektoren eine starke Vermehrung und Spezialisierung des Personals. So benötigt eine Intensivpflegestation auf je 2 Patienten 1 Arzt und ungefähr 6 Schwestern zur Überwachung und Behandlung bei Berücksichtigung des 24-Stunden-Betriebes sowie von Freizeit, Ferien, Militärdienst, Krankheit etc. Ferner setzt z. B. die moderne operative Behandlung von Verkehrsverletzten ein großes Operationsteam mit verschiedenen Spezialisten, ausgedehnte Röntgenkontrollen und eine intensive postoperative Behandlung voraus. Die Verkürzung der Spitaltage des einzelnen Patienten um 1/3 bedingt naturgemäß eine Personalvermehrung und dies auch in den Dienstleistungsbetrieben wie Röntgeninstitut, Laboratorien etc.

Die hohen Personalkosten und die Schwierigkeiten, überhaupt genügend Personal zu finden, zwingen zur Anschaffung personalsparender Einrichtungen. So kostet ein modernes Krankenbett, dessen Höhe und Neigung elektrisch betrieben und damit vom Patienten selbst eingestellt werden können und das sich leicht fahren läßt, fast 4mal soviel wie ein gewöhnliches Spitalbett.

Stark angestiegen, jedoch wesentlich bescheidener als die Personalaufwendungen, sind die Kosten für neue und leistungsfähige Apparate in Diagnostik, Überwachung und Behandlung sowie die Aufwendungen für Röntgen und Laboratorien. Verteuernd sind selbstverständlich auch die Medikamente, und schließlich ist bei der Bewertung der Ausgaben der Einfluß der Inflation zu berücksichtigen. Fraglos ist die Forschung zufolge Apparate- und Personalkosten zu einem Teil an der Kostenexpansion der Universitäts-Spitäler und -Institute mitbeteiligt. Ihr Anteil scheint jedoch vergleichsweise bescheiden zu sein. Eidgenössische, industrielle und private Hilfsquellen entlasten das Forschungsbudget schon jetzt beträchtlich.

Es stellt sich die Frage, was wir mit diesen riesigen Aufwendungen denn eigentlich erreicht haben: Haben sie sich, soweit erkennbar, überhaupt gelohnt? Der bekannte Ausspruch, daß

die Fortschritte der Medizin in den letzten 30 Jahren größer waren als in den 3000 Jahren zuvor, kann sachlich nicht bestritten werden. Er trifft nicht nur auf die Prophylaxe der Infektionskrankheiten, sondern auch auf Diagnostik und Behandlung zu. Lassen Sie mich einige Beispiele aus eigener Anschauung anführen:

Als ich vor bald 40 Jahren klinischer Assistent war, starben die Patienten mit tuberkulöser Hirnhautentzündung ausnahmslos innerhalb von 3 Wochen. Die Behandlung war nicht aufwendig, denn sie beschränkte sich auf die einfache Pflege. Heute hat ein solcher Patient bei rechtzeitiger Erkennung des Leidens beste Chancen, ohne wesentliche Schäden das Spital geheilt verlassen und seine Familie versorgen zu können. Selbstverständlich sind die Kosten ganz wesentlich höher als früher. Damals überlebte ein Patient mit kurzfristig nach einer Verletzung auftretendem Starrkrampf kaum je. Heute wird er praktisch mit Sicherheit das Spital gesund verlassen; allerdings betragen die Kosten zwischen 20000 und 30000 Franken.

Die Patienten mit Oberschenkelhalsbrüchen, einer typischen Verletzung alter Menschen nach einem Sturz, starben damals mehrheitlich nach längerem Krankenlager. Die moderne Chirurgie läßt, vereint mit der segensreichen Narkose-Technik, die Patienten heute nach kurzer Zeit das Spital gehfähig verlassen.

Ein weiteres Beispiel: Seit Einführung der Intensivpflegestation (Herzüberwachung usw.) konnte die Sterblichkeit der Herzinfarkt-Patienten auf die Hälfte reduziert werden. Auch an die weitgehende Ausrottung von Infektionskrankheiten wie Kinderlähmung, Diphtherie und Pocken durch Impfung und die erfolgreiche medikamentöse Behandlung anderer wie z. B. Scharlach muß erinnert werden. Auf die Erfolge der modernen Psychiatrie werden wir später eingehen.

Vermutlich ist wohl kaum jemand unter uns, der nicht sein eigenes Leben oder dasjenige naher Angehöriger diesen segensreichen, aber enorm teuren Behandlungen verdankt.

Da wir primär von ökonomischen Überlegungen ausgegangen sind, darf auch auf die rechnerisch allerdings schwer faßbaren Gewinne der Gesellschaft durch Verkürzung der Spitaldauer und Erhaltung der Arbeitskraft hingewiesen werden. Verhinderung und Behandlung von schwerer Invalidität ersparen Angehörigen und Staat enorme Pflegekosten. Dabei denken wir an die Reduktion der Zahl der Blinden, die operative Erhaltung der Gehfähigkeit bei Altersarthrose der Hüfte, die medikamentös und psychotherapeutisch möglich gewordene Entlassung schwer psychisch Kranker aus Anstalten und die völlige Wiederherstellung der körperlichen Leistungsfähigkeit nach Knochenbrüchen.

