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Mathematik und Kultur

Prof. Dr. Hans Loeffel
Professor für Mathematik und Statistik an der Hochschule St. GalIen

Herausgeber: Hochschule St. Galler für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Dufourstrasse 50, 9000 St. Gallen

Redaktion: lic. rer. publ. Erich Niederer, Presse- und Informationsstelle der HSG

Auflage: 500

Copyright: Hochschule St. Gallen, St. Gallen, Oktober 1980

Satz und Druck: Hermann Brägger, 9001 St. Galler

Die Broschüren der Reihe «Aulavorträge» werden finanziert mit Unterstützung des St. Galler Hochschulvereins und des Dr. Rudolf-Reinacher-Fonds. Sie gelangen nicht in den freien Verkauf.

Mathematik und Kultur

In Bertolt Brechts Stück «Leben des Galilei» stellt der Kurator der Universität Padua die Frage, was denn der Herr Galilei, der Mathematiker ist, mit der Philosophie zu tun habe.

Vielleicht haben Sie sich in ähnlicher Weise gefragt, wie das Thema «Mathematik und Kultur» am Dies academicus einer Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften zu rechtfertigen sei.

Das Ansehen der Mathematik in einer breiten Öffentlichkeit beruht wohl in erster Linie auf der Tatsache, dass sich seit Jahrhunderten die mathematische Denkweise als nützliches Instrumentarium zur Erforschung der Naturgesetze erwiesen hat.

In den letzten 20 bis 30 Jahren wurden auch in zunehmendem Masse und mit unterschiedlichem Erfolg formalmathematische Methoden im Bereich der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften eingesetzt. Zum Thema Mathematik und Wirtschaftswissenschaften hat sich an dieser Stelle vor einigen Jahren der Historiker Herbert Lüthy, Ehrendoktor unserer Hochschule, kritisch geäussert. Am Hochschultag 1977 setzte sich mein verehrter Kollege Georg Thürer, ehemals Professor für deutsche Sprache und Geschichte, mit den Beziehungen zwischen Wirtschaft und Kultur auseinander.

Heute soll das Bezugsdreieck geschlossen werden, indem ich den Versuch wage, die Mathematik in ihren mannigfachen kulturellen Erscheinungsformen vorzustellen. Der Bogen soll sich spannen von einer fragmentarischen geschichtlichen Schau über philosophische und psychologisch-soziologische Hintergründe bis hin zu ästhetisch-künstlerischen und weltanschaulich-religiösen Dimensionen.

Die beiden Kulturen

Das Verhältnis des gebildeten Menschen zur Mathematik ist von einer auffallenden Einseitigkeit oder Polarität gekennzeichnet. Während der Kirchenvater Augustinus vor den Mathematikern als Verbündete des Teufels warnte, erhoffte sich Kardinal Nikolaus von Kues (1401-1464) beim Streben nach der Erfassung göttlicher Wahrheiten von der Mathematik Unterstützung.

Während der grosse Mathematiker und Naturforscher Galileo Galilei vor der römischen Kurie seine Weltanschauung verleugnen musste, wurde

Isaac Newton, der Begründer der Infinitesimalrechnung und der modernen Physik, von der Queen Anne in den Adelsstand erhoben.

Während J. W. Goethe die Mathematik nur insofern als Wissenschaft schätzte, als sie nützliche Anwendung versprach, fand Novalis überschwengliche Worte des Lobes für die mathematische Denkweise an sich.

Während Friedrich Hegel sich über die Mathematiker lustig machte, mass Bertrand Russel, ein ebenso markanter wie umstrittener Philosoph unserer Tage, der mathematisch-logischen Denkschulung grösste erkenntnistheoretische Bedeutung zu.

Wenn ich aus meinem eigenen Erfahrungsbereich an dieser Hochschule berichten darf, stelle ich fest, dass meine Tätigkeit nur insofern akzeptiert wird, als sie unmittelbare Nutzanwendung in den sogenannten Kernfächern verspricht und keine ambitiösen Tendenzen aufweist, weder in Richtung einer bedrohlichen Mathematisierung der Sozialwissenschaften noch nach kulturwissenschaftlichem Bildungsanspruch.

