Bauernregeln
Ansprache des abtretenden Rektors,
Professor Dr. Alfred Meier
Als ich vor gut vier Jahren zum Rektor gewählt wurde, erhielt
ich zahlreiche Gratulationsschreiben mit der schlichten Behauptung
«Würde bringt Bürde». Dieser Gemeinplatz entlockte mir
damals bloss ein mitleidiges Lächeln. Seither habe ich eine ziemlich
klare Vorstellung von dem gewonnen, was mit dem Gemeinplatz
gemeint ist, doch halte ich mich an eine andere
schlichte Formulierung: «Lasst ihr euch mit Ämtern schmücken,
so klaget nicht, wenn sie euch drücken.»
Die beiden Sprüche tönen wie Bauernregeln. Bauernregeln enthalten
nun eben Alltagserfahrungen, bewährte, alte Grundsätze
der Ordnung und eine volkstümliche Weltanschauung, Moral und
Ethik; es ist eine bunte Mischung von Sinn und Unsinn, von
Erfahrung und Wissen, von magischem Aberglauben. Wer
meint, so etwas passe nicht in die akademische Welt, zu einer
Hochschule, der mag vielleicht für den eigentlich wissenschaftlichen
Bereich recht haben. Als Rektor hingegen ist man durchaus
mit einer bunten Mischung aus Sinn und Unsinn, mit Wissen
und magischem Aberwissen konfrontiert. Bei meinen nach folgenden
Bemerkungen über das abgelaufene akademische Jahr
sowie über einige Rektoratserfahrungen möchte ich deshalb
Bauernregeln heranziehen und vereinzelt auch selbst formulieren,
um die Quintessenz auszudrücken.
Im vergangenen akademischen Jahr berührte uns besonders
schmerzlich der frühe Hinschied unseres langjährigen und verdienten
Verwaltungsdirektors, lic. rer. publ. Walter Aeberli, dessen
Verdienste ich an anderer Stelle gewürdigt habe. Wir werden
ihm ein ehrendes Andenken bewahren.
Zwei aktuelle Anliegen der Hochschule sind von besonderer
Bedeutung: die Überwindung der Raumnot durch einen Ergänzungsbau
und die Verstärkung der Forschungs-, insbesondere
der Instituts finanzierung. Beide Probleme sind verschiedentlich
eingehend dargelegt worden. Hier fühle ich mich an eine bäuerliche
Beschwörungspraxis erinnert: In Goms (Kanton Wallis)
wurden bei Trockenheit Bittgänge in die Erner Waldkapelle getan.
Falls die lauten Gnadenrufe ohne Wirkung blieben, sagte
man: «Wenn es au kei Räga ge het, so het es doch niene
brennt.»
Ganz so billig müssen wir uns nicht trösten, denn unsere Gnadenrufe
sind nicht ohne Wirkung geblieben: Der Projektwettbewerb
für den Ergänzungsbau hat stattgefunden, und die Mittel für
die Forschungsförderung konnten im Rahmen des Budgets etwas
erhöht werden. Aber das ist natürlich nicht der Regen, der
die Trockenheit beseitigt, sondern nur der sprichwörtliche Tropfen
auf den heissen Stein.
Von den zahlreichen weitern Personal- und Sachgeschäften
seien nur drei erwähnt:
Erstens erliess der Hochschulrat neue Promotionsordnungen,
der Senat neue Studienordnungen für die Doktorate, die an der
HSG abgelegt werden können. Die neuen Ordnungen bezwecken
eine Anpassung an die neue Studienordnung auf der Grund- und
Lizentiatsstufe, die Einführung des juristischen Doktorstudiums
sowie einige Modifikationen aufgrund bisheriger Erfahrungen
auf der Doktorandenstufe. Die hauptsächlichen Änderungen
sind:
• eine stärkere Ausrichtung auf den wissenschaftlichen Gehalt
der zu erbringenden Leistungen
• die Schaffung einer Rahmenordnung bezüglich des Lehrangebotes,
innerhalb der die Abteilungen flexible, ihren Fach-
und Ausbildungsbedürfnissen angepasste Lösungen treffen
können
• die Straffung und Vertiefung der Doktorprüfungen.
