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Die universitäre Einheit von Lehre und Forschung

Unsere Universität wurde vor knapp 150 Jahren auf dem Fundament des Bildungsgedankens Wilhelm von Humboldts gegründet. Sie ist die Nachfolgerin der geistlichen Stiftsschule Zwinglis, des «Carolinums», welche während dreier Jahrhunderte für die geistige Bildung der Zürcher verantwortlich war. Die Reformation des Bildungswesens in Deutschland als Folge einer idealistisch orientierten Philosophie und eines Vernunftsoptimismus der Aufklärung war auch in die Schweiz und in unsere Stadt gedrungen. Die neue Form einer höchsten Bildung der heranwachsenden Jugend erwies sich bald als erfolgreich und führte in Europa zu einem ungeahnten Fortschritt an Wissen, technischem Können, zivilisatorischen Leistungen und Kultur, der trotz verschiedener politischer Krisen, blutiger Kriege, ideologischer und religiöser Kämpfe auch in die übrige Welt ausstrahlte und zur Grundlage vieler anderer Hochschulen wurde. Die Humboldtsche Philosophie der Bildung hat damit unzweifelhaft einen gewaltigen Aufschwung unserer Gesellschaft ermöglicht und diese dem humanistischen Idealbild näher gebracht. Aber sie hat trotz aller Warnungen und aufklärenden Bestrebungen die schweren Konflikte nicht verhindern können und damit nicht zu einem besseren Menschenbild geführt.

Wenn wir nun heute um uns blicken von einer Universität aus, welche wieder ein Jahr erfolgreicher Ausbildung und Forschung in Ruhe hinter sich bringen durfte, so stellen wir fest, dass sich nicht nur im politischen Weltbild vieles verändert hat, sondern auch in den Zielen und Leitgedanken der universitären Ausbildung. Glücklicherweise sind wir von den schweren Erschütterungen und Unruhen verschiedener Schwesteruniversitäten und Hochschulen des Auslandes verschont

geblieben. Einige Wellen haben uns allerdings anfangs der siebziger Jahre erreicht. Doch wurden sie durch ruhiges, überlegtes Handeln der Hochschulbehörden und Dozenten, durch offene Aussprache mit den Studierenden und durch konstruktive Verbesserungen im Universitätsbetrieb überwunden, so dass bei uns die Möglichkeiten einer fachlich hervorragenden Ausbildung mit einer humanistischen Allgemeinbildung für jeden aktiven jungen Menschen voll erhalten sind. Diese Stabilität in der Grundhaltung und das Bestehen auf einer kritischen, neutralen und trotzdem engagierten Vermittlung des modernen Wissensstoffes haben ein gleichbleibendes hohes Niveau der Ausbildung ermöglicht. Sonst wäre es uns vielleicht so ergangen wie anderen Universitäten, die allen politischen Druckversuchen und Störungen von aussen her teils kritiklos, teils opportunistisch nachgegeben haben, nicht im Sinne einer besseren Ausbildung, sondern um sich an ideologische Machtverhältnisse anzupassen. Die Folgen waren schwere Verluste an geistiger Substanz, innerer Stärke, Ruhe und Kollegialität. So wurden die Möglichkeiten, die Wahrheit und Erkenntnis eines Wissensgebietes frei an die Jugend weiterzuvermitteln, stark eingeschränkt.

Gegenwärtige Probleme

Die in vielem bevorzugte Lage unserer Universität hat sogar bewirkt, dass sich immer mehr Studenten und auch Dozenten hierher wenden, um an unserem Bildungsprozess teilzunehmen. Das bedeutet nicht nur eine Ehre für die Schule und ihre Dozenten, sondern auch eine Bestätigung ihrer Lehrziele, besonders wenn wir bedenken, dass es sich um eine grosse Zahl von Auswärtigen und Tausende von Ausländern handelt, welche ihr Studium oder ihre wissenschaftliche Arbeit bei uns ausüben wollen. Anderseits entsteht daraus aber auch eine steigende Gefahr, nämlich die der zunehmenden Grösse unserer Bildungsstätte, der Vermassung einer rasch wachsenden Organisation, der Anonymität der Angehörigen untereinander, insbesondere zwischen Dozenten und Studenten. So wird der Lehrbetrieb ernstlich erschwert und der Lehrerfolg in Frage gestellt. Bedroht werden zunehmend die hohen Allgemeinziele der Hochschulbildung und die Erhaltung einer entsprechenden Qualität. Angesichts dieser bedrohlichen Aussichten und des zunehmenden Druckes der Öffentlichkeit in bezug auf finanzielle und politische Folgen eines weiteren Wachstums der Universität müssen wir uns heute vor allem überlegen, ob die Grundlage unserer Bildungsphilosophie noch zeitgemäss ist oder ob wir unsere Ausbildungsziele neu formulieren müssen, um sie den veränderten Ansprüchen einer neuen Gesellschaftsform anzupassen und so die kommenden Schwierigkeiten zu überwinden. Es scheint vielen der an der Hochschule tätigen Dozenten nicht die optimale Lösung zu sein, mit vermehrtem finanziellem Aufwand einen Ausbau in der alten Weise fortzusetzen, ohne gleichzeitig strukturelle Verbesserungen für das Studium der einzelnen

