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Im Namen Gottes des Allmächtigen!

Rektoratsrede gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel

am 26. November 1982
Verlag Helbing &Lichtenhahn Basel 1982

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Lochman, Jan Milic:

Im Namen Gottes des Allmächtigen: Rektoratsrede, gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel am 26.November 1982 /Jan Milic Lochman. Basel: Helbing &Lichtenhahn, 1982. (Basler Universitätsreden; H.76) ISBN 3 7190 0834 7. NE: Universität «Basel»: Basler Universitätsreden

ISBN 3 7190 0834 7
Bestellnummer 21 00834
© 1982 by Helbing &Lichtenhahn Verlag AG, Basel

«Im Namen Gottes des Allmächtigen!»

Diese Worte stehen am Anfang des Bundesvertrages vom 7. August 1815 und danach an der Spitze aller eidgenössischen Bundesverfassungen bis heute. Sie haben eine fast 700jährige Tradition im Rücken, nach welcher die konstitutiven Bündnisse und Urkunden der Eidgenossenschaft Schweiz mit einer invocatio Dei (Anrufung Gottes) beginnen. Die ehrwürdige Überlieferung in Ehren; doch die Frage drängt sich auf: Was bedeutet solch ein Satz an der Spitze der Verfassung heute, falls wir ihn nicht bloss als feierliches Ornament auffassen wollen, sondern als Aufriss der wegweisenden Perspektive, in welcher sich die Konstitution, ja die Gemeinschaft, welcher er konstitutiv zugrunde liegt, offenbar verstehen wollen?

Dieser Frage möchte ich in einigen Schritten nachgehen. Abgesehen von seinem sachlichen Gewicht, ist mir das Thema aus persönlichen Gründen wichtig. Ich bin im letzten Jahr in den Bund der Eidgenossen aufgenommen worden und möchte diesen Schritt nicht gedankenlos mittun; der Ingress der Bundesverfassung trifft mich. Und ich bin ein Theologe: Die Anrufung Gottes ist konstitutives Element meiner Theologie — und meiner Existenz. Darum ist das Thema dieser Rektoratsrede für mich mehr als eine akademische Angelegenheit 1.

I.

Im Namen Gottes des Allmächtigen: Der Satz ist ein missverständlicher, umstrittener und auch streit-würdiger Satz. Im Verlauf des Vernehmlassungsverfahrens zum Entwurf der neuen Bundesverfassung (an welchem unsere Universität mit dem in ihrer Geschichte wohl grössten interdisziplinären Seminar recht aktiv teilnahm2) kam dies anschaulich zutage: Kaum ein anderes Stück des Entwurfs wurde so leidenschaftlich diskutiert wie unser Satz und die von ihm angeführte Präambel. Versuchen wir, das so entstandene Spannungsfeld vorläufig abzustecken, indem ich —in einer sicher subjektiv verfärbten Auswahl —auf je drei potentiell problematische und positive Aspekte des Ingresses im Zusammenhang des Präambelentwurfs von 1977 hinweise.

1. Wir beginnen mit dem Problematischen.

a) Im Namen Gottes des Allmächtigen: Der erste Satz der Bundesverfassung ist ein Glaubenssatz. Er stellt die Eidgenossenschaft anrührend unter den Namen Gottes. Aber das heutige Volk der Eidgenossen ist keine Glaubensgemeinschaft, sondern (mit KARL BARTH gesprochen) «ein aus Reformierten, Katholiken, Idealisten und Materialisten aller Art wunderlich gemischtes Volk»3. Bei weitem nicht alle Bürger finden den Glaubenssatz sinnvoll und einige fühlen sich damit direkt vor

den Kopf gestossen4. Solche Bürger dürfen nicht ignoriert oder einfach niedergestimmt werden.

b) Die Anrufung des Namens Gottes könnte in einem fetischisierenden und possessiven Sinne missverstanden werden, als Tabuisierung des Textes oder Verklärung der eigenen Sache. Die Schatten der Ayatollah-Theokratie, die sich ständig auf den Namen Gottes beruft, geben zu denken. Im politisch-historischen Hintergrund der invocatio Dei schwangen doch oft —etwa im Mittelalter —magische und sakrale Motive mit. Und im späteren populären Verständnis des Satzes gelegentlich (wie ERNST STAEHELIN vermerkte) auch etwas vom «Feld-, Wald- und Wiesenpatriotismus»5.

c) Es gibt auch theologisches Unbehagen am Präambelanfang. Es fällt auf, dass in ihren Stellungnahmen dazu Theologen oft spürbar kritischer oder gedämpfter reagieren als manche Juristen. Dies hat seinen Grund: Mit dem in der Anrufung einzig angesprochenen Prädikat «des Allmächtigen» wird das Herzstück des christlichen (und wohl auch des jüdischen) Glaubens zu abstrakt und ungenügend ausgedrückt. Viel konkreter müsste man vom Gott des Neuen (und des Alten) Bundes sprechen denn mit dem allgemeinen Allmachtsbegriff; andere Prädikate wären hier —fuir die Zielsetzungen der Verfassung noch sinnvoller — am Platz: Gerechtigkeit, Liebe, Gnade. 6

2. Es gibt in der invocatio Dei auch positive Motive, die mir bedenkenswert erscheinen.

a) Im Namen Gottes des Allmächtigen: Die Aufnahme des Satzes wird uns aus historischen (verfassungsgeschichtlichen) Gründen nahegelegt. Zwar gerät ein Schweizer Verfassungsentwurf in dieser Hinsicht unter keinen Zugzwang von aussen: Anrufungen Gottes sind in den zeitgenössischen Verfassungen eher selten. Doch von innen, von der schweizerischen Verfassungsgeschichte her, ergibt sich ein fast einhelliges Votum in dieser Richtung. «Hätten wir in unseren bisherigen Verfassungen nie eine Präambel gehabt, würde sich das Problem heute gar nicht stellen.»7 Aber wir haben sie eben, und zwar in einer fast einhelligen Einmütigkeit. Die Kontinuität solcher Überlieferung ist nicht gering zu schätzen. «Die Staaten erhalten sich durch Ideale, aus welchen sie entstanden sind»: Die staatspolitische Maxime T.G. MASARYKS gilt für die verfassungsgeschichtliche Identität jedes Staatswesens, ganz besonders eines «Bundes der Eidgenossen».

