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I Die Bewegung innerhalb der evangelischen Kirche und die Aufgabe der Theologie in derselben.

Rectoratsrede gehalten am 6. November 1868 zu Basel.

Hochverehrte Versammlung! Wenn es dem Vertreter einer einzelnen Wissenschaft vergönnt ist, in einem Kreise aufzutreten, welcher wie der hier versammelte die Aufgabe hat, die Gesammtheit menschlichen Wissens in Lehrenden und Lernenden zum besonderen Ausdrucke zu bringen, —so ist es ein natürlicher Wunsch, von den Bestrebungen und Zielen Rechenschaft zu geben, denen die besondere Arbeit der einzelnen Fachwissenschaft dient. Ist doch in der unvermeidlichen Trennung der einzelnen Gebiete der Erkenntniss überhaupt das nothwendige Gemeinschaftsgefühl aller derer, welche der Wissenschaft aufrichtig dienen, vielfach bedroht, — und es kann nicht ohne Gewinn sein, von Zeit zu Zeit sich gleichsam in die Werkstätte der fremden Arbeit zu versetzen. Besonderen Antrieb aber zu solcher Rechenschaft muss in unsern Tagen die Theologie fühlen. Denn wenn sie einerseits ähnlich der Rechts- und Alterthums-Wissenschaft den Kreisen anders Forschender viel unbekannter geworden ist, als das in früheren Entwicklungszeiten der Fall war, — so erfreut sie sich doch andererseits nicht des Vorzugs, den jene beiden geniessen, von dem Urtheile und de Leidenschaften Unkundiger ihrer stillen Arbeit überlassen zu werden.

Weil sie das Gebiet wissenschaftlich zu behandeln hat, welches auch jetzt wie zu allen Zeiten neben den Fragen vaterländischer Wohlfahrt am mächtigsten die Gemüther zu Liebe oder Hass entzündet, sieht sie sich in ihrer Arbeit von dem Wohlwollen oder dem Argwöhne Berufener und Unberufener mehr als eine andre Wissenschaft beobachtet.

So sei es mir denn heute vergönnt, von dem zu reden, was meiner Ueberzeugung nach die theologische Wissenschaft der evangelischen Kirche zu erstreben hat in der Bewegung der Geister, welche nun schon seit langer Zeit ihr heimliches Gebiet erschüttert. Weit entfernt zwar bin ich von der Meinung, im Namen der gegenwärtigen Theologie zu reden. Zeiten grosser Bewegungen wie die unsre gestatten nie, dass alle, die ernsthaft und ehrlich derselben Aufgabe sich weihen, auch über den Weg gleicher Meinung sind. Ich biete nur die eigne Ansicht, — die weder neu noch grade selten ist, aber zu einer allgemeineren Bekanntschaft in den Kreisen der Nichttheologen dennoch bisher nicht gelangte.

Ich weise ihr ohne Befehdung oder Herabsetzung andrer Anschauungen ihren anspruchslosen Platz an neben den abweichenden Ansichten so vieler achtbarer und von mir verehrter Männer. Nur in dieser Weise und mit diesem Anspruch will ich über die gegenwärtige Bewegung in der evangelischen Kirche und über die Aufgabe der Theologie in derselben zu Ihnen reden.

Die Darstellung kann eine feste Grundlage nur erhalten, wenn sie zunächst diese Bewegung selbst in ihren Ursachen, ihrer Entwicklung, ihrem geschichtlichen Werthe zu begreifen sucht. Damit also möge sie beginnen.

Zwei Grundsätze der weittragendsten Art waren es, mit denen die Reformation des 16. Jahrhunderts sich als eine neue Stufe des Christenthums von der bisherigen kirchlichen Entwicklung lostrennte, — keineswegs bloss, wie sie selbst meinte, von den letzten Jahrhunderten des kirchlichen Verfall. Zwar hielt sie das reine Christenthum als die ewige und vollkommene Religion nicht bloss irit gleicher Entschiedenheit wie die früheren Zeiten, sondern mit ungleich grösserer Glaubensinnigkeit fest, Aber sie wollte auch nur dieses reine Christenthum ohne menschlichen Zusatz. Sie

suchte nur das wahre göttliche Leben, wie es im Laufe der alttestamentlichen Entwicklung in den Formen eines Volkslebens allmählich Ausdruck gewonnen hat, wie es in Jesu als dem Christ vollkommen persönlich, menschlich, geistig offenbart ist als die Macht über die gottfeindlichen Mächte des natürlichen Menschenlebens, als der Friede mit Gott trotz menschlicher Schwäche und Sünde. Dass sie dieses ganz und ohne Rückhalt, aber auch nur dieses wolle, sprach sie in ihren zwei Grundsätzen aus, um die sich ihre kirchliche Besonderheit entwickelte. Beide Grundsätze freilich wurden, wie das immer der Fall sein wird, nicht in ihrer allgemeinen Tragweite zuerst erkannt, sondern zuerst für den gegebenen Fall in genialem Erfassen ausgeprägt. Aber darum sind sie doch ihrer bleibenden Bedeutung nach wirkliche Grundsätze, nicht einzelne Aussagen oder Lehrsätze, — und Manchen, wie dem Melanchthon, waren sie gleich Anfangs in ihrer Bedeutung klar. —