In den eben erwähnten Beispielen manifestiert sich in eindrücklicher Weise jene unerfreuliche und gefährliche Trennung der beiden Kulturbereiche, die schon Blaise Pascal im 17. Jahrhundert unter dem «esprit de géométrie» (Welt der rationalen Vernunft) und dem «esprit de finesse» (Welt der Intuition und des Glaubens) in den berühmten «Pensées» meisterhaft zu formulieren verstand.

Mathematik und Geschichte

Wenn wir die Mathematik im Laufe ihrer fast 4000jährigen Geschichte verfolgen, so stellen wir fest, dass bis ins 18. Jahrhundert unserer Zeitrechnung eine wesenhafte Verbindung zwischen Mathematik einerseits und Philosophie, Kunst und Religion anderseits bestand.

Lassen Sie mich zwei geschichtliche Epochen herausgreifen, in denen die angesprochene Affinität besonders evident wird.

Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass unsere abendländische Kultur, soweit sie diesen Namen heute noch verdient, wesentlich aus dem Erbgut der griechischen Antike herausgewachsen ist. Einer der grössten Philosophen um 500 v. Chr. war Pythagoras von Samos, den die meisten von Ihnen nur vom gleichnamigen Satz aus der Elementargeometrie kennen

dürften. Pythagoras, in erster Linie ein religiöser Führer und Prophet, erwarb sich seine mathematischen Kenntnisse vermutlich auf Studienreisen nach Ägypten und Babylon. Er lehrte in Unteritalien die vier mathematischen Wissenschaften Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Harmonik oder Musiktheorie. Aus letzterer erwuchs eine allgemeine Lehre von der kosmischen Sphärenharmonie, die über Jahrhunderte hinweg Wissenschafter und Künstler gleichermassen angeregt hat.

Ein hervorragender Kenner der antiken Geschichte der Mathematik, B. van der Waerden, ehemals Professor für Mathematik an der Universität Zürich, hat unlängst über die faszinierende Persönlichkeit von Pythagoras ein umfassendes Werk geschrieben, das den Mathematiker, Historiker und Philologen gleichermassen ansprechen dürfte.

Der grösste Teil der heutigen elementaren Schulmathematik beruht auf dem grandiosen enzyklopädischen Werk der sogenannten Elemente, die vom griechischen Mathematiker Euklid (ca. 300 v. Chr.) verfasst wurden. Hier findet sich Mathematik als reine Geisteswissenschaft, die — losgelöst von jeglicher Nutzanwendung — ausgehend von Definitionen, Axiomen oder Postulaten mit Hilfe logischer Schlüsse Lehrsätze ableitet. Das berühmteste Axiom in Euklids Elementen ist das sogenannte Parallelenpostulat, das sowohl innermathematisch als auch erkenntnistheoretisch von Bedeutung ist, indem es zur Entdeckung der Nicht-Euklidschen Geometrie durch Gauss und über die Forschungen von Riemann und Minkowski zur allgemeinen Relativitätstheorie von Einstein geführt hat.

Als zweite Epoche sei das 17. Jahrhundert erwähnt, in dem sich die Verbundenheit von Mathematik und Philosophie in der 'mathesis universalis' eines G.W. Leibniz (1646-1716) besonders eindrücklich manifestierte.

Für Leibniz — Historiker, Staatsmann, Mathematiker und Philosoph — war die Konstruktion einer Rechenmaschine ebenso wichtig wie die Suche nach einer allgemeinen logischen Begriffsschrift, die es ermöglichen sollte, «Wahrheiten der Vernunft» durch exakte Schlussfolgerungen zu gewinnen.

Leibniz widmete sich der metaphysischen Deutung des Dualsystems ebenso sehr wie der Schaffung jenes epochemachenden Differential- und Integralkalküls, ohne den sich die moderne Naturwissenschaft nicht hätte entwickeln können.