b) Es gibt grundsätzliche Gründe, welche für die Beibehaltung des traditionellen Ingresses sprechen. Wir werden die gerade angesprochene Gefahr eines magisch-sakralen Missbrauchs der Anrufung Gottes nicht aus den Augen verlieren dürfen. Der ursprüngliche Sinn solch eines Aktes ist jedoch ganz anders. Biblisch bedeutet der Hinweis auf den «Namen Gottes» keine Tabuisierung oder Stabilisierung von Werten und Verhältnissen in der Welt der Menschen, sondern vielmehr umgekehrt: die Freigabe dieser als Schöpfung und Geschichte erkannten und uns Menschen zur schöpferischen Mitverwaltung anvertrauten Welt. Darüber hinaus schützt der Hinweis auf Gott, den Unvertilgbaren, die «Unantastbarkeit des personalen Kerns jedes Bürgers im Staat»8. Im Zeitalter «totalitärer

Versuchungen» ist diese befreiende Potenz der Präambel —selbst Für diejenigen, die den Satz im Sinne eines Glaubensbekenntnisses nicht nachvollziehen können — nicht zu verschmähen, sondern vielmehr aktualisierend und konkretisierend freizulegen 9.

c) Eine solche Konkretisierung streben im neuen Verfassungsentwurf die an die Anrufung des Namens Gottes angeschlossenen Kurzsätze an: «Im Willen, den Bund der Eidgenossen zu erneuern; gewiss, dass frei nur bleibt, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen; eingedenk der Grenzen aller staatlichen Macht und der Pflicht, mitzuwirken am Frieden der Welt...» Ich finde diese Formulierung — von ADOLF MUSCHG im Auftrag der Expertenkommission verfasst —hilfreich. Mit ihnen wird der Verfassungsentwurf —und mit ihm die Eidgenossenschaft —in eine Perspektive gerückt, welche meiner Ansicht nach in einigen markanten Akzenten dem entspricht, was vom biblischen Erbe her die Anrufung des Namens Gottes politisch bedeuten kann10.

Wir fassen zusammen: Es gibt bedenkenswerte Gründe für die Beibehaltung der invocatio Dei als des ersten Satzes der Bundesverfassung, und es gibt sie ebenso dagegen. Wie ist ein solches Ergebnis zu beurteilen? Sind wir mit unserem Thema in eine Sackgasse geraten, in eine lähmende Patt-Situation? Ich glaube nicht: Wir werden dadurch vielmehr zur persönlichen Entscheidung

herausgefordert. Ausgeschlossen scheint mir bloss Gedankenlosigkeit eines von vornherein feststehenden, rechthaberisch selbstverständlichen Standpunktes, nicht jedoch eine begründete Stellungnahme. Konkret: Für einen eidgenössischen Theologen, welcher Für den traditionellen Ingress der Bundesverfassung weiterhin eintritt (und dass ich in diese Richtung neige, wurde wohl bereits sichtbar), ergibt sich die Aufgabe, unter Berücksichtigung von Einwänden zu begründen, warum ihm die invocatio Dei an diesem Ort sinnvoll und hilfreich ist. Dies möchte ich im folgenden versuchen, indem ich mich im Anschluss an unseren zweiteiligen Satz in zwei Gedankengängen zunächst der Problematik des Namens Gottes und dann dem Allmachtsproblem zuwende.

II.

Was heisst: im Namen Gottes? Die Frage nach Gott ist heute zu einem offenen Thema geworden — Für unsere Kultur und Theologie. Sie verlor ihre «Selbstverständlichkeit». Einer der grossen Beweger der Theologie der Nachkriegszeit, DIETRICH BONHOEFFER, wies auf diese Wandlungen besonders scharf- und weitsichtig hin. Im Juni 1944 schrieb er aus seiner Berliner Gefängniszelle: «Der Mensch hat gelernt, in allen wichtigen Fragen mit sich selbst fertig zu werden ohne Zuhilfenahme der <Arbeitshypothese: Gott>. In wissenschaftlichen, künstlerischen, auch ethischen Fragen ist das eine Selbstverständlichkeit geworden, an der man kaum mehr zu rütteln wagt; seit etwa 100 Jahren gilt das aber in zunehmendem Masse auch für die religiösen Fragen; es zeigt sich, dass alles ohne <Gott>geht, und zwar ebenso gut wie vorher... <Gott> wird immer weiter aus dem Leben zurückgedrängt, er verliert an Boden.»11

Diese Worte gaben Anlass zu manchem Missverständnis — etwa indem sie als Vorbereitung zum Abschied vom Glauben an Gott gedeutet wurden, als Präludium zum künftigen Atheismus. BONHOEFFER selbst dachte sie sicher anders. Er formulierte die Sätze ganz bewusst «vor Gott»: «Gott selbst zwingt uns zu dieser Erkenntnis... zu einer wahrhaftigen Erkenntnis unserer Lage vor Gott.»12 Mit einer «Liquidation des Gottesthemas» oder gar mit einer «Liquidation Gottes» hatten seine Gedankengänge nichts zu tun; wohl aber mit einem radikalen Wandel des Kontextes, in dem sich für Menschen unserer Zeit die Frage nach Gott stellt: mit der Erkenntnis der weitgehenden Nicht-Selbstverständlichkeit Gottes.

Jahrtausendelang war das Gottesthema im abendländischen Denken präsent. Nicht erst im «christlichen Zeitalter», bereits in der Antike. «Gott» gehörte zum Inventar des herrschenden Weltbildes. Die reflektierte Form dieser Zugehörigkeit war der metaphysisch-theologische Gottesbegriff —die grosse philosophisch-theologische Leistung der abendländischen Zivilisation. Gott ist das erste Prinzip und das letzte Ziel in der hierarchischen Ordnung des Seins und des Denkens, der Garant des Sinns und die letzte Bestimmung des Menschseins. «In der theistischen Metaphysik war die Gottheit der für den Bestand und den Begriff der Wirklichkeit im ganzen und im einzelnen notwendige und notwendig zu denkende Grund, der alles Endliche, das nicht aus sich selbst bestehen kann, im letzten trägt und am Sein erhält: in dem für das Ganze besten und zuträglichen Sinne.»13 Philosophisch-theoretische, praktisch-moralische und geistlich-religiöse Interessen (von den staatspolitischen und ästhetischen nicht zu sprechen) verflochten sich kumulativ zur fundamentalen Schlussfolgerung: Gott ist. Auch Theologie und Kirche dachten und handelten 12

weitgehend unter fast axiomatischer Voraussetzung eines von daher inspirierten Weltbildes.