Der eine Grundsatz gilt der Sorin christlicher Erkenntniss. Er sagt aus, dass man von einer geschichtlichen Erscheinung genügende und sichere Kenntniss nur aus den Quellen gewinnen kann. Jede Vermuthung a priori über dieselbe fällt in das Gebiet der Schwärmerei. Jede spätere Erläuterung, Ergänzung hat keinen anderen Werth als den des Versuchs, nie von sich aus Geltung. Da es sieh also für die Reformation um Sicherheit über das Wesen des Christenthums handelt, denn weder von einer neuen Religion, noch von einer Philosophie will sie reden, — so behauptet sie, dass nur aus der heiligen Schrift über dasselbe entschieden werden könne, — dass jede spätere Ueberlieferung, jede unmittelbar religiöse Begeisterung und Erregung gar nichts für dieses Christenthum beweise. Es ist die christliche Anwendung des Satzes, welcher die Grundlage aller neueren Wissenschaft ist; — denn auch für die Naturwissenschaft ist ja die Rückkehr zum Versuche nichts andres, als die alleinige Hochhaltung der Urkunden, gegenüber den a prioristisch geistreichen Vermuthungen, — und gegenüber der Herrschaft der Ueberlieferung.

Der zweite Grundsatz gilt dem Inhalte des Christenthums. Er sagt aus, dass für die Stellung des Menschen zu den ewigen Dingen, für seine wahre Geltung in Gottes Augen, nichts Andres Werth hat als die wirklich religiöse Ueberzeugung, die

also auf dem innern persönlichen Leben ruht. Jede äusserlich von dem Menschen vollzogene Handlung, jedes nur die Aussenseite seines Wesens Berührende, hat für diese Stellung, diese Geltung keine Bedeutung. Da es sich also für die Reformation um des Wesen des christlichen Heils handelt, so behauptet sie, dass nur Glaube an das in Christo uns gegebene erlösende und versöhnende Leben vor Gott gerecht mache, also nur die wahrhaft persönliche Gründung des innern Lebens auf dieses Leben als das seligmachende, — dass dazu weder eine bestimmte Form des äussern Lebens, noch irgend eine Vermittlung, welche menschliche Einrichtungen bieten, nothwendig sei. Es ist die christliche Anwendung des Satzes, worauf alle höhere Sittlichkeit im öffentlichen, wie in Privatleben ruht, der allein über die Heuchelei der Formen und die Sclaverei der geistigen Gleichförmigkeit zu wahrem und freiem Menschenleben führt.

Mit diesen beiden Grundsätzen, — unbestreitbar richtig und bleibend, — hat die Reformation für das wahre Christenthum für alle Zeiten die genügenden Grundlagen bestimmt. Für das wahre Christenthum; — denn für den, welchem das religiöse Bedürfniss überhaupt sich noch nicht regt, — wie für den, welchem das in Christo offenbarte Leben nicht das erlösende und beseligende ist, kann der Natur der Sache nach keine Reformation des Christenthums je etwas bieten. Für sie giebt es nur Religionslosigkeit, oder eine andere Religion. Für den aber, welchem die christliche Religion die seinige ist, genügen jene beiden Grundsätze für alle Zeit; denn sie sichern ihn davor, dass etwas nicht Religiöses ihm als Religion sich aufdränge, oder etwas nicht Christliches als christlich.

Aber allerdings müssen beide Grundsätze ihre volle Entfaltung haben, dürfen nicht bei dem einmaligen Ausdruck stehen bleiben, welchen sie durch die Gegensätze jener Zeit und ihre Hauptbestrebungen der Natur der Sache nach erhielten.

Der erste Satz führt alle Erkenntniss von dem wahren Wesen des Christenthums auf die wirklichen Urkunden zurück, und bezeichnet als solche mit Recht die Bücher der heiligen Schrift. Aber nothwendig drängt er zu der weiteren Frage, warum und in wie weit diese Bücher denn Urkunden sind. Denn in einer

Reihe von Urkunden, auch wenn sie von demselben Geiste im Ganzen getragen werden, sind doch immer grosse Unterschiede des Werthes, je nach ihrer Stellung zu dem Mittelpunkt der Ereignisse, je nach der Anlage und Befähigung ihrer Verfasser. —Und ebenso nothwendig drängt sich die andere Frage auf, wie weit diese Urkunden uns das Wesen der Erscheinung aufschliessen, um die es sich handelt. Denn nur das Wesen, nicht seine zufällige Gestaltung wollen wir ja erkennen. Und selbst die besten Quellen, soweit sie nicht Schulschriften sind und selbst dann, bringen ja nie das Wesen einer geistigen Erscheinung rein. Sie müssen ja immer zugleich die Gesammtheit der Beziehungen mit ausdrücken, unter welchen dieselbe Gestalt gewann, und welche ihr oft sehr fremd, ja entgegengesetzt sind.

Der erste Satz also, der zur Erkenntniss des Christenthums auf die Urkunden weist, trägt nothwendig in sich die Forderung der kritischen Untersuchung dieser Urkunden nach ihrer Zeit und ihren Beziehungen. Und ebenso nothwendig die Forderung, das wahre Wesen des Christlichen aus der Gesammtmasse des Zeitgenössischen auszuscheiden, mit der es in den Urkunden verbunden erscheint, — eine Aufgabe, welche nur die genaue und gewissenhafte Kenntniss der Verhältnisse lösen kann, unter denen das Christenthum an das Licht trat.

Nun tritt wohl eine Ahnung von diesen Folgerungen in der genialen Weise Luthers hervor. Bekannt sind seine freien Urtheile uber manche Bücher der Schrift, bekannt seine gesunde Abneigung gegen das chiliastische Element, welches doch zweifellos mit den Anfängen des Christenthums verbunden war, — bekannt seine Stellung zu Ehe und Staat, wie sie der Anschauung der apostolischen Zeit ziemlich widersprechend ist. Aber das sind doch nur die unbewussten Ahnungen des Genius. Eine wirkliche Erkenntniss der Aufgabe auf diesem Gebiete war nicht möglich, so lange man die überlieferte Ansicht von der Eingebung der biblischen Bücher eher bestärkte als bezweifelte.

