reden.arpa-docs.ch Rektorats Reden © Prof. Schwinges
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Die Sozialökonomie als Sozialwissenschaft

Rektoratsrede von

Prof. Dr. Hermann Gottlieb Bieri

Bericht über das Studienjahr 1977/78 1. Oktober 1977 bis 30. September 1978 erstattet vom abtretenden Rektor Prof. Dr. Hermann Ringeling

Inhaltsverzeichnis
A. Rektoratsrede Prof. Dr. Hermann Gottlieb Bieri:
Die Sozialökonomie als Sozialwissenschaft 5
B. Bericht über das Studienjahr 1977/78
I. Rechenschaftsbericht des abtretenden Rektors,
Prof. Dr. Hermann Ringeling 17
lI. Tätigkeitsbericht 24
1. Chronologischer Rückblick auf das Studienjahr 1977/78 24
2. Berichte der Fakultäten 28
a) Evangelisch-theologische Fakultät 28
b) Christkatholisch-theologische Fakultät 29
c) Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät 29
d) Medizinische Fakultät 31
e) Veterinär-medizinische Fakultät 32
f) Philosophisch-historische Fakultät 33
g) Philosophisch-naturwissenschaftliche Fakultät 35
3. Sekundarlehramt 35
4. Centre du brevet d'enseignement secondaire 37
5. Institut für Leibeserziehung und Sport 38
6. Collegium generale 46
7. Kommission für kulturhistorische Vorlesungen 49
8. Kreditkommission 50
9. Forschungskommission des Schweizerischen Nationalfonds an der
Universität Bern 51
10. Baukommissionen 54
11. Besoldungskommission 55
12. Kommission für Bibliotheksfragen 55
13. Pressekommission 57

14. Kantonale Immatrikulationskommission . 59 15. Kommission zur Verwaltung der Kasse für studentische Zwecke 60 16. Kommission zur Verwaltung der Sozialkasse 61 17. International Neighbours der Universität Bern 62 III. Lehrkörper 63 1. Bestand 63 2. Lehrtätigkeit und Prüfungen 72 3. Gastvorlesungen und Vorträge von Berner Dozenten im Ausland 74 4. Ehrungen 89 VI. Studentenschaft 92 1. Bestand 92 2. Todesfälle 93 3. Statistik der letzten fünfzehn Jahre 94 4. Bericht des Vorstandes der Studentenschaft 95 5. Berner Studentenheim 96 6. Studentenlogierhäuser Tscharnergut und Fellergut 97 7. Studentenkinderkrippe 99 8. Evangelische Universitätsgemeinde (EUG) 99 9. Katholische Universitätsgemeinde (KUG) 101 V. Stipendien, Stiftungen, Forschungsbeiträge 102 1. Forschungsbeiträge des Schweizerischen Nationalfonds an Dozenten der Universität Bern 102 2. Stiftung zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung an der Universität Bern 102 3. Bernischer Hochschulverein 102 4. Bundes- und Austauschstipendien 103 5. Verschiedene Forschungsbeiträge 104 C. Ehrenpromotionen Dies academicus 1978 109 D. Weitere Ehrungen Dies academicus 1978 125 E. Preisaufgaben, Fakultäts- und Seminarpreise Dies academicus 1978 133

A. Die Sozialökonomie als Sozialwissenschaft

Rektoratsrede von Prof. Dr. Hermann Gottlieb Bieri

Die theoretische Sozialökonomie hat einen rein praktischen Ausgangspunkt. Es ging in erster Linie darum zu finden, mit welchen Mitteln man den Wohlstand eines Volkes fördern könne. Will man dies beantworten, muss man über zwei Fragen ins klare kommen:

1. Wie entsteht der Volkswohlstand?

2. Wie wird er unter den Angehörigen des Volkes verteilt? Die erste Frage gab Anlaß zur Theorie der Produktion, die zweite zur Theorie der Verteilung; denn der Wohlstand eines Volkes hängt nicht bloss von der Menge der verfügbaren Güter ab, sondern auch davon, wie diese unter den Angehörigen des Volkes verteilt sind. Offenbar macht es für den Volkswohlstand einen Unterschied, ob 1 %der Bevölkerung 90%des Sozialproduktes und 99%der Bevölkerung sich mit dem Rest des Sozialproduktes bescheiden müssen oder ob 99% der Bevölkerung 90% des Sozialproduktes erhalten.