BONHOEFFER bedenkt die Erschütterung, wenn nicht gar den Zusammenbruch dieses Weltbildes. Er weist auf den kulturgeschichtlichen und -soziologischen Prozess der Neuzeit hin, den man meistens mit dem Begriff «Säkularisierung» bezeichnet und analysiert. Er wagt dabei Prognosen, die nach 30 Jahren sicher gewisser Korrekturen bedürfen.14 Doch in der Grundsicht behält er wohl recht: Die Selbstverständlichkeit des Gottesthemas ist in unserer Kultur dahin.

Was ergibt sich aus solcher Grundsicht? Eine Endlösung der Gottesfrage? Der Tod Gottes? Tatsächlich neigen manche Zeitgenossen zu diesem Schluss. Eine Zeitlang schien selbst die Theologie ihren Kopf — das Gottesthema — zu verlieren. «Gott-ist-tot-Theologien» meldeten sich zu Wort. Doch bald fasste sie sich wieder, erwachte zur Erkenntnis, dass der Verlust einer weltanschaulich garantierten (und kulturpolitisch überwachten) Selbstverständlichkeit nicht automatisch Abdankung, sondern vielmehr Auferweckung des Gottesthemas bedeuten könnte.

Der Blick zum Ursprung half: Ist nicht der biblische Gott, der Gott der Propheten und Apostel, ein ganz und gar unselbstverständlicher Gott? Atmosphäre der Überraschung, des Staunens, des Erschreckens, vor allem: der Freude ist biblisch mit der Gotteserfahrung verbunden; bereits im Alten Testament, besonders anschaulich dann in der evangelischen Geschichte um Jesus von Nazareth herum. Kein berechenbarer, verfügbarer, programmierter

Gott ist der Gott der Propheten und Apostel, kein Computer-Gott, kein «Dieu-Machine», sondern: der lebendige Geist, das personale Gegenüber, der frei entgegenkommende Bundespartner des Menschen. Darum bekundet die Bibel nicht so sehr den Begriff Gott, sondern den Namen Gottes — so wie es mit gutem Recht unser Ingress kennt und nennt: Im Namen Gottes des Allmächtigen! Der Name heisst: Jahve, der Herr —und die Erklärung dieses Gottesnamens bringt die Unselbstverständlichkeit Gottes sehr eindrücklich zum Ausdruck: «Ich bin, der ich bin» (Ex 3,14), oder dem Hebräischen noch angemessener: «Ich werde sein, der ich sein werde». Offenbar spricht hier kein Gott der Notwendigkeit, sondern der Gott der Freiheit.

EBERHARD JÜNGEL, ein evangelischer Theologe, der sich mit der Gottesfrage in unserer Zeit unter Berücksichtigung der geistesgeschichtlichen Wandlungen der Neuzeit besonders intensiv befasst, formuliert in seinem Hauptwerk «Gott als Geheimnis der Welt» thetisch: Gott ist nicht notwendig. «Gott ist mehr als notwendig...» 15 Ich finde die schillernde Formulierung hilfreich. Gott ist nicht notwendig: Dies ist der Abschied vom selbstverständlichen Gott; vom Gott, der von vornherein in unsere regierende Weltanschauung eingebaut ist; vom Gott der Gottesbeweise, soweit sie mehr als Verständigungs- und Rechenschaftsakte des denkenden Glaubens sein wollen, nämlich darauf hinzielen, eine Anerkennung Gottes im logischen Kraftakt zu erzwingen, eben als notwendig zu erweisen. Abschied aber auch —dies ist wesentliche praktische, kultur- und gesellschaftspolitische Konsequenz — vom obligatorischen Gott, den seine Bekenner den Mitmenschen ohne Zögern über deren Köpfe und Gewissen hinweg unter Androhung von Sanktionen aufzwingen können. Von solch einem Gott ist Abschied zu nehmen, und zwar nicht bloss unter dem Druck einer gewandelten Zeit, sondern in Neubesinnung

auf den Ursprung des Glaubens. Denn der Gott des Glaubens ist anders. Er ist nicht notwendig.

Gott ist mehr als notwendig. Korrelat und Kontrapunkt zur Notwendigkeit ist Freiheit. Tatsächlich: Es gibt mir zu denken, dass der biblische Name Gott in der Freiheitsgeschichte des Gottesvolkes seinen «Sitz im Leben», die Stätte seiner Offenbarung hat. So im Alten Testament im Verlauf der Exodusgeschichte, dieses massgebenden Befreiungsgeschehens Israels. Und im Neuen Testament in unauflösbarer Verbindung mit der Ostergeschichte Jesu. Eine der eindrücklichsten apostolischen «Definitionen» Gottes lautet «der, welcher Jesus von den Toten auferweckt hat» (Röm 4,24), und das bedeutet: Auch hier wird der Name Gottes im Zusammenhang des eminenten Freiheitsanliegens proklamiert, unserem letzten Feind, dem zeitlichen und ewigen Tode, gegenüber: «Gott ist biblisch zentral identisch mit Verheissung des Lebens, mit Einbruch des Lebens in die Todeswelt.»16

Mit diesem menschlich wesentlichen Sachverhalt hat der Name Gott zu tun: mit der Begründung und Verheissung der Freiheit in der Welt der Notwendigkeiten. Wir Menschen sind in mancher Hinsicht «Geschöpfe der Notwendigkeit»: von der Natur abhängig, durch eigene psychophysische Konstitution begrenzt und bestimmt, in verwickelte Zusammenhänge der Kultur und Geschichte eingeflochten, durch Strukturen, ja Sachzwänge unseres wirtschaftlichen und sozialen Geschicks bedingt. KARL MARX hat Wesentliches erfasst, als er prägnant formulierte: «Der Mensch — das ist die Welt des Menschen.» «Das menschliche Wesen ist das <Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse>.17 Keine realistische Anthropologie kann an dem relativen Recht dieser

Sätze vorbeigleiten, auch und gerade Theologie nicht, will sie nicht im Unverbindlich-Idealistischen verbleiben.

