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Die Verantwortung des Naturwissenschafters

Rektoratsrede gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel

am 24. November 1978
Verlag Helbing &Lichtenhahn • Basel 1978

© 1978 by Helbing &Lichtenhahn Verlag AG, Basel
Druck von Friedrich Reinhardt AG, Basel
ISBN 37190 0712X

Hochansehnliche Versammlung!

Die letzten Jahrzehnte sind durch ein tiefes Unbehagen, eine zunehmende Verunsicherung, die zumindest in der westlichen Welt weite Bevölkerungskreise erfasst haben, gekennzeichnet. Dieses allgemeine Malaise, das wahrscheinlich am Ende des letzten Weltkrieges mit dem Abwurf einer Atombombe über Hiroshima am 6. August 1945 begonnen hat, scheint exponentiell zu wachsen. Symptome der immer grösser werdenden Skepsis sind Bürgerinitiativen gegen Atomkraftwerke, Proteste gegen irreversible Veränderung der Umwelt durch grenzenloses wirtschaftliches Wachstum, Angst vor Bevölkerungsexplosionen und Hunger einerseits und Bedenken gegen eine Geburtenregelung andererseits. Wir denken auch an die zwiespältigen Gefühle, welche die Zucht menschlicher Embryonen im Reagenzglas oder Begriffe wie Cloning und genetische Manipulation auslösen. Organentnahmen für Transplantationen erscheinen problematisch, nicht zu reden von der Erhaltung der Würde des Sterbens, die vor der Allmacht der Medizin zu schützen sei. Der Glaube an den Fortschritt ist erschüttert. Das Gefühl «So kann es nicht weitergehen» herrscht vor. Letztlich befinden wir uns in einer umfassenden Sinnkrise, die sich besonders stark in der Existenzunsicherheit und Zukunftsangst der jüngeren Generation äussert. C. F. von Weizsäcker, Leiter des «Max Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt» — die Existenz eines derartigen Instituts ist bezeichnend für unsere Zeit —, nennt vier Gründe für diese unheilvolle Entwicklung: Die Drohung des Kriegs, die Fortdauer von Elend und Unfreiheit, die Zerstörung menschlicher Kultur und die Zerstörung der Umwelt.

Es ist nicht verwunderlich, dass das allgemeine Unbehagen auch die Wissenschaft erfasst hat. Wissenschaft und Technik beherrschen unsere Zivilisation in einem zuvor nie gekannten Ausmass. Sie haben neue Kräfte entwickelt, über die weder sozialer noch fachlicher Konsens besteht. Wissenschaftlich-technisches Denken beeinflusst alle gesellschaftlichen Beziehungen in oft kaum durchschaubarer Weise. Die Konsequenzen für Mensch und Natur sind unendlich viel weitreichender geworden. Dies hat zu einem ambivalenten Verhältnis zwischen Gesellschaft und Wissenschaft geführt. Der Bürger fühlt sich den Dogmen einer allmächtigen Wissenschaft ausgeliefert. Die einstige vertrauensvolle Fortschrittsgläubigkeit mit der Vorstellung, die Wissenschaft sei ein Allheilmittel und es sei nur eine Frage der Zeit, dass sie alle wichtigen Probleme endgültig lösen könne, wird von wachsender Skepsis, Erschrecken vor den Möglichkeiten und selbst von Wissenschaftsfeindlichkeit abgelöst.

Dies gilt insbesondere für die Naturwissenschaften mit den durch sie ausgelösten technologischen Entwicklungen und deren Einwirkungen auf Mensch und Umwelt. Man spricht geradezu von einer Technokratie. Ganz neu ist diese Skepsis allerdings nicht. Max Weber, ein Klassiker der Soziologie, Wissenschaftstheorie und Ethik, hat es bereits 1919 in seinem heute noch aktuellen Vortrag «Wissenschaft als Beruf» wie folgt ausgedrückt: «Alle Naturwissenschaften geben uns Antwort auf die Frage: Was sollen wir tun, wenn wir das Leben technisch beherrschen wollen? Ob wir es aber technisch beherrschen sollen und wollen, und ob das letztlich eigentlich Sinn hat: — das lassen sie ganz dahingestellt oder setzen es für ihre Zwecke voraus.» — Das war damals die kritische Stimme eines Einzelnen. Neu an der gegenwärtigen Lage aber ist, dass die Kritik nicht nur von aussen kommt, sondern in zunehmendem Masse auch von den Naturwissenschaftern selbst geübt wird.

Es ist deshalb dringlich, vermehrt über den Sinn moderner Wissenschaft nachzudenken. Was verstehen wir heute unter dem

Begriff Wissenschaft? Er lässt sich in vielfältiger Weise umschreiben. Eine Einigung über die verschiedenen Ansichten ist wohl nie zu erzielen. Wir können die Wissenschaft als induktive Suche nach der Wahrheit definieren, wobei nicht nur rationale, sondern auch irrationale Kräfte mitwirken. Die Suche nach der Wahrheit, eines der ältesten und edelsten Motive menschlichen Denkens, ist ein kontinuierlicher Erkenntnisprozess, dessen Dynamik sich aus der permanenten Auseinandersetzung mit erreichter Erkenntnis und der Erarbeitung von neuem Wissen ergibt. Man darf nicht übersehen, dass die Wissenschaft keine Beschreibung der Welt darstellt, sondern nur eine Einführung in eine der vielen Möglichkeiten, wie man die Welt beschreiben könnte. Es gibt Aussagen, die wahr, und andere, die falsch sind. Eine der Aufgaben der Wissenschaft ist es, die wichtigen unter den wahren Aussagen herauszufinden und die falschen als unwahr zu erkennen.

Warum die Menschheit während des grössten Teils ihrer Geschichte ihre Hoffnungen nicht aus der induktiven und nicht aus der deduktiven Wahrheit, weder aus der Wissenschaft noch aus der Philosophie geschöpft hat, sondern aus der offenbarten Wahrheit, aus der Religion, ist ein Rätsel. Offenbar spricht die Religion aus tieferen Schichten der menschlichen Seele als die Vernunft.

Am Beispiel der Naturwissenschaften, die mir als Vertreter des Faches Chemie näher als die anderen Wissensgebiets stehen, möchte ich im folgenden versuchen, aufgrund einer Analyse der gegenwärtigen Lage zu einer klareren Vorstellung über die Verantwortung des Naturwissenschafters zu gelangen. Mutatis mutandis werden manche der vorzutragenden Überlegungen für alle Zweige der Wissenschaft gelten.

