Medizin am Scheideweg
Rektoratsrede
gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel
am 29. November 1974
Verlag Helbing &Lichtenhahn • Basel 1974
Bewußt oder unbewußt stehen wir Menschen von heute unter
dem Damoklesschwert einer mit immer größerer Bedrohung und
Beschleunigung auf uns zustürmenden Zukunft. Schockartig hat
unsere fortschrittsgläubige, auf ihre spektakulären Erfolge in
Wissenschaft und Technik so stolze Generation die Erkenntnis
überfallen, daß Fortschritt auch Unheil bedeuten kann. Waren
es bisher die Erfahrungen der Vergangenheit, welche unser Verhalten
in der Gegenwart beeinflußten, müssen wir heute Zukunftsperspektiven
in unser tägliches Denken, Planen und Handeln
integrieren. «Wenn wir aus der Geschichte nicht lernen,
könnten wir gezwungen sein, sie noch einmal zu erleben. Aber
wenn wir die Zukunft nicht planen, werden wir gezwungen sein,
sie einfach hinzunehmen. Und das könnte schlimmer sein»,
warnt der Amerikaner ALVIN TOFFLER, Verfasser der Bücher
«Der Zukunftsschock» und «Kursbuch ins dritte Jahrtausend».
Lange vor den uns mit ihren Voraussagen bedrängenden Futurologen
haben schon in den 30er und 40er Jahren Schriftsteller
und Philosophen mit seherischem Gespür auf die der Menschheit
erwachsenden Gefahren aufmerksam gemacht. In seinen
Romansatiren auf eine in Mechanismus und Materialismus erstarrte
Welt «Brave New World» und «After many a Summer»
zeigt der Engländer ALDOUS HUXLEY in der Entwicklung des
modernen Lebens teuflische Tendenzen auf. Sein Landsmann
GEORGE ORWELL warnt in dem aufsehenerregenden Buch «Nineteen
Eighty-Four» vor den möglicherweise katastrophalen Folgen
des Totalitarismus jeglicher Färbung. Gleichzeitig fordert der in
der Schweiz lebende philosophische Schriftsteller JEAN GEBSER
durch seine Werke «Abendländische Wandlung» und «Ursprung
und Gegenwart» die Metamorphose des modernen Menschen
zu einem neuen Zeitbewußtsein. In dem im Jahr 1958 erschienenen
gesellschafts- und zeitkritischen Einakter «Biedermann
und die Brandstifter» zeichnet MAX FRISCH den Jedermann
des 20. Jahrhunderts, den Massenmenschen, Untertan von Technifizierung,
Automation und Verwaltung, unfähig, selber neue
Werte zu schaffen. Und wenig später beschwört FRIEDRICH DÜRRENMATT
in dem Drama «Die Physiker» unser Zeitalter der Angst
vor einer totalen Zerstörung der Welt durch hemmungslose technische
Auswertung wissenschaftlicher Erkenntnisse.
Seitdem verunsichern uns die wie Pilze aus dem Boden schießenden
Alarmprognosen der Futurologen. Der weltweit beachtete,
aber auch heftig angegriffene Bericht des «Club of Rome» über
die Grenzen des Wachstums löste eine Welle ähnlicher Untersuchungen
in allen Lebensbereichen aus. Eine Sturzflut von Problemen
ergießt sich über uns, die für heute und morgen gelöst
sein wollen: Bevölkerungsexplosion und Hunger, ungehemmte
Forschung, Technifizierung und Automation, übertriebene Ansprüche
der modernen Gesellschaft auf Wohlstand, auf Gesunderhaltung
und Lebensverlängerung um jeden Preis und — als
Folge davon — Material- und Energieverknappung, Umweltverschmutzung,
Kostenexpansion.
Die Medizin bleibt nicht unberührt von dieser lebensbedrohenden
Krise der Fortschrittsgesellschaft. Ihren spezifischen
Problemen widmete sich u. a. das Roche-Symposium 1971 «The
Challenge of Life», an dem namhafte Vertreter verschiedener
Sparten der Wissenschaften Stellung nahmen zu der zwischen
biomedizinischem Fortschritt und menschlichen Werten bestehenden
Spannung. Ganz allgemein gilt auch für die Medizin,
daß jeder Fortschritt, sei er nun erkenntnistheoretischer, technischer
oder sozialer Natur, unweigerlich auch gewisse Nachteile für
die menschliche Gesellschaft nach sich zieht. Durch Sachzwänge
bedingte Entwicklungen können in Richtungen führen, die keineswegs
erwünscht sind; rechtzeitiges Erkennen solcher Fehlentwicklungen
ist Voraussetzung für ihre Berichtigung. Dies gilt
ganz besonders für die moderne Medizin, von deren Entwicklung
wir alle betroffen werden. Jeder von uns nimmt sie als
Patient in Anspruch und fordert, daß sie ihr Maximum leiste.
Der Arzt soll das ganze Register der diagnostischen und therapeutischen
Maßnahmen fallgerecht ziehen können und ein hochentwickelter
Techniker, Biologe und Psychologe sein. Als etwas
Selbstverständliches wird dabei vom Arzt Wille, Zeit und Fähigkeit
zum ärztlichen Gespräch mit menschlichem Verständnis für
den Kranken erwartet. Man fordert deshalb von Staat und Medizinischer
Fakultät eine entsprechende Ausbildung der Studenten
und Ärzte.
Auf der anderen Seite führen die immer mehr ansteigenden
Kosten unserer Kliniken und Spitäler nicht nur zu heftigen Diskussionen
über die Grenzen ärztlichen Handelns, sondern auch
zu realen Schrumpfungsbeschlüssen, welche zu einer bedrohlichen
Scheidewegsituation unserer Medizin führen. Es ist wohl
einfühlbar, wenn ich als Rektor dieser Universität nur zu diesem
allerdings nicht unwesentlichen Teil des Ganzen hier Stellung
nehme. Ich bin mir sehr wohl bewußt, daß die ganze Universität
sich in einer sehr schwierigen Lage befindet. Viele der hier vorgebrachten
Überlegungen haben cum grano salis auch für die
Gesamtuniversität Gültigkeit. Der pathologische Anatom steht
insofern im Zentrum der Medizin, als er zu allen Fächern enge
Beziehungen und vielleicht den besten Überblick über Erfolge
und Mißerfolge der Medizin hat. Hilfeleistung für den Kranken
ist und bleibt auch sein Hauptanliegen in täglicher Arbeit, Lehre
und Forschung. Drohen aus äußeren Gründen Einschränkungen
der ärztlichen Hilfe, so hat er nicht nur das Recht, sondern auch
die Pflicht, zugunsten der Kranken für eine moderne und sinnvoll
angewandte Behandlung zu kämpfen.