Doch bei aller Anerkennung des Gewichts des Notwendigen setzt das Nennen des Namens Gottes zugleich den Kontrapunkt: Der Mensch ist nicht bloss die Welt des Menschen. Er geht nicht im Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse auf. In biblischer Anschaulichkeit gesagt: Aus der Erde genommen, das Kind der Notwendigkeit, ist er zum Ebenbild Gottes geschaffen, zum Kind der Freiheit; inmitten von Notwendigkeiten auf das «Mehr-als-Notwendige» bezogen. Jesus bringt diesen Sachverhalt mit dem einfachen Satz zum Ausdruck: «Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus dem Munde Gottes hervorgeht» (Mt 4,4). In diesem Wort biblischer Weisheit wird die Frage nach dem täglichen Brot keineswegs unterschätzt. Das Brot —und das heisst modern: seine Produktion und Distribution, also eine funktionierende Wirtschaft —hat seine Ehre vor Gott. Es ist kein Zufall, dass es auch in der exemplarischen Anrufung Gottes, im Vaterunser, seinen Ort hat. Doch vom Brot allein kann der Mensch nicht menschlich leben, auch nicht von noch so energischer und erfolgreicher Bemühung um seine Produktion und Distribution. Das Brot ist notwendig. Das Wort ist mehr als notwendig. Das Wort, seine Wahrheit, schafft aus Geschöpfen der Notwendigkeit die Kinder der Freiheit.

Ich möchte nicht missverstanden werden. Ich sage nicht, die Würde des Menschseins decke sich mit der Sphäre des «Mehrals-Notwendigen». Um die Würde des Menschen geht es bereits bei der «Brotfrage», in den Arbeits- und Lebensverhältnissen des Alltags. Doch hilft das Bedenken des Mehr-als-Notwendigen die Frage nach der Würde des Menschseins wirklich radikal, in ihrem unveräusserlichen personalen Kern, zu stellen. Es stellt klar: Der Mensch ist im Bereich des Notwendigen, Planbaren, Machbaren nie voll verrechenbar. Massstäbe der Produktion und Leistung — sinnvoll an ihrem Ort — reichen nicht aus, um den Wert des Menschen zu bestimmen. Dies weist die Richtung für notwendige

Bemühungen etwa um wahre «Humanisierung der Arbeitswelt» oder um menschenwürdigeres Gestalten des sozial-politischen Lebens. Dem allseits bedingten Wesen Mensch kommt die unbedingte Würde zu.

Der Name Gottes steht in der geistigen Überlieferung des Abendlandes für diese unverrechenbare Würde, für unbedingtes Menschenrecht. Sicher, es steht da nicht allein: Dem Ernstnehmen des Mehr-als-Notwendigen dient nicht bloss Theologie, sondern auf ihre Art auch Philosophie, Kunst, ja auch Wissenschaft. Und der Name Gott steht für solches Anliegen keineswegs automatisch und unfehlbar, er kann im Zugriff der Zyniker oder im Versagen der Bekenner menschenfeindlich missbraucht werden. Auch in dieser Hinsicht ist das Nichtselbstverständliche des Gottesthemas zu bedenken. Dass jedoch mit dem biblischen Gottesnamen trotz allem unauslöschbare Freiheitsinitiativen verbunden sind, die auch heute entfaltet werden können, davon bin ich überzeugt.

Ich wage diese Überzeugung nicht nur als eine dogmatische These auszusprechen, sondern als ein Stück Erfahrung aus meiner Lebensgeschichte — aus der Erfahrung eines Christen, der wesentliche Abschnitte seines Lebens im europäischen Osten verbracht hat. Dieser Bereich ist in unserem Zusammenhang von Belang, weil die osteuropäische Kultur und Gesellschaft in ihrer marxistisch-realsozialistischen Epoche jahrzehntelang zum Schauplatz eines vielschichtig und aggressiv angelegten Versuchs wurde, «die religiöse Frage zu lösen», nämlich im radikal atheistischen Sinne, also das Gottesthema aus den Annalen menschlicher Geschichte wegzustreichen. Es gab verschiedene Gründe für solches Bemühen: Neben den traditionell atheistischen Komponenten des historischen und dialektischen Materialismus sicher auch den ideologisch-machtpolitischen Wunsch der Partei, die Seele der Bürger voll in den Griff zu bekommen: Der Gottesglaube —dies spüren die Ideologen zu Recht —steht dem angestrebten Ziel eines totalen Verfügens über Menschen im Wege,

stellt im Rahmen des offiziellen kulturellen und politischen Monopolanspruchs einen «Unsicherheitsfaktor» dar; er soll also womöglich ausgeschaltet werden.

Ich möchte solche atheistischen Bemühungen nicht einfach für gescheitert erklären. Dazu ist einmal die Zeit, die ihnen bisher gegeben wurde; also jene dreissig oder sechzig Jahre des marxistischen Experimentes im europäischen Osten, zu kurz. Und darüber hinaus: Man kann gewisse Erfolge dieser Kultus- und Kulturpolitik nicht übersehen. Die Religion wurde in den osteuropäischen Ländern — mit Ausnahme von Polen — tatsächlich weitgehend zurückgedrängt, wenigstens aus dem offiziellen Kulturleben.

Doch dies ist nur die eine Seite. Zu meinen stärksten theologischen und menschlichen Erfahrungen in der Tschechoslowakei gehörte die Feststellung, dass dieser Prozess, das Geschick der Gottesfrage in einer atheistisch projektierten Kultur und Gesellschaft, kein geradliniger, eindimensionaler, sondern ein gespannt dialektischer, zweiseitiger war. Das offiziell verschwiegene Thema verschwand nicht aus den Lebensinteressen der Menschen, sondern wurde gerade im Verlauf seiner geplanten Verdrängung für manche zu einem erst recht frag-würdigen (in beiden Aspekten dieses deutschen Wortes), brisanten und also höchst gegenwärtigen Thema. Ja das Gottesthema gewann gerade in dem Augenblick, wo es des Schutzes durch die offizielle Gesellschaft verlustig ging, wo es durch Erschütterung aller weltanschaulichen Selbstverständlichkeit von aussen und innen kulturell «heimatlos» wurde, an neuer Glaubwürdigkeit.