Mathematik und Philosophie

Die Geschichte belegt es: Mathematik und Philosophie waren schon früher verbunden und werden es immer bleiben, obschon diese Verbindung nicht unumstritten ist. Während Aristoteles, die mittelalterlichen Scholastiker, Hegel, Schopenhauer und Heidegger wenig Verständnis für mathematische Ideen zeigten, haben Pythagoras, Platon, Descartes, Pascal, Leibniz, Russel und Marx die mathematisch-logische Denkweise wesenhaft in ihr philosophisch-weltanschauliches Bild miteinbezogen. Der Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt schrieb 1969 in einer Studie über den 'Sinn der Dichtung in unserer Zeit':

«Doch möchte ich hier einmal den Verdacht anmelden, ob nicht die Form der heutigen Philosophie die Naturwissenschaft sei, ob wir uns nicht einer Täuschung hingeben, wenn wfr glauben, immer noch die alte Philosophie des Worts in irgendeiner Form aufrechterhalten zu können, ob es nicht einfach so sei, dass wfr bei Einstein oder Heisenberg die Ansätze einer neuen Philosophie finden und nicht bei Heidegger.»

Eine besondere Stellung nimmt der grosse, von der Ideenwelt des Pythagoras beeinflusste Philosoph Platon (427-347 v. Chr.) ein. Er war gewissermassen der Vater der mathematischen Methode in der Philosophie und vertrat die Ansicht, dass die mathematischen Gegenstände und Erkenntnisse a priori von Anbeginn der Schöpfung in die Seele des Menschen eingeprägt sind. Viele Elemente dieser Platonischen Ideenlehre wurden durch die moderne Tiefenpsychologie von C.G. Jung bestätigt. Dass Platons Vorstellungen bei den mathematisch interessierten Philosophen und Wegbereitern des Kommunismus, Friedrich Engels und Karl Marx, keinen Anklang fanden, ist wohl verständlich. So schrieb Engels wörtlich:

«Die reine Mathematik hat zum Gegenstand die Raum formen und Quantitäten der wirklichen Welt.» «Die Begriffe von Zahl und Figur sind nirgends anders hergenommen, als aus der wirklichen Welt.»

Dieses Zitat zeugt vom zweifelhaften Versuch, die philosophischen Grundannahmen der Mathematik materialistisch zu begründen. Er steht

im schroffen Gegensatz zur Platonschen Ideenlehre. Es ist übrigens erkenntnistheoretisch gesehen höchst bemerkenswert, dass die geistigen Begründer des modernen Materialismus Spekulationen über die mathematische Denkweise als ideologischen Vorspann benutzten. Anderseits entbehrt es nicht einer gewissen Tragik, wenn 300 Jahre früher die philosophisch-ideologischen Konsequenzen der mathematisch orientierten Naturforschung eines Galilei bei der damaligen etablierten geistigen Macht keine Gnade gefunden haben.

Mathematik in der bildenden Kunst und Musik

In den autobiographischen Aufzeichnungen von Werner Bergengruen findet man die folgende Bemerkung:

«Sogar die Mathematik, die für mich das fremdeste und widerwärtigste aller Gebiete gewesen ist, beginnt einen Reiz anzunehmen, wären Zeit und Kräfte nicht durch andere Dinge beschränkt, so würde ich mir ihr vielleicht gründlich zuwenden.»

In Brechts Galilei lesen wir:

«Die Mathematik ist eine brotlose Kunst sozusagen. Sie ist nicht so nötig wie die Philosophie, noch so nützlich wie die Theologie, aber sie verschafft den Kennern doch so unendliche Genüsse!»

Worin besteht nun dieser Reiz resp. die unendlichen Genüsse der Mathematik? Sicher u. a. darin, dass sie als reine Geisteswissenschaft grosse Freiheit in der Gestaltung ihres Gedankengebäudes geniesst und unverkennbar ästhetische Züge aufweist, die sie mit den Künsten gemeinsam hat.

Dieser Umstand wird insbesondere offenbar, wenn man sich den gewaltigen Einfluss der Geometrie auf die bildende Kunst, Architektur und Malerei, insbesondere früherer Jahrhunderte, vor Augen hält. Erwähnt seien beispielsweise die Proportionenlehre und die Perspektive, die berühmte Maler der italienischen Renaissance wie Piero della Francesca (1420-1492) und Leonardo da Vinci (1452-1519) in den Dienst ihrer Kunst gestellt haben.

