Rückblick — Generationenwechsel — Liliput
1. Rückblick
Es ist schwer, der Ironie des Schicksals zu entgehen. So habe ich
mein Amt angetreten mit der festen Absicht, der weiteren Bürokratisierung
des Hochschulbetriebes keinerlei Vorschub zu leisten.
Ein Rückblick auf das abgelaufene Jahr zeigt jedoch, dass wir zunächst
vor allem Reglemente überarbeitet und einige neu erlassen
haben. Im vergangenen Sommersemester fand die Studienreform
ihren Abschluss in der Verabschiedung der Studienpläne und Prüfungsordnungen.
Sodann mussten zahlreiche weitere Erlasse, die zu
verschiedenen Zeitpunkten geschaffen worden waren, vereinheitlicht
oder an das neue Hochschulstatut angepasst werden. Dankbar
bin ich den Kollegen von der Juristischen Abteilung für ihre Mithilfe
und dem Senat für seine Geduld bei diesen in der Regel
mühsamen und spannungsarmen Arbeiten, die nun annähernd abgeschlossen
sind.
Der babylonische Gesetzgeber Hammurabi ging seinerzeit in die
Geschichte ein, weil er 282 Rechtssätze kodifiziert hatte. Wir haben
gut und gern 282 Seiten Reglemente revidiert oder erlassen und
damit seine Leistung — wenn auch nicht an Bedeutung, so doch an
Umfang — ganz wesentlich übertroffen.
Das Pendant zur Reglementierung besteht darin, dass sich einzelne
Studenten im Rekurswesen weit grössere Kenntnisse aneignen als im
Fachgebiet, das sie studieren.
Im letzten Jahr waren wir bestrebt, das Rektorat in ausgeprägterem
Masse als bisher zum Kollegialorgan zu machen, indem die beiden
Prorektoren bestimmte Aufgabenbereiche übernahmen. Ebenso
wurde die Funktion des Senatsausschusses als Führungsorgan verstärkt.
Beide Neuerungen liegen ganz im Sinne des Hochschul-Statuts.
Ich danke meinen beiden vorzüglichen Kollegen im Rektorat,
den Herren Prorektoren Professor Dr. Alois Riklin und Professor
Dr. Claude Kaspar, für ihren steten Einsatz und dem Senatsausschuss
für seine Bereitwilligkeit, sich mitverantwortlich an der Hochschulleitung
zu beteiligen. Trotz alledem ist die Hochschule keine straff
geleitete Unternehmung. Es gilt für sie auch heute, was Rektor Professor
Dr. Theo Keller 1949 anlässlich ihres 50jährigen Bestehens sagte:
«... sie ist schwer zu verwalten, denn aus der Ausnahme von der Regel
schöpft sie ihre beste Kraft.» Und das ist es wohl, was bei aller Reglementierung
und allem Organisieren wirksam bleiben muss: die schöpferische
Kraft der Ausnahme, das Individuelle, der zündende Funke
des Besonderen. Wenn wir das bewahren, haben wir unsern Kampf
gegen die hässliche, papiergebärende, bürokratische Hydra gewonnen.
In der zweiten Hälfte des vergangenen akademischen Jahres sind
dann auch verschiedene Vorarbeiten zur Lösung akuter Probleme geleistet
worden, worauf ich später zurückkomme.
Als weitere Stichworte darf ich nennen: die sehr erfolgreiche Durchführung
unserer Aula-Vorträge und die Vorbereitung des 3. Orientierungsseminars
zum zehnjährigen Bestehen unserer Weiterbildungsstufe,
das vom 23. bis 25. Oktober 1979 stattfindet.
Dankbar sind wir dem Hochschulrat und den Hochschulträgern für
das Verständnis, das sie der Hochschule entgegengebracht haben,
die — wie alle Hochschulen — manchmal Lieblingskind, manchmal
Sorgenkind des Staates ist. Besonderer Dank gebührt dem Präsidium
des Hochschulrates:
— dem Präsidenten, Regierungsrat Ernst Rüesch, dessen speditive und
verlässliche Führung für uns eine grosse Hilfe ist,
— alt Stadtrat Georges Enderle, der sich den Hochschulaufgaben seit
seiner Pensionierung mit noch grösserer Hingabe widmet,
— und Stadtammann Dr. Alfred Hummler, dessen grosse Erfahrung uns
immer wieder zustatten kommt.