Der zweite Satz beschränkt das, was dem Menschen vor Gott Werth verleiht, auf den Glauben, d. h. die innere Gründung des Lebens auf das in Christo erschienene Leben. Er weist damit entschieden und für immer die äussere Geberde, das äusserlich

religiöse Handeln, ja jede Form äusserlicher Bethätigung aus dem Mittelpunkt der Religion fort. Aber es liegt in ihm nothwendig eine weitere Anwendung. Ansichten von Dingen der Erfahrungswelt, welcher Art sie auch sein mögen, Kenntnisse und Wissen aller Art stehen jenem innren Leben eben so ferne, wie eine besondere Art des Handelns, der Geberde. Auch das gesammte Gebiet des Wissens, d. h. der Ueberzeugung von Dingen der Erfahrungswelt, muss ebenso entschieden wie die "guten Werke" aus dem heiligen Gebiete ausgeschieden werden, wo nur das innre religiös-sittliche Leben mit seinen Ueberzeugungen Recht hat.

Und diese Forderung konnte noch weniger als die vorher berührte damals zur Geltung kommen. Hier hinderte die althergebrachte Verwechslung von Glauben und reiner Lehre, hier die Verflechtung des Christenthums mit der Geschichte seiner Entstehung, — wie sie jeder in die Erscheinung tretenden Idee eignet, hier selbst die Doppeldeutigkeit des Wortes Glauben. So blieben in den Grundsätzen der Reformation selbst die Triebfedern zur Weiterbildung im Geiste der Reformation. Das Schriftprincip, gegen Schwärmerei und kirchlichen Ueberlieferungszwang aufgestellt, musste zur Kritik und zur geschichtlichen Sichtung des aus der Apostelzeit uns entgegenkommenden Stoffes treiben. Das Glaubensprincip, gegen die kirchlichen Werke aufgestellt, musste dazu drängen, die Unabhängigkeit des Christenthums von Ansichten in dem Gebiete der Erfahrungserkenntnis zu behaupten. Das ist das Recht der weitertreibenden Reformbestrebungen in der evangelisten Kirche. Nur dieses allein freilich. Denn wer dem, was er als reines Christenthum erkennt, seine Ueberzeugung nicht zuwenden kann, der muss seinen Glauben, selbst wenn er unbedingt besser wäre, nicht als christlichen, sondern als einen neuen predigen. Und wem überhaupt das Religiöse keine Ueberzeugung abgewinnt, der hat kein Recht auf dem Gebiete der Frömmigkeit mitzureden; er steht in dem uralten Kampfe des Glaubens und Unglaubens auf der letzteren Seite, und seine Stimme gilt Nichts im Lager des Gegners.

Aber jenes berechtigte Reformstreben konnte nicht ruhen in der evangelischen Kirche. Es musste zur Geltung zu kommen

trachten, sobald die erste Befriedigung vorüber war über den unermesslichen religiösen Fortschritt, den die Reformation wirklich gemacht.

Die Bewegung zu diesem Ziele begann in Deutschland um die Mitte des vorigen Jahrhunderts und hat seither nie geruht. Und wo sie eigenthümlich deutsch geblieben ist, hat sie sich wesentlich in den Grenzen des Rechtes gehalten, welches innerhalb der evangelischen Kirche vorliegt. Wo eine ganz neue religiöse Ueberzeugung das Christenthum nicht tiefer erfassen, sondern ersetzen wollte, — oder wo der Unglaube sich das Recht anmasste auf dem Gebiete des Christenthums zu reden, —da waren es meistens Einflüsse des englischen Deismus oder der französischen Freigeisterei, die sich geltend machten. Die religiöse Entwicklung im deutschen Volke hat bis heute nie aufgehört eine ernsthaft christliche sein zu wollen, so entschieden sie sich bestimmten kirchlichen Formen des Christenthums entzogen hat.

Am sichtbarsten beginnt die Bewegung auf dem Gebiete der Urkunden des Christenthums, der h. Schrift. Mit Semlers Aufforderung zu einem freisinnigerer Gebrauche der heiligen Bücher beginnt die kritische Arbeit in Deutschland, aus welcher die grossen Untersuchungen hervorgingen, die bis heute unermüdet fortgesetzt die Ehre und den Stolz der biblischen Wissenschaft ausmachen.

Und zugleich machte sich ein freierer Geist der Sichtung dem religiösen Stoffe gegenüber geltend, der als urchristlich aus diesen Schriften uns entgegentritt. Sei es dass man mit dem eigentlichen Rationalismus auf einzelne sittlich-religiöse Grundsätze zurückwies, — oder dass man mit Herder und seinen Gesinnungsgenossen in gesunderem Sinne auf den grossartigen Zusammenhang des Biblischen mit dem allgemein Menschlichen in warmer Begeisterung hinwies, — oder dass man mit de Wette und seinen Freunden in den religiösen Empfindungen, die sie wach riefen, die eigentliche Bedeutung der biblischen Berichte sah, — immer war es die Ueberzeugung, dass ein Unterschied vorliege zwischen dem wahren Wesen des Christenthums und der Gestalt, in welcher es zuerst Erscheinung gewann.