Weniger Verständnis für geometrische Elemente in der Kunst hatte hingegen Gulliver, unserer Hochschule nicht ganz unbekannt, der sich während seines Aufenthaltes auf der Insel Laputa sehr ungehalten zeigte, dass ihre Bewohner zur Beschreibung eines schönen Frauenzimmers allerlei Rhomben, Parallelogramme und sogar Ellipsen zu Hilfe nahmen. Gulliver kannte offenbar den grossen Maler, Graphiker und Kunstschriftsteller Albrecht Dürer (1471-1528) nicht, der im ersten Kapitel seines grossartigen Werkes «Underweysung der Messung mit dem Zirckel und Richtscheyt» auf die Bedeutung solider Kenntnisse der Euklidschen Geometrie hingewiesen hat. In der Stiftsbibliothek St. Galler und der Kantonsbibliothek Vadiana befinden sich gut erhaltene Originale dieses Werkes.

Zum Symmetriebegriff

An unzähligen Kunstwerken und Baustilen aller Epochen bis in die Gegenwart offenbart sich ein universales Formgebungs-Prinzip, nämlich die Symmetrie. Schon bei Phythagoras, Platon und Aristoteles spielte das Symmetrieprinzip sogar in weltanschaulicher Beziehung eine fundamentale Rolle. Wenn man Symmetrie ganz allgemein als «schönes Verhältnis des Teiles zum Teil und der Teile zum Ganzen» versteht, dann wird man Aristoteles zustimmen können, wenn er sagt:

«Die wichtigsten Gestaltungen des Schönen sind Ordnung und Symmetrie und Begrenzung, was im stärksten Masse die mathematischen Wissenschaften aufweisen.»

Es gibt verschiedene Arten von Symmetrie, nämlich Axial-, Punkt-, Dreh- und Translationssymmetrien. Fasst man solche Symmetrien als Abbildungen auf, die man ihrerseits zusammensetzen kann, so entsteht ein mathematisches Gebilde, die sogenannte Gruppe. Die moderne Schulmathematik befasst sich im Rahmen der Spiegelungsgeometrie mit solchen Objekten. Überraschend ist die Tatsache, dass die vollständige Analyse von Band- und Flächen-Ornamenten, in denen sich in besonders transparenter Weise Symmetrien offenbaren, erst mit Hilfe der modernen, im 19. Jahrhundert entstandenen Gruppentheorie möglich wurde. Wohl kannten schon die alten Ägypter vor rund 4000 Jahren die verschiedenen Ornamenttypen, ohne sich aber des abstrakt-mathematischen Strukturgehaltes

solcher Kunst bewusst gewesen zu sein. Wir danken diesbezügliche Untersuchungen dem Basler Mathematiker und Philosophen Andreas Speiser (1885-1970), der sich auf breiter Basis in zahlreichen Publikationen zu den Beziehungen zwischen Kunst und Mathematik geäussert hat. Nach Speiser führt die mathematische Analyse und Geschichte der Ornamentik an den Ursprung der ästhetischen Reduktion der Mathematik; und er glaubt die Symmetrie überall dort zu finden, wo Geistiges sich in der Materie manifestiert.

Offensichtliche Strukturgemeinsamkeiten zeigen sich im Vergleich von Mathematik und Musik. Die historischen und musiktheoretischen Wurzeln dieser Verwandtschaft gehen auf Pythagoras zurück, der als erster den Wohlklang von Tonintervallen mit einfachen Verhältnissen ganzer Zahlen in Verbindung gebracht hat. Für die Pythagoreer hatte das Losungswort «Alles ist Zahl» nicht nur rein mathematische, sondern auch ästhetische und sogar mythisch-religiöse Bedeutung.

Die pythagoreische Harmonielehre der menschlichen Musik wurde auf die Sphärenharmonie des ganzen Kosmos übertragen; ein Akt, dem die Vorstellung zugrunde lag, dass das Universum nach mathematisch beschreibbaren Gesetzen geschaffen wurde.