Fachrichtungen vorzunehmen. Obwohl wir dauernd von Studienreformen, von einem modernen, auf zeitgemässe Probleme bezogenen Unterricht, von einer intensiven, anspruchsvollen Bildung der Akademiker als Führer der Gesellschaft sprechen, ist relativ wenig Neues, Reformierendes geschehen. Wir drohen sogar in der zunehmenden Menge des Lehrstoffes unterzugehen und ihn nicht mehr an die steigende Zahl der Studenten vermitteln zu können. Es gibt genügend Universitäten in den Nachbarstaaten, die bereits seit Jahren nicht mehr normal funktionstüchtig sind und diese überwältigenden Schwierigkeiten mit allen möglichen Massnahmen, vom praktisch freien, unkontrollierten Zugang zur Hochschule bis zum strengen Numerus clausus, überwinden wollen. Uns erscheinen diese Vorkehrungen jedoch problematisch, auf die Dauer unwirksam und für viele junge Menschen ungerecht und diskriminierend. Wir stellen demgegenüber fest, dass die hervorragenden Universitäten und Technischen Hochschulen in den Vereinigten Staaten, die ihr Niveau erhalten konnten, eine viel strengere Auswahl ihrer Dozenten wie auch der Studenten durchführen und damit die Qualität der Ausbildung vor die Quantität der Ausgebildeten setzen.

Ich werde Ihnen heute sicher keinen fertigen Vorschlag für eine Zürcher Reform machen können, der uns für das nächste Jahrzehnt die Erfüllung unserer Aufgabe, nämlich die Ausbildung eines hochqualifizierten akademischen Nachwuchses, garantiert. Doch scheinen mir drei Aspekte von besonderer Wichtigkeit zu sein, die auch vom deutlichen Wandel vieler akademischer Berufe in den letzten Jahrzehnten beeinflusst wurden: 1. Sind unsere Ausbildungsziele wirklich so gut definiert und in die Zukunft gerichtet, dass unser Studienprogramm sie erreichen kann? 2. Ist das Auswahlverfahren der Studenten wirklich geeignet, ihre Befähigung und Motivation für einen bestimmten Beruf festzustellen, und 3. sind die charakterlichen Voraussetzungen so passend, dass wir einen Erfolg für die Ausbildung und den Beruf annehmen dürfen? Die hohe Quote nicht bestandener Examen in den ersten Studienjahren, häufiger Wechsel der Studienrichtung in den ersten Semestern, Verstimmung und Unzufriedenheit bei Dozenten und Studenten zeigen, dass wir in dieser Beziehung zuwenig Voraussetzungen für ein erfolgreiches Studium erfüllen und wohl am besten an diesen Punkten mit Reformen beginnen müssen, bevor die Universität zu einer höheren Stufe einer Mittelschule abgewertet wird.

Integration von Lehre und Forschung

In einem wichtigen Punkt unterscheidet sich die Universität oder Hochschule klar von der vorausgehenden Mittelschule, dem Technikum oder dem College. Sie hat den eindeutigen Auftrag, Forschung zu betreiben und so immer in der vordersten Front einer Wissenschaft zu bleiben. Sie nimmt damit Einfluss auf die Gestaltung

der zukünftigen Gesellschaft, ihre Kultur und ihre Lebensweise. Sie versucht, den Menschen zu einer harmonischen und friedlichen Entwicklung zu verhelfen, sie vor Gefahren zu warnen, Dekadenz zu verhindern und den geistigen Fortschritt zu fördern. Diese grossen Aufgaben können nicht allein durch Publikationen von brillanten Forschungsergebnissen gelöst werden. Es scheint viel wesentlicher zu sein, mit der jungen Generation von Akademikern und den Studenten neue Erkenntnisse zu diskutieren und sie gleichzeitig durch die Lehre zu vermitteln und wirken zu lassen. Damit wird die Lehre auch zukunftsorientiert, indem die Forschung sich mit ungelösten, das heisst erforschbaren Problemen beschäftigt, die dem aktuellen Wissensstand immer einen Schritt vorauseilen.