Betrachten wir zunächst, was das eigentliche Wesen der Naturwissenschaften, ihrer Forschung und Denkweise ausmachen. Bekanntlich kommt das Wort Natur aus dem lateinischen «natura»,

das zunächst Geburt (sie, die geboren wird oder gebären wird) bedeutet, dann im übertragenen Sinn: Beschaffenheit, Wesen, Gestalt und schliesslich Weltall, Schöpfung, Grund- oder Urstoff. Unter Natur verstehen wir also die Gesamtheit der Erscheinungen, die durch die Sinnenwelt gegeben ist. Die Naturwissenschaft will diese Erscheinungen ergründen, d. h., präziser ausgedrückt, Ordnung* und Gesetzlichkeit in die erlebte Sinnenwelt bringen. Im Verlaufe der Geschichte hat sie sich dazu verschiedenster Verfahren bedient. Es wäre reizvoll, ihnen nachzugehen, doch würde dies hier zu weit führen. Wir halten lediglich fest, dass die moderne Naturwissenschaft vor etwa 400 Jahren zur Zeit der Renaissance begonnen hat. Ihr Aufstieg fällt mit dem Rückgang der mittelalterlichen Feudalherrschaft und mit dem Verlust der absoluten Macht der Kirche zusammen. Reformation, Entdeckung der neuen Welt und Erfindung der Druckpresse kennzeichnen jene Zeit. Seither sehen die Naturwissenschaften nur solche Hypothesen und Theorien als annehmbar an, die als Prämissen für Deduktionen herangezogen werden können. Aus ihnen folgen Aussagen, deren Richtigkeit durch Beobachtungen bestätigt oder widerlegt werden müssen. Das Experiment nimmt, im Gegensatz zum Altertum, wo Forschung hauptsächlich im Nachdenken bestand —nicht, dass sinnvolle Experimente keiner Überlegung bedürften —, eine zentrale Stellung in der wissenschaftlichen Methodik ein. Beinahe alle Zweige der Naturwissenschaften arbeiten heute mit Modellen, die nicht nur vereinfachende Schemata zur Darstellung abstrakter Zusammenhänge, sondern integrale Bestandteile der Theorien sind. Solche Modelle können richtig, falsch oder belanglos sein. So ergeben sich Naturgesetze, und zwar statistische Gesetze, die darauf beruhen,

dass gewisse Eigenschaften der mikroskopischen Verteilung in hohem Masse redundant sind oder sich um einen Mittelwert verteilen und damit das makroskopische Verhalten bestimmen. Unter der wissenschaftlichen Forschung können wir alles verstehen, was mit wissenschaftlichen Methoden einschliesslich Kritik, Selbstkritik und Falsifizierungsversuch, etwa im Sinne von Karl Popper, zu etwas Neuem führt, etwas, das man nicht gewusst, nicht gesehen oder nicht verstanden hat. Dies kann auch eine neue Synthese oder Vereinfachung bedeuten. Es ist die Suche nach bisher verborgener Wahrheit. Die Resultate ermöglichen Aussagen über unsere wahrnehmbare Wirklichkeit. Motive sind für den echten Forscher Entdeckungsfreude und intellektuelle Neugier. Als Abgrenzung zur Entwicklung oder angewandten Forschung gilt, dass entweder der Weg oder das Ziel nicht bekannt sind.

Ein wesentlicher Grund für das Unbehagen und die Angst der Allgemeinheit gegenüber den Naturwissenschaften liegt in ihrer schweren Verständlichkeit. Der Forscher ist ein Fremder unter seinen Mitmenschen. Er weiss das natürlich und verspürt deshalb kein besonderes Bedürfnis, sich mitzuteilen. Dazu kommt, dass sich die Gelehrten untereinander kaum mehr verstehen. Man kann verschiedene Ebenen des Verständnisses unterscheiden und eine ganze Stufenleiter aufbauen, wobei jeder den auf der nächsthöheren Stufe nicht versteht und den auf der übernächsten nicht verstehen kann. Die Zahl der Stufen ist sehr verschieden nach Gebieten, wohl am grössten in der Mathematik. Noch im 18. Jahrhundert gehörte die Mathematik zur Allgemeinbildung. Dann setzte die Spezialisierung ein, und heute findet man z. B. unter den Wissenschaftsnachrichten in den Zeitungen kaum Berichte über mathematische Themen. Mathematik wird einfach nicht mehr dargestellt, da sie beim heutigen Stand fast niemand mehr versteht. Dies ist unvermeidlich und in den Grenzen des menschlichen Denkvermögens begründet. Etwas weniger schlimm ist es um die anderen naturwissenschaftlichen Fächer bestellt. Von der

Astronomie oder Biologie kann der Laie eine Ahnung bekommen, die sein Erstaunen und Interesse hervorruft, etwa durch Fragen wie: «Ist das Weltall unendlich und ewig?», oder: «Wie ist das Leben entstanden?» Von einem wirklichen Verstehen der wissenschaftlichen Grundlagen kann aber auch hier nicht die Rede sein. Es entstehen deshalb leicht Missverständnisse. Man fühlt sich den Wissenschaftern gegenüber fremd, kennt ihre Motivierung nicht und ist geneigt zu vermuten, dass sie Ziele verfolgen, die ebenso unverständlich wie ihre Resultate sind. Dies führt zu einer unerwünschten Isolierung der Naturwissenschafter.

Nicht nur der Mann auf der Strasse, sondern auch die geisteswissenschaftliche Intelligenz hat oft kein sachlich fundiertes Urteil. Sie reagiert, wenn überhaupt, mit einer irrationalen, emotional betonten Abwehrhaltung. Der Physiker, Romancier und Staatsbeamte C. P. Snow hat dieses Phänomen mit der Existenz der «Two Cultures» zu erklären versucht. Nach ihm spaltet sich das geistige Leben der westlichen Welt immer mehr in zwei diametrale Gruppen auf: in die literarisch-geisteswissenschaftlich Gebildeten auf der einen und die Naturwissenschafter auf der anderen Seite. Jede dieser Gruppen bildet eine in sich geschlossene Kultur mit gemeinsamen Auffassungen, Massstäben und Verhaltensweisen, aber zwischen ihnen ist eine breite und tiefe Kluft gegenseitigen Nichtverstehens. Wörtlich sagt Snow: «Man stellt sich hier (d. h. auf Seiten der Geisteswissenschafter, an deren Seite man die grosse Mehrheit der Bevölkerung stellen kann) immer noch so, als wäre die überlieferte Kultur die ganze 'Kultur', als gäbe es das Reich der Natur gar nicht, als wäre das wissenschaftliche Gebäude der physikalischen Welt in seiner geistigen Tiefe, Komplexität und Gliederung nicht die schönste und wunderbarste Gemeinschaftsleistung des menschlichen Geistes. Dennoch haben die meisten Menschen, die nicht Naturwissenschafter sind, überhaupt keine Vorstellung von diesem Gebäude. Wie die musikalischen Menschen wissen auch sie nicht, was sie entbehren. Sie lächeln mitleidig, wenn sie von Naturwissenschaftern

hören, die bedeutende Werke der englischen Literatur nicht gelesen haben. Sie tun diese Leute als eingebildete Spezialisten ab. Dabei ist ihre Ignoranz und Spezialisierung genauso erschreckend... und vielleicht noch bedenklicher, weil mehr Eitelkeit dabei ist.» Der philosophisch gebildete Präsident einer deutschen Universität hat es kürzlich etwas überspitzt so formuliert: «Geisteswissenschaftern und zumal Philosophen gelingen gelegentlich Formulierungen, die ein so grosses Echo haben, dass die Frage nach ihrer Richtigkeit in den Hintergrund tritt.»