Nach dem bekannten Schweizer Dirigenten, Musiktheoretiker und Mathematiker Ernest Ansermet beruht die gesamte abendländische Musik auf der sogenannten heptatonischen Struktur der Oktave, die von Pythagoras in ihrer Rationalität sanktioniert wurde. Ansermet schreibt in seinem Werk «Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewusstsein»:

«Es ist dieselbe sogenannte 'Vernunft', die in der Logik, in der Mathematik und in der Musik wirkt; in der Logik und Mathematik gewinnt sie Gestalt als 'Gedanke', in der Musik als 'Gefühl'.»

Diese Vernunft kann sich u. a. im Formgebungsprinzip der Symmetrie manifestieren, das in vielen Kompositionen von J.S. Bach besonders eindrücklich in Erscheinung tritt. Erwähnt sei, stellvertretend für viele andere, die zweistimmige C-Dur-lnvention für Klavier, die in beispielhafter Weise jenen Typ abstrakter, formvollendeter Musik verkörpert, in der in reichem Masse Symmetrien (z. B. Translationen und Schubspiegelungen) zu erkennen sind. Hier nimmt das Leibnizsche Wort konkrete Gestalt an, nach dem die Musik eine verborgene Übung der Seele sei, welche dabei nicht wisse, dass sie mit Zahlen umgehe.

Die Einheit von Kunst und Mathematik widerspiegelt sich ebenso im mittelalterlichen Quadrivium (Vierweg), das Geometrie, Arithmetik, Musik und Mechanik umfasst, als auch in folgender Erklärung des Reformators Martin Luther an die Bürgermeister und Ratsherren allerlei Städte in deutschen Landen:

«Wenn ich Kinder hätte und auch vermöchte, sie müssten mir nicht allein die Sprache und Historien hören, sondern auch singen und die Musica mit der ganzen Mathematica lernen.»

Das Bild von der Sphärenharmonie des Kosmos beherrschte das ganze Mittelalter und fand z. B. in Dante Alighieris (1265-1321) Paradiso eine eindrucksvolle dichterische Gestalt.

Für den genialen Mathematiker, Astronomen und Naturphilosophen Johannes Kepler (1571-1630) bildete die Harmonielehre pythagoreischen Ursprungs die tragende Leitidee seiner frühen Forschungen zur Begründung der Kopernikanischen Weltordnung oder des heliozentrischen Systems. Sie fand Gestalt im berühmten Mysterium Cosmographicum, jener fantastischen geometrischen Konstruktion, welche die fünf regulären Polyeder (oder Platonischen Körper) mit den Planetenbahnen in Beziehung bringt. Keplers Hauptwerk Harmonice Mundi (Weltharmonik), das 1619 erschienen ist, legt Zeugnis ab von einer von tiefer Religiosität getragenen Gesamtschau des Universums. Es hat auf spätere Generationen bis in unsere Zeit vielfältigen Einfluss ausgeübt.

Mathematik und Dichtung

Bemerkenswert ist der geistige Brückenschlag von Keplers Kosmologie zum schriftstellerischen Werk des Kunst- und Musiktheoretikers Hans Kayser (1891-1964) sowie dem «Glasperlenspiel» von Hermann Hesse (1877-1964). In diesem nach universaler Ganzheit strebenden Alterswerk wird die Keplersche Harmonielehre offenbar, wenn wir lesen:

«Musik des Weltalls und Musik der Meister Sind wir bereit in Ehrfurcht anzuhören, Zu reiner Feier die verehrten Geister, Begnadeter Zeiten zu beschwören.»

Über die Weltharmonik von Kepler äusserte sich Hesse mit folgenden Worten:

«Ach, wenn man nun so ein Buch ansieht, dann schüttelt es einen vor Grausen über unsere Leere, und man staunt ergriffen über die Fülle von Leben, Wissen, Ehrfurcht, Andacht, Freudigkeit, Frömmigkeit, mit welcher ein Gelehrter der Zeit um 1600 so ein Buch schreiben konnte.»

Grausen erfasst uns aber auch, wenn wir bedenken, dass der Mensch, dem diese Worte zugeeignet sind, seiner Forschungen wegen vom Abendmahl ausgeschlossen wurde!