Die aufgeworfene Frage muß somit zwangsläufig in dem Sinn beantwortet werden, daß sich diese Ausgaben für den einzelnen Patienten und die Gesellschaft gelohnt haben.

Nun stellt sich aber die Frage, ob wir uns diese Wohltaten der Medizin überhaupt leisten können, denn wir stellten doch fest, daß die Kostenexpansion nicht so weitergehen darf. Allerdings ist zum mindesten in unserem Kanton anzunehmen, daß weitere Lohnanpassungen und Arbeitszeitverkürzungen in nächster Zeit nicht zu erwarten sind, denn der Nachholbedarf dürfte erfüllt sein. Eine Personalzunahme ist bei den heutigen Verhältnissen wohl ausgeschlossen. Ob die von der Regierung verfügte und bis heute 8,2 %betragende Personalreduktion im Kantonsspital und seinen Annexen zu wesentlichen Kürzungen der medizinischen Leistungen führen wird und ob in diesem Fall das Volk mit einer solchen Schlechterstellung bezüglich seines Rechtes auf adäquate Behandlung einverstanden ist, wird sich zeigen. Die zur Zeit gültige Taxpolitik in unseren Spitälern wird kaum ein günstigeres Verhältnis von Einnahmen zu Ausgaben erzwingen können; sicher wird sie aber die Ausbildungsqualität unserer Kliniken untergraben.

Es bestehen nun wesentliche Meinungsdiskrepanzen darüber, ob eine massive Reduktion der Ausgaben mit einschneidenden Einschränkungen der Dienstleistung, ob absoluter Wachstums-

und Ausgabenstop oder ob nur eine gebremste Zunahme der Spitalkosten zu verantworten seien. Mit anderen Worten: Welche Lösung ist finanziell verantwortbar und bedingt nicht, daß dem Patienten in Zukunft ein wesentlicher Teil der neuen medizinischen Erkenntnisse vorenthalten werden muß? Als Vertreter seiner Patienten muß der Arzt mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln für eine vernünftige Ausnützung der gebotenen ökonomischen Möglichkeiten einstehen. Er muß insbesondere die Bevölkerung — und diese entscheidet schließlich über die zur Verfügung zu stellenden Mittel — auf die in Frage stehenden Relationen aufmerksam machen. Die Problematik des bio-medizinischen Fortschrittes führt ja, wie ALFRED PLETSCHER im erwähnten Roche-Symposium «Challenge of Life» ausgeführt hat, immer zur politischen Frage, wieviel jede Gesellschaft für die Gesundheit anstelle materieller Vorteile und nationaler Belange zu opfern bereit ist.

Nun meine ich, eine Gemeinschaft, die es sich leisten kann, im Jahr für 3 Milliarden Alkohol zu kaufen und dann noch die alkoholbedingten Gesundheits- und Gesellschaftsschäden ohne Wimpernzucken zu akzeptieren, die rund 3 Milliarden jährlich für die Verkehrsunfälle mit ihren Folgen sowie über 3 Milliarden für den Straßenbau (Bund, Kantone und Gemeinden) tragen kann, sollte doch imstande sein, für ihre Spitäler auch notfalls mehr als 3 Milliarden auszugeben. Die Notwendigkeit für eine absolute Wachstumssperre oder gar eine Reduktion der Ausgaben für das Gesundheitswesen resultiert aus diesen Überlegungen meines Erachtens nicht. Ein weiteres Wachstum scheint wohl möglich, jedoch in sehr bescheidenen Grenzen und unter ganz bestimmten Voraussetzungen.

Ganz sicher müssen wir Ärzte an den Spitälern auch auf dem ökonomischen Sektor darüber nachdenken, wie wir künftig unseren Patienten eine erstklassige Diagnostik und Therapie erhalten können. Die fetten 60er Jahre haben uns diesen Aspekt der Medizin vielleicht etwas übersehen lassen.

Die Verbindung der Schweizerischen Ärzte hat unter Leitung von PAul. NEF, St. Gallen, eine eigene Kommission zur Eindämmung der Kostenexpansion ins Leben gerufen, welche sich intensiv mit diesen Fragen befaßt.

Kostenbewußtes ärztliches Denken heißt Sinnlosigkeiten vermeiden und setzt somit vermehrte Denkarbeit voraus. Gerade diese wird uns jedoch vom Staat heute noch keineswegs beschnitten! Sie kann auch nicht durch den Computer ersetzt werden. Diese Situation zwingt uns zudem, gewisse alte und oft sehr bewährte Methoden zu neuem Leben zu erwecken und dort anzuwenden, wo sie den viel komplizierteren und teureren neuen Methoden praktisch ebenbürtig sind. Die Neuentwicklung von billigeren und ebenso aussagekräftigen Methoden muß ein wichtiges Anliegen unserer klinischen Forschung sein. Dieses Umdenken scheint mir schon in der Lehre wichtig, denn nur ein kleiner Prozentsatz unserer Studenten und Assistenten wird später in einer apparateträchtigen, finanziell unabhängigen Klinik arbeiten. Gerade diese junge Generation, Trägerin der Medizin der nächsten Dezennien, muß kostenbewußt arbeiten lernen, damit sie die modernen Errungenschaften zum Nutzen ihrer Patienten auch voll ausnützen kann.