Bald wurde aber klar, das den beiden obenerwähnten Hauptproblemen der Nationalökonomie (Produktion und Verteilung) ein einziges zugrunde liegt: die Theorie vom Tausch.

Die Produktion ist ja im Grunde genommen nichts anderes als ein Tausch. Wenn der Produzent Arbeiter beschäftigt, tauscht er Arbeitsstunden gegen Geld ein; wenn er Rohstoffe zur Produktion benötigt, tauscht er sich diese auf dem Markt ein. Genau dasselbe geschieht, wenn er ein Lokal mietet oder gegen Zinsen ein Darlehen aufnimmt.

Mit dieser Erklärung der Produktion als Tauschprozeß ist aber auch die Verteilung bestimmt. Mit seinem Lohn partizipiert der Arbeiter am Produktionsergebnis, genau gleich wie die Empfänger von Mieten, Zinsen und Unternehmergewinnen.

Die Tausch-beziehungsweise die Preistheorie wurde so zum zentralen Problem der theoretischen Nationalökonomie. Mit Hilfe der Preistheorie untersucht der Sozialökonom die spezifisch wirtschaftlichen Probleme. Die Preistheorie ist sein analytischer Apparat, mit dem er Fragen über die Gestaltung der Produktion, der Verteilung, des Geldwesens und der wirtschaftlichen Beziehungen zum Ausland zu durchleuchten versucht. Lange beschränkte sich die Volkswirtschaftslehre auf diese Gebiete.

Die Preistheorie, insbesondere die Theorie der Nachfrage, war jedoch nie ohne ganz spezifische Annahmen (Hypothesen) über das menschliche Verhalten entwickelt worden.

Gegründet auf diese Hypothesen versucht der Ökonom, die Erscheinungen der Wirklichkeit zu erklären und Voraussagen zu machen. Man kam so zu einer Reihe von empirisch überprüfbaren Aussagen und Prognosen und zu einer relativ guten Erklärung des ökonomischen Geschehens.

In den letzten Jahren traten die Okonomen mit ihrem analytischen Apparat an Fragen heran, die außerhalb der Sphäre des spezifisch Wirtschaftlichen liegen. Man versuchte mit Hilfe der Annahmen, die der Nationalökonom über das menschliche Verhalten macht, Fragen zu beantworten, die bisher von anderen Sozialwissenschaften behandelt wurden. So begannen Ökonomen mit ihrem analytischen Apparat Untersuchungen über Abtreibung, Prostitution, Ehescheidung und Kriminalität anzustellen. Es wurde versucht, das Verhalten des Staatsbeamten zu erklären, und auch vor praktischen Problemen wurde nicht haltgemacht. Man untersuchte Terrorismus und Aufruhr, das Verhalten des Stimmbürgers und durchleuchtete Institutionen wie die Universität mit dem Ziel, das Verhalten der Professoren und Studenten zu erfassen.

Wir haben oben erwähnt, das der Ökonom Hypothesen über das menschliche Verhalten aufstellt, aus denen er seine Schlüsse herleitet. Zu diesem Zweck hat er ein Menschenbild entwickelt, das wir uns näher anschauen müssen. Nur so sind wir in der Lage zu erfassen, was die Wirtschaftstheorie zur Lösung gesellschaftswissenschaftlicher Fragen beizutragen imstande ist.