Natürlich bedeutet auch für die Naturwissenschafter die Polarisierung des geistigen Lebens in zwei isolierte Kulturkreise eine Verarmung. Die Bemühungen, die Trennung zu überwinden, wird aber von ihnen im ganzen ernster genommen als von den Geisteswissenschaftern, die das Problem oft gar nicht erkennen. Es wäre Aufgabe der Gesellschaftswissenschaften, das Bindeglied zwischen den Kulturen zu werden.

In den bisherigen Ausführungen haben wir einen zentralen Aspekt noch nicht berührt, nämlich die Frage nach den Grenzen. Gibt es in den Naturwissenschaften Grenzen an sich, die zwingend sind, oder sind es nur Schranken im Sinne gesetzter Grenzen, die man anerkennen kann, aber nicht unbedingt muss? Für die nachfolgenden Überlegungen über die Verantwortung des Naturwissenschafters ist die Beantwortung dieser Frage von Bedeutung. Auf den ersten Blick ist man geneigt anzunehmen, dass die Naturwissenschaften wie alle Wissenschaften grenzenlos seien. Auch Kant scheint dieser Ansicht zu sein, wenn er in den Prolegomena, §57, schreibt: «Solange die Erkenntnis der Vernunft gleichartig ist, lassen sich von ihr keine Grenzen denken. In der Mathematik und Naturwissenschaft erkennt die menschliche Vernunft zwar Schranken, aber keine Grenzen, d. h. zwar, dass etwas ausser ihr liege, wohin sie niemals gelangen kann, aber nicht dass sie selbst in ihrem innern Fortgange irgendwo vollendet sein werde. Die Erweiterung der Einsichten in die Mathematik und

die Möglichkeit immer neuer Erfindungen geht ins Unendliche; ebenso die Entdeckung neuer Natureigenschaften, neuer Kräfte und Gesetze durch fortgesetzte Erfahrungen und Vereinigungen derselben durch Vernunft.»

Aus der Optik der modernen experimentellen Naturwissenschaften können wir Kant nicht mehr völlig zustimmen. Wir haben nämlich zwei Arten von Grenzen zu unterscheiden: die konzeptionellen und die moralischen. Zu den ersteren: Abgesehen von der Mathematik, die keine prinzipiellen Grenzen kennt, kommt es auf die einzelnen Zweige der Naturwissenschaften an, ob sie unbegrenzt seien oder nicht. In der Chemie ist der Synthese von neuen künstlichen Verbindungen keine Grenze gesetzt. In den deskriptiven Naturwissenschaften sind solche möglich, wenn wir z. B. an die Zahl der auf der Erde vorkommenden Gesteine oder Pflanzenspezies denken. Auch der Biologe Jacques Monod bekennt sich in seinem berühmten Buch «Le Hasard et la Nécessité» zu Grenzen, wenn er über die Evolution, deren elementare Mechanismen grundsätzlich erkannt sind, schreibt: «Die Grenzen der Erkenntnis liegen für mich an den beiden äussersten Punkten der Evolution (sie wird der zentrale Begriff der Biologie), das ist einerseits der Ursprung der ersten lebenden Systeme, andererseits die Funktionsweise des am stärksten teleonomischen Systems*, das jemals hervorgetreten ist: Ich meine das Zentralnervensystem des Menschen...» Die Entstehung des Lebens, also die Entwicklung vom Makromolekül zum Mikroorganismus bis zum Menschen, führt Monod auf den Zufall zurück. Er anerkennt weder einen Schöpfergott noch eine Weltmutter Materie, die vom Atom bis zum Menschen reicht. Leben und Mensch —beide begrenzt —sind für ihn «Gewinn-Nummern» einer gigantischen Lotterie der Natur. Ursprung der jähen, unvorhergesehenen und mikroskopisch kleinen «Mutationen» oder

Erbänderungen, aus denen neue Erscheinungen auch im makroskopischen Bereich der Organismen entstehen, ist der Zufall. Allerdings werden die Zufallsprodukte erst nach Auslese (Selektion) zu «Treffern». Monod sagt prägnant: «Das ganze Konzert der belebten Natur ist aus störenden Geräuschen hervorgegangen.» Liegen diese «Treffer» und ihre Struktur aber fest, dann erhalten und vermehren sie sich mit der Konstanz und Notwendigkeit, die ihnen durch den einmal programmierten genetischen Code verliehen wird. Die Physik hat den Begriff Zufall längst akzeptiert und die Quantenmechanik, eine der grundlegenden physikalischen Theorien, basiert auf dem Begriff der Unbestimmtheit. Der Begründer der Wellenmechanik*, Erwin Schrödinger, formulierte es einmal so: «Die physikalische Forschung hat klipp und klar bewiesen, dass zum mindesten für die erdrückende Mehrheit der Erscheinungsabläufe, deren Regelmässigkeit und Beständigkeit zur Aufstellung des Postulats der allgemeinen Kausalität geführt hat, die gemeinsame Wurzel der beobachteten strengen Gesetzmässigkeit — der Zufall ist.» Übrigens hat schon Demokrit (460-371 v. Chr.) gesagt: «Alles, was im Weltall existiert, ist die Frucht von Zufall und Notwendigkeit!» Bei der Entstehung des Lebens und im Verlaufe der Evolution haben sich spontan Systeme höherer Ordnung gebildet, was dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik zu widersprechen scheint. Dieser sagt bekanntlich, dass die Energie die Tendenz hat, sich so zu verteilen, dass organisierte Systeme nicht stabil sind und dass das Universum als Ganzes dem Zustand grösster Unordnung oder Entropie zustrebt. Dieser Widerspruch lässt sich jedoch beheben, wenn man solche Systeme, z. B. eine sich entwickelnde Zelle nicht als geschlossen, sondern als offen betrachtet. I. Prigogine bezeichnet solche Systeme als «dissipative Strukturen». — Wenden wir uns nun Monod's anderer Grenze, dem Zentralnervensystem des tierischen