Glücklicherweise gilt für unsere schweizerischen Hochschulen der Grundsatz, dass Lehre und Forschung eine Einheit darstellen. Bis ins 19.Jahrhundert waren die Universitäten vornehmlich Lehrinstitute, verantwortlich für die Ausbildung der höheren geistigen Berufe, also der Geistlichen, der Lehrer, der Juristen und der Ärzte. Forschungsaufgaben wurden von anderen Institutionen übernommen, vor allem von Akademien, die vom Adel und den Fürstenhäusern Unterstützung erhielten. Heute sind es neben den Universitäten auch die Ingenieursschulen und die Technischen Hochschulen, welche ergänzend zu ihrer Hauptaufgabe, der Ausbildung von Ingenieuren, ihre Interessensgebiete erweitern und neue Gebiete wie Biologie, Geisteswissenschaften, Geschichte und Philosophie lehr- und forschungsmässig betreiben. Die Integration verschiedenster Wissensgebiete an einer Schule zur Förderung der gemeinsamen Bildungspotenz entspricht hier ganz dem Leitgedanken Humboldts von der Einheit der Wissenschaft. Wenn auch im 19.Jahrhundert die philosophischen Wissenschaften einen deutlichen Vorrang vor den anderen Fakultäten besassen, so ist dieser durch die rasche Entwicklung der naturwissenschaftlichen Fachgebiete und der Medizin längst eingeholt und durch äussere Ereignisse, vor allem durch politische, wie die grossen Kriege, sogar umgekehrt worden. Wir alle spüren, dass heute ein Ungleichgewicht besteht, bei dem die naturwissenschaftlichen und technischen Errungenschaften die philosophischen, geschichtlichen, religiösen Erkenntnisse in ihrer Anwendungsbreite weit übertreffen. Es fehlt für vieles, was wir als technisch-wissenschaftlichen Fortschritt bezeichnen und verwenden, die Lebensweisheit für einen sinnvollen Gebrauch. Gerade die Hochschule ist berufen, mit Hilfe ihrer integrierten Lehr- und Forschungstätigkeit vieler Wissenschaftszweige dieses Gleichgewicht wiederherzustellen und die Basis für eine konstruktive Diskussion zu ermöglichen. ((Die im allgemeinen friedliche Koexistenz der Wissenschaften, Fakultäten, Hochschulen beruht nicht mehr auf Einheit der Substanz (der Objekte), sondern auf der ungefähren Identität der Rolle in der Gesellschaft, und ideell darin, dass wir alle im Prozess der Forschung und der Lehre stehen» (Karl Schmid). Verschiedene gemeinsame Veranstaltungen der beiden Zürcher Hochschulen zeigen deutlich den Nutzen einer interdisziplinären Beschäftigung mit

hochaktuellen Problemen, zum Beispiel des Energiebedarfes, Wachstums der Bevölkerung, der medizinischen Technik und Lebenserhaltung und der Euthanasie.

Einheit der Wissenschaft

Der Grundsatz der Einheit der Wissenschaft steht dem Bildungsprinzip der Fachschule entgegen. Die einseitige Übermittlung von Fachwissen und Fachkönnen wäre wohl heute die ökonomischste Art, gute Spezialisten auszubilden. Aber es würde dann neben aller Fachkenntnis der geistige Horizont für den sinnvollen Einsatz neuer Entwicklungen, ein Gesamtüberblick, eine geistige Vertiefung der Tätigkeit fehlen. ((Der exakte Naturwissenschaftler, der auf die wertfreie Steigerung der Erkenntnismöglichkeiten eingeschworen ist — immer genauer, immer kleiner, immer grösser—, kann durch eine eklatante Blindheit gegenüber der Sinnfrage ausgezeichnet sein» (Karl Schmid). Man spricht nicht zu Unrecht im Volk vom Fachidioten, der nur gerade sein enges Fachgebiet kennt und ausübt. So kann es zum Beispiel in der Medizin verhängnisvoll sein, wenn der hochspezialisierte Arzt sich nur noch um ein bestimmtes Organ kümmert und den gesamten Menschen, vor allem seine Psyche, vergisst. Wir wollen und dürfen an unserer Universität, an unseren Fakultäten und Instituten nicht eine solche Spezialisierung in der Ausbildung der Studenten betreiben. Um wichtige Impulse für allgemeine Erkenntnisse und Beziehungen zu anderen Wissensgebieten zu geben, sollte die Vorlesung eines Hochschuldozenten immer wieder Hinweise auf die Geschichte, die Kultur, das allgemeine Weltbild und Probleme des heutigen Lebens enthalten. Fachwissen allein kann durch viele hervorragende Fachbücher erreicht werden —aber die Vermittlung der Beziehung zur umgebenden Welt mit ihren aktuellen Problemen ist die Aufgabe des Dozenten.