Es war kein Zufall, dass im Verlauf des christlich-marxistischen Dialogs der sechziger Jahre die neue Relevanz der Gottesfrage sogar für die beteiligten Marxisten ersichtlich wurde. Dies zeigte sich vor allem in zwei wesentlichen Bezügen: im Zusammenhang des Suchens nach einer tragfähigen Begründung personaler Identität im Leben und dem Tode gegenüber; und in der Frage nach einer möglichen Öffnung des etablierten, dogmatisch

fetischisierten Systems, nach einer «Transzendenz», die es ermöglicht, menschenfreundlichere Möglichkeiten gesellschaftlichen Geschicks aufzubrechen: An den «harten Grenzen» des stalinistischen Alltags erwies das Thema Gott —individuell und kollektiv —seine unverbrauchte Lebenskraft. Der bekannte Titel des Buches des Marxisten VÍTÉZSLAV GARDAVSKY, das diesem Dialog entsprang, «Gott ist nicht ganz tot» (1967), war kein launischer Einfall; er hatte seinen «Sitz im Leben» in höchst realen Fragestellungen menschlicher Existenz. Dies bleibt auch für anders geartete Verhältnisse unserer westlichen Gesellschaft gültig: Wo wesentliche menschliche Fragen aufbrechen, also: die Sehnsucht nach einem personalen, unverrechenbaren und mit sich selbst identischen Menschsein einerseits und die grosse Frage nach einer offenen und solidarischen Gesellschaft andererseits, da wird das unselbstverständliche Thema Gott wieder aktuell.

Es ist diese Erfahrung und Erkenntnis, die mich dazu bringen, das Beibehalten der invocatio Dei an der Spitze der Bundesverfassung als sinnvoll zu erachten. Es scheint mir nicht überflüssig zu sein, wenn sich ein Staatswesen, das sich als Bund der Eidgenossen versteht, gleich am Anfang seines Bemühens, Bedingungen des Zusammenlebens seiner freien Bürger zu regeln, auf den Ursprung besinnt, auf die Grenzen, welche allem notwendig Machbaren durch das Mehr-als-Notwendige gesetzt sind: In nomine Domini! Im Namen Gottes!

III.

Im Namen Gottes des Allmächtigen! Die Anrufung Gottes in unserer Bundesverfassung wiederholt nicht bloss die invocatio des Bundesbriefes, sondern ruft Gott als den Allmächtigen an. Ich habe auf die theologische Problematik dieses Zusatzes bereits hingewiesen: Dem eigentlichen Inhalt des biblisch verstandenen Gottesnamens wird die allzu allgemeine, ja abstrakte Aussage

«des Allmächtigen» kaum gerecht.18 Der Begriff ist theologisch zu präzisieren und biblisch zu füllen, wenn man ihn beibehalten will. Doch mit diesem Vorbehalt kann er als Ingress der Verfassung seinen wegweisenden Dienst tun. Er bezieht sich pointiert auf einen für jedes Staatswesen kritischen Fragenkomplex: das Machtproblem. Damit sind wir beim anderen Hauptteil unserer Überlegungen angelangt.

Vor nicht ganz hundert Jahren äusserten sich zwei der einflussreichsten Denker der Zeit in einer besonders pointierten Weise zur Frage der Macht. Sie taten dies vom gleichen Standort, der Universität Basel, aus, im Blick auf die gleichen weitgeschichtlichen Erscheinungen und im Ausblick auf das kommende 20. Jahrhundert. Sie kamen aber zu entgegengesetzten Schlussfolgerungen. FRIEDRICH NIETZSCHE erteilte eine entrüstete Absage an die christliche und demokratische «Herdentier-Moral» mit ihren Idealen «Gleichheit der Rechte», «Mitgefühl für alles Leidende», «Sicherheit und Frieden». Sie führe zu einer allgemeinen Verflachung und Dekadenz des Menschengeschlechtes. Die «zukünftigen Herren der Erde» müssen andere Wege einschlagen: «zur Erhöhung des Typus Mensch» sind «Härte, Gewaltsamkeit, Gefahr auf der Gasse wie im Herzen, Ungleichheit der Rechte» notwendig. Unsere Zukunft liege im gesteigerten Lebenswillen «bis zu einem unbedingten Willen zur Macht und zur Übermacht»19.

Ganz anders der Kollege und Freund NIETZSCHES, JAKOB BURCKHARDT. Die Bilanz seiner «Weltgeschichtlichen Betrachtungen» und seine Botschaft an das kommende Jahrhundert münden in eine eindrückliche Warnung aus: Wenn man den Gang europäischer politischer Geschichte nüchtern verfolge, so 18

zeige sich ein unheimlicher Drang zur Macht. «Und nun ist diese Macht an sich böse, gleichviel, wer sie ausübt. Sie ist kein Beharren, sondern eine Gier und eo ipso unerfüllbar, daher in sich unglücklich und muss also unglücklich machen...»20.

Wenn wir die weltgeschichtlichen Entwicklungen unseres Jahrhunderts betrachten, so kann man sich kaum der Feststellung entziehen, dass die kontradiktorische Prophetie der beiden Basler in ihren Erwartungen weitgehend bestätigt wurde. Unser Jahrhundert steht unter dem Vorzeichen einer unerhört gesteigerten und bedrohlichen Macht. Sie explodierte auf besonders spektakuläre Weise in den grausamsten Kriegen der bisherigen Geschichte. Sie versteckt sich heute hinter dem äusserst gefährlichen «Gleichgewicht des Schreckens», dessen Waffenpotential in seiner Zerstörungskraft fähig ist, unserem Leben auf diesem Planeten das Ende zu setzen. Und sie treibt auch im Alltag auf verschiedenen Ebenen —politisch, ökonomisch, ökologisch — unheimliche Auswüchse der Arroganz: der Arroganz der Macht.

Was geschieht, wenn in einer so machtbeladenen, ja machtbesessenen Welt der Satz «Im Namen Gottes des Allmächtigen» verbindlich gesprochen und ernst genommen wird? Etwas pathetisch könnte man sagen: dann ist eine «Revolution im Machtbegriff» im Gange. Nüchterner: Indem an die massgebende Macht Gottes, die Macht aller Mächte, appelliert wird, wird eine kritische und positive Überprüfung unseres Machtverständnisses angeregt und inhaltliche Konkretisierung der Machtfrage im Lichte der Macht Gottes, sowie sie sich im Verlauf der biblischen Geschichte manifestiert hat, nahegelegt.