Dank gebührt schliesslich allen Kollegen, aber auch den Studentenvertretern,
die in der Regel Verständnis dafür aufbrachten, dass auch
der Rektor Unmögliches nur selten und auf keinen Fall rückwirkend
möglich machen kann. Danken möchte ich aber auch den Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern der Hochschulverwaltung, an ihrer
Spitze Verwaltungsdirektor Walter Aeberli.
2. Generationenwechsel
Von weitreichender Bedeutung ist der Generationenwechsel, der an
der Hochschule stattfindet. Bereits zurückgetreten sind:
— Professor Dr. Georg Thürer, Ordinarius für deutsche Sprache und
Literatur und
— Professor Dr. Werner Weber, Extraordinarius für Chemie und chemische
Technologie.
In naher Zukunft werden zurücktreten:
— Professor Dr. Walter Adolf Jöhr, Ordinarius für theoretische Volkswirtschaftslehre,
— Professor Dr. Emil Küng Ordinarius für Volkswirtschaftslehre,
— Professor Dr. Rudolf Moser, Extraordinarius für internationales
Privatrecht sowie Obligationen- und Handelsrecht, und
— Professor Dr. Peter Steinlin, Ordinarius für Versicherungswirtschaftslehre.
Dozenten und Studenten sind es, die das Wesen der Hochschule ausmachen.
Und weil die Studentengenerationen sich rascher folgen als
die Dozentengenerationen, ist wohl die prägende Kraft der Dozenten
grösser. Mag auch manches einzelne Gesicht im Strom der scheinbar
immer jünger werdenden Studenten für den Professor blass bleiben,
so wirkt er selber doch auf viele Jahrgänge durch sein Wissen und
seine Persönlichkeit. Er gibt für viele junge Leute Anlass zu dankbarer,
heiterer, aber auch frustrierter Erinnerung. Manches Wort,
das er bloss beiläufig fallen liess, bleibt einzelnen unvergesslich,
wenn es der Urheber selbst längst vergessen hat. Die Impulse, die er
der Forschung gab, bilden die Grundlage für seine Nachfolger.
Gross ist die Zeitspanne, die das Wirken der zurücktretenden Kollegen
umfasst und bedeutend die Entwicklung welche die Hochschule
in dieser Zeitspanne genommen hat. Als Professor Thürer
1940 Ordinarius wurde, hatte die Hochschule die Gleichstellung mit
andern Hochschulen zwar bereits erreicht, insbesondere das Recht,
Doktorpromotionen vorzunehmen. Aber im Wintersemester 1940/41
waren nur 119 Studenten eingeschrieben — eine so geringe Zahl,
dass Professor Thürer vor seiner Wahl besorgt Erkundigungen einholte,
ob die Institution, die ihn wählen wollte, auch Aussicht habe,
die nächsten Jahre zu überleben.
Die Hochschule war zwar klein, aber die Verantwortlichen wussten,
was anzustreben sei. Es gehe um die «Erziehung zu wissenschaftlichem
Denken und Handeln auf dem Gebiet der Wirtschaft, in
Erkenntnis und im Rahmen sozialer, staatlicher, moralischer und
kultureller Notwendigkeiten». So sagte es Dr. Paul Alther damals bei
der Stiftung der goldenen Rektoratskette, die ich heute tragen darf.
Unter dem Rektorat von Professor Dr. Walther Hug wurden die
Gleichstellung mit den andern Hochschulen erreicht, die Ziele fixiert,
die Methode — Praxisorientierung, Unterricht in Gruppen, Fallmethode
—festgelegt. In der Folge stiegen die Studentenzahlen zunächst
auf einige Hundert, später dann auf gegen zweitausend
Studenten.
Schon früh ergaben sich Raumprobleme. Nach jahre- und jahrzehntelangen
vergeblichen Bemühungen erfolgte hier ein Durchbruch erst
mit dem Bau der heutigen Hochschulgebäude und deren Bezug im
Jahre 1963, woran bekanntlich Professor jöhr den ausschlaggebenden
Anteil hatte.
Zu dem, was die Hochschule heute ist, haben die zurücktretenden
Kollegen massgebend beigetragen — jeder nach seinen besonderen
Begabungen. Wir sind ihnen zu grossem Dank verpflichtet und
statten ihn wohl am besten ab, indem wir uns einsetzen für diese
Hochschule, die ihnen während Jahren und Jahrzehnten so sehr am
Herzen lag.
3. Besuch in Liliput
Kürzlich kam der löbliche Gulliver, erst Wundarzt, später Kapitän
verschiedener Schiffe, zu Besuch an die Hochschule St. Gallen. Er
fühlte sich dabei lebhaft an seinen Aufenthalt in Liliput erinnert.