Gestaltung der akademischen Ausbildung

Eine sorgfältige allgemeine Grundausbildung wird heute für viele Akademiker auch deshalb besonders wichtig, weil sie bei den rasch wechselnden Anstellungsmöglichkeiten der Wirtschaft und der Industrie sowie der verminderten Finanzkraft des Staates im Bildungs- und Gesundheitswesen nicht mehr mit Sicherheit auf eine gute Stelle in ihrem engen Fachbereich hoffen dürfen. Sie müssen daher geistig flexibel und aufgrund ihrer Ausbildung so anpassungsfähig sein, dass sie auch auf anderen Gebieten erfolgreich tätig sein können. Die universitäre Ausbildung muss deshalb die Denkfähigkeit, die Phantasie zur Entwicklung neuer origineller Lösungen und die Technik der Informationsbeschaffung aus

Büchern, Zeitschriften, Presseartikeln, Vorlesungen, Kolloquien usw. fördern. «Dass alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel» (Immanuel Kant).

Eine selbständige Forschertätigkeit ist den Studenten nicht zuzumuten. Auch aus räumlichen und finanziellen Gründen wäre es nicht möglich, Forschungsarbeit von allen Studenten zu verlangen; mit der Doktorarbeit werden sie genügend motiviert, an der Forschung direkt teilzunehmen. Sofern sie während des Studiums mit den vielen anderen Pflichten (Militärdienst, Vertretungen, praktische Ausbildung) überhaupt Zeit finden, können einige besonders begabte Studenten während ein bis zwei «Luxussemestern» an gemeinsamen Forschungsprojekten mitarbeiten. Wichtig ist in dieser Hinsicht vor allem, das Interesse für die Forschung und die Entdeckung von neuen Zusammenhängen zu erwecken, welche auch die spätere Berufstätigkeit begleiten und stimulieren sollen. Junge Menschen haben häufig besonders originelle Ideen, deren seriöse Überprüfung zu neuen Einsichten führen kann. Aus diesem Grund sollten unsere Vorlesungen immer von Kolloquien in kleinen Gruppen gefolgt oder begleitet sein, da Diskussionen bei grossen Zuhörerzahlen nicht zu bewältigen sind. Der fruchtbarste Teil eines Unterrichtes ist wohl das persönliche Gespräch, das wir heute ja nur noch mit wenigen Studenten gelegentlich führen können. Nur in den Instituten, Seminaren, auf Exkursionen oder bei gesellschaftlichen Anlässen kann ein Kontakt mit Interessierten erfolgen; sonst bleiben die Studenten anonym, ohne persönliche Identifikation oft bis zum Examen, also bis zu einer wohl eher gespannten Begegnung. Auch diese kann ausbleiben, wenn die Examina schriftlich, zum Beispiel nach dem neuen System des multiple choice, durchgeführt werden. Diese Entwicklung, auch eine Folge der grossen Studentenzahlen, ist wie jede Vermassung zu bedauern. Es bestehen wohl Pläne zur Aufteilung in Unterrichtsgruppen, doch ist die Durchführung an die Dozentenzahl, die Unterrichtsräume, das Unterrichtsobjekt, aus ethischen Gründen zum Beispiel die Patienten der Kliniken, gebunden. Hier braucht es viel Organisationstalent und Initiative der Studienplaner in den Fakultäten, um mit beschränkten Mitteln diesen Anforderungen gerecht zu werden. Es erscheint mir bemerkenswert, wenn dies bis heute in einigen besonders überfüllten Fachgebieten ohne Numerus clausus möglich war. Ich bin überzeugt, dass sich die Fakultäten auch in den kommenden kritischen Jahren anstrengen werden, strukturelle Veränderungen in den Studienplänen zu schaffen, die ein Studium ohne Qualitätsverlust für alle geeigneten Studenten ermöglichen werden. Diese Anstrengung sind wir unserem Auftraggeber, dem Zürcher Volk und im weiteren Sinne auch den umgebenden Nichthochschul-Kantonen, schuldig.