Diese Richtung der Kritik und der Scheidung zwischen dem wahrhaft Christlichen und dem ihm bloss zufällig Anhaftenden

wirkt auch heute noch fort. Doch, wenigstens was die theologischen Schulen betrifft, keineswegs als eine herrschende. Denn den unläugbaren Schwächen gegenüber, mit denen sie jedesmal auftrat, hat sich in der Theologie und vereinzelt auch in den Gemeinen um so entschiedener eine entgegengesetzte Richtung festgesetzt. Diese will die Gesammterscheinung des Urchristenthums als reines Christenthum festhalten, will das gesammte Material zeitgeschichtlicher Bildung und Anschauung, dessen Ausdruck die heiligen Bücher als Erzeugnisse ihrer Zeit ja zugleich sein mussten, als ewig gültiges Mass menschlicher Geistesentwickelung ansehen. Sie meint nur so das Christenthum als die ewige Religion festhalten zu können. — So schwankt der Kampf. Doch das kann, wie ich überzeugt bin, nicht zweifelhaft sein: wenn das Christenthum fortfahren kann, die Religion auch einer gebildeten, rastlos arbeitenden und rastlos forschenden Welt zu sein, — wenn es ist, was der Christ glaubt, die ewige Religion, dann kann es seinem Wesen nach nicht verflochten sein in eine Zeitbildung und in Zeitverhältnisse, welche als solche wandelbar sein müssen und vergänglich.

Weniger sichtbar, ader ebenso entschieden und unermüdet war die Bewegung zur vollkommnen Geltendmachung des Princips vom Glauben allein. Ich meine nicht den Kampf des Deismus und Naturalismus mit dem kirchlichen Christenthum, welcher von aussen her vielfach in die Entwicklung der deutschen Theologie eingriff. Ist doch in diesem meistens ein bewusster Gegensatz gegen das Christenthum überhaupt, kein Versuch, es reiner und tiefer zu erfassen. Ich meine das Bestreben, welches sich in sehr mannigfacher und verschiedenartiger Weise an die Namen Kant, Lessing Herder, de Wette, Schleiermacher knüpft, — den Schwerpunkt des Christenthums wirklich in das religiöse Leben des innern Menschen zu verlegen, es von den Ansichten mehr abzulösen, die irgendwie mit Erfahrungsdingen zusammenhängen, — also den Glauben als allein religiös bedeutsam von dem Wissen zu sondern, welchem auf religiösem Gebiete überhaupt keine besondere Geltung eignet.

Hier liegt eine Aufgabe vor, noch ungleich wichtiger und berechtigter als die freiere Erforschung der biblischen Quellen. Denn

Glauben und Wissen sind sich innerlich noch viel fremder als etwa das kirchliche Handeln des Katholicismus und der Glaube.*)

Der Glaube im christlichen Sinne, wie er allein dem innern Leben seinen Werth vor Gott geben kann, ist die unmittelbare persönliche Ueberzeugung von Dingen, welche der Sinnenwelt überhaupt nicht angehören, über welche der auf die Sinne gestützten Erfahrung schlechthin kein Urtheil möglich ist. Wo man glauben kann, da kann man nicht wissen. Der Glaube ist keine Folgerung der Vernunft aus vorliegenden Erfahrungen, so wenig wie die Religion Philosophie ist. Er ist die unmittelbare Ueberzeugung, ruhend auf der Stimme des Gewissens und des religiösen Gefühls, geweckt durch den überwältigenden Eindruck des sich offenbarenden göttlichen, ewigen Lebens, — mag diese Offenbarung in Ereignissen, oder Belehrungen, oder in persönlich menschlichem Leben, oder in Formen und Einrichtungen den Menschen berühren. Auf dem Gebiete des Glaubens kann Jeder urtheilen, welcher der Stimme des geistigen Lebens folgen gelernt hat, jeder Fromme. Hier ist der Zweifel kein Ruhm; denn wen der Eindruck des Ewigen, Göttlichen nur unsicher und schwankend berührt, dessen innres Leben muss in seinen höchsten und besten Seiten noch unentwickelt oder verkümmert sein. Hier kommt es vor allem darauf an, dass richtige, feste Ueberzeugungen zu Grunde liegen, ohne welche die ganze Entwicklung der Persönlichkeit eine falsche oder eine im Winde schwankende sein muss.

Den Glauben zu wecken vermag keine verständige mathematische Belehrung, — ihn zu widerlegen kein Scharfsinn und keine Gelehrsamkeit, wie ja das Gefühl von dem Schönen ebensowenig kann erwiesen oder widerlegt, nur durch das Schöne selbst gebildet werden. Es gilt nur der Beweis des Lebens und der Kraft, wodurch das göttliche Leben sich als das lebenzeugende, seligmachende erweist. "Die Götter leihn kein Pfand." Nur wer auf die Stimme des höhern Lebens das niedre Leben wagt, kann das höhere gewinnen.

So ist dieses Glaubens Gegensatz, der Unglaube, — nicht was man frevlerisch so zu nennen pflegt, Abweichung von bestimmten Ansichten und Meinungen. Er ist die Richtung, welche über die Sinnenwelt mit ihrem Genuss und ihrer Erkenntniss hinaus keine Ueberzeugung will, oder sie doch keinen Einfluss gewinnen lässt. Er ist bei der höchsten wie bei der niedrigsten Bildung der Erkenntniss, ist selbst bei tadelloser Reinheit der religiösen Ansichten wie bei den grössten Irrthümern, — überall wo sich das Leben des Menschen nur auf der Sinnenwelt und ihren Eindrücken erbaut.