Viele und fraglos ebenfalls wichtige Aspekte der hier angesprochenen
Kreuzwegsituation müssen leider zufolge Zeitmangels
und fehlender Kompetenz unberücksichtigt bleiben oder können
nur gestreift werden, wofür ich um Ihr Verständnis bitte.
An der Realität des Kernstückes unserer Betrachtung, der
enormen Kostenexpansion auf dem Sektor der öffentlichen Gesundheitspflege,
kann wohl niemand mehr zweifeln. Entscheidend
sind dabei die jährlichen Ausgaben für die Spitäler. In unserem
Stadt-Kanton sind sie in 10 Jahren auf das Dreifache angewachsen.
Die geschätzten Ausbildungskosten für die Medizinstudenten
der Universität Basel haben sich in derselben Zeitspanne
etwa verdreifacht. In der ganzen Schweiz betrugen die Gesamtausgaben
für die Spitäler nach der VESKA ca. 3 Milliarden
Franken, eine Zahl die uns später noch mehrfach begegnen wird.
Diese Zahlen und insbesondere ihre Wachstumstendenz in
den letzten Jahren muß zum Schluß führen, daß es so nicht unbegrenzt
weitergehen kann. «Il faut absolument freiner les coûts
hospitaliers», hieß es auf dem Jahreskongreß der Schweizerischen
Liberal-demokratischen Partei in Pully.
Fragen wir nach den Ursachen für eine solche unproportionale
Verteuerung der Spitalbehandlung — die Kosten der hausärztlichen
Behandlung sind wesentlich weniger angewachsen —,
so sind es in erster Linie die Personalkosten, die in der Schweiz
nach HÜGLI und KOHLER 1 in den letzten 20 Jahren um rund das
12fache angestiegen sind. In den staatlichen Spitälern unseres
Kantons stiegen sie in den letzten 10 Jahren um das Vierfache.
Neben der längst fälligen Anpassung der Arbeitszeit und der
Löhne des Spitalpersonals an die übrigen Berufe, wobei die
Höhe der Löhne und die Notwendigkeit eines 13. Monatslohnes
hier nicht zur Diskussion stehen, bedingt die moderne technische
Medizin auf vielen Sektoren eine starke Vermehrung und
Spezialisierung des Personals. So benötigt eine Intensivpflegestation
auf je 2 Patienten 1 Arzt und ungefähr 6 Schwestern zur
Überwachung und Behandlung bei Berücksichtigung des 24-Stunden-Betriebes
sowie von Freizeit, Ferien, Militärdienst,
Krankheit etc. Ferner setzt z. B. die moderne operative Behandlung
von Verkehrsverletzten ein großes Operationsteam mit
verschiedenen Spezialisten, ausgedehnte Röntgenkontrollen und
eine intensive postoperative Behandlung voraus. Die Verkürzung
der Spitaltage des einzelnen Patienten um 1/3 bedingt naturgemäß
eine Personalvermehrung und dies auch in den Dienstleistungsbetrieben
wie Röntgeninstitut, Laboratorien etc.
Die hohen Personalkosten und die Schwierigkeiten, überhaupt
genügend Personal zu finden, zwingen zur Anschaffung personalsparender
Einrichtungen. So kostet ein modernes Krankenbett,
dessen Höhe und Neigung elektrisch betrieben und damit vom
Patienten selbst eingestellt werden können und das sich leicht
fahren läßt, fast 4mal soviel wie ein gewöhnliches Spitalbett.
Stark angestiegen, jedoch wesentlich bescheidener als die Personalaufwendungen,
sind die Kosten für neue und leistungsfähige
Apparate in Diagnostik, Überwachung und Behandlung sowie
die Aufwendungen für Röntgen und Laboratorien. Verteuernd
sind selbstverständlich auch die Medikamente, und schließlich
ist bei der Bewertung der Ausgaben der Einfluß der Inflation zu
berücksichtigen. Fraglos ist die Forschung zufolge Apparate- und
Personalkosten zu einem Teil an der Kostenexpansion der Universitäts-Spitäler
und -Institute mitbeteiligt. Ihr Anteil scheint
jedoch vergleichsweise bescheiden zu sein. Eidgenössische, industrielle
und private Hilfsquellen entlasten das Forschungsbudget
schon jetzt beträchtlich.
Es stellt sich die Frage, was wir mit diesen riesigen Aufwendungen
denn eigentlich erreicht haben: Haben sie sich, soweit
erkennbar, überhaupt gelohnt? Der bekannte Ausspruch, daß
die Fortschritte der Medizin in den letzten 30 Jahren größer
waren als in den 3000 Jahren zuvor, kann sachlich nicht bestritten
werden. Er trifft nicht nur auf die Prophylaxe der Infektionskrankheiten,
sondern auch auf Diagnostik und Behandlung zu.
Lassen Sie mich einige Beispiele aus eigener Anschauung anführen:
Als ich vor bald 40 Jahren klinischer Assistent war, starben
die Patienten mit tuberkulöser Hirnhautentzündung ausnahmslos
innerhalb von 3 Wochen. Die Behandlung war nicht aufwendig,
denn sie beschränkte sich auf die einfache Pflege. Heute
hat ein solcher Patient bei rechtzeitiger Erkennung des Leidens
beste Chancen, ohne wesentliche Schäden das Spital geheilt verlassen
und seine Familie versorgen zu können. Selbstverständlich
sind die Kosten ganz wesentlich höher als früher. Damals
überlebte ein Patient mit kurzfristig nach einer Verletzung
auftretendem Starrkrampf kaum je. Heute wird er praktisch
mit Sicherheit das Spital gesund verlassen; allerdings betragen
die Kosten zwischen 20000 und 30000 Franken.
Die Patienten mit Oberschenkelhalsbrüchen, einer typischen
Verletzung alter Menschen nach einem Sturz, starben damals
mehrheitlich nach längerem Krankenlager. Die moderne Chirurgie
läßt, vereint mit der segensreichen Narkose-Technik, die Patienten
heute nach kurzer Zeit das Spital gehfähig verlassen.