Eine weitere Voraussetzung für unsere Tätigkeit in Lehre und Forschung ist die kritische Objektivität, frei von jedem parteipolitischen Einfluss oder jeder ideologischen

Strömung, tolerant allen Religionen, Philosophien und Rassen gegenüber. Nur wer frei von allen Vorurteilen ist, kann die Wahrheit suchen, sie erforschen und der Jugend weitergeben.

«Die Wahrheit wird euch frei machen» —ein Bibelwort, welches ganz besonders für die Universität und ihre Ziele passt. Forschung ohne Neutralität, Freiheit und Kritik ist zum Scheitern verurteilt. Dafür gibt es genügend Beispiele aus den Geisteswissenschaften, den modernen Naturwissenschaften und der Biologie bis in die jüngste Zeit. Ideologisch gesteuerte Forschung dient höchstens der Manipulation von Regierungen und Völkern, nicht aber der Ausbildung der Jugend für eine friedliche Zukunft. Deshalb ist bei uns jede Diskussion, jede Kritik über ein definiertes Problem in einem der Fachgebiete erwünscht und bildungsmässig interessant, sofern sie in einer sachlichen und vorurteilsfreien Form, bei gegenseitiger Achtung und Kollegialität geführt wird. Wir sind vor allem für neue Ideen offen und dankbar, welche die Bildungsmöglichkeiten verbessern und sich auch verwirklichen lassen. Wir wehren uns jedoch gegen eine Verschulung, welche nur noch Lehr-Meinungen und Dogmen anderer Fachspezialisten übernimmt, ohne eine fruchtbare und anregende Synthese mit den neuen Ideen der aktuellen Forschung zu erlauben.

Aufgabe der Mittelschulen

Unsere Mittelschulen sollen die Voraussetzungen dafür durch eine breite humanistische Bildung schaffen. Humboldt sagt darüber: «Im Mittelpunkt aller besonderen Arten der Thätigkeit nemlich steht der Mensch, der ohne alle, auf irgend etwas Einzelnes gerichtete Absicht, nur die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen, seinem Wesen Werth und Dauer verschaffen will.»

Verstehenlernen umfasst nicht nur die Kenntnis der Ursachen für das Geschehen in der Natur und in der Gesellschaft. Es darf nicht allein der Intellekt geschult werden, um zu verhindern, dass der Mensch seine Umgebung technisch erfolgreich manipulieren kann. Verstehen soll nach Dilthey auch ein beglückendes Aneignen neuer Erkenntnisse sein, an welchem das Fühlen beteiligt ist. Die emotionale Zuwendung zum Lehrgegenstand verlangt dabei auch ein ethisches Einverständnis, wodurch die Bildungsmotivation bedeutend verstärkt wird.

Wenn während der Gründungszeit der Humboldtschen Gymnasien vor allem Kultur und Sprache der Griechen und Römer, später die Werke der deutschen Klassiker für die humanistische Bildung massgebend waren, sind heute in neuen Schultypen an ihre Stelle die grossartigen Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften und der Biologie getreten, welche durch ihre Aktualität und direkte