Die historischen Wurzeln für eine Begegnung von Literatur und Mathematik gehen in die Zeit von Goethe zurück, wo Friedrich von Hardenberg (1772-1801) — unter dem Dichternamen Novalis bekannt — intensive mathematische Studien betrieb. Novalis, einer der bedeutendsten Vertreter der Frühromantik und des nach ihm benannten (von Kant beeinflussten) «magischen Idealismus» war bestrebt, die Grenzen zwischen den einzelnen Bereichen des geistigen Kosmos aufzuheben. Sein Bemühen um ein intuitives Erfassen der erkenntnistheoretischen Grundlagen der Mathematik führte ihn — ganz im Sinne von Platon — zur Überzeugung, dass sie zu ihrer Legitimierung keiner Entsprechung in der Erfahrung oder realen Umwelt bedürfen (z. B. n-dimensionaler Raum).

Novalis hat es trefflich verstanden, die Gemeinsamkeiten von Mathematik und Sprache herauszuschälen, indem er sagt:

«Wenn man den Leuten nur begreiflich machen könnte, dass es mit der Sprache wie mit den mathematischen Formeln sei. Sie spielen nur mit sich selbst drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus, und eben darum sind sie so ausdrucksvoll. Nur in ihren freien Bewegungen äussert sich die Weltseele und macht sie zu einem zarten Massstab und Grundriss der Dinge.»

Die neuere Literatur (etwa seit Edgar Allan Poe) hat ein intensiveres Verhältnis zur Mathematik. Ich meine damit die moderne Linguistik, die statistischen und informationstheoretischen Ansätze, mit deren Hilfe die Struktur der Sprache analysiert und interpretiert werden soll; aber auch die originellen Untersuchungen des Kulturphilosophen Max Bense über das Wesen der Ästhetik.

Diese neuen Methoden haben besonders im slavischen Raum und in den USA Auftrieb bekommen. Die herkömmlich ausgebildeten Sprachwissenschafter mögen vielleicht den neuen formalmathematischen Forschungsmethoden gegenüber skeptisch eingestellt sein. Persönlich glaube ich aber, dass bei echter Besinnung auf die Grundlagen und Anwendbarkeit der modernen Disziplinen die Chance bestünde, den literarisch-künstlerischen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Kulturkreis einander näher zu bringen, ein Unterfangen, das der englische Schriftsteller und Physiker C.P. Snow allerdings als fast aussichtslos betrachtet.

Mathematik, Psychologie und Parapsychologie

Im folgenden werden wir zeigen, dass die neuesten Diskussionen über die Grundlagen der Mathematik einen unverkennbar intuitiv-psychologischen Charakter aufweisen.

Der reine Rationalismus nach Descartes, der Empirismus nach Locke, aber auch der axiomatisch-formalistische Trend der modernen Mathematik im Sinne der Bourbakischen Enzyklopädie sowie die materialistischen Erklärungsversuche von Engels und Marx haben das psychologische und intuitive Element aus den exakten Wissenschaften und speziell der Mathematik weitgehend verbannt.

Doch die von Bertrand Russell eingeleitete Grundlagenkrise der Mathematik um 1900 sowie die logischen Forschungen von Kurt Gödel um 1930 (eine Theorie kann nicht zugleich vollständig und widerspruchsfrei sein), führten zu einer Neubesinnung auf die Fundamente der Mathematik und der Naturwissenschaften. Namhafte Forscher unserer Zeit, wie z. B. die Mathematiker Hermann Weyl und Brouwer sowie die Physiker Wolfgang Pauli und Walter Heitler, wenden sich zum Teil einem modernen Platonismus zu, der neben der formalen Logik und der reinen Empirie auch intuitiv-psychologische und metaphysische Elemente in die Grundlagenforschung mit einbeziehen.