Zweitens überprüfte eine Kommission das Berufungsverfahren
für Professoren. Dabei zeigte sich, dass das Verfahren gemäss
Hochschulstatut durchaus zweckmässig ist. Bezüglich des Vorgehens
im einzelnen machte die Kommission eine Reihe von
Empfehlungen an die Abteilungen, die insbesondere eine Anhebung
des wissenschaftlichen Niveaus bezwecken. Die Berufungspraxis
ist äusserst wichtig, denn selbstverständlich ist die
Qualität der Professoren von ausschlaggebender Bedeutung für
Lehre und Forschung an einer Hochschule, gemäss der Bauernregel
«Ein guter Mähder ist die beste Sense.»
Drittens schliesslich wurde ein neues Reglement über den
EDV-Bereich erlassen. das wesentlich kürzer ist als das entsprechende
alte Reglement, was hoffentlich eine Tendenzwende im
Reglementierbereich bedeutet.
Obwohl ich bei meinem Amtsantritt als Rektor nicht das Gefühl
hatte, besonders naiv und im Umgang mit Menschen unerfahren
zu sein, wurde ich dann doch etwas überrascht durch gewisse
Verhaltensweisen und Vorkommnisse. Drei solche Erfahrungen,
formuliert im Stil von sinnig/unsinnigen Bauernregeln, möchte
ich hier erwähnen.
Erstens: Wer denkt, die Leute seien empfindlich, täuscht sich:
Sie sind noch viel empfindlicher:
• Funktionäre aller Art erwarten peinliche Respektierung ihrer
Kompetenzen
• Graue Eminenzen und Stars erwarten Reverenzbezeugungen,
eventuell eigentliches Bartkraulen.
Wer das vergisst, hat sich die Folgen selber zuzuschreiben,
denn, was übelgenommen werden kann, wird.
Zweitens: Dozenten aller Kategorien, die noch nicht an der
Spitze der Hierarchie angelangt sind, wollen weiterkommen. Sie
haben sozusagen den Marschallstab noch im Tornister. Man
erhält deshalb viel Papier z. K. —«zwecks Karriere». Wer weiterkommen
will, macht es zuweilen wie der Pfau: Er demonstriert
sein Festtagsgefieder. Das Alltagskleid und die täglichen Leistungen
sind dann aber oft weniger eindrücklich.
Drittens: Alle paar Wochen oder Monate tauchen Probleme und
Schwierigkeiten auf, mit denen man nun wirklich nicht gerechnet
hat, meist noch gehäuft, so dass man dann den Eindruck hat:
Was schief gehen kann, tut es.
Das sind einige der Besonderheiten einer exekutiven Tätigkeit,
an die sich ein Professor erst gewöhnen muss.
Während meiner Rektoratszeit gab es kaum Probleme mit den
Studenten, wenige mit Dozenten und Hochschulbehörden. Am
ehesten bestanden — aus meiner Sicht —Schwierigkeiten im
Verhältnis zwischen Hochschule und Öffentlichkeit.
Die Qualität unserer Studenten hat sich nach meinen Feststellungen
nicht grundsätzlich geändert. Es ist nach wie vor so, dass
die Möglichkeiten einer Ausbildungsinstitution, auch einer Hochschule,
begrenzt sind: «Wenns nid am Holz isch, so giits kei
Truube.»
Das Holz war bisher im Durchschnitt stets gut —obwohl natürlich
im einzelnen unterschiedlich —, und zweimal pro Jahr, im
Frühling und im Herbst, hat es Trauben beziehungsweise Lizentiaten
und Doktoren gegeben, die von der Praxis bestens aufgenommen
wurden.
Dankbar anerkennen möchte ich, dass mit den Studentenschaftsfunktionären
und den einzelnen Studenten jederzeit ein
vernünftiges Gespräch möglich gewesen ist. Zwar haben sie
wohl das Lesebuch für die schweizerische Jugend aus dem
Jahre 1865 nicht gelesen und auch nicht die darin enthaltene
Bauernregel, wonach Ordnung im Stall das halbe Futter sei. Aber
jedenfalls waren sie bei aller Kritik im einzelnen stets kooperationsbereit
und Argumenten zugänglich und haben damit das
Ihre zur Aufrechterhaltung einer selbstverständlichen Ordnung
beigetragen. Nur unter solchen Verhältnissen ist aber eine
fruchtbare Lehr- und Forschungstätigkeit möglich. Es ist ja paradox,
dass die Studenten gerade im konservativen St. Gallen
zuerst formelle Mitbestimmungsrechte in sämtlichen Hochschulorganen
erhielten. Ich kann heute erklären, dass unsere
Erfahrungen mit dieser studentischen Mitbestimmung eindeutig
positiv sind.