Beziehung zum Leben besonderes Interesse erwecken. Es sollte aber auch heute neben diesen Fächern eine ernsthafte Auseinandersetzung mit historischem, philosophischem und kulturellem Gedankengut erfolgen, um eine notwendige Grundbildung zu gewährleisten. In diesem Sinn sollte dem Studium generale schon in der Mittelschule grössere Bedeutung beigemessen werden, da zu diesem Zeitpunkt die Aufnahmefähigkeit der Jugendlichen am grössten ist. Eine Spezialistenausbildung, die schon in der Mittelschule einsetzt, wie sie zum Beispiel die neuen polytechnischen Oberschulen in der DDR betreiben, ist sehr problematisch. Auch wir sollten mit der Einführung neuer spezialisierter Maturitätstypen zurückhaltend sein, da sich Eignungen häufig erst spät zeigen und ein Wechsel der Studienrichtung an der Universität schwierig wird. Anderseits muss die Ausbildung zum Arzt aus zeitlichen Gründen naturwissenschaftliche Kenntnisse voraussetzen, die mit Vorteil schon in der Mittelschule gelehrt werden. Doch ist gerade bei diesem Beruf die fächerübergreifende Wissensvermittlung an der Mittelschule eine wesentliche Voraussetzung für die spätere Tätigkeit, die über das fachliche Können hinaus humanistische Bildung verlangt. Bei den Akademikern sind zwei grundlegend verschiedene Typen möglich: der philosophisch interessierte Humanist, der vor allem den Menschen selbst bilden und erziehen will, oder der Operator, der den Hebel aussen ansetzt und die äussere Wirklichkeit verändert, unabhängig von der Natur des Menschen. Der humanistischen Bildung ist es zu verdanken, dass es viele Gelehrte, Forscher und Erfinder gibt, welche beide Gesichtspunkte in sich vereinigen und nicht nur die Welt verbessern wollen, sondern den Menschen mit seinen leiblichen und seelischen Wünschen mit einbeziehen. Wolfgang Pauli spricht von den zwei Grundhaltungen des abendländischen Menschen: «In der Seele des Menschen werden immer beide Haltungen wohnen, und die eine wird stets die andere als Keim ihres Gegenteiles schon in sich tragen.» Es ist zu wünschen, dass auch unsere Lehre neben dem Fachwissen diese höheren Ziele zu vermitteln vermag.

Freiheit von Lehre und Forschung

Eine freie Forschungstätigkeit ist den meisten Hochschuldozenten eine Entschädigung für die immer anstrengender werdende Lehrtätigkeit. Steigende Studentenzahl, Raumknappheit und geringere finanzielle Unterstützung schränken die wissenschaftliche Arbeit in zunehmendem Masse ein. Politiker sind oft der Meinung, man benötige an der Universität vor allem fleissige und gute Dozenten — ohne eigene Forschung, da diese meistens teuer sei und nichts praktisch Verwertbares einbringe. Man könne die Forschung ruhig der Industrie mit ihren grosszügig ausgestatteten Laboratorien und Versuchsanlagen überlassen und so die staatlichen Mittel entlasten. Aber gerade die Einheit von Lehre und Forschung ermöglicht, dass ein Dozent immer wieder vom höchsten und letzten Stand seiner

Wissenschaft unterrichtet und sogar an neuen Entdeckungen mitbeteiligt ist. Aus eigenen Erfahrungen kennt er den mühsamen Weg, die Methodik, die zu neuen Ergebnissen führt. Er schafft sich damit die Voraussetzungen für Kritik an neuen Forschungsresultaten und für einen kritischen Unterricht unter Einbeziehung der aktuellen Fortschritte. Ohne eigene Forschertätigkeit würde sein Wissen rasch veralten und einem unkritischen Dogmatismus zustreben. Der Erfolg der Humboldtschen Idee, Lehre und Forschung an der Universität gemeinsam zu fördern, brachte gerade die Befreiung aus der jahrhundertelang andauernden Stagnation unseres Wissens und der Hemmung durch einen starren Dogmatismus.

Im Idealfall sind Lehre und Forschung in der gleichen Person vereinigt, und für beide Tätigkeiten besteht ein gleichwertiges Interesse. Diese gleichmässige Begabung ist aber selten vorhanden und eine Fähigkeit überwiegt. Doch wird eine einseitige Tätigkeit für Studenten wie für Dozenten unbefriedigend sein, denn der Dozent wirkt, im Unterschied zum Schullehrer, am interessantesten, wenn er über sein eigenes Forschungsgebiet berichtet. Da die Hauptfächer der Medizin und der Naturwissenschaften in dieser Hinsicht an Stoff enorm breit geworden sind, ist es sinnvoll, den Vorlesungsstoff in einzelne Interessensgebiete aufzuteilen. Er gewinnt dadurch an Aktualität und Farbe, auch wenn gelegentlich durch verschiedene Dozenten Überschneidungen in der Vorlesung vorkommen. Eine vollständige Trennung von Lehre und Forschung in verschiedene Hochschulinstitute und Forschungsinstitutionen, zum Beispiel Max Planck-Gesellschaft, Batelle usw., ist für den Forscher ungünstig, da viele Anregungen, Kritik und stimulierende Fragen von jungen Studenten kommen. Er sollte daher in einer freien Form am Unterricht teilnehmen, vielleicht nur mit einer kleinen Zahl von Stunden in Kolloquien und Kursen für Postgraduates. Der Kontakt und Erfahrungsaustausch zwischen aktiven und zukünftigen Wissenschaftlern kann sehr fruchtbar sein.