Ein weiteres Beispiel: Seit Einführung der Intensivpflegestation
(Herzüberwachung usw.) konnte die Sterblichkeit der Herzinfarkt-Patienten
auf die Hälfte reduziert werden. Auch an die
weitgehende Ausrottung von Infektionskrankheiten wie Kinderlähmung,
Diphtherie und Pocken durch Impfung und die erfolgreiche
medikamentöse Behandlung anderer wie z. B. Scharlach
muß erinnert werden. Auf die Erfolge der modernen Psychiatrie
werden wir später eingehen.
Vermutlich ist wohl kaum jemand unter uns, der nicht sein
eigenes Leben oder dasjenige naher Angehöriger diesen segensreichen,
aber enorm teuren Behandlungen verdankt.
Da wir primär von ökonomischen Überlegungen ausgegangen
sind, darf auch auf die rechnerisch allerdings schwer faßbaren
Gewinne der Gesellschaft durch Verkürzung der Spitaldauer und
Erhaltung der Arbeitskraft hingewiesen werden. Verhinderung
und Behandlung von schwerer Invalidität ersparen Angehörigen
und Staat enorme Pflegekosten. Dabei denken wir an die Reduktion
der Zahl der Blinden, die operative Erhaltung der Gehfähigkeit
bei Altersarthrose der Hüfte, die medikamentös und psychotherapeutisch
möglich gewordene Entlassung schwer psychisch
Kranker aus Anstalten und die völlige Wiederherstellung der
körperlichen Leistungsfähigkeit nach Knochenbrüchen.
Die aufgeworfene Frage muß somit zwangsläufig in dem Sinn
beantwortet werden, daß sich diese Ausgaben für den einzelnen
Patienten und die Gesellschaft gelohnt haben.
Nun stellt sich aber die Frage, ob wir uns diese Wohltaten der
Medizin überhaupt leisten können, denn wir stellten doch fest,
daß die Kostenexpansion nicht so weitergehen darf. Allerdings
ist zum mindesten in unserem Kanton anzunehmen, daß weitere
Lohnanpassungen und Arbeitszeitverkürzungen in nächster Zeit
nicht zu erwarten sind, denn der Nachholbedarf dürfte erfüllt
sein. Eine Personalzunahme ist bei den heutigen Verhältnissen
wohl ausgeschlossen. Ob die von der Regierung verfügte und
bis heute 8,2 %betragende Personalreduktion im Kantonsspital
und seinen Annexen zu wesentlichen Kürzungen der medizinischen
Leistungen führen wird und ob in diesem Fall das Volk
mit einer solchen Schlechterstellung bezüglich seines Rechtes auf
adäquate Behandlung einverstanden ist, wird sich zeigen. Die
zur Zeit gültige Taxpolitik in unseren Spitälern wird kaum ein
günstigeres Verhältnis von Einnahmen zu Ausgaben erzwingen
können; sicher wird sie aber die Ausbildungsqualität unserer
Kliniken untergraben.
Es bestehen nun wesentliche Meinungsdiskrepanzen darüber,
ob eine massive Reduktion der Ausgaben mit einschneidenden
Einschränkungen der Dienstleistung, ob absoluter Wachstums-
und Ausgabenstop oder ob nur eine gebremste Zunahme der Spitalkosten
zu verantworten seien. Mit anderen Worten: Welche
Lösung ist finanziell verantwortbar und bedingt nicht, daß dem
Patienten in Zukunft ein wesentlicher Teil der neuen medizinischen
Erkenntnisse vorenthalten werden muß? Als Vertreter
seiner Patienten muß der Arzt mit allen ihm zur Verfügung
stehenden Mitteln für eine vernünftige Ausnützung der gebotenen
ökonomischen Möglichkeiten einstehen. Er muß insbesondere
die Bevölkerung — und diese entscheidet schließlich über
die zur Verfügung zu stellenden Mittel — auf die in Frage stehenden
Relationen aufmerksam machen. Die Problematik des
bio-medizinischen Fortschrittes führt ja, wie ALFRED PLETSCHER
im erwähnten Roche-Symposium «Challenge of Life» ausgeführt
hat, immer zur politischen Frage, wieviel jede Gesellschaft
für die Gesundheit anstelle materieller Vorteile und nationaler
Belange zu opfern bereit ist.
Nun meine ich, eine Gemeinschaft, die es sich leisten kann,
im Jahr für 3 Milliarden Alkohol zu kaufen und dann noch die
alkoholbedingten Gesundheits- und Gesellschaftsschäden ohne
Wimpernzucken zu akzeptieren, die rund 3 Milliarden jährlich
für die Verkehrsunfälle mit ihren Folgen sowie über 3 Milliarden
für den Straßenbau (Bund, Kantone und Gemeinden) tragen
kann, sollte doch imstande sein, für ihre Spitäler auch notfalls
mehr als 3 Milliarden auszugeben. Die Notwendigkeit für eine
absolute Wachstumssperre oder gar eine Reduktion der Ausgaben
für das Gesundheitswesen resultiert aus diesen Überlegungen
meines Erachtens nicht. Ein weiteres Wachstum scheint
wohl möglich, jedoch in sehr bescheidenen Grenzen und unter
ganz bestimmten Voraussetzungen.
Ganz sicher müssen wir Ärzte an den Spitälern auch auf dem
ökonomischen Sektor darüber nachdenken, wie wir künftig unseren
Patienten eine erstklassige Diagnostik und Therapie erhalten
können. Die fetten 60er Jahre haben uns diesen Aspekt
der Medizin vielleicht etwas übersehen lassen.
Die Verbindung der Schweizerischen Ärzte hat unter Leitung
von PAul. NEF, St. Gallen, eine eigene Kommission zur Eindämmung
der Kostenexpansion ins Leben gerufen, welche sich intensiv
mit diesen Fragen befaßt.