Das bedeutet alttestamentlich: Ist die Macht Gottes exemplarisch im Exodus- und Bundesgeschehen offenbar geworden —und dies ist die Meinung der Propheten —so ist die legitime Macht auf

Freiheitsgewinn des Volkes —der «Eidgenossen» —auszurichten. Und das heisst neutestamentlich: Ist die Macht Gottes auf dem Wege Jesu von Nazareth, vor allem in seiner Ostergeschichte «Fleisch geworden» — und dies ist das einhellige Zeugnis der Apostel —, dann tendiert eine legitime Macht nicht auf gnadenlose Übermacht, auf Herrschaft über andere, sondern behauptet sich als geteilte, Anteil nehmende und gebende Macht. «Denn der Menschensohn ist nicht gekommen, damit ihm gedient werde, sondern damit er diene und sein Leben hingebe für viele» (Mk 10,45).

Der Apostel spricht im Blick auf diesen biblischen Hintergrund von der wahren Macht als der «Kraft des unzerstörbaren Lebens» (Hebr 7,16). Sein Ausdruck gibt zu denken. Es gibt offensichtlich zerstörerische Mächte des zerstörbaren Lebens. Wir erleben und erleiden sie jeden Tag. Doch im Namen Gottes des Allmächtigen haben sie kein bleibendes Recht und darum keine wirkliche Zukunft mehr. Als zerstörerische Mächte sind sie zuletzt selbstzerstörerisch. Tatsächlich: Wie viele Machtansprüche und -auswüchse sind auch vor unseren Augen zusammengebrochen! Wirklich bleibend vor Gott und unter den Menschen ist die «Kraft des unzerstörbaren Lebens», und dies ist biblisch die Liebe, denn nur sie «ist stark wie der Tod» (Hohelied 8,6), nur sie «vergeht nie» (1 Lor 13,8). Wenn es in unserer machtbesessenen Welt einen wirklich schöpferischen Neuanfang gibt, dann aus vergehender und versöhnender Liebe — aus dem Geist der Gnade.

Dies ist, wenn ich recht verstehe, der Zielbegriff, die Wegweisung, für das Machtproblem im Lichte des ersten Satzes der Bundesverfassung. Nur: Dabei kann man noch nicht stehenbleiben. Die grossen Signale und Tendenzen — wie eben: Liebe, Gnade — müssen vermittelt und konkreter umgesetzt werden. Sonst sind sie missverständlich, ja missbrauchbar. Ein Schweizer Theologe hat das Wort PESTALOZZIS von der «Mistgrube der Gnade» im Ohr, also vom billigen, unvermittelten, reale Konflikte

vertuschenden Gnadenbegriff. Solch eine Vermittlung im Blick auf die konkreten Bestimmungen der Verfassung und im Bezug auf die gesellschaftliche Wirklichkeit kann kein Theologe allein leisten. Juristen, Politologen und praktische Politiker haben hier eine viel grössere Kompetenz. Doch auch ein Theologe darf sich nicht vor der Verpflichtung drücken, konkretisierende Konsequenzen des Ingresses von seinem — zugegebenerweise beschränkten —Standpunkt her anzudeuten. In drei Hinweisen, in drei miteinander verbundenen Schritten, möchte ich dies versuchen. Stichwörter: Entmythologisierung der Macht, Macht und Recht, Recht und Liebe.

1) Wir greifen auf die bereits erwähnten Stellungnahmen NIETZSCHES und BURCKHARDTS zurück. Beide stimmen, trotz gegensätzlicher Bewertung des Phänomens, in einem wichtigen Punkt überein: Sie diagnostizieren im menschlichen Machtstreben einen Zug zu «immer mehr Macht», zur «Übermacht» (NIETZSCHE), «eine Gier... sich zu steigern» (BURCKHARDT). Die historischen Erfahrungen bestätigen dieses Urteil gerade in unserem Jahrhundert mit drastischer Anschaulichkeit. Hier ist christliche Theologie herausgefordert. Es gilt, solche Tendenzen zu entlarven, auf sie aufmerksam zu machen und ihnen resolut entgegenzuwirken. Sie wird sich dabei nicht gleich dem Pauschalurteil BURCKHARDTS anschliessen müssen: Nicht ist «die Macht an sich böse, gleichviel, wer sie ausübt». Es gibt legitime Macht, nämlich die Chance und das Recht des Menschen, als Einzelner und als Gemeinschaft, trotz all den Fremdbestimmungen der Natur oder Gesellschaft zum Subjekt seines eigenen Lebens zu werden. So ist auch im politischen Leben nicht einfach die «Abschaffung der Macht», sondern vielmehr ihre «Umverteilung», konkret: Demokratisierung anzustreben, im beharrlichen Einsatz für Erhöhung der Lebenschancen der Ohnmächtigen. Doch den notorischen Versuchungen der Macht gegenüber kann man nie kritisch genug sein.

Hier kommt uns die Erinnerung an die Macht Gottes zu Hilfe. Es fällt doch auf, wie scharf die prophetische Botschaft selbstherrliche menschliche Macht ins kritische Auge fasst, und zwar sowohl in ihrem anthropologischen Fundament (man denke etwa an die Sündenfallgeschichte und an die Geschichte vom Turmbau zu Babel in Genesis 3 und 9) wie auch im Blick auf konkrete geschichtliche Erscheinungen der Machtgier. «Im Namen Gottes des Allmächtigen» erinnert an den wahren Sachverhalt. Nur einer ist allmächtig. Der Traum menschlicher Omnipotenz ist sündhaftes Missverständnis unserer Bedingung — der «Gotteskomplex», die «eritis-sicut-Deus (ihr werdet wie Gott sein)-Versuchung», zerstörerisch und seibstzerstörerisch. Darum «entmythologisieren» die Propheten und Apostel diesen Traum, drängen auf kritische Nüchternheit im Umgang mit der Macht. Immer wieder wird —zum Teil heftig polemisch —die Alternative aufgezeigt, um aus dem Todesrausch der entschränkten Macht aufzurütteln. Das Bundesvolk —Israel, die Kirche —soll an die andere, an die Macht Gottes erinnern und sie im Wort und Verhalten bezeugen. «Nicht durch Heeresmacht und nicht durch Gewalt, sondern durch meinen Geist! spricht der Herr der Heerscharen» (Sach 4,6; vgl. auch Ps 20; Prov 21,31 u.a.).