Mein ehemaliger akademischer Lehrer Wolfgang Paull (1900-1958), Nobelpreisträger für Physik, bekannte sich in seiner Studie über die Theorienbildung bei Kepler zur Annahme, dass im mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess wesenhaft «präexistente innere Bilder der menschlichen Psyche» mitbeteiligt sind. Eine weitgehende

Übereinstimmung mit der Lehre vom kollektiven Unbewussten oder den Archetypen nach C.G. Jung wird hier offenbar. Der Psychologe C.G. Jung sieht die Zahl nicht nur als erstes Zählwort, sondern ganz im Leibnizschen Geiste als philosophische Idee, als Archetypus und Gottesattribut. Wenn der Kulturphilosoph Oswald Spengler (1880-1936), bekannt durch sein Werk «Untergang des Abendlandes», den Ursprung der Zahlen im Ursprung des Mythos sieht, dann deckt sich diese Aussage im übertragenen Sinne mit dem Bekenntnis eines theoretischen Physikers unserer Zeit, nämlich Walter Heitler (ehemals Professor an der Universität von Zürich), der sogar in den Gesetzen der Physik die transzendentale mathematische Dimension hervorhebt. Ich gehe im übrigen mit Heitler völlig einig, wenn er in seiner Studie «Naturwissenschaft ist Geisteswissenschaft» sagt:

«Die durch die positivistische Wissenschaft verrationalisierte Menschheit hat den Zugang zum Geist verloren und hat damit eines ihrer wesentlichsten Lebenselemente eingebüsst.»

Als Reaktion auf diesen Prozess ist das zunehmende Interesse unserer Gesellschaft an okkulten Phänomenen und ganz allgemein an der Parapsychologie zu erklären. Diese noch kaum etablierte Grenzwissenschaft untersucht Phänomene der aussersinnlichen Wahrnehmung (ASW). Auch hier werden mathematische Erklärungsmodelle und sogar statistische Inferenzverfahren eingesetzt.

Im Spannungsfeld von Mathematik und Psychologie wird man kaum den bedeutenden Genfer Psychologen Jean Piaget übergehen können. Dieser hat als erster in langjähriger Forschungsarbeit Logik und Mathematik als begriffliches Instrumentarium zur Erfassung von einfachsten Verhaltensweisen und Denkprozessen eingesetzt. Interdisziplinär gesehen ist seine wissenschaftliche Hypothese höchst bemerkenswert, wonach die formale Logik als Schema für die Psychologie der Intelligenz in derselben Relation steht wie die axiomatische Geometrie zur Realgeometrie oder Physik. Das folgende, aus diesem Jahr stammende Zitat widerspiegelt die von Piaget angestrebte Einheit von Natur- und Geisteswissenschaften:

«Mon rêve a toujours été de considérer les connaissances humaines comme étant de source biologique et culminant dans les structures logico-mathématiques.»

Mathematik, Gesellschaft und Bildung

Wenn man über Mathematik und Kultur spricht, kann man weder die Gesellschaft unerwähnt lassen, welche diese Güter verwaltet, noch das Bildungssystem, das sie vermittelt.

Vielfältigkeit, Umfang und Wesensart der mathematischen Denkweise werden auch in unserer sogenannten modernen Gesellschaft kaum sichtbar. Wenige wissen um die stürmische Entwicklung in den vergangenen 20 bis 30 Jahren, die sich in vier Richtungen abgezeichnet hat:

1. Zunehmende Axiomatisierung und Betonung des Strukturdenkens

2. Erweiterung des Anwendungsfeldes auf den Wirtschafts- und Sozialbereich

3. Einsatz des Computers in Wissenschaft, Wirtschaft und Schule

4. Modernisierung des Unterrichts auf allen Stufen

Tragendes Fundament jeglicher Kultur ist das Bildungssystem, besonders auf der Gymnasialstufe.

Wenn wir in die Vergangenheit zurückblenden, stellen wir fest, dass bis zu Anfang unseres Jahrhunderts die höhere Schulbildung für eine sozial privilegierte Klasse reserviert war. Dabei spielten Philosophie (aristotelischer Prägung), alte Sprachen und Theologie eine dominierende und gesellschaftlich integrierte Rolle.