Wie ganz anders das Gebiet des Wissens! Es geht nicht hinaus über die Erfahrungswelt, die als Natur und Geschichte den Menschen sich bietet. Des Wissens Werkzeuge sind die Sinne, wie Gedächtniss und Verstand ihre Einzeleindrücke zu zusammenhängendem Bilde gestalten. Die Ueberzeugung des Wissens ist überall vermittelt durch sinnliche Erfahrung und aus ihr auf dem Wege vernünftigen Denkens gezogene Schlüsse. Auf diesem Gebiete darf kein Gewissenhafter glauben, gläubig sein wollen. Hier ist der Zweifel Ehrensache und ein Lob, hier ist, wer dem unmittelbaren Eindruck, der Macht einer Persönlichkeit folgt, kein Gläubiger, sondern ein Leichtgläubiger. Hier hat Niemand eine Stimme, der nicht gelernt hat. Nicht der Frömmste, sondern der Scharfsinnigste, —nicht der Edelste, sondern der Gelehrteste behält den Preis. Hier darf man sagen "ich weiss" oder "ich halte für wahrscheinlich" oder "ich weiss nicht," — niemals "ich glaube," — wenigstens wenn man dieses Wort auch in seinem religiösen Sinne gebrauchen will. Es gilt keine Ueberzeugung, die sich nicht auf Beweise gründet, sich nicht auch Andern streng erweisen lässt, —kein Beweis als bessere Urkunden, — keine Autorität als bessere Gründe.

Auf dem Gebiete des Wissens darf Niemand eine Ansicht haben, die er nicht auf neue Urkunden oder bessere Gründe hin sogleich aufzugeben bereit wäre. Auf keine solche Ansicht also darf er die ewigen Ueberzeugungen gründen, welche seines innern Lebens Entwicklung bestimmen, welche, wenn sie sich verändern, den Werth des Menschen, seinen Frieden, seine Stellung zu seinem ewigen Ziele verändern müssen. Wehe dem, dessen Glauben auf Dingen ruht, die dem Wissensgebiete gehören!

So stehen beide Gebiete in ihrem eigensten Wesen sich gegenüber. Sie als Heilsprincipien zu trennen ist eine gebieterische Forderung echter Religion, eine Lebensbedingung für das evangelische Christenthum. Und wenn selbst scheinbar Glauben und Wissen ein Gebiet der Religion gemeinschaftlich besässen, so müsste doch die Seite desselben, welche dem Glauben zufällt, streng von dem Besitze des Wissens gesondert werden. Und fest muss der evangelische Grundsatz gehalten werden: so wenig wie eine Form des Handelns, so wenig kann eine verschiedene Ansicht, eine Form des Wissens, des Christen religiösen Werth mehren oder mindern.

Und fragen wir, wie es denn kommt, dass dieses evangelische Streben so geringe Wirkung gehabt hat, so bietet sich uns die Antwort in den beiden grossen Schwierigkeiten, welche gerade dieser Seite der Entwicklung entgegenstehen, und welche hervorgehen aus dem geschichtlichen Character des Christenthums und aus der eigenthümlichen Bedeutung der heiligen Schrift.

Die christliche Religion ist nicht durch neue Belehrungen über die übersinnlichen Dinge aufgerichtet. Wer hätte weniger Neues darüber gesagt, als Jesus, nach den Berichten, die mit Sicherheit auf ihn führen? Sie ist als That in die Welt getreten, wie jede Schöpfung Gottes, wie Alles, was wahrhaft Neues schafft und gründet. Sie ist als persönliche Leistung, als Offenbarung eines wirklichen menschlichen Lebens in die Welt getreten. Nicht durch Lehre von einem ewigen Leben hat Jesus ein Reich des Lebens gegründet; — er hat in seinem menschlichen Leben, wie es von ihm ausströmte in Alle, die mit ihm in Verbindung traten, das ewige Leben gebracht, für alle Zeiten offenbart. Nicht durch Predigt von einer Erlösung, die nöthig sei, hat er das Reich der Sünde besiegt; er hat in seinem heiligen Leben, in Werken und Worten, in seinem todesüberwindenden Tode die Kräfte der Erlösung entbunden, an welchen die Christenheit nun schon zweitausend Jahr sich stärkt im Kampfe gegen Sünde und Tod. Er hat nicht durch eine neue Versöhnungslehre den alten Streit in des Menschen Herzen beruhigt. Sein Leben hat er an das Heil der Menschheit gewagt, um ihr in seinem Leben und Tode einen Lebenskreis zu offenbaren, in welchem kein Widerspruch ist

gegen Gottes Willen, an welchem sie Theil nehmen und sich eins fühlen kann mit Gott, ihre Sünde vergeben in dem neuen Leben dem sie angehört, ihre Leiden freiwillig getragen, nicht mehr als Gericht über sie.

Das ist das Wesen des Christenthums. Es will kein neues Gesetz bieten, wo das göttliche Leben als Belehrung, als Ideal über dem Einzelnen schwebt, ihn in seiner Unseligkeit lässt; — es will dieses göttliche Leben darbieten, als gekommen, offenbart in der Menschheit, an dem Jeder Theil nehmen kann zu seiner Seligkeit und seiner Heiligung. Und so ist es noch heute nicht eine Reihe von Sittensprüchen, nicht eine volksthümliche Philosophie, wodurch das Christenthum in die Herzen gepflanzt wird. Es ist das in Jesu Leben und Tode offenbarte Leben Gottes mit seinen erlösenden und tröstenden Kräften; es ist seine Persönlichkeit, wie sie durch den Glauben der Seinen geistig geworden ist für alle Zeiten.