Was die Dozenten anbetrifft, so scheint mir —abgesehen von
individuellen persönlichen oder sachlichen Problemen —insbesondere
das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit der Lehre
und Forschung einerseits und durchorganisiertem Betrieb anderseits
von Bedeutung, der Gegensatz von schöpferischer Freiheit
und reglementierter Administration. Gerade der Rektor wird
deshalb zum Adressaten divergierender Erwartungen. Solange
alles gut geht, möchten manche Kollegen, dass der Rektor sie
ja in Ruhe lässt und höchstens einige Male pro Jahr den Talar
anzieht und eine schöne Rede hält. Wenn dann allerdings etwas
schiefgeht oder materielle Bedürfnisse auftauchen, dann erwarten
sie sofortige, möglichst rückwirkende, kraftvolle Unterstützung.
Schizophrenes Verhalten kommt demnach auch bei ganz
besonders gescheiten Leuten vor.
Was die Hochschulleitung betrifft, begnüge ich mich vorerst mit
dem Hinweis auf eine bündnerische Bauernregel: «Eis Buebli
hüetet guet, zwei Buebli hüetend schlächt, dri Buebli hüetend gar
nit.» Allerdings möchte ich auf das erwähnte Spannungsverhältnis
noch zurückkommen, und selbstverständlich will ich damit
nicht den Eindruck erwecken, die Leitung der Hochschule sei
eine Einmannveranstaltung. Ich bin vielmehr den beiden Prorektoren,
vielen Kollegen und den internen Hochschulgremien für
vielfältige, unerlässliche Unterstützung herzlich dankbar. Die
Hochschulbehörden, Hochschulrat und Regierungsrat, weise
ich zunächst auf eine Bauern regel aus dem Waadtland hin: «Der
Boden ist wie eine Fabrik; ohne Geld, Mühe und Sorge hat man
keinen Fünfer und nichts zu beissen.» Das gilt auch für die Hochschule.
Natürlich brauchen wir Geld —mehr als wir effektiv bekommen
—, aber darüber hinaus auch den persönlichen Einsatz
(die Mühe und Sorge) der Hochschul- und Regierungsräte und
weiterer Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Nur mit ihrer
Unterstützung, durch ihre Vermittlungstätigkeit gegenüber Volk
und Öffentlichkeit gelingt es, die materiellen und immateriellen
Voraussetzungen zu schaffen, unter denen sich eine Hochschule
in einem politischen System mit wesentlichen direktdemokratischen
Elementen zu voller Blüte entwickeln kann. Und gerade
wenn das Klima etwas unfreundlicher ist, sind wir in besonderem
Masse auf diese Unterstützung angewiesen.
Ich kann es nicht lassen, auch noch eine Tessiner Bauernregel
zu erwähnen: «Die Ziege liebt die freie Weide; sie gedeiht
schlecht, wenn sie im Stall eingesperrt ist.» Gerade im Hochschulbereich
ist weitgehend Autonomie erforderlich, wenn
tatsächlich Neues zustandekommen soll. Selbstverständlich
verfalle ich mit dem gleichzeitigen Ruf nach kräftiger Anteilnahme
und Unterstützung einerseits, Autonomie anderseits in
dieselbe Schizophrenie, die ich vorher bei einigen Kollegen
feststellte.
Ich danke den Hochschulräten und den Regierungsräten für ihr
Verständnis und für ihre Unterstützung der Hochschulanliegen.
Ganz besonders danke ich Regierungsrat Ernst Rüesch, Vorsteher
des kantonalen Erziehungsdepartementes und Präsident des
Hochschulrates. Wir schätzen seine untrügliche Beurteilung politischer
Konstellationen und seine fast unbegrenzte Bereitschaft
zu persönlichem Engagement sehr. Auf sein Wort kann man sich
jederzeit verlassen. Ich brauche Ihnen nicht näher darzulegen,
welche unerhörte Hilfe und Beruhigung es ist, einen solchen
unmittelbaren Vorgesetzten zu haben.