Kostenbewußtes ärztliches Denken heißt Sinnlosigkeiten vermeiden
und setzt somit vermehrte Denkarbeit voraus. Gerade diese
wird uns jedoch vom Staat heute noch keineswegs beschnitten! Sie
kann auch nicht durch den Computer ersetzt werden. Diese Situation
zwingt uns zudem, gewisse alte und oft sehr bewährte Methoden
zu neuem Leben zu erwecken und dort anzuwenden, wo sie
den viel komplizierteren und teureren neuen Methoden praktisch
ebenbürtig sind. Die Neuentwicklung von billigeren und ebenso
aussagekräftigen Methoden muß ein wichtiges Anliegen unserer
klinischen Forschung sein. Dieses Umdenken scheint mir schon in
der Lehre wichtig, denn nur ein kleiner Prozentsatz unserer Studenten
und Assistenten wird später in einer apparateträchtigen,
finanziell unabhängigen Klinik arbeiten. Gerade diese junge Generation,
Trägerin der Medizin der nächsten Dezennien, muß
kostenbewußt arbeiten lernen, damit sie die modernen Errungenschaften
zum Nutzen ihrer Patienten auch voll ausnützen kann.
Wenn finanzielle Beschränkungen bestehen, und dies ist zweifellos
der Fall, so müssen nicht eindeutig sinnvolle Maßnahmen
aus diesen Gründen unterbleiben. Schon mehrfach ist der Begriff
«sinnvoll» verwendet worden. Seine Interpretation ist naturgemäß
immer diskutabel. Ich meine jedoch, alles ärztliche
Bemühen sei solange sinnvoll, als es den Patienten im Idealfall
hellt, sonst sein Leben erleichtert, unter gewissen Voraussetzungen
auch verlängert. So ist es sinnvoll, einen zufolge Krebsablegern
gebrochenen Arm operativ zu behandeln, obschon der
Patient möglicherweise nur noch eine kurze Lebensspanne vor
sich hat. Während dieser Zeit — sie kann auch viele Jahre betragen
— kann er seinen Arm ohne Schmerzen gebrauchen und
frei herumgehen. Die Operation entlastet auch das Pflegepersonal
beträchtlich.
Ebenso müssen Verschlüsse der Atem- und Verdauungswege
nach Möglichkeit operativ behoben werden, um das zeitlich oft
nur kurze Überleben zu erleichtern. Solche Fragen der reinen
Hilfeleistung an den Patienten sollten denjenigen der schließlich
auch nur temporären Lebensrettung nicht hintangestellt werden.
Mit kostspieligen Methoden ein nach bestem Wissen und Gewissen
nicht mehr als lebenswert zu bezeichnendes und oft auch
vom Patienten selbst nicht gewolltes Leben zu erhalten, entspricht
nicht dem ärztlichen Ethos. Am Basler Universitätstag
der wissenschaftlichen Begegnung vor zwei Jahren wurde diese
Frage von kompetenter Seite ausführlich beleuchtet 2. Ich bräuchte
nicht darauf einzugehen, wenn nicht der Vorwurf, wir würden
unwertes und nicht gewolltes Leben erhalten, von vielen Seiten
und immer wieder erhoben würde. Gewiß, die Fälle sind nicht selten,
in denen alles zur Rettung eines Menschen eingesetzt, aber zu
spät erkannt wird, daß das Hirn unheilbar geschädigt war. Solche
funktionell völlig enthirnte, nur mit künstlicher Beatmung lebende
Patienten stellen eines der belastendsten Danaergeschenke
der modernen Medizin dar, denn es obliegt ausschließlich dem
behandelnden Ärzteteam und den Angehörigen, den Zeitpunkt
der Kapitulation vor dem Tod zu bestimmen und die Atemgeräte
abzuschalten. Immer wieder muß aber dieser Situation
die große Zahl der mit solch modernsten Methoden geretteten
Patienten entgegengehalten werden. Meist ist es in der akuten
Situation einfach unmöglich, die konkreten Überlebenschancen
abzuschätzen, so daß der ärztlich Denkende schlechthin gezwungen
ist, alles zu unternehmen, um das entfliehende Leben zurückzuhalten.
Unser hinterhältigster Gegner, die Krebskrankheit, stellt uns
fast täglich vor ähnliche Probleme. Oft ist die primäre Heilbarkeit
vor der Operation nicht eindeutig erkennbar, die Zuverlässigkeit
erleichternder Maßnahmen fragwürdig. Das Abwägen
von Nutzen und Schaden einer Hilfeleistung kann äußerst schwierig
sein; der Eingriff lohnt sich jedoch, wenn dem Patienten
eine wesentliche Erleichterung geschaffen werden kann. Ein
klassisches Beispiel ist die Leukämie, eine Art von Knochenmarkkrebs.
Eine ihrer besonders bösartigen Formen kann akut
und in Schüben verlaufen. Wir können sie — mit Ausnahme einzelner
Kinderfälle — bis heute noch nicht heilen, sind jedoch imstande,
Schübe zu unterbrechen, so daß der Patient über längere
Zeit ein wohl reduziertes, jedoch meist lebenswertes Leben führen
kann. Die Kosten einer Schubcoupierung können 20000
Franken weit überschreiten. Wenn wir uns in die Lage eines
solchen Patienten hineindenken, so ist die Zweckmäßigkeit
einer derartig kostspieligen Hilfeleistung wohl nicht mehr fraglich.
Ein viel diskutiertes Problem auch ökonomischer Art bilden
schließlich die künstliche Niere oder Dialyse und die Nierentransplantation.
Die Dialyse entfernt die sonst im Urin ausgeschiedenen
Schlackenstoffe bei Patienten mit Schrumpfnieren in regelmäßig
wiederholten Behandlungen. Auf diese Weise kann das
Leben eines Patienten — meist sind es junge Menschen — über
Jahre oder bis zum Zeitpunkt der Transplantation erhalten werden.
Die Kosten betragen rund 50000 Franken pro Jahr und
Patient. Bei der Nierentransplantation wird ein gesundes Organ
eines Verstorbenen auf den Patienten überpflanzt. Wie beim
Blut die Blutgruppen, so gibt es auch gewissermaßen Gewebegruppen,
welche bei Spender und Empfänger möglichst ähnlich
sein sollten. Andernfalls empfindet der Empfänger das Transplantat
als fremd und wehrt sich mit einer entzündlichen Reaktion,
welche das Transplantat zerstört. Diese Reaktion kann
weitgehend medikamentös unterdrückt werden, doch sind solche
Patienten dann stark infektionsgefährdet. Im ganzen aber werden
die Resultate der Nierentransplantation von Jahr zu Jahr besser.