Der Nationalismus mit seinen Lehrsätzen hat das Volk kalt gelassen. Und selbst solche Genien wie Lessing und Kant haben ihm wenig geboten, weil Alles was sie brachten, Vernunftwahrheiten, Lehrsätze waren, weil nirgends aus ihnen die Begeisterung für das persönliche Leben Christi sprach. Darum ist erst Schleiermacher der Schöpfer der neuen Theologie, weil er das volle Verständniss für das Persönliche, die That, im Christenthum hatte, — und zugleich das volle Bewusstsein jenes Gegensatzes von Religion und geschichtlichem Wissen.

Er hat für sich diese Schwierigkeit besiegen können; denn sie ist nur eine scheinbare; dieser geschichtliche Character des Christenthums widerspricht der Forderung durchaus nicht, die wir vorhin aufgestellt. Das Leben Jesu ist einestheils Gegenstand. des Glaubens. Wenn uns das Bild seines Lebens, in Werk und Wort, und seines Todes entgegentritt, wie es in den Seinen lebte, wie es in den reinsten Gemüthern, die ihn aufnahmen, Gestalt gewann, so kann nur der Glaube uns gewiss machen, dass dieses Leben der Ausdruck göttlichen Lebens sei im menschlichen, dass dieser Tod der Sieg sei über die unselige Todesmacht, dass wer aus diesen Worten, diesem Leben und Tode sein innres Leben nährt, mit den wahren heilbringenden Kräften genährt wird, dass wer mit diesem

Leben und Tode innerlich verwachsen ist, trotz aller seiner Schwachheit nicht getrennt sein kann von Gottes Liebe, trotz allem Leiden selig sein kann. Nur der Glaube kann uns sagen, dass hier der Ausdruck religiös-sittlichen Lebens vorliegt, in welchem Alle, in welchem auch wir Frieden finden können, — dass das Beste, was wir haben und sind, aus ihm fliesst, und für unser Leben nach Fülle unerschöpflicher Art dort sich findet. — dass dieser Jesus der Christus ist, der der Menschheit Frieden mit Gott und das Reich Gottes gebracht hat und sie Jedem bringt. — Nur der Glaube kann dieses Leben durch den Tod hindurchgedrungen als das siegreiche bei Gott erkennen, als das die menschliche Welt bewegende, weltrichtende. Und dieser Glaube ist es eben, der den Christen zum Christen macht, der ihn von den Jüngern anderer Religionen und von den Religionslosen trennt. So ist diese Persönlichkeit, dieses Leben Gegenstand des Glaubens, Mittelpunkt des Christenthums. Das was Jesus unmittelbar und mittelbar gethan und geredet hat, was er für die Menschheit gewesen ist, das Bild von ihm, welches er der Menschheit in das Herz gegraben, das ist es, woran sich Glaube und Nichtglaube scheiden müssen. Und welche Wahl dabei die richtige sei, das kann keine Wissenschaft, keine Kritik beurtheilen. .

Aber das Leben Jesu ist andererseits Gegenstand des Wissens. Wie sein irdisches Leben verlaufen, auf welche Weise die Ueberlieferung von ihm sich im Geiste der Gemeine entwickelt, ob er diese oder jene That gethan, dieses oder jenes Wort gesprochen, —darüber kann schlechthin nur die Wissenschaft nie der Glaube ein Urtheil haben. Sie hat zu richten, ob Sage oder Geschichte vorliegt; — denn für den Glauben kann die Persönlichkeit Jesu ebensowohl richtigen Ausdruck in einer sagenhaften als in einer geschichtlichen Erzählung finden. Ihr gehört demnach das ganze Gebiet, welches man "Leben Jesu" zu nennen pflegt. Und davon ist Nichts ausgenommen. Selbst die Frage, wie den Jüngern Jesu die Gewissheit vermittelt ward, dass er den Tod überwunden habe, geht den Glauben Nichts an. Ihm ist wie einst den Jüngern gewiss, dass dieses Leben das bei Gott lebende, herrschende, mächtige sei. Wie aber jene zu ihrem Glauben kamen, kann er nicht beurtheilen wollen. Und jeder Glaube an eine Thatsache als solche

ist Aberglaube, wie jede Verehrung eines sinnlich Erscheinenden Götzendienst.

So ist Jesu Persönlichkeit und Leben ebensowohl Gegenstand des Glaubens als des Wissens, — aber in völlig klar geschiedener Weise. Denn sofern sie dem Glauben gehören, sind sie dem Wissen völlig entzogen. Niemand kann wissenschaftlich zeigen, dass dieses Leben, das Bild, welches das Resultat dieses Lebens war, wirklich das befreiende, beseligende ist, dass das göttliche Leben hier für uns zu finden ist. Niemand kann es auch bestreiten. Nur eins kommt als entscheidend in Frage: der Eindruck dieses Bildes auf das religiöse Gefühl, auf das Gewissen. Wir stehen in dem Heiligthum des Glaubens.

Und sofern Jesu Leben Gegenstand des Wissens ist, kann es nie Gegenstand des Glaubens .sein. Keine Frömmigkeit, keine Innigkeit des religiösen Gefühls befähigt an sich zu dem Urtheil darüber, wie dieses oder jenes in Jesu Leben zugegangen sei, wie weit in der Erzählung Geschichte, wie weit Sage gegeben ist.

In beiden kann derselbe Geist; dasselbe Bild der Persönlichkeit sein, und nur das kann der Glaube fühlen, ob die Erzählung im Geiste Gottes und Jesu gedacht sei. Und da keine geschichtliche Ueberlieferung je ohne Irrthum, keine menschliche Ansicht je völlig klar ist, so kann über alles dies nur die furchtlose und gewissenhafte geschichtliche Forschung ,— nie die Leidenschaft eines frommen Laienhaufens urtheilen.