und menschlichen Organismus, zu. Die Funktionen des Zentralnervensystems lassen sich in zwei Gruppen gliedern. Die einen dienen der Koordination und der Darstellung, und die anderen der Erkenntnis. Zur letzteren gehört die Erfindung, d. h. die Simulation von äusseren Ereignissen oder Handlungsprogrammen des Tieres. Nur diese kann eine subjektive Erfahrung schaffen. Die besonderen Eigenschaften des menschlichen Gehirns sind dadurch gekennzeichnet, dass die Simulationsfähigkeit stark entwickelt und genutzt wird —und zwar auf der Basis der Erkenntnisfunktionen, wie sie in unserer Sprache zum Ausdruck kommen. Beim erwachsenen Menschen wird die subjektive Simulation zur schöpferischen Funktion. Die sprachliche Symbolik macht diese deutlich, indem sie deren Operationen übersetzt und zusammenfasst. Sie überträgt jedes Mal neue Simulation und weicht deshalb radikal von der tierischen Verständigung ab, die sich auf Lockrufe und Warnung beschränkt. Auch das intelligenteste Tier besitzt kein Mittel, sein Bewusstsein in dieser Weise zu befreien. Das Denken beruht auf einem Vorgang subjektiver Simulation. Wie aber das Simulationsvermögen des Zentralnervensystems wirklich funktioniert und aufgebaut ist, wissen wir nicht. Wir erraten seine Existenz und können das Ergebnis seiner Operationen durch die Sprache wiedergeben, mehr aber nicht. Hier stossen wir nach Monod an die Grenze, die für ihn genauso unüberwindlich ist wie für Descartes im 17. Jahrhundert. Der Dualismus von Geist und Materie besteht nach wie vor.

Monod vertritt damit die Auffassung, dass der Biologie Grenzen gesetzt sind. Wir dürfen aber nicht übersehen, dass es der Mensch und das Fassungsvermögen seines Gehirns sind, die die Grenzen erreichen, und nicht die Wissenschaft selber. Unsere Erfahrungen sind begrenzt, das Wissen aber beliebig ausdehnbar.

Wenn wir vom Menschen sprechen, müssen wir die Frage nach den moralischen oder ethischen Grenzen der Naturwissenschaften aufwerfen. Die Wissenschaft an sich, d. h. eine neue Erkenntnis oder Entdeckung, ist neutral und wertfrei. Hingegen sind der

Vorgang des Forschens und mit Sicherheit die praktisch-technische Anwendung der Ergebnisse moralische Aktivitäten, die den Gelehrten als handelndes Wesen involvieren. Anerkennen wir die Forschungstätigkeit als eine moralische Aktivität, so ist sie eine freie Handlung mit einer eigenen Geschichte. Als solche gehört sie zur Geschichte der Menschheit und umfasst einen Teil der menschlichen Kultur. Denken wir beispielsweise an die Spaltung von Atomkernen — an sich eine wertfreie wissenschaftliche Erkenntnis. Ihre Erforschung und vor allem ihre technische Verwertung zu hohem Nutzen oder katastrophalem Schaden sind moralische Handlungen. Ob die eine oder andere praktische Anwendung der Kernenergie erfolgt, liegt nicht mehr in der unmittelbaren Verantwortung des Physikers, sondern in der Hand von Politikern und Industriellen. Dennoch darf sich der Naturwissenschafter nicht hinter diesem Argument verschanzen. Es ist klar — und dieser Forderung stimmen auch Monod und Eigen zu —, dass Erkenntnis und Ethik nicht beziehungslos nebeneinanderstehen dürfen.* Die ausserordentliche Erweiterung unseres Wissens und die dadurch bewirkten Umweltsveränderungen benötigen eine vertiefte ethische Haltung in der modernen Forschung.

In diesem Zusammenhang sei die These von den erkenntnisleitenden Interessen von Jürgen Habermas erwähnt, da sie nicht nur die Geistes- und Sozialwissenschaften betrifft, sondern auch die Naturwissenschaften einschliesst. Sie besagt: Auch und gerade bei der wissenschaftlichen Erkenntnis, also bei der Forschung, ist auf das Interesse, das jeweils verfolgt wird, zu achten. Habermas meint, Wissenschafter würden ausserwissenschaftliche Interessen verfolgen. Das Vorgehen und die Resultate der Wissenschaft seien von den Interesssen einzelner Wissenschaftsgruppen

oder Generationen von Wissenschaftern beeinflusst. Zur Beurteilung müsse man die Interessen kennen, welche der Theoriebildung zugrunde liegen. Sinn naturwissenschaftlicher Erklärung ist nach Habermas, Naturmanipulation zu ermöglichen, um materielle Bedürfnisse zu befriedigen, und nicht nur die Natur als empirisch erfahrbare Wirklichkeit zu erfassen, wie sie an sich ist. Nach ihm ist Naturwissenschaft nicht bloss ein desinteressiertes Suchen nach den Geheimnissen der Natur. Sie ist vielmehr vom Interesse an Naturbeherrschung und damit an Machtausübung geleitet. Diese These erinnert an das berühmte Diktum von Sir Francis Bacon aus dem Jahre 1597: «Wissen ist Macht», womit er technische Verwendbarkeit meinte, sowie an den Historiker Lord Acton, der sagte: «Macht neigt dazu zu verderben, und absolute Macht verdirbt absolut.» Auch Jacob Burckhardt hat diesen Gedanken in den Weltgeschichtlichen Betrachtungen formuliert: «Die Macht an sich ist böse, gleichviel wer sie ausübe. Sie ist kein Beharren, sondern eine Gier und eo ipso unerfüllbar, daher in sich unglücklich und muss Andere unglücklich machen.» Acton und Burckhardt dachten hauptsächlich an die politische Macht. Ihre Aussagen besitzen aber allgemeine Gültigkeit. — Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts hat es neben Francis Bacon keinen Denker gegeben, der die Aufgabe der Wissenschaft in einer völligen Naturbeherrschung sah. Es scheint mir auch heute sehr gesucht, etwa die Bestimmung der chemischen Struktur eines Naturstoffs oder eines Syntheseprodukts in eine Manipulationsanweisung aufzulösen mit dem Zweck, Macht auszuüben. Die primäre Motivation dieser Handlung ist viel eher intellektuelle Neugier im Sinn des einfachen Satzes von Aristoteles: «Der Mensch strebt von Natur aus nach Erkenntnis.» Wenn auch einige Gedanken, die Habermas über die modernen Naturwissenschaften äussert, zutreffen, so ist doch seine These einseitig und in vielem widerlegbar. Dazu ein Vergleich: Wer z. B. einen Stein als Wurfgegenstand betrachtet, ist deswegen noch lange nicht daran interessiert, etwas zu werfen; er könnte im Gegenteil ein

Gesetz befürworten, welches das Werfen von Steinen verbietet, oder er könnte an der Ballistik als einer theoretischen Stütze der Mechanik oder an der Astronomie interessiert sein.