Wenn finanzielle Beschränkungen bestehen, und dies ist zweifellos der Fall, so müssen nicht eindeutig sinnvolle Maßnahmen aus diesen Gründen unterbleiben. Schon mehrfach ist der Begriff «sinnvoll» verwendet worden. Seine Interpretation ist naturgemäß immer diskutabel. Ich meine jedoch, alles ärztliche Bemühen sei solange sinnvoll, als es den Patienten im Idealfall hellt, sonst sein Leben erleichtert, unter gewissen Voraussetzungen auch verlängert. So ist es sinnvoll, einen zufolge Krebsablegern gebrochenen Arm operativ zu behandeln, obschon der Patient möglicherweise nur noch eine kurze Lebensspanne vor sich hat. Während dieser Zeit — sie kann auch viele Jahre betragen — kann er seinen Arm ohne Schmerzen gebrauchen und frei herumgehen. Die Operation entlastet auch das Pflegepersonal beträchtlich.

Ebenso müssen Verschlüsse der Atem- und Verdauungswege nach Möglichkeit operativ behoben werden, um das zeitlich oft nur kurze Überleben zu erleichtern. Solche Fragen der reinen Hilfeleistung an den Patienten sollten denjenigen der schließlich auch nur temporären Lebensrettung nicht hintangestellt werden.

Mit kostspieligen Methoden ein nach bestem Wissen und Gewissen nicht mehr als lebenswert zu bezeichnendes und oft auch vom Patienten selbst nicht gewolltes Leben zu erhalten, entspricht nicht dem ärztlichen Ethos. Am Basler Universitätstag der wissenschaftlichen Begegnung vor zwei Jahren wurde diese Frage von kompetenter Seite ausführlich beleuchtet 2. Ich bräuchte nicht darauf einzugehen, wenn nicht der Vorwurf, wir würden unwertes und nicht gewolltes Leben erhalten, von vielen Seiten und immer wieder erhoben würde. Gewiß, die Fälle sind nicht selten, in denen alles zur Rettung eines Menschen eingesetzt, aber zu spät erkannt wird, daß das Hirn unheilbar geschädigt war. Solche funktionell völlig enthirnte, nur mit künstlicher Beatmung lebende Patienten stellen eines der belastendsten Danaergeschenke der modernen Medizin dar, denn es obliegt ausschließlich dem behandelnden Ärzteteam und den Angehörigen, den Zeitpunkt der Kapitulation vor dem Tod zu bestimmen und die Atemgeräte abzuschalten. Immer wieder muß aber dieser Situation die große Zahl der mit solch modernsten Methoden geretteten Patienten entgegengehalten werden. Meist ist es in der akuten Situation einfach unmöglich, die konkreten Überlebenschancen abzuschätzen, so daß der ärztlich Denkende schlechthin gezwungen ist, alles zu unternehmen, um das entfliehende Leben zurückzuhalten.

Unser hinterhältigster Gegner, die Krebskrankheit, stellt uns fast täglich vor ähnliche Probleme. Oft ist die primäre Heilbarkeit vor der Operation nicht eindeutig erkennbar, die Zuverlässigkeit erleichternder Maßnahmen fragwürdig. Das Abwägen

von Nutzen und Schaden einer Hilfeleistung kann äußerst schwierig sein; der Eingriff lohnt sich jedoch, wenn dem Patienten eine wesentliche Erleichterung geschaffen werden kann. Ein klassisches Beispiel ist die Leukämie, eine Art von Knochenmarkkrebs. Eine ihrer besonders bösartigen Formen kann akut und in Schüben verlaufen. Wir können sie — mit Ausnahme einzelner Kinderfälle — bis heute noch nicht heilen, sind jedoch imstande, Schübe zu unterbrechen, so daß der Patient über längere Zeit ein wohl reduziertes, jedoch meist lebenswertes Leben führen kann. Die Kosten einer Schubcoupierung können 20000 Franken weit überschreiten. Wenn wir uns in die Lage eines solchen Patienten hineindenken, so ist die Zweckmäßigkeit einer derartig kostspieligen Hilfeleistung wohl nicht mehr fraglich.