So ist die Schwierigkeit nur scheinbar. Und was von dem schwierigsten Punkte, dem Leben Jesu, gilt, das ist selbstverständlich noch deutlicher auf dem Gebiete alttestamentlicher Geschichte, wo sich ja auch ein erlösendes und versöhnendes Leben, aus Gottes Willen in Thatsachen und Formen, nicht in Meinungen und Lehrstücken entwickelte.

Sehen wir die andere Schwierigkeit, welche in dem eigenthümlichen Wesen der heiligen Schrift liegt! Es ist ja, wenn wir der Sache auf den Grund gehen, vielmehr aus einem Glauben an die Unfehlbarkeit der Schrift als aus wirklich christlichen Glaubensinteressen, dass man sich gegen die nothwendige Scheidung von Glauben und Wissen, gegen die Ueberweisung des geschichtlichen Stoffes an die Wissenschaft sträubt. Und natürlich hat Jeder,

welchem die altkirchliche Lehre von der Eingebung der heiligen Schrift noch feststeht, ein Recht zu solchem Sträuben. Nur möge er bedenken, dass er einen jüdisch-heidnischen theologischen Satz, der mit der Wirklichkeit in diesen Büchern hundertfach streitet, zur Grundlage seines ewigen Heils machen will, dass die wirklich Geistliche Ueberzeugung von dem einzigartigen, göttlichen Werthe dieser Bücher völlig genügend in einer Weise sich bestimmen lässt, die keinen Widerspruch gegen das Recht der Wissenschaft einschliesst. Auch die Schrift hat eine andere Bedeutung für den Glauben, eine andere für das Wissen. Dem Frommen weht aus ihr ein Geist entgegen, der nicht aus dieser Welt der Sinnlichkeit und Selbstsucht ist, ein Geist der straft und befreit, bessert, beseligt, — dem eignen Geiste vielfach widersprechend und doch seinen höchsten Zielen, seinen tiefsten Bedürfnissen wunderbar entsprechend. Dieser Geist berührt ihn in sehr verschiedenem Grade, je nach der besonderen Art der einzelnen Bücher; aber nirgends ist er ganz unbemerkbar; er ist die göttliche Einheit, welche alle diese Schriftwerke zu einem Ganzen, einem einzigartigen Schriftthum verbindet. Es ist der Geist, dessen reinsten Ausdruck die Persönlichkeit Jesu bietet, der Geist Jesu, — und dessen Ursprung in dem ewigen Leben ist, auf dem das innerste Leben der Menschenbrust beruht, — der heilige Gottesgeist. Und mit Recht wird der Fromme durch keine Kritik, keine Wissenschaft sich an diesem Eindruck irre machen lassen, der ja seine Glaubens-Erfahrung ist. Wo er diesen Geist fühlt, — mag auch sonst noch so verschiedenartiges in den verschiedenen Büchern geboten werden, die ihm denselben entgegentragen, — da empfängt er ja wirklich überall wahre Förderung seines innern religiös-sittlichen Lebens. Dem frommen Leser bietet die Bibel immer mit Sicherheit, was ihn zum Heil führt, — und der scharfsinnigste Bibelgelehrte kann sich in der Empfänglichkeit dafür zu seinem grossen Gewinne von manchem schlichten Bauern beschämen lassen.

Aber sehr irrthümlich baut der Fromme oft auf diese dem Glauben entsprungene Ueberzeugung ein Urtheil über die Schrift, insofern sie Gegenstand des Wissens ist. Denn die Männer, welche gemeinschaftlich Träger dieses Geistes der wahren Religion waren, sind darum als Schriftsteller, als Geschichtskenner, als Gebildete keineswegs sich gleich, keineswegs etwas Andres, als

was sonst ihre Zeitgenossen in gleichen Lebensstellungen waren. Und diese Schriftstücke, denen jener Geist, wenn auch in sehr verschiedenem Masse, gemeinschaftlich ist, sind desshalb als Schriftstücke, als Urkunden vergangener Zeit, als Zeugnisse menschlicher Entwicklung und Bildung nichts Anderes, als was sonst ernsthafte und mit Wahrheitsliebe geschriebene Schriftstücke jener entfernten Zeiten sind. Wer die Bücher beider Testamente geschrieben, wie weit sie ursprünglich erhalten sind, wie weit sie zuverlässig sind in ihren Ansahen über geschichtliche Dinge, wie weit ihre Anschauungen mit der Zeitbildung und ihren nothwendigen Grenzen zusammenhängen, das kann hier wie auf andern Gebieten, nur die Alterthumswissenschaft beurtheilen. Wenn der Fromme als solcher; also aus seinem Glauben, darüber urtheilen will, so täuscht er sich ebenso entscheidend, wie der Mann der Wissenschaft, der aus seiner Gelehrsamkeit die religiöse Bedeutung der Bergpredigt oder eines Psalmes abschätzen möchte. Auch der Fromme kann hier nur als Mann der Wissenschaft, —auch der Gelehrte dort nur als Frommer ein Urtheil haben. .

So ist auch diese Schwierigkeit nur eine scheinbare. Und wir können es als ein berechtigtes und das Wesen des Christenthums nirgends schädigendes Streben bezeichnen, wenn die Bewegung unserer Zeit, wie das Schriftprincip zu Kritik und Bibelwissenschaft, so den Grundsatz von der alleinigen Heilsbedeutung des Glaubens zu dem Satze fortbilden will, dass allein der persönlichen Glaubensüberzeugung von dem in Christus offenbarten Leben als dem wirklich erlösenden und Beseligenden der Anspruch zukomme, die christliche Heilsstellung des Einzelnen zu entscheiden, dass Alles, was an der Erscheinung des Christenthums seinem Wesen nach dem Gebiete des Wissens angehört, auch der Wissenschaft zugewiesen werde und für die christliche Würde des Menschen keine Bedeutung habe.