Was soll der Naturwissenschafter nach all dem Gesagten eigentlich tun? Wofür muss er sich heute verantwortlich fühlen, und wo darf er nicht ausweichen? Wir unterscheiden mehrere Problemkreise, wobei diese oft ineinandergreifen.

1. An erster Stelle möchte ich die Verantwortung des Forschers gegenüber der Wissenschaft selbst nennen. Seine wissenschaftliche Arbeit muss von absoluter Ehrlichkeit getragen sein. Der Wille dazu zeigt sich bereits in der gewissenhaften Planung der Experimente und ihrer kritischen Prüfung auf die Bedeutung ihrer Aussagekraft in einem grösseren wissenschaftlichen Zusammenhang. Die Resultate von Experimenten und Überlegungen, die Daten, Gesetzmässigkeiten, Thesen und Hypothesen sind zu publizieren, um sie der Kontrolle und Kritik anderer Wissenschafter im In- und Ausland auszusetzen. Die Beurteilung durch die «Scientific Community», die oft hart und schonungslos ist, verhindert ein Absinken der wissenschaftlichen Qualität und das bewusste oder unbewusste Verbreiten von unrichtigen Informationen. Allerdings ist die «Scientific Community» ein geschlossenes System, das sich zwar selber kontrolliert, die weiteren Folgen ausserhalb aber kaum berücksichtigt.

Sind Wissenschafter verschiedener Meinung, müssen sie so lange weiter experimentieren oder argumentieren, bis Einigkeit erzielt wird. Solche Situationen führen oft zu neuen Erkenntnissen. Dazu ein Beispiel aus der Geschichte der Chemie:

1822 entdeckte F. Wöhler (1800-1882) die Cyansäure, als er die Blausäure oxidierte. Die neue Säure wies die gleiche molekulare Zusammensetzung auf, wie sie J. von Liebig (1803-1873) fast gleichzeitig für die Knallsäure gefunden hatte. Die beiden Säuren und ihre Salze zeigten aber ganz verschiedene Eigenschaften. Während die Cyansäure und Silbercyanat stabil waren,

erwiesen sich Knallsäure und Silberfulminat als hochexplosiv. Die beiden Gelehrten, die ihre Ergebnisse publiziert hatten, warfen sich temperamentvoll gegenseitige Unfähigkeit vor. Schliesslich reiste Wöhler nach Giessen zu von Liebig und analysierte selber die Säure seines Widersachers. Die Forscher bestätigten nicht nur ihre gegenseitigen Ergebnisse, sondern fanden auch die Lösung des Rätsels. Die beiden Verbindungen unterscheiden sich voneinander in der Bindungssequenz der vier Atome im Molekül. Damit war die Isomerie, ein neues Prinzip der chemischen Strukturlehre, entdeckt, und aus Feinden wurden Freunde.

James Watson berühmtes Buch «The Double Helix», in dem die Geschichte der Abklärung der Struktur der für die Vererbung verantwortlichen Desoxyribonucleinsäure geschildert wird, lässt den wissenschaftlichen Alltag und vor allem die zwischenmenschlichen Beziehungen der Forscher zwar nicht im besten Licht erscheinen. Wir hoffen, es seien Ausnahmen. Natürlich sind Wissenschafter auch nur Menschen, die gegen Ambitionen, Ruhmsucht, Selbsttäuschung und Betrug nicht gefeit sind. Doch darf man von ihnen besondere Wahrheitsliebe, Selbstkritik und Fairness erwarten. Die Erziehung zur Selbstverantwortung beginnt zu Hause und in der Schule und darf an der Universität und in der beruflichen Tätigkeit nicht aufhören. Es sind Eigenschaften, die vermehrt von der älteren Forschergeneration der jüngeren vorgelebt werden müssten. Ich habe diese Pflichten bewusst formuliert, da sie für manchen Wissenschafter heute nicht mehr selbstverständlich sind.

2. Wahl des Forschungsgebiets und Anwendung der Ergebnisse: In der Grundlagenforschung ist das wichtigste Kriterium für die Wahl eines Themas die Chance seiner theoretischen Fruchtbarkeit zu gegebener Zeit. Da jede Antwort, welche die Forschung auf eine gestellte Frage gibt, neue Fragen hervorruft, vermehren sich die Forschungsprojekte, zur Zeit sogar exponentiell. Diese Entwicklung birgt die Gefahr, dass die Forschung sich selbst produziert und gleichzeitig eine «Maschinerie», d. h.

Geräte und Automaten hervorruft, mit Hilfe derer man die gestellten Fragen immer schneller beantworten kann. Ausserdem zwingt die grosse Zahl neuer Probleme zu immer weiterer Spezialisierung. Sie ist heute unumgänglich, kann aber zu einer zu einseitigen Behandlung von weniger wichtigen Detailfragen führen. Die Ergebnisse bleiben dann wertlos, weil die Sicht auf den grösseren Zusammenhang verloren geht. Archive und Zeitschriften werden angefüllt, der Datenfriedhof wächst. Diese Eigendynamik, gefördert durch ein automatisch arbeitendes Instrumentarium, droht die von echten Konzepten getragene Forschung zu überwuchern. Der Wissenschafter läuft leicht Gefahr, in diesen Zugzwang zu geraten. Wenn er sich nicht dauernd überprüft und Selbstkritik übt, ist die Versuchung gross, ohne besondere intellektuelle Anstrengung am Forschungsbetrieb teilzunehmen. Während früher die wissenschaftliche Forschung das Werk Einzelner war, die oft als Sonderlinge galten, droht der heutige Forschungsbetrieb dem Massentourismus ähnlich zu werden. Der Forscher muss sich wie der Reisende früherer Zeiten für die Reise in ein unbekanntes Land sorgfältig vorbereiten, die besten Routen selber wählen, fähig sein, Neues zu ergründen und die Gefahren abzuschätzen. Sonst sinkt die wissenschaftliche Forschung zum säkularisierten Gewerbe ab.