2) In der positiven Weiterführung der «Entmythologisierung der Macht» ist meinem Verstehen nach die Bedeutung des Rechtes hervorzuheben. Das Recht ist menschliches Mittel und menschlicher Versuch, der Willkür der Macht Schranken zu setzen. Sicher, ein oft nur brüchiges Mittel, das nur zu leicht entschärft oder manipuliert werden kann; ein Damm, welcher vom angestauten Machtstrom immer wieder durchlöchert und durchbrochen wird. Kein Wunder, dass die Bedeutung des Rechts unter uns bis heute von rechts und links, von autoritären und antiautoritären Strömungen, herabgesetzt wird. Christliche Theologie sollte sich der Unterschätzung des Rechtes nicht anschliessen. Der Damm ist, trotz und in seiner Brüchigkeit, beharrlich aufzubauen.

Wieder kann uns Besinnung auf die Macht Gottes in diesem Anliegen zu Hilfe kommen. «Die heilige Schrift redet von Gottes Macht.., nie abgelöst vom Begriff des Rechtes: Die Macht Gottes ist von Haus aus die Macht des Rechtes. Sie ist nicht bloss potentia, sondern potestas, also legitime, im Recht begründete Macht.»21 Ich erinnere an unsere Hinweise auf alttestamentliches Verständnis der Macht: Im Exodusgeschehen geoffenbart, zielt die Macht Gottes auf den Bundesschluss, auf die Rechtsetzung des Volkes Gottes hin. Sie ist keine absolute, in sich selbst ruhende, sondern eine «relative», auf den Bundespartner ausgerichtete Macht. «Der Allmächtige beugt das Recht nicht.» (Hiob 34,12)

In diesem Zusammenhang scheint es mir von Belang, sich den spezifisch christlichen Gottesbegriff zu vergegenwärtigen. Wer ist christlich der «Gott der Allmächtige»? Im Sinne des zentralen kirchlichen Dogmas «Gott der Vater, der Sohn und der Heilige Geist», der dreieinige Gott. Wenn die höchste Macht im trinitarischen Sinne zu verstehen ist, dann ist sie keine «monokratische», keine «monologische», sondern eine «demokratische», «dialogische» Macht. Sie kennt zwar eine relative Über- und Unterordnung. Aber «Über- und Unterordnung in der Liebe, im dialogischen Leben, in der Freiheit, kurzum im Raume gerechter Macht, die den Untergeordneten gerade nicht entmachten, sondern ihm Anteil an seiner Macht geben will. Der Gedanke partizipativer Mitherrschaft der Glaubenden mit Gott (2 Tim 2,12) hat hierin seinen Grund.»22 Mit gutem Recht und anregend hat der Basler Staatsrechtler MAX IMBODEN auf die geistesgeschichtlichen Verbindungen zwischen dem trinitarischen Gottesbegriff und den rechtsstaatlichen Ideen von der notwendigen Eindämmung der Macht durch Gewaltenteilung hingewiesen23.

3) Der Schritt von Macht zu Recht kann in der Perspektive der Macht Gottes nicht der letzte bleiben. «Im Namen Gottes des Allmächtigen»: Diese Anrufung regt Initiativen der Liebe an. In diese Richtung weist doch eindeutig das Machtzeugnis des Neuen Testaments. Erinnern wir uns: Das letzte neutestamentliche Wort zum Thema Macht Gottes bezieht sich auf den Gekreuzigten und Auferstandenen, meint die Liebe Jesu. Sie ist die letzte Macht und deshalb der für den Glauben wegweisende Orientierungspunkt in der Welt der Mächte. Sie wurde im Leben Jesu vorgelebt und vorgelitten, sie wurde in seiner Lehre, vor allem wohl in der Bergpredigt und in dem Doppelgebot der Liebe, eindrücklich artikuliert. Ihr gilt es nachzufolgen.

Ein Missverständnis —und möglicher Missbrauch —ist dabei ständig im Auge zu behalten: Religiöse Orientierung auf Liebe ist der Gefahr und dem Verdacht unverbindlicher Sentimentalität ausgesetzt. Man strebe himmlische Höhen reiner Gesinnung und Ideale an und sehe von den Niederungen irdisch-materieller Verhältnisse ab. Doch die Liebe im neutestamentlichen Sinne ist anders. Sie ist auf «Fleischwerdung» aus, auf konkrete Nöte des Leibes, der Seele und des Geistes ausgerichtet. Die neuere ökumenische Sozialethik spricht mit Recht von der «Liebe durch Strukturen» und ermutigt dadurch zur schrittweisen Umsetzung von Liebesinitiativen in strukturelle Massnahmen, welche ganz nüchtern «weniger Ungerechtigkeit» und «mehr Gerechtigkeit» anstreben.

Der indische Ökumeniker und Ökonom S. L. PARMAR drückt diese Tendenz in folgenden Sätzen aus: «Die Strukturen der Ungerechtigkeit sind immun gegen sentimentale Aufrufe. Macht kann Liebe nur zum Ausdruck bringen, indem sie die Gerechtigkeit fördert. Der erste Schritt in der Entwicklung solcher Macht ist Widerstand gegen Ungerechtigkeit. Die prophetische Ermahnung, <es ströme die Gerechtigkeit wie ein unversiegender Bach> und die Lehre Christi <Liebe deinen Nächsten wie dich selbst>sind integrale Teile der Kraft, welche nötig ist. In diesen

Aufrufen wird die bestehende Ungerechtigkeit in Beziehungen, Institutionen und Worten herausgefordert.»24 Um solche Schritte der Nachfolge geht es auch und gerade im politischen Raum. Wir haben notiert: Macht ohne Recht wird unseriös, zerstörend und selbstzerstörend. Nun müssen wir auch sagen: Recht ohne Liebe droht zu erstarren, zur Lieb- und Gnadenlosigkeit zu werden. Darum ist ein offener Horizont der Liebe, die nach «grösserer Gerechtigkeit» (im Sinne der Bergpredigt und des Liebesgebotes Jesu) drängt, im Interesse des Rechts und zuletzt auch der politischen Strategie zur Machteindämmung.