In Basel leben heute schon 22 derartige Transplantatträger
mehr als 3 Jahre, meist arbeitsfähig und ohne die doch nicht
unbeträchtlichen Nebenerscheinungen der Dialyse. Die Transplantation
kostet jedoch im ersten Jahr 35000 Franken und in
den folgenden je 4000-5000 Franken. Hier hat nun das kostenbewußte
Denken schon eingesetzt, meines Erachtens sehr zu
Recht. Alkoholiker und Psychopathen, bei welchen die Nachbehandlung
nicht konsequent durchgeführt werden kann, werden
ebenso ausgeschlossen wie Patienten oberhalb einer gewissen
Altersgrenze, denn bei solchen Patienten sind die Resultate
erfahrungsgemäß allgemein zu schlecht, als daß deren Kosten
der Allgemeinheit aufgebürdet werden könnten. Müßten wir
anderseits diesen erfolgreichen Sektor aus Finanzgründen aufgeben,
so ist das Schicksal der schwer Nierenkranken in Basel
hoffnungslos, denn die übrigen Zentren sind nicht imstande, zusätzliche
Patienten zu übernehmen.
Mit diesen Beispielen sollte gezeigt werden, wie viele von Kritikern
als sinnlos bezeichnete Maßnahmen eben doch im Namen
der leidenden Menschen vertretbar sind. Selbstverständlich ließen
sich ebensogut Beispiele für den Verzicht derartiger Maßnahmen
bei Erkennung ihrer effektiven Sinnlosigkeit aufführen. So
würde es keine echte Hilfeleistung bedeuten, wenn bei Krebskranken
mit schwersten Schmerzen eine Lungenentzündung mit
modernsten Mitteln bekämpft wird, obschon die Patienten gar
nicht mehr leben wollen. Sinnlos wäre auch eine genaue diagnostische
Abklärung und eine Lebensverlängerung bei alten, senildementen
Patienten. «The important thing is to add life to years
and not years to life», empfiehlt ein britischer Kliniker. Die
nachträglichen ausführlichen Besprechungen fraglicher Entschlüsse
bei derartigen Krankheitsfällen im Verlaufe von Spitaldemonstrationen
stellen eine harte Kontrolle allzu aktiver Ärzte
dar. Unbedingt notwendig ist jedoch der Ausbau dieses Teils
der Ausbildung, denn sorgfältiges Abwägen von Chancen kann
gelehrt und auch gelernt werden. Erfahrung ist auch auf diesem
Sektor übermittelbar.
Entscheidend wichtig in diesem Zusammenhang ist die Tatsache,
daß bei solchen äußerst sorgfältig gefaßten Entscheidungen
bisher nur rein ärztliche Argumente in Betracht gezogen
wurden. Ein völliger Wachstumsstop der Spitalmedizin führt
sehr wahrscheinlich, eine Regression sogar ganz sicher zu einer
total neuen Situation: Im Zweifelsfall würde stets und im eindeutig
positiven Fall mehr und mehr auf die zweckmäßige Hilfeleistung
verzichtet werden müssen. Das medizinische Niveau eines Entwicklungslandes
wäre dann nicht mehr fern!
Und wenn alle operativen und medikamentösen Möglichkeiten
erschöpft sind, muß die zeitraubende, aber überaus wichtige
und dankbare Aufgabe ärztlich-seelsorgerischer Betreuung
der auf das Ende ihres Lebens zugehenden Patienten einsetzen.
Mit diesem Anliegen ärztlicher Tätigkeit hat sich kürzlich GERHARD
A. NAGEL in seiner Antrittsvorlesunng eindrücklich auseinandergesetzt.
Die Erfolge von Wissenschaft und Technik lassen
uns Ärzte diese Aufgabe etwa unterbewerten. Patienten und
Angehörige erschweren sie uns mit ihrem durch die Massenmedien
gefährlich angeheizten Glauben an unbegrenzte Möglichkeiten
medizinischer Hilfeleistung und durch häufiges Nichtakzeptierenwollen
des Todes. Anläßlich der Einweihung des
Bruderholzspitals hat Regierungsrat PAUL MANZ als Theologe
eindringlich davon gesprochen, daß der moderne Mensch wieder
lernen müsse, den Tod als natürlichen Abschluß des Lebens
anzunehmen und psychisch zu verarbeiten. Eine vermehrte Berücksichtigung
dieses menschlichen Sektors der ärztlichen Tätigkeit
in der Lehre ist ebenso erforderlich wie genügend Zeit für
Haus- und Spitalarzt, um die mehr und mehr auf ihn übergehenden
seelsorgerischen Aufgaben bei Kranken und Sterbenden
zu erfüllen.
Wenden wir uns noch kurz der Forschung zu. Ihre Notwendigkeit
wird von politischer und wirtschaftlicher Seite nicht selten
teilweise bestritten, und wesentliche Budgetkürzungen werden
deswegen nicht nur in Erwägung gezogen, sondern auch durchgeführt
(Nationalratsbeschluß im September betr. Nationalfonds).
Nun gibt es aber ohne Forschung auch keinen Fortschritt. Es
wäre kurzsichtig, würde man gerade die Forschung radikal eindämmen,
nur um innerhalb der realen Möglichkeiten der Grenzen
des Wachstums zu bleiben. Gerade das Gegenteil wäre richtig,
denn auf unserem Gebiet führt die Forschung zu besserem
Verständnis der Krankheiten, damit unter anderem zur
Prophylaxe und zur Verminderung vermeidbarer Krankheiten.
Neben der Lehre war die Forschung auch immer Hauptaufgabe
der Universität und wird es hoffentlich auch bleiben,
denn ohne genügend Forschungsmöglichkeiten ist eine Universität
—und zwar gilt das für alle Fakultäten gleichermaßen — unweigerlich
zum Versanden verurteilt. Der entsprechende Anreiz
fehlt, es werden nur wissenschaftlich Uninteressierte und deshalb,
vom Standpunkt der universitären Forschung betrachtet,
zweitrangige Mitarbeiter angezogen, ein erstklassiger Nachwuchs
bleibt aus. Eine finanzielle Durststrecke von relativ kurzer Zeit
kann sich damit auf Jahrzehnte katastrophal auswirken. Sollen
äußerst gefährliche Weichenstellungen vermieden werden, so
müssen die Prüfungen von möglichen Sparmaßnahmen auf diesem
Sektor mit äußerster Vorsicht und immer im Hinblick auf
die Zukunft vorgenommen werden. Selbstverständlich zwingt
die heutige Situation zur Rationalisierung der Forschung in
Raum-, Personal- und Gerätebedarf, zur interdisziplinären, interfakultären
und zur extramuralen Zusammenarbeit sowie zur
vermehrten Ausschöpfung außeruniversitärer Quellen. Es scheint
jedoch fraglich, ob diese schon weitgehend durchgeführten Maßnahmen
imstande sind, auch zukünftig den bisherigen Stand
unserer anerkannten Forschung zu erhalten.