Ein viel diskutiertes Problem auch ökonomischer Art bilden schließlich die künstliche Niere oder Dialyse und die Nierentransplantation. Die Dialyse entfernt die sonst im Urin ausgeschiedenen Schlackenstoffe bei Patienten mit Schrumpfnieren in regelmäßig wiederholten Behandlungen. Auf diese Weise kann das Leben eines Patienten — meist sind es junge Menschen — über Jahre oder bis zum Zeitpunkt der Transplantation erhalten werden. Die Kosten betragen rund 50000 Franken pro Jahr und Patient. Bei der Nierentransplantation wird ein gesundes Organ eines Verstorbenen auf den Patienten überpflanzt. Wie beim Blut die Blutgruppen, so gibt es auch gewissermaßen Gewebegruppen, welche bei Spender und Empfänger möglichst ähnlich sein sollten. Andernfalls empfindet der Empfänger das Transplantat als fremd und wehrt sich mit einer entzündlichen Reaktion, welche das Transplantat zerstört. Diese Reaktion kann weitgehend medikamentös unterdrückt werden, doch sind solche Patienten dann stark infektionsgefährdet. Im ganzen aber werden die Resultate der Nierentransplantation von Jahr zu Jahr besser. In Basel leben heute schon 22 derartige Transplantatträger mehr als 3 Jahre, meist arbeitsfähig und ohne die doch nicht

unbeträchtlichen Nebenerscheinungen der Dialyse. Die Transplantation kostet jedoch im ersten Jahr 35000 Franken und in den folgenden je 4000-5000 Franken. Hier hat nun das kostenbewußte Denken schon eingesetzt, meines Erachtens sehr zu Recht. Alkoholiker und Psychopathen, bei welchen die Nachbehandlung nicht konsequent durchgeführt werden kann, werden ebenso ausgeschlossen wie Patienten oberhalb einer gewissen Altersgrenze, denn bei solchen Patienten sind die Resultate erfahrungsgemäß allgemein zu schlecht, als daß deren Kosten der Allgemeinheit aufgebürdet werden könnten. Müßten wir anderseits diesen erfolgreichen Sektor aus Finanzgründen aufgeben, so ist das Schicksal der schwer Nierenkranken in Basel hoffnungslos, denn die übrigen Zentren sind nicht imstande, zusätzliche Patienten zu übernehmen.

Mit diesen Beispielen sollte gezeigt werden, wie viele von Kritikern als sinnlos bezeichnete Maßnahmen eben doch im Namen der leidenden Menschen vertretbar sind. Selbstverständlich ließen sich ebensogut Beispiele für den Verzicht derartiger Maßnahmen bei Erkennung ihrer effektiven Sinnlosigkeit aufführen. So würde es keine echte Hilfeleistung bedeuten, wenn bei Krebskranken mit schwersten Schmerzen eine Lungenentzündung mit modernsten Mitteln bekämpft wird, obschon die Patienten gar nicht mehr leben wollen. Sinnlos wäre auch eine genaue diagnostische Abklärung und eine Lebensverlängerung bei alten, senildementen Patienten. «The important thing is to add life to years and not years to life», empfiehlt ein britischer Kliniker. Die nachträglichen ausführlichen Besprechungen fraglicher Entschlüsse bei derartigen Krankheitsfällen im Verlaufe von Spitaldemonstrationen stellen eine harte Kontrolle allzu aktiver Ärzte dar. Unbedingt notwendig ist jedoch der Ausbau dieses Teils der Ausbildung, denn sorgfältiges Abwägen von Chancen kann gelehrt und auch gelernt werden. Erfahrung ist auch auf diesem Sektor übermittelbar.

Entscheidend wichtig in diesem Zusammenhang ist die Tatsache,

daß bei solchen äußerst sorgfältig gefaßten Entscheidungen bisher nur rein ärztliche Argumente in Betracht gezogen wurden. Ein völliger Wachstumsstop der Spitalmedizin führt sehr wahrscheinlich, eine Regression sogar ganz sicher zu einer total neuen Situation: Im Zweifelsfall würde stets und im eindeutig positiven Fall mehr und mehr auf die zweckmäßige Hilfeleistung verzichtet werden müssen. Das medizinische Niveau eines Entwicklungslandes wäre dann nicht mehr fern!

Und wenn alle operativen und medikamentösen Möglichkeiten erschöpft sind, muß die zeitraubende, aber überaus wichtige und dankbare Aufgabe ärztlich-seelsorgerischer Betreuung der auf das Ende ihres Lebens zugehenden Patienten einsetzen. Mit diesem Anliegen ärztlicher Tätigkeit hat sich kürzlich GERHARD A. NAGEL in seiner Antrittsvorlesunng eindrücklich auseinandergesetzt. Die Erfolge von Wissenschaft und Technik lassen uns Ärzte diese Aufgabe etwa unterbewerten. Patienten und Angehörige erschweren sie uns mit ihrem durch die Massenmedien gefährlich angeheizten Glauben an unbegrenzte Möglichkeiten medizinischer Hilfeleistung und durch häufiges Nichtakzeptierenwollen des Todes. Anläßlich der Einweihung des Bruderholzspitals hat Regierungsrat PAUL MANZ als Theologe eindringlich davon gesprochen, daß der moderne Mensch wieder lernen müsse, den Tod als natürlichen Abschluß des Lebens anzunehmen und psychisch zu verarbeiten. Eine vermehrte Berücksichtigung dieses menschlichen Sektors der ärztlichen Tätigkeit in der Lehre ist ebenso erforderlich wie genügend Zeit für Haus- und Spitalarzt, um die mehr und mehr auf ihn übergehenden seelsorgerischen Aufgaben bei Kranken und Sterbenden zu erfüllen.