Die Wahl des Forschungsgebiets kann zu einer persönlichen Gewissensbelastung führen, die nicht leicht zu nehmen ist. In der reinen Grundlagenforschung stellt sie sich weniger dringlich als in der angewandten Forschung. Je mehr Wissen gewonnen wird, desto mehr Anwendungsmöglichkeiten eröffnen sich. Nutzen und Schaden sind deshalb bereits bei der Auswahl der Projekte sorgfältig abzuwägen, wobei wirtschaftliche Interessen nicht einziges Kriterium sein dürfen. Wir wollen die schwierige Problematik an drei Fällen erläutern: Der erste Fall betrifft die Entwicklung von Arzneimitteln in der pharmazeutischen Industrie. Sie geschieht durch multidisziplinäre Forschergemeinschaften. Das Resultat der gemeinsamen Bemühungen sind Medikamente, die ihre positive

Seite in der verlängerten Lebenserwartung und in der Linderung von Schmerz und ihre negative Seite in gravierenden Schädigungen und im Missbrauch haben. Während die Forscher für den Missbrauch keine direkte Verantwortung tragen, muss sie für mögliche schädliche Folgen eine direkte Mitschuld treffen. Der Zwang des Abwägens von Nutzen und Risiko könnte den Forscher veranlassen, sich dieser Verantwortung zu entziehen und sich unproblematischeren Gebieten zuzuwenden. Fühlt er sich aber verpflichtet, einen Beitrag zur Hebung der menschlichen Gesundheit zu leisten, steht er bereits vor der nächsten Frage: Kann und darf man das machen, was gemacht werden sollte, um die Sicherheit eines pharmazeutischen Produkts zu gewährleisten? Wo hört der Nutzen auf, und wo beginnt die Schädlichkeit? Der Entscheid ist besonders schwierig zu treffen, wenn erheblich mehr finanzielle Mittel oder fragwürdige Experimente an Tieren und Menschen erforderlich sind. Der Forscher gerät in ein ethisches Dilemma, denn ohne eine gewisse Risikobereitschaft gibt es keinen Fortschritt. Die Tragödie des Thalidomids (Contergan), das zu schwersten Missbildungen bei etwa 7000 Neugeborenen geführt hat, ist auf mangelnde Sorgfaltspflicht zurückzuführen. Alle Beteiligten waren moralisch mitverantwortlich. Glücklicherweise ist Thalidomid ein Einzelfall geblieben. Er hatte aber übertriebene behördliche Vorschriften zur Folge, welche die Fortschritte in der Arzneimittelforschung hemmen.*

Beim zweiten Fall handelt es sich um ein moralisches Problem, das wegen des Mangels an experimentellen Daten vorläufig nicht entscheidbar ist. Es geht um die Hypothese, dass die in Sprühdosen verwendeten Treibgase (Chlorfluorkohlenstoffverbindungen) das Ozon der Atmosphäre zerstören. Ozon (O 3 ) ist

eine allotrope Form von Sauerstoff (O 2 ). Durch seinen typischen Geruch gekennzeichnet, entsteht es durch elektrische Entladungen während Gewittern. Die Ozonschicht schützt uns vor der Ultraviolett-Strahlung der Sonne. Die mutmasslichen Folgen des Ozonverlusts wären vermehrte Bildung von Hautkrebs infolge intensiverer Einstrahlung von kurzwelligem Sonnenlicht. Um zu erfahren, was durch die Verwendung von Chlorfluorkohlenstoffverbindungen wirklich passiert, sind mehrjährige wissenschaftliche Untersuchungen über die Chemie der Atmosphäre erforderlich. Was soll nun in der Zwischenzeit geschehen? Dürfen die Gase so lange weiter verwendet werden, bis ein sicheres Resultat über ihre Schädlichkeit vorliegt, oder soll man sofort auf sie verzichten und auf eine andere, im Moment harmlos erscheinende chemische Substanz ausweichen mit dem Risiko, dass ihr langfristiger Gebrauch noch grösseren Schaden anrichten wird?

Das klassische Beispiel für das Umschlagen von Nutzen in Schaden, unser dritter Fall, ist das DDT (Dichlordiphenyltrichioräthan). Man darf den damaligen Chemikern und Biologen, die die insektizide Wirkung der Substanz entdeckten, keinen Vorwurf machen. Sie haben nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt und einen entscheidenden Beitrag zur Bekämpfung von Krankheiten, die durch Insekten übertragen werden (Malaria, Flecktyphus), geleistet. Die schädliche Akkumulation des Kontaktinsektizids in der Biosphäre war nicht vorauszusehen. Diese ergab sich aus dem übermässigen Einsatz zum Schutze landwirtschaftlicher Nutzflächen vor vielen Schädlingen und dem aussergewöhnlich langsam verlaufenden biochemischen Abbau.

Die geschilderten Beispiele zwingen uns zu prüfen, ob auch der Forscher, der reine, zweckfreie Wissenschaft treibt, für die Anwendung oder Nichtanwendung seiner Forschungsresultate eine Verantwortung trägt. Die Problematik ist jüngeren Datums und hängt eng mit der bereits erwähnten Ausweitung der Forschungstätigkeit in unserem Jahrhundert zusammen. Nur ein Beispiel: Das seit 1812 bekannte Phosgen ist ein nach frisch gemähtem

Gras riechendes Gas, dessen Toxizität für den Organismus dem Chemiker von Anfang an bekannt war. Es wird aus Kohlendioxid und dem ebenfalls sehr giftigen, bereits 1774 entdeckten Chlorgas hergestellt. Erst 1914, während des 1. Weltkriegs, kam man aber auf die verheerende Idee, Phosgen als Kampfstoff zu verwenden. André Malraux meint nicht zu Unrecht, dass dies der eigentliche Moment war, wo sich die negativen Seiten der Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zu zeigen begannen. In diesem Sinne ist Phosgen der Vorläufer der Atombombe, nach deren Abwurf der Physiker und Mitschöpfer Robert Oppenheimer sagte: «For the first time, the scientist has known sin.» Unwillkürlich erinnern wir uns an die allbegabte, bezaubernde und neugierige Pandora, die entgegen dem Verbot der Götter die Büchse öffnet und sie nicht mehr schliessen kann. Die griechische Sage enthält tiefe Wahrheit! Denselben Gedanken finden wir in Goethe's Zauberlehrling: «Die ich rief, die Geister werd' ich nun nicht los.» Die Frage nach den Anwendungsmöglichkeiten von Forschungsergebnissen wird heute fast automatisch gestellt. Im Wissen um Pandora und den Zauberlehrling darf sich der Forscher heutzutage der Verantwortung über Anwendung oder Nichtanwendung seiner Ergebnisse weder entziehen noch sich in die Anonymität des wissenschaftlichen Kollektivs flüchten.