Während die bisherigen Ausführungen ein Plädoyer für die
Einsparung durch sinnvolle Anwendung der modernen Methoden
war, so könnte anderseits durch vermehrte Entwicklung
der hausärztlichen Tätigkeit, der Hauspflege sowie der Alters-
und Pflegeheime eine merkbare Entlastung der teuren Spitäler
erreicht werden. Die in den letzten 10 Jahren um mehr als das
Doppelte angestiegene Zahl der Medizinstudenten in der Schweiz
und die erfreuliche Tendenz der jungen Generation zur Allgemeinpraxis
läßt eine bessere hausärztliche Versorgung der
Bevölkerung voraussagen. Allerdings dauert es heute noch durchschnittlich
16 Jahre bis ein Anfänger des Medizinstudiums in die
Praxis übertritt. Die genannte Verbesserung wird somit nur stufenweise
und stark verzögert bemerkbar werden. Sorge bereitet
mir die Assistentenausbildung, welche heute im Durchschnitt
10 Jahre dauert. Die zunehmende Studentenzahl hat zur Folge,
daß in einigen Jahren nur jeder zweite Suchende eine Stelle finden
wird. Ob durch Einsatz neuer und Ausbau alter Ausbildungsmethoden
sowie andere Maßnahmen eine Verkürzung auf
5 Jahre und damit Ausbildungsstellen für sämtliche jungen Ärzte
geschaffen werden können, wird sich zeigen. Aus Gründen, auf
welche wir gleich zurückkommen, wäre schließlich eine relative
Erhöhung der Zahl der Rotationsstellen für zukünftige Allgemeinpraktiker
angezeigt.
Sehr viele Untersuchungen könnten durch den Hausarzt oder
den zugezogenen Spezialisten durchgeführt und deren Resultate
im Spital später verwendet werden, was teure Spitaltage einsparen
und die Spitalspezialisten entlasten würde.
Eine ganz wichtige Voraussetzung für vermehrten Einsatz der
in der Praxis tätigen Ärzte ist die häusliche Pflege. Diese wird
sehr oft auch den psychischen Bedürfnissen der Patienten eher
gerecht als das Spitalklima. Dem patriarchalischen Sterben eines
Greises im Kreis der Familie wird heute — von den Angehörigen
zum mindesten — mehr und mehr der Tod im unpersönlichen
Krankenhaus, oft fern von allen Angehörigen, vorgezogen.
Kleinwohnung, Kleinfamilie, Arbeit der Frau, Übernahmen der
Kosten durch die Krankenkasse, zum Teil auch reine Bequemlichkeit
von Patienten und Angehörigen sind jedoch Tatsachen,
welche der Hausbehandlung entgegenstehen. Ob sie sich durch
Aufklärung beheben lassen, ist fraglich. Eine einigermaßen befriedigende
Lösung ist in der organisierten Hauspflege durch
ausgebildete Pflegerinnen zu sehen. Sie ist schon teilweise, jedoch
noch ungenügend entwickelt. Vermutlich bedingt ihr Ausbau
ein Zusammenwirken von staatlichen mit privaten Kräften.
Dankbar vermerken wir die großzügige Spende der Basler Kantonalbank
vor wenigen Wochen für diesen Zweck. Eine leistungsfähige
Hauspflege zusammen mit einer allerdings nicht zu erzwingenden
Bereitschaft der Angehörigen zur Übernahme rein
pflegebedürftiger Patienten würden Spitäler und Alterspflegeheime
entlasten und in die Lage versetzen, schwerer geschädigte
Patienten aus den hochspezialisierten Kliniken zu übernehmen.
Dadurch könnten auch die oft unendlich langen Wartezeiten für
nicht akut dringliche Operationen verkürzt werden.
Ohne eine gewisse Umstellung in der Mentalität des Patienten
und seiner Familie ist jedoch eine sinnvolle Ausnützung der modernen
medizinischen Möglichkeiten, trotz aller Bemühungen
von ärztlicher und staatlicher Seite, nur teilwese realisierbar.
Dabei ist an die Problematik der Surconsommation médicale,
d. h. der Überlastung von praktisch tätigen Ärzten und Krankenkassen
durch unnötige Konsultationen und an die zum Teil
eindeutige Überstrapazierung des Versicherungsgedankens und
an das unausgewogene Dreieck: Versicherungsprämien — Einkommen
—Versicherungsleistungen zu denken, die eng verbunden
sind mit dem umstrittenen «Recht auf Gesundheit». Nach
JEANNE HERSCH besteht dieses Recht insofern, als Krankheit
und Schmerz die von ihr als für den Menschen entscheidend
angesprochene Entschlußfähigkeit hemmen. Aber, so folgert
JEANNE HERSCH, «savoir supporter fait partie de la santé». Auch
sie fordert somit vom Patienten aktive Mitarbeit.
Noch viel wichtiger scheint uns jedoch die Anerkennung einer
«Pflicht auf Gesunderhaltung», also zur individuellen Prophylaxe,
dem Hauptanliegen der modernen Medizin. Die Ausschaltung
vermeidbarer Gesundheitsstörungen der modernen Gesellschaft
— man hat sie etwas hart als selbstverschuldet bezeichnet
— würde Spitäler, Krankenkassen und praktisch tätige Ärzte
gewaltig entlasten, ganz abgesehen von den menschlichen und
finanziellen Vorteilen für Patienten und Gesellschaft. In einer
Zeit der Prioritätensetzung dürften auch die nichtmedizinischen
und teilweise nur schwer exakt erfaßbaren Ausgabengrößen der
folgenden Beispiele nicht uninteressant sein.