In dieses Licht stellt der Ingress «Im Namen Gottes des Allmächtigen» meinem Verstehen nach unsere Bundesverfassung — und unser Verhalten und unsere Verhältnisse in der Eidgenossenschaft. Ich weiss: Konfrontiert mit unserem Alltag erscheint solche Zielsetzung fast irreal — zu schön, um wahr zu sein. Ich habe darüber keine Illusionen. Doch möchte ich anderseits auch keinen Desillusionen verfallen. Das Licht ist nicht ganz spurlos an der Eidgenossenschaft vorbeigegangen. Es gibt Spuren in unserer Geschichte und selbst in unserer Gegenwart. Ist es ein Zufall, dass gerade in der von der invocatio Dei inaugurierten Eidgenossenschaft nüchternes Misstrauen jedem ungeklärten Machtbegriff gegenüber bewahrt wurde —stärker jedenfalls als bei allen ihren Nachbarn —, mit beharrlichen Bemühungen um demokratisch-föderalistische Kontrolle der Macht? Und ist es Zufall, dass in dem «Bund der Eidgenossen» ein relativ starkes Rechtsbewusstsein entwickelt wurde?

Natürlich gibt es Defizite, vor allem wohl was den dritten Schritt, vom Recht zur Liebe, betrifft. Auf manche Aussenstehende — und im zunehmenden Mass auch auf die Jugend im eigenen Land —macht die Eidgenossenschaft den Eindruck gewisser

Kälte: ein «kaltes Paradies»25. Zwar ist die Vermutung von ANDRÉ GIDE, jeder Schweizer trüge in seinem Herzen einen Gletscher, meiner Erfahrung nach arg übertrieben. Doch Schritte zur solidarischeren Mitmenschlichkeit zu wagen —dies ist die grösste Herausforderung für die Schweiz von morgen, hier vor allem liegt unser Nachholbedarf.

Kann dabei eine Verfassung helfen? Nun, der Schritt vom Recht zur Liebe kann nicht gesetzlich geregelt, solidarischere Mitmenschlichkeit nicht erzwungen werden. Jede Verfassung hat in diesem Sinne ihre Grenzen. Es ist jedoch nicht gleichgültig, ob sich eine Verfassung solcher Grenzen bewusst ist und sie bewusst offenhält, also den jeweiligen Ist-Zustand nicht fetischisiert, sondern politisches Leben in einen freien, nie endgültig abgeschlossenen Horizont stellt. In der Begrifflichkeit des ersten Teiles dieser Rede ausgedrückt: Es ist gut, wenn notwendige Regelungen — die Regelungen des Notwendigen — vom «Mehr-als-Notwendigen» wissen, und darauf hin «durchlässig» sind. Und da bin ich überzeugt: Eine Verfassung, die sich unter den Namen Gottes des Allmächtigen rufen lässt, erhält daher die Ermutigung, sich der Grenzen des Politischen bewusst zu bleiben, im Wissen um die Vorläufigkeit unserer —in dieser Vorläufigkeit sinnvollen —Versuche; also der für das Streben nach «höherer Gerechtigkeit» offenen Grenzen. Quod erat —quod erit! —demonstrandum.

IV.

Ich komme zum Schluss. Bei unserem Versuch, dem Sinn des ersten Satzes der Bundesverfassung nachzugehen, haben wir primär an die Eidgenossenschaft gedacht. Unser letzter Blick soll

ihrer ältesten Universität gelten. Dies ist nicht willkürlich. Nicht nur die Eidgenossenschaft, sondern auch die Basler Universität wurde in der Anrufung Gottes begründet.

Fast jeden Tag betrachte ich die Sätze, die mich von den Wänden unseres Kollegiengebäudes ansprechen: «Mortalis homo ex dono Dei per assiduum studium adipisci valet scientiae margaritam quae eum ad mundi arcana cognoscenda dilucide introducit et in infimo loco nates evehit in sublimes.» Dies ist eine verkürzte Fassung der einleitenden Worte aus der Stiftungsbulle von Pius II. Der Stifter setzt damit seiner werdenden Universität das grosse Ziel, als «Gabe Gottes durch beharrliches Studium die Perle der Wissenschaft zu erlangen. Sie weist den Weg zu gutem und glücklichem Leben... Sie macht den Erfahrenen Gott ähnlich und führt ihn zum klaren Erkennen der Weltgeheimnisse hin... Sie hebt die in tiefster Niedrigkeit Geborenen zu den Erhabensten hinauf.»

Was heisst das26? Der Ursprung der Universität liegt im Ringen mit der Frage nach der elementaren Bedingung und Bestimmung des Menschseins. Sie dient dementsprechend nicht beliebigen Interessen und Bedürfnissen der Zeit; diese dürfen und sollen zwar berücksichtigt und aufgenommen werden, doch nicht ohne die begleitende kritische Frage nach ihrem Sinn, nach ihrem wahren Wert im kosmischen Kontext und vor Gott. Darum spricht die Stiftungsurkunde vom Erhellen der «Geheimnisse der Welt», aber auch von der Erfahrung, die den Menschen «Gott ähnlich macht» und die Niedrigen auf ein menschenwürdiges Niveau erhebt. Diese Universität begnügt sich offenbar nicht damit, eine Anstalt zum Züchten von tüchtigen Fachleuten zu sein; sie will vielmehr zu einer Gemeinschaft der Sinnsuchenden werden, zu einer officina humanitatis (COMENIUS), zu einer Werkstatt der Menschlichkeit.

Beim Bild von der «Perle der Wissenschaft» klang den mittelalterlichen Zeitgenossen das Gleichnis Jesu im Ohr: Das Reich Gottes sei einer überaus kostbaren Perle ähnlich; es lohne sich, all seine Habe zu verkaufen, um sie zu erwerben. Das will sagen: Es gibt Ziele im menschlichen Leben, für welche sich ein weiser Mensch ohne Reserve ganz einsetzen darf und soll. Dieses Ziel schwebt dem Stifter für seine Universität vor: Im «beharrlichen Studium» gehe es —bei Lehrenden und Lernenden —um mehr als Broterwerb und verrechenbaren Nutzen; es stehe unter der Verheissung und Verpflichtung des «Mehr-als-Notwendigen».

Im Namen Gottes des Allmächtigen!