Es war ein gewaltiger Fehler einer Reihe von Sozialökonomen, zu glauben, die theoretischen Erkenntnisse unserer Wissenschaft könnten aus dem Verhalten eines Idealtypus —dem sogenannten Homo oeconomicus —hergeleitet werden. Diese Karikatur eines menschlichen Wesens, dessen Tun und Lassen einzig dadurch bestimmt wird, das es versucht, einen möglichst hohen finanziellen Gewinn herauszuschinden, hat kein Gegenstück in der Wirklichkeit. Es wäre schlimm um die Volkswirtschaftslehre bestellt, wenn sie ihre Aussagen aufgrund eines Roboters, dessen einzige Motivation nur darin besteht, sein materielles Vermögen zu vermehren, herleiten müsste

Die Nationalökonomie war nie auf einen solchen Menschentyp angewiesen. Es ist auch bezeichnend, dass gerade die großen Sozialökonomen nie von dieser Konstruktion Gebrauch machten, sondern dass dieses Menschenbild unserem wissenschaftlichen Denken von einer theoriefeindlichen Ökonomie, der historischen Schule, unterschoben worden ist. Dabei war gerade der Menschentyp, den Adam Smith in seinen grundlegenden «Untersuchungen über die Natur und die Ursachen des Reichtums der Völker» vor 200 Jahren entworfen hatte, alles andere als ein Homo oeconomicus. Smith begründete damit die Nationalökonomie als Sozialwissenschaft, also einer Wissenschaft, die sich nicht allein auf wirtschaftliche Probleme konzentriert, sondern mit ihrem analytischen Apparat versucht, alle möglichen sozialen Erscheinungen zu durchleuchten und zu erklären.

Es ist das grosse Verdienst von William Meckling, das Menschenbild des Ökonomen meines Wissens zum ersten Male erschöpfend und explizit umschrieben zu haben. In seinem Beitrag «Values and the Choice of the Model of the Individual in the Social Sciences» 1 charakterisiert er die Menschentypen, die den verschiedenen Sozialwissenschaften (Soziologie, Psychologie, Anthropologie, Politologie) zugrunde liegen.

Wir wollen nun das Menschenbild des Okonomen etwas näher anschauen, denn nur das versetzt uns in die Lage zu erfassen, was die Wirtschaftstheorie zur Lösung sozialer Probleme beizutragen imstande ist.

1. Von jedem Menschen wird angenommen, das er ganz bestimmte Wertvorstellungen besitzt. Diese Werte nimmt der Ökonom als gegeben hin. Er spielt nicht den Moralisten. Ein Geizhals wird genau gleich behandelt wie ein Altruist. Diese Werte ordnet das Individuum. Es bringt sie in eine bestimmte Rangordnung, das heisst, es hat bestimmte Präferenzen. Auch diese Präferenzen werden als gegeben hingenommen. Außerdem wird angenommen, dass diese Präferenzen dem Gesetz der Transivität gehorchen. Das heißt, wenn ein Individuum A B vorzieht und B C vorzieht, so wird es auch A C vorziehen. Im Grunde genommen handelt es sich hier um nichts anderes als um das, was man oft als

rationales Verhalten bezeichnet hat. Empirische Untersuchungen haben gezeigt, das diesem Grundsatz der Transivität größtenteils nachgelebt wird. Entscheidend für das Verhalten unseres Menschentyps ist, dass er bereit ist, bestimmte Werte aufzugeben, um andere zu gewinnen, und zwar in allen Richtungen.

2. Das Individuum maximiert seine Werte. Es strebt einen Zustand des höchstmöglichen Wertniveaus an, das es unter den Einschränkungen, die ihm gesetzt sind, erreichen kann. Diese Einschränkungen bestehen darin, das die Güter, über die es verfügt, knapp sind, daß die Informationen, die es besitzt, unvollständig sind und die Beschaffung von Informationen Kosten verursacht.

Diese Eigenschaft führt uns auf die typisch ökonomische Betrachtungsweise. Der Mensch kann nie alle seine Wünsche befriedigen. Diese sind Restriktionen unterworfen. Wir leben nicht im Paradies. Wenn man einen Wunsch befriedigt, muss man dafür auf etwas anderes verzichten. Man muss unter verschiedenen Möglichkeiten eine Auswahl treffen. Um etwas zu erhalten, muss man also etwas opfern. Diese Opfer sind die Kosten im weitesten Sinne. Was dank diesen Opfern gewonnen wird, ist der Nutzen. Es ist nun gerade diese Betrachtung der Alternativen, dieser sogenannte Kosten-Nutzen-Vergleich, der das ökonomische Denken auszeichnet.