Wir sollten an unserer Universität die Stellung des Assistenzprofessors in eine Forschungsprofessur mit geringer Lehrverpflichtung aufwerten. Junge, begabte Wissenschaftler haben wahrscheinlich mehr Phantasie, Leistungswillen und bessere Chancen zur Realisierung ihrer Ideen als die ältere Forschergeneration. Sie würden damit aktiv unterstützt, ohne in der fruchtbarsten Phase ihres Lebens belastet zu sein. Bei Bewährung sollten sie dann später den fest angestellten Dozenten, Extraordinarien und Ordinarien assoziiert und vermehrt mit Vorlesungen, Kursen und administrativen Aufgaben betraut werden. Dadurch würde die Lehre wieder von erfahrenen und erfolgreichen Wissenschaftlern vermittelt. Wenn heute in Deutschland über die Einrichtung von Heisenberg-Professuren oder bei uns von nationalen Nachwuchsprofessuren zur Überbrückung einer ungünstigen Altersstruktur in den achtziger Jahren, bedingt durch die momentan beschleunigte Erweiterung des Lehrkörpers, diskutiert wird, so zeigen unsere

Erfahrungen in Zürich, dass sich gerade die Stellung der Assistenzprofessoren für diese Art von Nachwuchsförderung ausgezeichnet eignet. Ein strenges Berufungsverfahren würde auch die Bedeutung und Verantwortung dieser Forschungsprofessuren unterstreichen.

Doch zurück zu den Grundprinzipien der Einheit von Lehre und Forschung. Sie kann nur in völliger Freiheit bestehen. Es ist in jedem freien Staate das unantastbare Grundrecht des Hochschuldozenten, in dem von ihm vertretenen Wissensgebiet seine Meinung frei äussern zu dürfen. Er ist verpflichtet, ein möglichst wahres Bild seines Lehrgegenstandes zu vermitteln, ohne politischen oder wirtschaftlichen Druck, ganz seinem eigenen kritischen Gewissen unterworfen. Gleichermassen bedeutet freie Forschung auch eine Unabhängigkeit der Meinung und des Handelns der Gesellschaft gegenüber. Wir alle sind uns bewusst und spüren es täglich, dass wir nicht allein im schützenden Elfenbeinturm der Hochschule leben, sondern in direktem Kontakt mit der Welt. Die Wissenschaft und ihre Forschungsergebnisse beeinflussen die Welt oft dramatisch und verändern sie grundlegend. Dafür tragen die Forscher eine schwere Verantwortung, besonders dann, wenn ihre grossartigen Entdeckungen durch Unverstand, Gewinnsucht oder Machtgier missbraucht werden. Wir alle kennen genügend Beispiele dafür, wie eine ethisch voll vertretbare Forschung ohne voraussehbare Folgen zum Schaden der Menschheit und der Natur benützt wird. Trotz dieses Risikos muss der Forscher frei bleiben, um zum Nutzen der Menschheit neue Wege zu beschreiten und zu besseren Erkenntnissen zu gelangen. C.G. Jung schreibt dazu: «Es gibt keine Garantie —in keinem Augenblick —dass wir nicht in einen Irrtum geraten oder in eine tödliche Gefahr. Man meint vielleicht, es gäbe einen sicheren Weg. Aber das wäre der Weg der Toten. Dann geschieht nichts mehr oder auf keinen Fall das Richtige. Wer den sicheren Weg geht, ist so gut wie tot.»