Zwar sind die Dozenten und Studenten hier nicht so klein von
Wuchs, dass sie zu Dutzenden auf Gulliver herumkrabbeln oder ihn
mit ihren Degen im Nasenloch kitzeln könnten, wie er es seinerzeit
bei den Liliputanern erlebte. Und auch die Gänse sind hier
grösser als Sperlinge, die Lerchen grösser als Fliegen. Aber die
Hochschule und ihre Einrichtungen sind vergleichsweise putzig
klein, was Gulliver sogleich auffiel, als er die HSG mit andern
Hochschulen verglich:
— So hat die HSG rund 1800 Studenten, die Universität Zürich etwa
14000.
— Die HSG gibt pro Jahr etwa 20 Millionen Franken aus, von denen
etwa 6 Millionen durch Erwerbseinnahmen der Institute gedeckt
werden; die Universität Zürich gibt pro Jahr etwa 400 Millionen
Franken aus.
— Die HSG hat in den letzten Jahren praktisch nichts für Investitionen
aufgewendet, die Universität Zürich jährlich etwa 60 bis
100 Millionen.
— Die HSG-Bibliothek beschäftigt etwa 10 Personen, die Universität
Konstanz nahm ihren Betrieb mit etwa 120 Planstellen in der
Bibliothek auf.
Gulliver durchmass mit zwei Schritten das Hochschulareal, bückte
sich und schaute sich den Betrieb während einiger Zeit etwas genauer
an. Dabei fiel ihm folgendes auf:
— In der Bibliothek wurden laufend neue Regale angefügt. Zeitweise
irrten Studenten umher, die keinen Arbeitsplatz mehr fanden,
und Bibliothekarinnen trugen Bücher in den Keller, die oben
nicht mehr untergebracht werden konnten.
— An den Computerterminals sassen Studenten und Forschungsmitarbeiter,
die nervös auf die Tischplatte trommelten, bis endlich
auf dem Bildschirm die Reaktion des Computers erfolgte. Als
Kenner von Computeranlagen vermutete Gulliver sogleich, dass
die Zentraleinheit des Computers durch die Vielzahl der gleichzeitig
laufenden Programme überlastet sei.
— Etliche Professoren eilten nach ihren Lehrveranstaltungen unverzüglich
nach Hause, weil ihnen die Hochschule kein Büro zur
Verfügung stellen konnte, und manche tippten ihre Arbeiten mit
zwei Fingern selber in die Maschine, da keine Schreibkräfte verfügbar
waren.
4. Gespräch mit dem Rektor der Liliput-Hochschule
Gulliver benützte seinen Aufenthalt, um dem Rektor der Liliput-Hochschule
einige Fragen zu stellen.
Gulliver: Wieviele Studenten haben Sie jetzt?
Rektor: Etwa 1800 (Gulliver fühlte sich durch diese Zahl an seinen
Besuch in Liliput erinnert, wo ihm soviel Speise und
Trank bewilligt wurde, was für 1728 Liliputaner genügen
würde).
Gulliver: Sie haben doch neu das volljuristische Studium eingeführt.
Wissen Sie schon, wie sich das auf die Studentenzahlen
auswirkt?
Rektor: Nach unserm Studienplan trennen sich die Juristen im
3. Semester von den Wirtschafts- und Staatswissenschaftlern
ab. Das wird erstmals im Wintersemester 1979/80 der
Fall sein. Wir haben deshalb bei den jetzigen Studenten
im 2. Semester eine Umfrage über ihre voraussichtliche
Wahl durchgeführt. Demzufolge dürften sich im ersten
Jahrgang etwa 90 bis 100 Studenten für den juristischen
Lehrgang entscheiden. Ein Teil davon hätte wohl in Abwesenheit
eines juristischen Studiums einen andern unserer
Lehrgänge gewählt. Die meisten allerdings hätten sich
wohl für eine andere Hochschule entschieden.
Gulliver: (Da Gulliver zur Vorbereitung seiner Reise nach St. Gallen
auch den dritten Bericht über den Ausbau der schweizerischen
Hochschulen des Wissenschaftsrates gelesen hatte,
sagte er:)
Bekanntlich rechnet man bis etwa 1984 mit einer wesentlichen
Zunahme der Studentenzahlen an den Universitäten.
Rechnen Sie auch für die HSG mit einer wesentlichen
Zunahme?