3. Die letzte Eigenschaft, die unseren Menschen auszeichnet, ist seine Gewandtheit, sich einer gegebenen beziehungsweise veränderten Situation anzupassen, neue Möglichkeiten zu nutzen und sogar neue Möglichkeiten zu schaffen. Zu dieser Eigenschaft gehört auch, das er aus der Vergangenheit lernt und seine Dispositionen im Zuge dieses Lernprozesses ändert und den gegebenen Umständen anpaßt. Unser Mensch reagiert auf Veränderung der Umwelt (Gesetzesänderungen, politische Veränderungen, ökonomische Ereignisse); er steht ihnen nicht passiv gegenüber.

Gerade diese Eigenschaft bietet der Wirtschaftstheorie und insbesondere der Wirtschaftsprognose erhebliche Schwierigkeiten.

Ihre Vernachlässigung hat zum Beispiel dazu geführt, das es Ökonomen und Politiker gab und leider auch heute noch gibt, die glauben, daß eine Aufblähung

des Geldvolumens ein einfaches Mittel sei, das Wirtschaftsgeschehen auf die Dauer zu beleben. Sie sehen sich vor die Wahl zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit gestellt. Dieser Abtausch von hoher Arbeitslosigkeit mit niedriger Inflationsrate kann aber auf die Dauer nicht bestehen, und zwar gerade wegen der Eigenschaft der Wirtschaftssubjekte, auf neue Situationen zu reagieren und aus der Erfahrung zu lehren. Die Tatsache, dass heute in vielen Ländern hohe Inflationsraten mit hohen Arbeitslosenzahlen einhergehen (die sogenannte Stagflation), läßt sich nur mit dieser dritten Eigenschaft der Wirtschaftssubjekte erklären, mit ihrer Gewandtheit, sich auf die Preissteigerung einzustellen, sie zu antizipieren und ihr Verhalten entsprechend zu ändern.

Es dürfte aus meinen Ausführungen klar hervorgehen, das mit Hilfe des oben gezeichneten Menschenbildes des Okonomen sich die Wirtschaftstheorie nicht allein auf die Erklärung des Marktgeschehens zu beschränken braucht. Die herkömmliche Klassifizierung der Sozialwissenschaften, wonach ein bestimmtes Gebiet einer Disziplin zugeordnet wird, verliert ihre Bedeutung. Viele Okonomen arbeiten heute mit ihren Methoden auf Gebieten, die früher der Soziologie, der Politologie oder der Psychologie vorbehalten blieben. Das Menschenbild, das diese Disziplinen ihren Betrachtungen zugrunde legen, unterscheidet sich grundsätzlich von demjenigen des Ökonomen. Es würde zu weit führen, hier näher auf die einzelnen Typen einzugehen. Hingegen sei mir eine kurze Betrachtung zu demjenigen des Soziologen gestattet, das meines Erachtens in der Entwicklung der Sozialwissenschaften eine verheerende Rolle gespielt hat und noch spielt. Der soziologische Typ des Menschen ist in erster Linie das Produkt seiner Umwelt. Sein Verhalten und seine Wertvorstellungen werden zur Hauptsache durch die herrschenden Sitten und Gebräuche geprägt. Im Gegensatz zum ökonomischen Typ bildet er sich seine Wertvorstellungen nicht selbst und setzt Prioritäten. Es fehlt ihm auch die Gewandtheit, sich neuen Gegebenheiten anzupassen und neue Möglichkeiten zu schaffen. Er ist nicht kreativ. Er spielt nur die ihm von der Gesellschaft zugedachte Rolle, er gestaltet sie nicht. Dieser Typus nimmt in der soziologischen Literatur marxistischer Prägung eine hervorragende Stelle ein. Ausgehend von der metaphysischen Vorstellung einer «gesellschaftlichen Totalität» wird das Verhalten des Menschen als ein Glied dieses mystischen Gebildes, das als Ganzheit über den Menschen

schwebt, hergeleitet. Dieses Ganze beziehungsweise die Gesellschaft bestimmt das Verhalten dieses Menschen.