Wenden wir uns noch kurz der Forschung zu. Ihre Notwendigkeit wird von politischer und wirtschaftlicher Seite nicht selten teilweise bestritten, und wesentliche Budgetkürzungen werden deswegen nicht nur in Erwägung gezogen, sondern auch durchgeführt (Nationalratsbeschluß im September betr. Nationalfonds).

Nun gibt es aber ohne Forschung auch keinen Fortschritt. Es wäre kurzsichtig, würde man gerade die Forschung radikal eindämmen, nur um innerhalb der realen Möglichkeiten der Grenzen des Wachstums zu bleiben. Gerade das Gegenteil wäre richtig, denn auf unserem Gebiet führt die Forschung zu besserem Verständnis der Krankheiten, damit unter anderem zur Prophylaxe und zur Verminderung vermeidbarer Krankheiten. Neben der Lehre war die Forschung auch immer Hauptaufgabe der Universität und wird es hoffentlich auch bleiben, denn ohne genügend Forschungsmöglichkeiten ist eine Universität —und zwar gilt das für alle Fakultäten gleichermaßen — unweigerlich zum Versanden verurteilt. Der entsprechende Anreiz fehlt, es werden nur wissenschaftlich Uninteressierte und deshalb, vom Standpunkt der universitären Forschung betrachtet, zweitrangige Mitarbeiter angezogen, ein erstklassiger Nachwuchs bleibt aus. Eine finanzielle Durststrecke von relativ kurzer Zeit kann sich damit auf Jahrzehnte katastrophal auswirken. Sollen äußerst gefährliche Weichenstellungen vermieden werden, so müssen die Prüfungen von möglichen Sparmaßnahmen auf diesem Sektor mit äußerster Vorsicht und immer im Hinblick auf die Zukunft vorgenommen werden. Selbstverständlich zwingt die heutige Situation zur Rationalisierung der Forschung in Raum-, Personal- und Gerätebedarf, zur interdisziplinären, interfakultären und zur extramuralen Zusammenarbeit sowie zur vermehrten Ausschöpfung außeruniversitärer Quellen. Es scheint jedoch fraglich, ob diese schon weitgehend durchgeführten Maßnahmen imstande sind, auch zukünftig den bisherigen Stand unserer anerkannten Forschung zu erhalten.

Während die bisherigen Ausführungen ein Plädoyer für die Einsparung durch sinnvolle Anwendung der modernen Methoden war, so könnte anderseits durch vermehrte Entwicklung der hausärztlichen Tätigkeit, der Hauspflege sowie der Alters- und Pflegeheime eine merkbare Entlastung der teuren Spitäler erreicht werden. Die in den letzten 10 Jahren um mehr als das

Doppelte angestiegene Zahl der Medizinstudenten in der Schweiz und die erfreuliche Tendenz der jungen Generation zur Allgemeinpraxis läßt eine bessere hausärztliche Versorgung der Bevölkerung voraussagen. Allerdings dauert es heute noch durchschnittlich 16 Jahre bis ein Anfänger des Medizinstudiums in die Praxis übertritt. Die genannte Verbesserung wird somit nur stufenweise und stark verzögert bemerkbar werden. Sorge bereitet mir die Assistentenausbildung, welche heute im Durchschnitt 10 Jahre dauert. Die zunehmende Studentenzahl hat zur Folge, daß in einigen Jahren nur jeder zweite Suchende eine Stelle finden wird. Ob durch Einsatz neuer und Ausbau alter Ausbildungsmethoden sowie andere Maßnahmen eine Verkürzung auf 5 Jahre und damit Ausbildungsstellen für sämtliche jungen Ärzte geschaffen werden können, wird sich zeigen. Aus Gründen, auf welche wir gleich zurückkommen, wäre schließlich eine relative Erhöhung der Zahl der Rotationsstellen für zukünftige Allgemeinpraktiker angezeigt.

Sehr viele Untersuchungen könnten durch den Hausarzt oder den zugezogenen Spezialisten durchgeführt und deren Resultate im Spital später verwendet werden, was teure Spitaltage einsparen und die Spitalspezialisten entlasten würde.

Eine ganz wichtige Voraussetzung für vermehrten Einsatz der in der Praxis tätigen Ärzte ist die häusliche Pflege. Diese wird sehr oft auch den psychischen Bedürfnissen der Patienten eher gerecht als das Spitalklima. Dem patriarchalischen Sterben eines Greises im Kreis der Familie wird heute — von den Angehörigen zum mindesten — mehr und mehr der Tod im unpersönlichen Krankenhaus, oft fern von allen Angehörigen, vorgezogen. Kleinwohnung, Kleinfamilie, Arbeit der Frau, Übernahmen der Kosten durch die Krankenkasse, zum Teil auch reine Bequemlichkeit von Patienten und Angehörigen sind jedoch Tatsachen, welche der Hausbehandlung entgegenstehen. Ob sie sich durch Aufklärung beheben lassen, ist fraglich. Eine einigermaßen befriedigende Lösung ist in der organisierten Hauspflege durch