Es ist ein entscheidendes Privileg des Forschers an der Hochschule, sein Problem frei wählen zu können, wenn ihm auch äussere Grenzen durch finanzielle Einschränkungen, räumliche und organisatorische Gegebenheiten gesetzt sind. Besonders in einem kleinen Staat werden sich Zentren und Schwerpunkte bilden müssen, die für kostspielige Projekte der modernen Naturwissenschaften, Medizin und Technik zur Verfügung stehen. Diese Konzentration ist zum Vorteil von Forschung und Lehre auch bei uns festzustellen und erfordert eine sorgfältige Planung für eine solide Budgetierung der Forschungsausgaben. Hohe Kosten verlangen aber eine Relevanz für die Gesellschaft, das heisst, es müssen Problemkreise bearbeitet werden, die aktuellen Bedürfnissen der Gesellschaft entsprechen, im Rahmen der Medizin zum Beispiel Forschung über Krebs, Kreislaufkrankheiten, Ernährung, Geriatrie oder über Energiemangel, Ökologie usw. Die nationalen Forschungsprogramme, die vom Bundesrat auf Antrag des Wissenschaftsrates

bestimmt werden, decken diese Bedürfnisse nur teilweise. Daneben muss es aber einen viel grösseren Anteil an freier Forschung geben, ohne Auftrag von Staat, Industrie oder anderen interessierten Kreisen. Dieser Teil sollte ohne voraussehbaren Nutzen und zweckfrei sein, ganz darauf ausgerichtet, das Interesse und die Neugier eines begabten Forschers zu befriedigen. Karl Schmid betont «die Notwendigkeit des Erkenntnisfortschrittes, auch wenn er ins durchaus Ziellose zu führen scheint». Vor allem die Geisteswissenschaften sind in diesem Sinne überwiegend reine Forschung ohne direkten wirtschaftlichen Nutzen, aber geeignet zur humanistischen Formung oder zur Allgemeinbildung von Führungspersönlichkeiten. Und trotzdem ist gerade diese vermeintlich «nutzlose» Grundlagenforschung von grosser Wichtigkeit, obwohl auch nicht vorausgesagt werden kann, ob sie jemals nutzbringend sein wird. Häufig wird ja gerade durch finanzielle Restriktionen eine besonders originelle Arbeit stimuliert, die den Forscher befriedigt und eine viel kleinere Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit mit sich bringt.

Auch die administrative Kontrolle darf einen Forschungsbetrieb nicht belasten. Interessierte Wissenschaftler sind weit über die durch ihre Anstellung vorgeschriebene Arbeitszeit hinaus mit der Lösung ihrer Aufgaben beschäftigt und nutzen alle Kontakt- und Informationsmöglichkeiten, welche ihnen neue Ideen vermitteln. Ein Forschungsinstitut kann deshalb nicht mit einer industriellen Produktionsstätte oder einem Verwaltungsbetrieb verglichen werden. Es wird daher als kleinlich empfunden, wenn die universitäre Freiheit durch staatliche Verwaltungsmassnahmen eingeschränkt wird. Die kreative Leistung sollte eine tolerante Unterstützung finden, da sie allein am Forschungsresultat bemessen werden kann. Es ist uns allen klar, dass es dazu einer weisen Grosszügigkeit des Auftraggebers bedarf, der den Erfolg nicht sofort messen will, sondern nach der Grundidee einer Universität erst dann, wenn die ausgebildeten Akademiker und ihre erarbeiteten Resultate die Gesellschaft beeinflussen.

Wenn wir uns zum Schluss fragen, ob Humboldts Reformbestrebungen für die universitären Aufgaben erfolgreich waren und ob sie auch für uns weiterhin wegleitend sein sollen, so kann man dies für die beiden Prinzipien der universitären Einheit der Wissenschaften wie auch für die Integration von Lehre und Forschung zumindest teilweise bejahen. Beide erstreben umfassende Bildung im Geiste der Wahrheit, die ihre Grundlage einzig in der Forschung haben kann. Das Ideal ist aber bei weitem noch nicht erreicht, wegen der stets wechselnden sozialen Bedürfnisse, politischen Strömungen und finanziellen Abhängigkeiten, in der unsere Hochschulen leben. Der Realisierung dieses Ideals stehen einerseits die Autonomie- und Expansionsbestrebungen der Institute und die institutsgebundene Forschung entgegen. Anderseits bedroht auch der Trend zur Massenuniversität den Grundsatz der Einheit von Forschung und Lehre. Deshalb muss es

unser dringendstes Bestreben sein, das Gleichgewicht vermehrt zu wahren, damit diese Einheit zur Vermittlung einer qualitativ hochstehenden, wissenschaftsbezogenen Ausbildung auch in Zukunft erhalten bleibt. Oder, um es mit Humboldts Worten zu sagen: «Es ist gerade ein Hauptzweck der Akademien, durch ein äusseres Mittel das Band zu erhalten, welches sich innerlich durch alle, noch so verschiedenen Wissenschaften und Discipline hindurchschlingt.»