Besonders kraß kommt dieser Unterschied in den Auffassungen bei der Erklärung der Kriminalität zum Ausdruck 2. Für den Soziologen ist der Kriminelle das Opfer seiner Umgebung, das heißt das Opfer der gesellschaftlichen Ordnung, in der er aufwächst. Nicht ihn trifft die Verantwortung für seine kriminelle Tätigkeit, sondern die Gesellschaft. Konsequenterweise ist es somit falsch, ihn zu bestrafen. Die Schuld liegt bei der Gesellschaft, sie sollte nach dieser Auffassung geändert werden. Extrem zu Ende gedacht, führt diese Auffassung dazu, dass man den Kriminellen vor der Gesellschaft zu schützen hat und nicht umgekehrt den harmlosen Bürger vor dem Übeltäter. Bezeichnend dafür ist auch die Haltung gewisser Vertreter des Strafrechts, die nur von dem armen Angeklagten reden, aber ja nie vom Opfer des Verbrechens.

Die ökonomische Auffassung der Kriminalität steht zu dieser Betrachtung in starkem Gegensatz. Sie nimmt an, das Kriminelle Menschen sind, die das Gesetz brechen, weil die Kosten ihrer kriminellen Tätigkeit im Verhältnis zum Nutzen, den sie daraus ziehen, geringer sind im Vergleich zu einer anderen Tätigkeit. Unter dieser Annahme wird selbstverständlich eine Änderung, die die Kosten der verbrecherischen Beschäftigung erhöhen, die Kriminalität vermindern. Mit andern Worten: eine Erhöhung der Gefahr, erwischt zu werden (stärkere und bessere Polizeiüberwachung), oder härtere Strafen und unbequemere Gefängnisse müssten sich in einem Rückgang der Verbrechen ausdrücken.

Wir haben hier zwei Auffassungen (Hypothesen), die die Häufigkeit beziehungsweise Änderung in der Häufigkeit von Verbrechen zu erklären versuchen: die soziologische Erklärung, die vom großen Teil der modernen Kriminologen vertreten wird, und die ökonomische Erklärung, die mehr der populären Auffassung entspricht. Es wäre müssig, darüber zu streiten und a priori entscheiden zu wollen, welche der beiden Hypothesen den Vorzug verdient. Darüber können allein empirische Untersuchungen Aufschluss geben.

Aber gerade hier hat sich in letzter Zeit gezeigt, das die ökonomische Interpretation viel besser abschneidet. In dem obenerwähnten Buch von McKenzie und

Tullock wird dargelegt, auf welch schwachen Füßen die empirischen Untersuchungen der Soziologen und Kriminologen stehen. Die zum grössten Teil mit den modernen Techniken der mathematischen Statistik durchgeführten Untersuchungen bestätigen weitgehend die ökonomische Interpretation und insbesondere die abschreckende Wirkung der Strafe.

Ein weiteres Forschungsgebiet, das sich dem Okonomen dank der Auffassung des Menschen als wertendes, maximierendes und gewandtes Wesen auftat, ist das Studium des Verhaltens von Individuen in administrativen Organisationen grosser Aktiengesellschaften oder des Staates. Das Verhalten des Einzelunternehmers, auf das die konventionelle Wirtschaftstheorie ihre Aussage gründet, ist klar. Ein Einzelunternehmer, der seine Mittel nicht effizient einsetzt, wird durch den Markt verdrängt. Er ist somit gezwungen, den Gewinn zu maximieren. Bei grossen Aktiengesellschaften dagegen, bei denen die Aktien auf viele Teilhaber, die nicht in der Gesellschaft mitarbeiten, aufgeteilt sind, stellt sich die Frage, wie die Unternehmungsleitung überwacht werden soll. Die Kosten der Überwachung sind zu einem guten Teil eine Funktion der Größe des Betriebes. Sie dürften mit zunehmender Grösse progressiv ansteigen. Infolge der Existenz solcher Überwachungskosten ist die Kontrolle des Managements nie vollständig. Die Leiter der Unternehmung erhalten dadurch die Möglichkeit, in einem bestimmten Umfang nach eigenem Gutdünken zu handeln. Sie werden deshalb nicht nur den Gewinn ihrer Unternehmung maximieren, sondern auch ihren eigenen Nutzen. Das heißt, sie können neben den Gewinnmaximierung zusätzlichen Nutzen in der Form von nichtpekuniärem Einkommen erwerben. Ich denke hier an kostspielige Arbeitsräume, hübsche Sekretärinnen und aufwendige Geschäftsreisen auf Kosten des Betriebes. Diesen Ansatz können wir auch für die Erklärung des Verhaltens eines Staatsbeamten anwenden. Den Nutzen, den dieser aus seiner Aktivität ableitet, besteht neben seinem Gehalt in einer Reihe anderer Vorteile wie:

— die Sicherheit des Arbeitsplatzes,

— Prestige in den verschiedensten Formen,

— Konfliktminimierung.

Einen Teil dieser Werte kann der Beamte nur schwer oder kaum verändern. So ist zum Beispiel sein Gehalt reglementiert. Die Sicherheit des Arbeitsplatzes ist

mehr oder weniger garantiert. Der Beamte wird deshalb versuchen, die Vorteile zu vergrössern, die seiner Beeinflussung unterliegen, also Prestige und Konfliktminimierung.

Sein Prestige hängt nicht unwesentlich von der Zahl seiner Mitarbeiter ab, über die er verfügen kann. Er wird daher versuchen, diese Zahl zu erhöhen, indem er neue Aufgaben schafft. Er wird danach trachten, seinen Arbeitsraum sowie die Büros seiner Mitarbeiter möglichst aufwendig (in der Fachsprache heisst das möglichst funktionell) zu gestalten. Er wird sich auch bemühen, seine Aufgaben so zu erfüllen, daß Konflikte, wenn nicht vermieden, so doch minimiert werden. Gelingt ihm das, bedeutet das für ihn so viel wie die Erhöhung seines Nutzens. Aus diesem Grunde schafft er sich so wenig neue Probleme wie möglich und ist versucht, Konfliktsituationen dadurch zu entgehen, das er Angelegenheiten, die gelöst werden sollten, so lange wie möglich aufschiebt. Gelingt das nicht mehr, so wird häufig zur Gründung einer Kommission geschritten, die sich der noch offenen Angelegenheit annehmen soll. Auf diese Weise kann die Lösung des Geschäftes weiter hinausgezögert, der Konflikt dagegen stark vermindert werden; denn es ist jetzt ja etwas geschehen, ohne dass allerdings etwas passiert. Außerdem bedeutet die Konstituierung einer solchen Kommission für den Beamten eine ausgezeichnete Gelegenheit, sein Prestige und damit seinen Nutzen zu vergrößern. Als Vorsitzender der Kommission oder als entscheidender Mitbeteiligter an den Kommissionsarbeiten kann er sich nicht nur bei seinen vorgesetzten Stellen ins Licht rücken, sondern auch bei einem weiteren Publikum, das sieht, dass etwas geschieht, und zudem naiv glaubt, es passiere etwas.

Sehr nahe verwandt mit diesem Forschungsgebiet ist eine Erscheinung, die die Ökonomen in letzter Zeit in verstärktem Masse beschäftigt: die ständige Zunahme der Regierungstätigkeit. Diese spiegelt sich in erster Linie in den stetig zunehmenden Regierungsausgaben wider. Wohl erklären die stark gestiegenen Kosten für die Landesverteidigung einen Teil dieser Zunahme, aber nur einen Teil, denn der Umfang im Wachstum der nichtmilitärischen Ausgaben zeigt ebenfalls ein enormes Ansteigen. Wie fruchtbar sich ebenfalls hier die ökonomische Auffassung des Menschen für eine wissenschaftliche Erklärung erweist, wurde von Karl Brunner in seinem Grundsatzreferat an der Jahresversammlung

der Schweizerischen Gesellschaft für Statistik und Volkswirtschaft demonstriert 2

Auch zur Erklärung der Auswirkungen gesetzlicher Reglementierungen aller Art eignet sich das ökonomische Modell des Menschen vorzüglich. Gerade die oben gekennzeichnete dritte Eigenschaft des Menschen, seine Gewandtheit, auf Änderungen zu reagieren, führt oft zu unerwünschten Nebenerscheinungen, die vom Gesetzgeber nicht beabsichtigt waren.