ausgebildete Pflegerinnen zu sehen. Sie ist schon teilweise, jedoch noch ungenügend entwickelt. Vermutlich bedingt ihr Ausbau ein Zusammenwirken von staatlichen mit privaten Kräften. Dankbar vermerken wir die großzügige Spende der Basler Kantonalbank vor wenigen Wochen für diesen Zweck. Eine leistungsfähige Hauspflege zusammen mit einer allerdings nicht zu erzwingenden Bereitschaft der Angehörigen zur Übernahme rein pflegebedürftiger Patienten würden Spitäler und Alterspflegeheime entlasten und in die Lage versetzen, schwerer geschädigte Patienten aus den hochspezialisierten Kliniken zu übernehmen. Dadurch könnten auch die oft unendlich langen Wartezeiten für nicht akut dringliche Operationen verkürzt werden.

Ohne eine gewisse Umstellung in der Mentalität des Patienten und seiner Familie ist jedoch eine sinnvolle Ausnützung der modernen medizinischen Möglichkeiten, trotz aller Bemühungen von ärztlicher und staatlicher Seite, nur teilwese realisierbar. Dabei ist an die Problematik der Surconsommation médicale, d. h. der Überlastung von praktisch tätigen Ärzten und Krankenkassen durch unnötige Konsultationen und an die zum Teil eindeutige Überstrapazierung des Versicherungsgedankens und an das unausgewogene Dreieck: Versicherungsprämien — Einkommen —Versicherungsleistungen zu denken, die eng verbunden sind mit dem umstrittenen «Recht auf Gesundheit». Nach JEANNE HERSCH besteht dieses Recht insofern, als Krankheit und Schmerz die von ihr als für den Menschen entscheidend angesprochene Entschlußfähigkeit hemmen. Aber, so folgert JEANNE HERSCH, «savoir supporter fait partie de la santé». Auch sie fordert somit vom Patienten aktive Mitarbeit.

Noch viel wichtiger scheint uns jedoch die Anerkennung einer «Pflicht auf Gesunderhaltung», also zur individuellen Prophylaxe, dem Hauptanliegen der modernen Medizin. Die Ausschaltung vermeidbarer Gesundheitsstörungen der modernen Gesellschaft — man hat sie etwas hart als selbstverschuldet bezeichnet — würde Spitäler, Krankenkassen und praktisch tätige Ärzte

gewaltig entlasten, ganz abgesehen von den menschlichen und finanziellen Vorteilen für Patienten und Gesellschaft. In einer Zeit der Prioritätensetzung dürften auch die nichtmedizinischen und teilweise nur schwer exakt erfaßbaren Ausgabengrößen der folgenden Beispiele nicht uninteressant sein.

Sicher wäre ein großer Teil der erwähnten rund 3 Milliarden Kosten für jährliche Verkehrsunfälle zu vermeiden. Eine erhebliche Reduktion der jährlich 29000 schweren Verkehrs-Verletzten würde eine unverhältnismäßig große Entlastung unserer Spitäler nach sich ziehen. Das unsägliche menschliche Elend, das hinter dieser Zahl sowie den jährlich über 1700 Verkehrstoten steht, sei nicht vergessen. Der Kampf gegen diese moderne Gefährdung des Menschen wird, wie wir täglich sehen, nur lau geführt. Wir fühlen uns ganz grundlos unbeteiligt und deshalb nicht zur Mitarbeit aufgerufen. Tod oder schwere Verkehrsverletzungen innerorts sind durch das Tragen von Sicherheitsgurten absolut vermeidbar 3; auch außerorts ist dies weitgehend der Fall. Trotzdem wird erst heute erwogen, das Tragen der Sicherheitsgurten gesetzlich vorzuschreiben, wie dies z. B. unsere französischen Nachbarn tun. Wäre wohl die Drohung auf Reduktion der Versicherungsleistungen bei Nichttragen der Sicherheitsgurten erfolgreicher? Der schwere psychische Druck, unter dem ich bei der fast täglichen Beschäftigung mit Verkehrsopfern stehe, zwingt mich, Sie erneut auf das Paradoxe dieser Situation hinzuweisen: mit enormen Aufwendungen an Geist und Geld wird die Medizin ausgebaut, um dann weitgehend durch die Folgen einer, wie wir doch heute einsehen müssen, ungenügend gebremsten Entwicklung der modernen Gesellschaft absorbiert zu werden.