3. Forschungskosten. Die naturwissenschaftliche Forschung ist sehr teuer geworden und erfordert deshalb eine sorgfältige Planung der einzelnen Projekte. Jeder Forscher ist zu einem optimalen Einsatz der ihm anvertrauten Mittel verpflichtet. Er hat eine sorgfältige Auswahl zu treffen und Prioritäten festzulegen. Das Setzen von Schwerpunkten durch die Koordination der Forschungsanstrengungen nach nationalen oder internationalen Gesichtspunkten ist heute unumgänglich, aber es bedeutet eine gewisse Beeinträchtigung der Forschungsfreiheit des Einzelnen. Solche Massnahmen sind darum massvoll und unbürokratisch zu handhaben. Jedenfalls muss dem Forscher die Wahl

der Methode freigestellt werden. Zuviel Planung und Kontrolle können ebenfalls eine unheilvolle Eigendynamik entwickeln, die der künstlerischen Kreativität des Forschers entgegenwirkt. Dieser wird auf den Weg des geringsten Widerstands ausweichen und der Versuchung nicht widerstehen können, in den Projekten, die er seinen Geldgebern zu unterbreiten hat, bereits «programmierte» Resultate zu präsentieren oder die wahren Forschungsziele durch modische Fragestellungen zu kaschieren, um die finanziellen Mittel leichter zu erhalten. Wichtigstes Kriterium einer forschungspolitischen Entscheidung muss die Qualität des Forschungsprojekts bleiben, wobei eine gerechte Beurteilung im Anfangsstadium oft Schwierigkeiten bereitet. Dem originellen Forscher ist eine angemessene Bewegungs- und «Narren»-freiheit zuzubilligen. Die geldverteilenden Instanzen müssen wissen, dass Forschungsresultate keine Ware sind, die man bestellen und kaufen kann. Die genannten Forderungen sind sehr ernst zu nehmen. Andernfalls droht der Forschungsbetrieb bei gleich hohen Kosten für die echte Wissenschaft kontraproduktiv zu werden.

4. Information der Öffentlichkeit. Die einleitend geschilderte antiwissenschaftliche Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber den Naturwissenschaften beruht häufig auf mangelnder und unsachlicher Information. Die ungenügende Verständigung zwischen den Wissenschaftern als Informationsgeber, der Öffentlichkeit als Empfänger und den Medien als Informationsträger lässt Missverständnisse rasch anwachsen. Sie zu beseitigen ist schwierig, doch entscheidend für die Zukunft der Wissenschaft. Eine Institutionalisierung der Kommunikation zunächst zwischen Forschern verschiedener Wissensbereiche, gleich ob universität oder industriell, wäre ein sinnvoller Anfang in dieser Richtung. Ein besseres Verhältnis zu den Massenmedien ist erforderlich, denn fast alles, was der Bürger über die Wissenschaft und der Wissenschafter über die öffentliche Meinung weiss, erfährt er durch die Medien. Schwierigkeiten ergeben sich dadurch, dass komplizierte

wissenschaftliche Ergebnisse in leicht eingängiger Form dargeboten werden müssen. Die Vereinfachungen führen oft zu einer Verfälschung der Sachverhalte. Da der Berichterstatter in der Regel kein Fachmann ist, muss der Wissenschafter sich ihm in Wort und Schrift verständlich machen. Dieser Aufgabe ist er bisher nur in sehr ungenügender Weise nachgekommen. Viele Wissenschafter teilen sich den Nicht-Wissenschaftern kaum mit und sehen ihre Arbeit viel zu wenig als einen wichtigen Teil unserer menschlichen Kultur. Sie haben es kaum verstanden, in einer naturwissenschaftlich-technisch bestimmten Welt der Öffentlichkeit ihre Probleme so darzulegen, dass die Voraussetzungen für objektive Entscheide erfüllt sind. Wenn die Forscher nicht wesentlich mehr als bisher zur öffentlichen Diskussion selber beitragen, gewinnen die falschen Propheten die Oberhand. Der Wissenschafter darf aber erwarten, dass seine Aussagen nicht missbraucht werden und dass die Medien ihrer auf diesem Gebiet besonders wichtigen Sorgfaltspflicht nachkommen.

Insbesondere der Hochschullehrer muss die Informationspflicht in Zukunft ernster nehmen. Von seiner Lehrtätigkeit her sollte er imstande sein, neues Wissen innerhalb und ausserhalb der Universität in einer verständlichen Form zu verbreiten und aufgrund seines Sachverstands auf möglichen Nutzen oder Schaden aufmerksam zu machen. Ich denke hier an die vom Club of Rome verfasste, 1972 erschienene Studie «Grenzen des Wachstums», die in der Öffentlichkeit die schockartige Wirkung hatte, den selbstverständlichen Glauben an das wirtschaftliche Wachstum zu erschüttern. Sie hat Anlass zu weiterführenden Untersuchungen über den Verbrauch der wichtigsten natürlichen Rohstoffe, über die Pollution, die Bevölkerungsdichte und die Ernährung einer ungehemmt wachsenden Weltbevölkerung gegeben. Die Annahmen des Club of Rome über den Ressourcenverbrauch mögen als pessimistisches Extrem gelten. Die Optimisten meinen, dass im Prinzip alle vom Verbrauch bedrohten Rohstoffe entweder durch andere substituiert oder durch Rezyklisierung

aus den Abfällen wieder gewonnen werden können.* Die Entscheidung zwischen diesen Extremen verlangt eine grosse Fülle naturwissenschaftlicher Arbeit.

Drei aktuelle Beispiele mögen belegen, wie nötig eine fundierte Information ist, um die uns alle angehenden Probleme zu verstehen und zu lösen. Die beiden ersten betreffen die Verflechtung von Rohstoff mit Energie. Das Verhältnis der Mengen von Kupfer und Aluminium zeigt, dass nicht nur genügend Rohstoffe vorhanden sein, sondern dass sich diese Vorräte auch gewinnen lassen müssen, ohne dass man sich energetisch erschöpft. Zur Stromverteilung der elektrischen Energie könnte Aluminium knappes Kupfer ersetzen. Die Aluminium-Herstellung ist aber derart energieaufwendig, dass die Elektrizitätswerke ausgelastet wären mit der Herstellung von Aluminiumleitungen.

Auf dem Ernährungssektor tritt die gestörte Relation von Aufwand und Ertrag besonders deutlich hervor. So benötigen wir zur Herstellung und Verwendung von Dünger und Maschinen für jede Nahrungsmittel-Kalorie eine Gewinnungskalorie.