Ein gutes Beispiel dafür bildet die Wuchergesetzgebung. In fast allen Ländern finden wir Zinssatzbeschränkungen im Leihgeschäft. Besonders für die Darlehen von Kleinkreditinstituten werden Maximalsätze vorgeschrieben. Ein Überschreiten dieser Ansätze ist strafbar.

Solange auf dem Kreditmarkt die Angebots- und Nachfrageverhältnisse so sind, daß der Zinssatz unter der maximal vorgeschriebenen Höhe bleibt, ist das Gesetz wirkungslos. Sobald aber die Marktverhältnisse einen Zinssatz bedingen, der über dem gesetzlichen Höchstsatz liegt, wirken sich die gesetzlichen Bestimmungen aus. Bei diesem Satz übersteigt die nachgefragte Kreditmenge die angebotene. Der Zinssatz erfüllt seine Funktion, die Nachfrage auf die knappen Mittel zu beschränken, nicht mehr. Der Kreditgeber wird deshalb zu andern Massnahmen gezwungen sein, um das knappe Angebot mit der Nachfrage in Übereinstimmung zu bringen. Das Naheliegendste wird sein, dass er auf die riskanteren Kreditgeschäfte verzichtet. Riskant sind aber vorab die Kredite an Personen mit niedrigen Einkommen. Die niedrigen Einkommensschichten werden dadurch zugunsten der Empfänger höherer Einkommen benachteiligt. Diese profitieren somit von einem Zinssatz, der niedriger ist, als er ohne das Bestehen von Maximalzinssätzen wäre. Offenbar wird mit einer solchen Maßnahme gerade das angestrebte Ziel, den Schwachen vor dem Stärkeren zu schützen, nicht erreicht.

Ein weiteres Beispiel, wie der Ökonom mit seiner Analyse gesellschaftliche Probleme behandelt, ist die Schwangerschaftsunterbrechung, die in vielen Ländern

eine strafbare Handlung ist. Wir wollen einmal die Frage stellen, welcher Unterschied bestünde, wenn dem nicht so wäre.

Ein Arzt, der einen illegalen Eingriff vornimmt, sieht sich schweren Sanktionen gegenüber. Er riskiert den Verlust seiner Praxis, ja es droht ihm unter Umständen sogar eine Freiheitsstrafe. Die Kosten sind somit hoch. Er wird deshalb ein solches Risiko nur eingehen, wenn er dafür entsprechend entschädigt wird, mit anderen Worten, das Angebot an Eingriffen nimmt mit steigendem Honorar zu. Jeder Konsument in der Wirtschaft muss sich über das bestehende Angebot informieren. Diese Information ist jedoch nicht gratis, sie verursacht Kosten. Das gilt auch für die Schwangerschaftsunterbrechung. Die Illegalität solcher Eingriffe erhöht diese Informationskosten wesentlich, weil der Arzt für seine Tätigkeit nicht öffentlich Propaganda machen kann.

Wäre dagegen die Schwangerschaftsunterbrechung legal, so wären diese Kosten der Information gering. Die obenerwähnten Risiken des Arztes bestünden nicht und müßten deshalb nicht in seinem Honorar Niederschlag finden. Diese Preisgestaltung wirkt sich selbstverständlich auf die Nachfrage nach Schwangerschaftsunterbrechungen aus. Im Falle der Illegalität der Abtreibung wird eine Reihe von Frauen, die einen Eingriff vornehmen lassen möchten, sich keinen Arzt leisten können. Sie sehen sich gezwungen, darauf zu verzichten oder die Unterbrechung von einem Laien durchführen zu lassen. Das Risiko, an der Gesundheit Schaden zu nehmen, ist groß. Die Illegalität der Abtreibung bevorzugt somit den Reichen gegenüber dem Armen. Sie erklärt auch bis zu einem gewissen Grade die Tatsache, das arme Familien kinderreicher sind als reiche.