Eines der größten modernen Gesellschaftsprobleme, welches ebenfalls eine enorme, an sich aber vermeidbare Belastung unserer

Spitäler bedingt, ist fraglos der chronische Alkoholismus. Die 3 Milliarden, welche für den Alkohol-Ankauf ausgegeben werden, stellen nur die sichtbare Spitze eines Eisberges dar. Von den geschätzten 130000 chronischen Alkoholikern unseres Landes benötigt nämlich ein großer Teil wiederholte Spitalbehandlungen. Nach unabhängigen Schätzungen an 5 Kantonsspitälern sind rund 30 % der Patienten auf Männer-Abteilungen der medizinischen Kliniken mit alkoholisch bedingten Schäden hospitalisiert 4. Neben der Schwächung der Infektionsabwehr steht die alkoholisch bedingte Form der Schrumpfleber im Vordergrund. Man kann einen Teil der Folgen solcher Schrumpflebern operativ, allerdings mit Inkaufnahme wesentlicher Nachteile für den Patienten, mit einem Kostenaufwand von rund Fr. 12000.— beheben. Im letzten Jahr starben 71 Patienten unserer Kliniken an diesem Leiden, 1/4 davon betraf Frauen. Der Alkoholismus weiblicher Patienten ist, wie in allen Wohlstandsgebieten, auch bei uns eindeutig im Zunehmen. Aufsehenerregend ist ferner die in Amerika eindeutig festgestellte und auch bei uns schon angedeutete Tendenz der Jugendlichen, zwar die Drogen beiseite zu lassen, dafür zum Alkohol zu greifen.

Schließlich spielt der Alkohol auch bei den Verkehrsunfällen eine nicht unbedeutende Rolle. 1/6 der tödlichen Verkehrsunfälle 1972 war durch Alkohol bedingt und 1/3 der Verkehrsopfer stand unter Alkoholeinfluß.

Auch bei diesem Beispiel muß ich mich zwingen, das menschliche Elend, die gesellschaftlichen Folgen und die enorme Belastung der Fürsorge-Institutionen nur am Rande zu erwähnen. Sie müssen uns bei den bisher leider inadäquaten Bestrebungen zur Eindämmung des Alkoholismus jedoch immer vor Augen stehen.

Die auch über unser Land bedrohlich hinwegrollende Welle

der Drogensucht trägt wesentlich mehr, als gemeinhin angenommen wird, zur finanziellen Belastung des Staates bei. Diese Patienten beanspruchen Betten und Finanzmittel, welche der Behandlung unvermeidbarer Krankheiten entzogen werden. In unserem Untersuchungsgut finden wir heute 100 Patienten mit sogenannter Hippie-Hepatitis, d.h. durch Drogeneinspritzungen hervorgerufene schwere Leberentzündung. Wir sehen in diesem Zusammenhang wiederum von den tieferschütternden menschlichen Tragödien ab, in welche Gerichtsberichterstattungen Einsicht geben. Das bloß neugierige Probieren von sogenannt weichen Drogen wie Haschisch, Amphetamine u. ä. verführt einen nicht unbeträchtlichen Teil der meist Jugendlichen zur eigentlichen Sucht, und diese wiederum läßt 1/10 zu harten Drogen wie Heroin, Kokain, Morphium greifen, vor denen es meist kein Entrinnen mehr gibt. Die Zahl der jugendlichen Ganz-Invaliden durch Drogensucht nimmt beängstigend zu. Sie wird nach SPECKER 5 in der Schweiz vor 1980 die Zahl von 3000 Patienten erreicht haben, welche unsere Pflege- und Fürsorgeeinrichtungen auf Jahrzehnte schwer belasten.

Selbstverständlich ist dem Alkohol- und Drogenproblem durch Steuern, Strafen etc, nicht beizukommen. Nun läßt uns aber die moderne Psychiatrie und Psychologie die sozialmedizinischen Ursachen der Suchtkrankheiten zum mindesten teilweise erfassen. Nach PAUL KIELHOLZ sind es vor allem die Industrialisierung und Verstädterung mit Verlust der Bindungen an Mitmenschen und höhere Werte, welche Zuflucht bei Alkohol und Drogen suchen lassen. Sozialmedizinische Erkenntnisse dürfen jedoch nicht im leeren Raum hängen. Sie müssen zu sinnvollen Konsequenzen führen. Ohne eine gewissermaßen infektiös sich ausbreitende Einsicht des Volkes nützen diese Erkenntnisse wenig. Vielleicht rüttelt die Aussicht auf eine erzwungene Einschränkung

ärztlicher Behandlungsmöglichkeiten die bisher diesen drohenden Wolken gegenüber indifferent Gebliebenen auf.

Auf eine mehr im Hintergrund und ohne Lärm ablaufende Form der Drogensucht haben wir vor mehr als 20 Jahren erstmals aufmerksam gemacht: den Mißbrauch phenazetinhaltiger Schmerzmittel, der u. a. zu schweren psychischen und Nieren-Schäden führt. Diese Mittel erzeugen, übermäßig genossen, ihrerseits wiederum Kopfschmerzen, so dass ein circulus vitiosus resultiert. Wertvolle Studien von ULRICH C. DUBACH 6 und PAUL KIELHOLZ 7 in Basel haben auf die enorme Verbreitung des Phenazetin-Mißbrauchs hingewiesen. Die exakte Ursache der Nierenschädigung ist bis heute noch nicht bekannt. ULLA BENGTSSON 8 hat in Schweden einen starken Abfall der phenazetinbedingten Nierenpatienten in den Kliniken nach Einführung einer Rezepturpflicht für diese Medikamente dartun können. Ihre Arbeitsgruppe hat ferner gezeigt, und wir haben es in Basel bestätigt 9, daß der seltene Krebs des Nierenbeckens bei diesen Patienten stark vermehrt auftritt. Sicher sind es nicht riesige, doch auf unsere Spitäler bezogen, wesentlich ins Gewicht fallende Einsparungen, die durch Eindämmung dieser vielfach unterschätzten, heimlich-unheimlichen Sucht zu erzielen wären.