Einzelvorfälle sind es, die in den Medien aufgegriffen oder zum
Gegenstand politischer Vorstösse gemacht werden. Für den
Rektor resultieren daraus Mehrarbeit und gelegentlich unerfreuliche
Auseinandersetzungen. Man kann sich kaum trösten mit
der bündnerischen Bauernregel: «Donnert es viel in einem Jahr,
dann gibt es viele Kartoffeln.» Auch eine verführerisch simple
Beschwörungsregel gegen den Nebel: «Bränte gang oder i
schlan der de Grind ab» (Drohung der Hirten ohne begleitende
Handlung) gibt wohl keine Grundlage ab für die Öffentlichkeitsarbeit
einer modernen Institution.
Natürlich ist die HSG keine Primadonna oder Primaballerina, die
noch für allfällige Dummheiten Beifall erwartet. Auch an der HSG
ereignen sich Dinge, die besser unterblieben wären. Es gilt hier
eine Bauernregel über die Hühnerhaltung: «Soll es mit den Hühnern
gut gehen, so müssen auch schwarze darunter sein.» Aber
wir selber und die Öffentlichkeit, in deren Dienst die Medien und
die Politiker stehen, haben ein Anrecht darauf, dass die Fakten
zutreffend dargestellt, Probleme oder Vorfälle in allen ihren
wesentlichen Dimensionen präsentiert werden und nicht einseitig
oder verzerrt.
Das ist nicht immer der Fall. Gewisse Vorurteile oder Meinungen
halten sich manchmal hartnäckig, obwohl sie nicht den Tatsachen
entsprechen. So wird etwa im Verhältnis der HSG zur
Stadt St. Gallen immer nur von den finanziellen und sonstigen
Belastungen der Stadt gesprochen. Diese bestehen, aber es ist
keine Frage, dass die Stadt per Saldo im Umfange von Millionen
von der Existenz der Hochschule profitiert. Obwohl es sich
dabei um eine unbestreitbare Tatsache handelt, wird sie kaum
je zur Kenntnis genommen oder gar von Medien und Politikern
erwähnt.
Insgesamt darf ich aber feststellen, dass sich im Raume St. Gallen
in den letzten Jahren die ganz überwiegende Zahl der
Medienschaffenden und Politiker um genaue Faktenkenntnis in
Hochschulangelegenheiten bemüht hat. Ausnahmen hat es gegeben,
aber sie sind nicht zahlreich. Hingegen ist mir bis heute
nicht klargeworden, was dazu führt, dass gewisse Dinge öffentlich
aufgegriffen werden, andere nicht, gibt es doch in beiden
Kategorien sowohl Alltägliches als auch Ungewöhnliches. Hier
hilft wohl nur der Fatalismus, der in einer Scherz-Bauernregel zum
Ausdruck kommt: «Prügelt der Förster zu Petri den Hund, so tut
er es mit oder ohne Grund.»
Zum Schluss, meine Damen und Herren, komme ich zurück auf
das Spannungsverhältnis zwischen aktivem Eingreifen und
Geschehenlassen.
Wenn man sich für eine Organisation verantwortlich fühlt, stehen
einem vier grundsätzliche Verhaltensweisen zur Verfügung:
• erstens: aktiv tätig sein, anregen
• zweitens: bewusst geschehen lassen
• drittens: akzeptieren, was ohne eigenes Zutun geschieht
• viertens: bewusst unterlassen oder durch Passivität
verhindern.
Es entspricht unserm aktivistischen Zeitalter, dass man meist
nur die ersten beiden Möglichkeiten sieht: aktiv tätig sein und
bewusst geschehen lassen. Mir war immerhin schon zu Beginn
meiner Rektoratszeit klar, dass in einer grösseren Organisation
notgedrungen sehr viel geschieht, ohne dass der Chef es weiss.
Aber die enorme Bedeutung der vierten Verhaltensweise
—bewusst unterlassen oder durch Passivität verhindern —ist
mir erst mit der Zeit klargeworden. Heute erwähne ich deshalb
mit besonderem Nachdruck die Bauernregel «Ein guter Hirte
muss liegen können» (damit das Vieh ungestört weiden kann).
Und gegenüber überraschenden, unangenehmen Ereignissen
empfiehlt sich häufig die Gelassenheit, die in einer Scherz-Bauernregel
zum Ausdruck kommt: «Stellt sich im März schon
Donner ein, so muss das ein Gewitter sein.»