Die Mathematik wurde mehrheitlich in Form mechanisch eingeübter Rechentechniken zu einseitiger Nutzanwendung vermittelt, wodurch sie zwangsläufig eines allgemeinen Bildungsanspruches verlustig ging. Bleibende Verdienste für eine demokratische Verbreitung der mathematischen Ausbildung haben sich der deutsche Humanist Philippe Melanchthon (1497-1560), der Philosoph des deutschen Rationalismus Christian Wolff (1679-1754) und der grosse Schweizer Pädagoge Heinrich Pestalozzi (1746-1827) erworben. Dieser empfiehlt dem Volk das Studium der gemeinen Rechenkunst, damit es «von den Grossgaunern nicht mehr betrogen, verzählt und verrechnet würde». Die mathematische Ausbildung der Mädchen wurde schon immer stiefmütterlich behandelt. So lesen wir im Vorwort zu einem Rechenbuch für das weibliche Geschlecht um 1880:

«Das Mädchen soll bloss die häuslichen Bedürfnisse richtig berechnen lernen und der gewöhnliche Wirkungskreis der Frauenzimmer beschränkt sich auf den Einkauf und Verkauf häuslicher, weiblicher Bedürfnisse.»

Eine solche Stellungnahme kann in unserer aufgeklärten und emanzipierten Gesellschaft höchstens ein mitleidiges Lächeln hervorrufen. Und doch — muss man nicht bei näherer Betrachtung den Eindruck gewinnen, dass unser gegenwärtiges Bildungssystem allzusehr im Dienste eines falsch verstandenen Fortschritts und einer Verrationalisierung unserer Gesellschaft steht?

Die Lehrpläne für Mathematik an Gymnasien sind hoffnungslos überlastet, mehrheitlich auf die Vermittlung von Fachwissen ausgerichtet, so dass für interdisziplinäre und kulturelle Belange kein Platz mehr bleibt. Auch die moderne Schulmathematik, welche den axiomatisch-logischen Aspekt überbetont, läuft Gefahr, das intuitive und ästhetische Moment mathematischen Denkens auf Kosten blutleerer Formalismen zu opfern.

Abschliessend möchte ich noch auf die Bedeutung der mathematischen Ausbildung an unserer Wirtschaftshochschule zu sprechen kommen, die unlängst auch die Jurisprudenz in ihre Lehrpläne aufgenommen hat. Der Historiker Herbert Lüthy hat vor Jahren an dieser Stelle Bedenken darüber geäussert, dass die moderne Mathematik und ihr Instrumentarium die Einheit von Human- und Geisteswissenschaften begründen könne. Er befürchtet eine esoterische Aufsplitterung der Methodologien und Terminologien, die den Furor der Mathematisierung am falschen Ort offenbart. Ich stimme diesen Befürchtungen zu, wenn man unter Mathematik lediglich das sture Einüben und unreflektierte Anwenden verschiedenartigster bezugsloser Techniken versteht.

Besondere Vorsicht ist z. B. geboten bei der Anwendung und Interpretation statistischer Inferenzverfahren, die ohne gründliche Kenntnis stochastischer Modellbildung zu grotesken Missverständnissen führen kann.

Meines Erachtens sollte an einer Wirtschaftshochschule die Mathematik nicht nur anwendungsbezogen und technisch orientiert, sondern auch im Sinne eines umfassenden Denkschemas vermittelt werden.

Beispielsweise wäre für den künftigen Juristen eine formallogische Ausbildung in Verbindung mit Informatik mindestens so förderlich wie ein Drill mit Differenzengleichungen.

Professor Beno Eckmann von der ETH Zürich — mein ehemaliger sehr verehrter Lehrer — hat das Wesen der Mathematik wie folgt charakterisiert:

«Mathematik ist eh und je in ihren simultanen Rollen Kunst und unsichtbarer Teil kultureller Tradition, Werkzeug in unserer Welt und Muster objektiver Wahrheitsfindung.»

Eine solch ganzheitliche Auffassung der Mathematik als Geisteswissenschaft mit einer «schlackenlosen Ästhetik» — um mit Dürrenmatt zu reden — und einem universellen Anwendungspotential bildet das tragende Fundament, auf dem die Gesellschaft von morgen mitgestaltet werden kann.

Mein persönlicher Wunsch geht dahin, dass mit der fast zwangsläufigen Mathematisierung und Formalisierung der Wissenschaften auch die geschichtliche Synthese und die Rückbesinnung auf gemeinsame kulturelle und religiöse Werte angemessene Berücksichtigung finden möge.