Die Zahl der Todesfälle infolge Lungenkrebs hat in den letzten 40 Jahren in der Schweiz beängstigend, nämlich um mehr als das Zehnfache, zugenommen, 5mal mehr als die übrigen Krebsformen. Möglicherweise sind Umweltsfaktoren an dieser

enormen Zunahme des Lungenkrebses mitbeteiligt. Sicher ist jedoch, daß der Zigarettenraucher 20mal häufiger an Lungenkrebs erkrankt als der Nichtraucher. Das Zigarettenrauchen ist deshalb so gefährlich, weil der Rauch meistens inhaliert wird und die kanzerogenen Stoffe in den Luftröhrenästen zu Krebs führen. Sie werden jedoch auch resorbiert und können durch ihre Stoffwechselprodukte Blasengeschwülste erzeugen. Blasen- und Lungenkrebs nehmen in den letzten Jahren nicht nur zahlenmäßig zu, sie treten vermehrt bei jüngeren Patienten und bei Frauen auf als Folge der Ausbreitung der Rauchergewohnheiten bei den Jugendlichen und Frauen. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß Arteriosklerose und besonders Herzinfarkte bei starken Zigarettenrauchern hochgradig verstärkt und frühzeitiger in Erscheinung treten. Zigaretten würden horrend teuer, wenn zum Verkaufspreis noch die statistisch erfaßbaren Folgekosten berechnet würden!

Die Pflicht zur Gesunderhaltung geht natürlich weit über das bisher Gesagte hinaus. So gefährden — um nur zwei Beispiele zu erwähnen —Übergewicht und Bewegungsarmut unsere Generation in hohem Maße. Übergewicht von 30 % erhöht die Sterblichkeit an Kreislauferkrankungen um das Doppelte. Sport im echten Sinn, nicht etwa als Zuschauer auf der Tribüne, und in allen Altersstufen ist ein dringendes Postulat unserer Zeit. Selbst Herzinfarkt-Patienten erholen sich körperlich und vor allem psychisch bei streng kontrollierter körperlicher Beanspruchung wesentlich besser als bei absoluter Ruhe.

Ich hatte mir die Aufgabe gestellt, vor Ihnen einen der vordringlichsten Kreuzwege der modernen Medizin, die Kostenexpansion, mit all ihren Konsequenzen von meiner Warte aus zu diskutieren und auf Lösungsmöglichkeiten hinzuweisen. Es war mir ein Anliegen, dabei auch menschliche Probleme der ärztlichen Tätigkeit zu berücksichtigen.

Wir sind zum Schluß gelangt, daß ein Wachstum der Spitalkosten im bisherigen Maße sicher nicht tragbar ist. Ein völliger

Wachstumsstop oder gar eine Reduktion ist dagegen wegen der Konsequenzen mit gutem Gewissen nicht vertretbar und im Hinblick auf andere Ausgaben des Volkes auch nicht unbedingt notwendig. Eine Feststellung, die im übrigen in weitem Umfang auf die ganze Universität als Trägerin des Geisteslebens und des wissenschaftlichen Fortschrittes zutrifft. Neben vermehrtem Kostendenken und Sparwillen im Kreis der Ärzte kommt der Prophylaxe vermeidbarer Erkrankungen größte Bedeutung zu. Sie kann nicht ausschließlich Sache des Staates oder der Ärzte sein, sondern sie setzt die aktive Beschäftigung aller mit diesem Problem voraus, und diese wiederum ruft nach einer entsprechenden Information. Jedenfalls scheint es paradox, wenn eine Gesellschaft, die sich derartige unnötige Ausgaben für Zigaretten, Alkohol etc. gestatten kann, gleichzeitig einschneidende Reduktionen ihrer Spitalbehandlung in Erwägung zieht. Es schiene mir ein schlechtes Zeichen für unsere Demokratie, wenn wir diesen Fragenkomplex nicht vernünftig lösen könnten.

Ausgangspunkt meiner allgemeinen Betrachtungen war die durch eine bedrohliche Zukunft ausgelöste Krise, die unsere Welt wie eine schwere Krankheit heimsucht. Krankheit ruft nach Heilung. Es gilt, einen Gesundungsprozeß einzuleiten, zu dessen Verwirklichung die Verantwortlichen in Staat und Politik, Wirtschaft, Industrie und Forschung aufgerufen sind. Aufgerufen zur Mithilfe ist aber auch jeder Einzelne unter uns. Daß etwas geschehen muß, sollte uns allmählich klar geworden sein. Zu dieser Einsicht muß aber auch die Bereitschaft kommen, uns umzustellen und anzupassen, vielleicht sogar verzichten zu können. Lassen wir den Mahnruf JEAN GEBSERS: «Entweder überwinden wir die Krise oder sie überwindet uns» nicht teilnahmslos an uns vorbeigehen.