Das dritte Beispiel, das noch viel zu wenig bekannt ist, betrifft die Verbrennung von Kohle, Erdöl und Erdgas, die bisher ohne schwerwiegende Konsequenzen für die Umwelt schien. Durch die vermehrte Nutzung dieser fossilen Brennstoffe ist die CO2-Konzentration der Atmosphäre gegenüber der ursprünglichen bereits um ca. 10% angestiegen. Das atmosphärische Kohlendioxid lässt wohl Sonnenstrahlen durch, absorbiert aber die Wärmestrahlung der Erdoberfläche und wirkt wie eine isolierende Decke, was zu einer Erhöhung der Temperatur der Erdatmosphäre führt. Wegen dieses «Treibhauseffekts» könnte CO 2 zum gefährlichsten Umweltverschmutzer werden. Diesen Effekt entdeckte man aufgrund der Kenntnis der Feinstruktur des Infrarotspektrums von CO 2. Die Folgen für das Weltklima liessen sich durch Verwendung

raffinierter Computer-Modelle für die atmosphärische Strahlungsbilanz und die globalen Zirkulationsvorgänge voraussagen.

5. Der Naturwissenschafter trägt heute eine hohe soziale Verantwortung. Gerade die vielseitigen und bedeutenden Persönlichkeiten, die nicht «Fachidioten» geblieben sind, beschäftigen sich längst mit diesen Fragen. Der Briefwechsel von Albert Einstein und Max Born, dessen zentrales Thema Relativitätstheorie und Quantenmechanik sind, legt dafür ein eindrückliches Zeugnis ab. Die beiden Wissenschafter waren zutiefst erschrocken, wozu die Anwendung physikalischer Erkenntnisse mit der Konstruktion der Atombombe geführt hatte. Ihr Gedankenaustausch ist ein wertvolles Dokument zur Geschichte der modernen Naturwissenschaften.

Aus sozialer Verantwortung heraus müssen sich die Forscher Beschränkungen bei gewissen Versuchen auferlegen. Man könnte selbst Verbote fordern, obwohl die Durchführung einer Kontrolle schwierig wäre. Ich denke in erster Linie an Experimente am Menschen ohne therapeutisches Ziel und ohne Einwilligung des Betroffenen. Es ist zwar ein Problem der medizinischen Ethik, mit dem aber auch der Naturwissenschafter konfrontiert werden kann. Versuche mit cancerogenen Viren sowie mit der sog. «recombinant DNA» und genetische Manipulationen (Genetic Engineering) dürfen strikte nur nach allgemein anerkannten Richtlinien, z. B. denen der NIH (National Institutes of Health), vorgenommen werden, ansonst sie die öffentliche Gesundheit gefährden könnten. Ob Experimente mit in vitre befruchteten menschlichen Eiern und deren Züchtung während längerer Zeit über das Zulässige hinausgehen, ist gegenwärtig Gegenstand heftiger Diskussionen. Da das Überschreiten einer Grenze in vielen Fällen im Ermessen des Einzelnen liegt, sind an Verantwortungsgefühl und Integrität besonders hohe Ansprüche zu stellen.

Wie soll sich der angestellte Forscher verhalten, wenn er glaubt, eine von seinen Vorgesetzten aufgetragene Arbeit moralisch

nicht verantworten zu können? In dieser Lage kann nur der Dialog helfen, der so lange geführt werden muss, bis Übereinstimmung erreicht ist. Das gleiche gilt für Personen in leitenden Stellungen, wenn gegenteilige Interessen im Spiele sind. Das materielle Denken darf nicht berechtigte Einwände verdrängen.

Wir haben versucht, die gegenwärtige Situation der Naturwissenschaften, insbesondere ihr Verhältnis zur Gesellschaft, zu analysieren. Naturwissenschaften und Technologie sind ein moderner Janus. Die Forscher sehen meist als erste Möglichkeiten der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und ihre Gefahren. Sie dürfen nicht schweigen, auch wenn sie allein wissen, dass es Gefahren gibt und im Wissen um sie lieber schweigen möchten. Jede Anwendung, sei es eine schädliche oder nützliche, setzt einen politischen oder wirtschaftlichen Entscheid voraus, für den der Wissenschafter nicht zuständig ist. Seine Verantwortung beschränkt sich auf die Richtigkeit seiner Forschungsresultate und ihre korrekte Weitergabe. Der Forscher muss aber alles tun, was er kann, damit die entscheidenden Instanzen über die Probleme und ihre Folgen aufgeklärt sind, bevor sie Entscheidungen treffen. Erst dann können sie sachlich handeln. Mit dem Erkennen der Probleme sind diese noch nicht gelöst; doch lassen sie sich nicht lösen, wenn sie nicht erkannt sind.

Es stellt sich die Frage, ob es genügt, die Anwendung der Wissenschaft zu begrenzen, oder ob es grundlegender Veränderungen der Struktur wissenschaftlichen Denkens und anderer Methoden bedarf, um die skrupellose Ausnutzung und den Missbrauch wissenschaftlicher Erkenntnisse zu verhindern. Wir können noch pointierter fragen: Ist das technologische Zeitalter eine Fehlentwicklung? Ich glaube nicht, wenn wir die Bilanz der positiven und negativen Posten ziehen.

Wie sich unsere Zukunft gestalten wird, hängt entscheidend von der Lösung zweier Problemkreise ab. Es muss uns gelingen, das Bevölkerungswachstum in den Griff zu bekommen und die

Eskalation der materiellen Bedürfnisse zurückzubinden. Andernfalls werden die natürlichen Rohstoffe der Erde bald aufgebraucht sein und das ökologische Gleichgewicht der Biosphäre durch die Pollution irreversibel gestört bleiben. Ferner müssen wir die physischen und psychischen Leiden der Menschen vermindern. Ohne körperliches Wohlbefinden und seelisches Gleichgewicht des Individuums ist das Leben nicht lebenswert.

Ohne die Hilfe der Naturwissenschaften, die sich als erstaunlich leistungsfähig erwiesen haben, werden wir sehr viele dieser Probleme nicht lösen können. Wir müssen aber wissen, was wir können, und was wir nicht können, wo die wissenschaftliche Kompetenz aufhört, d. h. welche Probleme einer wissenschaftlich-technischen Lösung zugänglich sind, und welche eine Änderung im Wertsystem der Gesellschaft voraussetzen. Wir müssen dafür sorgen, dass rationale und nicht emotionale Kontrollmechanismen zur richtigen Zeit in der richtigen Weise betätigt werden. Eine verantwortungsbewusste Naturwissenschaft muss das Gewissen der Technologie sein. An dieser Verantwortung hat der Naturwissenschafter in ständiger kritischer und selbstkritischer Korrektur des Denkens und Handelns massgeblich mitzutragen.

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