Rektor: Im Gegensatz zu andern Bereichen wird in den Wirtschafts-
und Sozialwissenschaften nur ein geringes Wachstum erwartet.
Wir nehmen an, dass das auch für die HSG gilt.
Insgesamt rechnen wir also mit keiner oder nur einer geringen
Zunahme bei den Wirtschafts- und Staatswissenschaften,
jedoch mit einer gewissen Zunahme bei den Juristen,
was zusammen die Gesamtzahl der Studenten um
höchstens einige Hundert erhöhen würde.
Gulliver: Heisst das, dass die HSG weiterhin die kleinste Hochschule
der Schweiz bleiben wird? Als Ökonom müssten
Sie doch nach Grösse, nach Umsatz streben?
Rektor: Keineswegs. Einmal haben wir hier das abschreckende Beispiel
der Dinosaurier vor Augen, die zwar sehr gross waren,
aber auch schon längst ausgestorben sind. Und auch wenn
grosse Institutionen vielleicht lange überleben können,
so gedeihen doch Menschlichkeit und reger geistiger Austausch
in den kleinen Organisationen am besten.
Gulliver: (der wenig Geschmack an Zusammenrottungen, Umzügen
und Transparenten hatte, weil er sie für anspruchslose
Mittel zur Lösung von Problemen und Konflikten hielt,
fragte etwas besorgt:)
Wie steht es denn mit Ihren Studenten? Sind sie auch
brav und politisch nicht extrem?
Rektor: Gegenwärtig herrscht ein sehr ruhiges Klima. Für mein
Gefühl ist es fast zu ruhig. Meiner Meinung nach gehört
es zur Jugend, dass sie sich für Ideen begeistern kann, wobei
gelegentlich auch einmal über das Ziel hinausgeschossen
wird. Dabei würde ich reine Pöbelei oder gar kriminelle
Akte auf keinen Fall akzeptieren, sondern eine vernünftige
Auseinandersetzung verlangen. Ich kann Ihnen
nicht garantieren, dass unsere Studenten für alle Zeiten so
ruhig sind, wie es heute der Fall ist. Aufgrund unserer Erfahrungen
— auch zu Beginn der siebziger Jahre — bin ich
aber zuversichtlich, dass wir auch in Zukunft stets Mittel
und Wege finden werden, um die Probleme gemeinsam
und friedlich zu lösen.
Gulliver: (Gulliver war sehr kritisch gegenüber der wissenschaftlichen
Forschung, hatte er doch auf seiner Reise nach
Laputa neben andern merkwürdigen Forschern auch einen
Professor gesehen, der acht Jahre lang versuchte, Sonnenstrahlen
aus Gurken zu ziehen, welche in hermetisch verschlossenen
Phiolen verwahrt und in rauhen Sommern
herausgenommen wurden, weil sie die Luft erwärmen sollten.
Er fragte deshalb:)
Ist das, was bei Ihnen geforscht wird, auch nützlich und
nicht so abwegig wie die Projekte, die ich auf Laputa
sehen konnte?
Rektor: Ich gebe Ihnen am besten den Bericht unserer Forschungskommission
über das Jahr 1978. Darin sind alle Forschungsprojekte
aufgeführt. Sie werden dann sehen, dass unsere
Forscher nicht Gurken in Flaschen abfüllen, sondern nützliche
Arbeit leisten. Sie müssen allerdings ihre Leistungen
unter weit ungünstigeren Voraussetzungen erbringen, als
das anderswo der Fall ist. Es fehlt ihnen an Arbeitsplätzen,
Mitarbeitern, Schreibkräften usw., die an andern
Hochschulen ganz selbstverständlich zur Verfügung stehen.
5. Quintessenz
Gulliver bedachte eine Weile, was er an der Liliput-Hochschule
gesehen und gehört hatte, und meinte dann, zum Rektor gewandt:
«Wenn ich das alles richtig verstanden habe, dann sind Sie eine
kleine Hochschule mit einem geringen Budget und wollen auch
nicht wesentlich grösser werden.
Ihre Studenten sind vernünftig, und man darf annehmen, dass sie
das auch in Zukunft sein werden, auch wenn wohl nicht immer
alles rund läuft.
An Ihrer Hochschule wird nützliche Forschungsarbeit geleistet, aber
die Forschungsinfrastruktur ist ungenügend und muss verbessert
werden. Ausserdem benötigen Sie einen leistungsfähigeren Computer
und gewisse zusätzliche Räume, vor allem eine neue Bibliothek.»
«So ist es», sagte der Rektor.