Sicher wäre ein großer Teil der erwähnten rund 3 Milliarden
Kosten für jährliche Verkehrsunfälle zu vermeiden. Eine erhebliche
Reduktion der jährlich 29000 schweren Verkehrs-Verletzten
würde eine unverhältnismäßig große Entlastung unserer
Spitäler nach sich ziehen. Das unsägliche menschliche Elend,
das hinter dieser Zahl sowie den jährlich über 1700 Verkehrstoten
steht, sei nicht vergessen. Der Kampf gegen diese moderne
Gefährdung des Menschen wird, wie wir täglich sehen, nur lau
geführt. Wir fühlen uns ganz grundlos unbeteiligt und deshalb
nicht zur Mitarbeit aufgerufen. Tod oder schwere Verkehrsverletzungen
innerorts sind durch das Tragen von Sicherheitsgurten
absolut vermeidbar 3; auch außerorts ist dies weitgehend der
Fall. Trotzdem wird erst heute erwogen, das Tragen der Sicherheitsgurten
gesetzlich vorzuschreiben, wie dies z. B. unsere französischen
Nachbarn tun. Wäre wohl die Drohung auf Reduktion
der Versicherungsleistungen bei Nichttragen der Sicherheitsgurten
erfolgreicher? Der schwere psychische Druck, unter dem ich bei
der fast täglichen Beschäftigung mit Verkehrsopfern stehe,
zwingt mich, Sie erneut auf das Paradoxe dieser Situation hinzuweisen:
mit enormen Aufwendungen an Geist und Geld wird
die Medizin ausgebaut, um dann weitgehend durch die Folgen
einer, wie wir doch heute einsehen müssen, ungenügend gebremsten
Entwicklung der modernen Gesellschaft absorbiert zu
werden.
Eines der größten modernen Gesellschaftsprobleme, welches
ebenfalls eine enorme, an sich aber vermeidbare Belastung unserer
Spitäler bedingt, ist fraglos der chronische Alkoholismus.
Die 3 Milliarden, welche für den Alkohol-Ankauf ausgegeben
werden, stellen nur die sichtbare Spitze eines Eisberges dar. Von
den geschätzten 130000 chronischen Alkoholikern unseres Landes
benötigt nämlich ein großer Teil wiederholte Spitalbehandlungen.
Nach unabhängigen Schätzungen an 5 Kantonsspitälern
sind rund 30 % der Patienten auf Männer-Abteilungen der medizinischen
Kliniken mit alkoholisch bedingten Schäden hospitalisiert 4.
Neben der Schwächung der Infektionsabwehr steht die
alkoholisch bedingte Form der Schrumpfleber im Vordergrund.
Man kann einen Teil der Folgen solcher Schrumpflebern operativ,
allerdings mit Inkaufnahme wesentlicher Nachteile für den
Patienten, mit einem Kostenaufwand von rund Fr. 12000.— beheben.
Im letzten Jahr starben 71 Patienten unserer Kliniken an
diesem Leiden, 1/4 davon betraf Frauen. Der Alkoholismus weiblicher
Patienten ist, wie in allen Wohlstandsgebieten, auch bei
uns eindeutig im Zunehmen. Aufsehenerregend ist ferner die
in Amerika eindeutig festgestellte und auch bei uns schon angedeutete
Tendenz der Jugendlichen, zwar die Drogen beiseite
zu lassen, dafür zum Alkohol zu greifen.
Schließlich spielt der Alkohol auch bei den Verkehrsunfällen
eine nicht unbedeutende Rolle. 1/6 der tödlichen Verkehrsunfälle
1972 war durch Alkohol bedingt und 1/3 der Verkehrsopfer stand
unter Alkoholeinfluß.
Auch bei diesem Beispiel muß ich mich zwingen, das menschliche
Elend, die gesellschaftlichen Folgen und die enorme Belastung
der Fürsorge-Institutionen nur am Rande zu erwähnen.
Sie müssen uns bei den bisher leider inadäquaten Bestrebungen
zur Eindämmung des Alkoholismus jedoch immer vor Augen
stehen.
Die auch über unser Land bedrohlich hinwegrollende Welle
der Drogensucht trägt wesentlich mehr, als gemeinhin angenommen
wird, zur finanziellen Belastung des Staates bei. Diese
Patienten beanspruchen Betten und Finanzmittel, welche der
Behandlung unvermeidbarer Krankheiten entzogen werden. In
unserem Untersuchungsgut finden wir heute 100 Patienten mit
sogenannter Hippie-Hepatitis, d.h. durch Drogeneinspritzungen
hervorgerufene schwere Leberentzündung. Wir sehen in diesem
Zusammenhang wiederum von den tieferschütternden menschlichen
Tragödien ab, in welche Gerichtsberichterstattungen Einsicht
geben. Das bloß neugierige Probieren von sogenannt weichen
Drogen wie Haschisch, Amphetamine u. ä. verführt einen
nicht unbeträchtlichen Teil der meist Jugendlichen zur eigentlichen
Sucht, und diese wiederum läßt 1/10 zu harten Drogen wie
Heroin, Kokain, Morphium greifen, vor denen es meist kein
Entrinnen mehr gibt. Die Zahl der jugendlichen Ganz-Invaliden
durch Drogensucht nimmt beängstigend zu. Sie wird nach
SPECKER 5 in der Schweiz vor 1980 die Zahl von 3000 Patienten
erreicht haben, welche unsere Pflege- und Fürsorgeeinrichtungen
auf Jahrzehnte schwer belasten.
Selbstverständlich ist dem Alkohol- und Drogenproblem durch
Steuern, Strafen etc, nicht beizukommen. Nun läßt uns aber die
moderne Psychiatrie und Psychologie die sozialmedizinischen
Ursachen der Suchtkrankheiten zum mindesten teilweise erfassen.
Nach PAUL KIELHOLZ sind es vor allem die Industrialisierung
und Verstädterung mit Verlust der Bindungen an Mitmenschen
und höhere Werte, welche Zuflucht bei Alkohol und Drogen
suchen lassen. Sozialmedizinische Erkenntnisse dürfen jedoch
nicht im leeren Raum hängen. Sie müssen zu sinnvollen Konsequenzen
führen. Ohne eine gewissermaßen infektiös sich ausbreitende
Einsicht des Volkes nützen diese Erkenntnisse wenig.
Vielleicht rüttelt die Aussicht auf eine erzwungene Einschränkung
ärztlicher Behandlungsmöglichkeiten die bisher diesen drohenden
Wolken gegenüber indifferent Gebliebenen auf.