Ich habe versucht aufzuzeigen, wie die ökonomische Interpretation des menschlichen Verhaltens in den letzten Jahren zu einer Ausweitung der Untersuchungsgebiete geführt hat, die der Ökonom mit seinem analytischen Apparat zu bewältigen versucht. Diese Ausweitung ist nicht zuletzt auch eine Reaktion auf die Entwicklung, welche die ökonomische Theorie erfahren hat. Die konventionelle Theorie vernachlässigte immer die Behandlung gesellschaftlich drängender Probleme. Sie erschöpfte sich in der Konstruktion ausgeklügelter Modelle und künstlich geschaffener Probleme und entfernte sich damit immer mehr von der Realität, um in intellektuelle und mathematische Spiele auszuarten.

Es ist deshalb nicht zum Verwundern, das viele junge Studenten der Sozialwissenschaften mit dem Marxismus sympathisieren und durch die Ideen eines Marcuse angezogen werden. Hier werden wenigstens soziale Probleme erörtert. Obgleich die sogenannte radikale Ökonomie keine Theorie anbieten kann, sondern sich in Schlagworten über das Verhältnis zwischen Macht und Verteilung erschöpft, findet sie Anhänger. Mir ist nicht ein einziger Beitrag der Anhänger der Ökonomie der neuen Linken bekannt, der wissenschaftlich ernst zu nehmen wäre. Ihre Kritik der sogenannten bürgerlichen Nationalökonomie beziehungsweise der Ökonomie des Establishments offenbart in der Regel eine beschämende Unvertrautheit mit dem Gedankengut der ökonomischen Theorie. Sie hatte nur etwas Gutes, das sich die Ökonomie wieder darauf besann, dass sie eine Sozialwissenschaft ist, die zu sozialen und politischen Problemen Stellung zu nehmen hat. Es entstand die neue Politische Ökonomie, die den analytischen Apparat der modernen Theorie benutzt, um soziale Probleme zu diskutieren.

Meine Ausführungen könnten den Anschein erwecken, daß die Nationalökonomie in der Lage sei, fixfertige Rezepte für die Gestaltung der sozialen Ordnung zu liefern. Eine solche «ökonokratische» Interpretation meiner Ausführungen wäre jedoch verfehlt. Der Ökonom kann nur alternative Lösungen anbieten und aufzeigen, zu was für Konsequenzen verschiedene Massnahmen führen. Ob man diese Konsequenzen will, ist eine Frage, die der Nationalökonom nicht entscheiden kann. Er beschäftigt sich nicht mit Wertungen.

Es wäre zum Beispiel falsch, aus dem obenerwähnten Beispiel zur Schwangerschaftsunterbrechung herauszulesen, daß es richtig wäre, diese freizugeben. Es wurden lediglich bestimmte Konsequenzen einer entsprechenden Gesetzgebung aufgezeigt. Wie man diese Konsequenzen bewertet, ist eine andere Frage. Auch wenn man es nicht gerne sieht, dass der Reiche gegenüber dem Armen begünstigt wird, nimmt man dies unter Umständen in Kauf, weil man aus ethischen oder religiösen Gründen gegen eine Schwangerschaftsunterbrechung ist. Man kann auch für eine Begrenzung der Zinssätze eintreten, wenn man findet, es sei gut, dass die Kreditaufnahme zu Konsumzwecken durch Leute mit niedrigem Einkommen soweit wie möglich zurückgebunden wird. Ja selbst wenn man anerkennt, dass eine eindeutige Abhängigkeit zwischen der Höhe

der Strafe und der Häufigkeit von Verbrechen besteht, kann man gegen eine Strafe sein.

Die Wirtschaftstheorie zeigt uns nur, wie alternative Arrangements funktionieren und zu welchen Konsequenzen sie führen. Diese Konsequenzen der Alternativen zu beurteilen ist nicht ihre Sache, sondern die eines jeden Einzelnen aufgrund seines ethischen Wertsystems.