Auf eine mehr im Hintergrund und ohne Lärm ablaufende
Form der Drogensucht haben wir vor mehr als 20 Jahren erstmals
aufmerksam gemacht: den Mißbrauch phenazetinhaltiger
Schmerzmittel, der u. a. zu schweren psychischen und Nieren-Schäden
führt. Diese Mittel erzeugen, übermäßig genossen, ihrerseits
wiederum Kopfschmerzen, so dass ein circulus vitiosus
resultiert. Wertvolle Studien von ULRICH C. DUBACH 6 und PAUL
KIELHOLZ 7 in Basel haben auf die enorme Verbreitung des
Phenazetin-Mißbrauchs hingewiesen. Die exakte Ursache der Nierenschädigung
ist bis heute noch nicht bekannt. ULLA BENGTSSON 8
hat in Schweden einen starken Abfall der phenazetinbedingten
Nierenpatienten in den Kliniken nach Einführung einer
Rezepturpflicht für diese Medikamente dartun können. Ihre Arbeitsgruppe
hat ferner gezeigt, und wir haben es in Basel bestätigt
9, daß der seltene Krebs des Nierenbeckens bei diesen
Patienten stark vermehrt auftritt. Sicher sind es nicht riesige,
doch auf unsere Spitäler bezogen, wesentlich ins Gewicht fallende
Einsparungen, die durch Eindämmung dieser vielfach
unterschätzten, heimlich-unheimlichen Sucht zu erzielen wären.
Die Zahl der Todesfälle infolge Lungenkrebs hat in den letzten
40 Jahren in der Schweiz beängstigend, nämlich um mehr
als das Zehnfache, zugenommen, 5mal mehr als die übrigen
Krebsformen. Möglicherweise sind Umweltsfaktoren an dieser
enormen Zunahme des Lungenkrebses mitbeteiligt. Sicher ist
jedoch, daß der Zigarettenraucher 20mal häufiger an Lungenkrebs
erkrankt als der Nichtraucher. Das Zigarettenrauchen ist
deshalb so gefährlich, weil der Rauch meistens inhaliert wird
und die kanzerogenen Stoffe in den Luftröhrenästen zu Krebs
führen. Sie werden jedoch auch resorbiert und können durch
ihre Stoffwechselprodukte Blasengeschwülste erzeugen. Blasen-
und Lungenkrebs nehmen in den letzten Jahren nicht nur zahlenmäßig
zu, sie treten vermehrt bei jüngeren Patienten und bei
Frauen auf als Folge der Ausbreitung der Rauchergewohnheiten
bei den Jugendlichen und Frauen. Der Vollständigkeit halber sei
erwähnt, daß Arteriosklerose und besonders Herzinfarkte bei
starken Zigarettenrauchern hochgradig verstärkt und frühzeitiger
in Erscheinung treten. Zigaretten würden horrend teuer, wenn
zum Verkaufspreis noch die statistisch erfaßbaren Folgekosten
berechnet würden!
Die Pflicht zur Gesunderhaltung geht natürlich weit über das
bisher Gesagte hinaus. So gefährden — um nur zwei Beispiele zu
erwähnen —Übergewicht und Bewegungsarmut unsere Generation
in hohem Maße. Übergewicht von 30 % erhöht die Sterblichkeit
an Kreislauferkrankungen um das Doppelte. Sport im
echten Sinn, nicht etwa als Zuschauer auf der Tribüne, und in
allen Altersstufen ist ein dringendes Postulat unserer Zeit. Selbst
Herzinfarkt-Patienten erholen sich körperlich und vor allem psychisch
bei streng kontrollierter körperlicher Beanspruchung
wesentlich besser als bei absoluter Ruhe.
Ich hatte mir die Aufgabe gestellt, vor Ihnen einen der vordringlichsten
Kreuzwege der modernen Medizin, die Kostenexpansion,
mit all ihren Konsequenzen von meiner Warte aus
zu diskutieren und auf Lösungsmöglichkeiten hinzuweisen. Es
war mir ein Anliegen, dabei auch menschliche Probleme der
ärztlichen Tätigkeit zu berücksichtigen.
Wir sind zum Schluß gelangt, daß ein Wachstum der Spitalkosten
im bisherigen Maße sicher nicht tragbar ist. Ein völliger
Wachstumsstop oder gar eine Reduktion ist dagegen wegen der
Konsequenzen mit gutem Gewissen nicht vertretbar und im
Hinblick auf andere Ausgaben des Volkes auch nicht unbedingt
notwendig. Eine Feststellung, die im übrigen in weitem Umfang
auf die ganze Universität als Trägerin des Geisteslebens und
des wissenschaftlichen Fortschrittes zutrifft. Neben vermehrtem
Kostendenken und Sparwillen im Kreis der Ärzte kommt der
Prophylaxe vermeidbarer Erkrankungen größte Bedeutung zu.
Sie kann nicht ausschließlich Sache des Staates oder der Ärzte
sein, sondern sie setzt die aktive Beschäftigung aller mit diesem
Problem voraus, und diese wiederum ruft nach einer entsprechenden
Information. Jedenfalls scheint es paradox, wenn eine
Gesellschaft, die sich derartige unnötige Ausgaben für Zigaretten,
Alkohol etc. gestatten kann, gleichzeitig einschneidende
Reduktionen ihrer Spitalbehandlung in Erwägung zieht. Es
schiene mir ein schlechtes Zeichen für unsere Demokratie, wenn
wir diesen Fragenkomplex nicht vernünftig lösen könnten.
Ausgangspunkt meiner allgemeinen Betrachtungen war die
durch eine bedrohliche Zukunft ausgelöste Krise, die unsere
Welt wie eine schwere Krankheit heimsucht. Krankheit ruft nach
Heilung. Es gilt, einen Gesundungsprozeß einzuleiten, zu dessen
Verwirklichung die Verantwortlichen in Staat und Politik,
Wirtschaft, Industrie und Forschung aufgerufen sind. Aufgerufen
zur Mithilfe ist aber auch jeder Einzelne unter uns. Daß
etwas geschehen muß, sollte uns allmählich klar geworden sein.
Zu dieser Einsicht muß aber auch die Bereitschaft kommen, uns
umzustellen und anzupassen, vielleicht sogar verzichten zu können.
Lassen wir den Mahnruf JEAN GEBSERS: «Entweder überwinden
wir die Krise oder sie überwindet uns» nicht teilnahmslos
an uns vorbeigehen.