Nicht als ob wir dadurch der christlichen Erkenntniss ihren Ehrenplatz nehmen wollten. Als die Reformation das besondere "kirchliche Handeln" aus dem Mittelpunkte der Religion entfernte, hat sie damit ja nicht überhaupt christliches Handeln schädigen wollen. Sie fand nur, dass es kein christliches Handeln geben könne, als was die christliche Grundüberzeugung in ihrer Anwendung

auf alle Verhältnisse des Lebens von selbst fordert. Sie fand, dass Sittlichkeit im christlichen Geiste durchgebildet die Gesammtheit christlichen Handelns sei, dass ein besonderes kirchliches Handeln daneben die Sittlichkeit nicht erhöhe, sondern verschlechtere. Und selbst ein billigdenkender Katholik wird nicht behaupten, dass die christliche Sittlichkeit in protestantischen Ländern bei diesem Grundsatze verloren habe.

Nicht anders wird es mit der christlichen Erkenntniss sein. Auch sie wird ihr Gebiet beschränken. Sie wird der Ausdruck der christlichen Glaubensüberzeugung werden, angewendet auf das Gesammtgebiet des Wissens, die Wissenschaft im Lichte christlicher Ueberzeugung. Man wird nicht neben der Frömmigkeit noch eine Reihe von Erkenntnisssätzen haben, die mit ihr nicht zusammenhängen aus ihr nicht hervorgehen Nur das, was dem christlich Frommen als solchem gewiss ist, was er in sich erfährt, erlebt in seinem Glaubensleben, wird christliche Erkenntniss heissen.

So wird man zuerst alle die theologischen Dogmen aus der christlichen Erkenntniss ausschliessen müssen, von deren Auffassung das Wesen der Frömmigkeit schlechthin unberührt bleibt, — wie schon die Reformation in richtigem Gefühl solche Sätze, wie die der philosophischen Gotteslehre, der speculativen Christuslehre, der Engellehre, gar nicht berührte, ja anfangs aus ihrer Glaubenslehre zum Theil ausschloss. Man wird nur den Vorgang beschreiben, wie der natürliche Mensch zum wiedergeborenen Christen wird, und daran die Bedingungen und die Folgen dieses Vorganges schliessen. Sodann wird man Alles aus der christlichen Erkenntniss ausschliessen, was nur dem Gebiete der Wissenschaft gehört. Geschichtliche Behauptungen, Aussagen über die Welt als Gesammtheit sinnlicher Erscheinungen können nie einen Theil der christlichen Erkenntniss ausmachen; der Christ kann sie nicht auf anderm Wege erkennen als der Nichtchrist. Wohl aber werden Geschichte und Natur in einem andern Sinne Gegenstand christlicher Erkenntniss. Denn dem Christen erscheint allerdings die Geschichte anders als dem Unfrommen. Ihm hat sie den dunkeln Hintergrund menschlicher Sünde und die lichte Aussicht eines göttlichen Ziels. Ihm erscheint Vieles, was dem Unfrommen gross und bedeutend ist, klein und unwichtig, — Vieles,

was demselben kaum des Erwähnens werth ist, das Wichtigste. Ihm ist das sittlich-religiöse Resultat das Bedeutsamste, das Gottesreich der Geister das Ziel der Geschichte. So giebt es allerdings eine Geschichte im Lichte christlichen Glaubens.

Und die Natur, —dem Unfrommen nur der unermessliche Zusammenhang blinder Kräfte in unvergänglichem Stoffe, —ist dem Christen Ausdruck eines ewigen Bewusstseins und einer ewigen Freiheit, die er in der Ordnung der Naturgesetze ahnend anbetet, in seinem geistigen Leben versteht als Liebe und Heiligkeit. Keine besondere christliche Ansicht giebt es von den Dingen der Geschichte und Natur, — aber wohl giebt es eine christliche Anschauung von der Geschichte und der Natur in ihrer Gesammtheit. So wird auch hier wohl Vieles wegfallen, was man Jahrhunderte lang als christliche Erkenntniss ansah und hoch hielt, — aber die christliche Erkenntniss wird nicht verlieren, nur neue Lebenssäfte erhalten, wenn sie aus ihre wahre Wurzel gestellt wird, das Glaubensleben des Herzens.

Und wenn wir uns fragen, wie es denn gekommen, dass die gesammte reformierende Bewegung in der evangelischen Kirche, trotz der unleugbaren Ueberlegenheit ihrer geistigen Führer, trotz des Wohlwollens der Gebildeten, so wenig erfolgreich war und so wenig segensreich, wo sie Erfolg hatte, — so finden wir die Gründe theils in den grossen Mängeln, welche dieser Bewegung geschichtlich ankleben, — theils in der Natur der Sache selbst.

Die christliche Frömmigkeit ruht aus der Ueberzeugung von dem Leben, welches Jesus in dieser menschlichen Welt offenbart hat, als dem erlösenden und beseligenden. Nur der Eindruck dieses Lebens, wie er sich in das Herz der Menschheit einprägt, kann christliche Frömmigkeit wecken; —kein Vernünfteln darüber, keine Moraltheorie, keine Bildung, keine Wissenschaft zünden das Feuer im Herzen an, nur die heilige Schönheit dieses Lebens selbst, welches Gott in Jesu der Menschheit offenbart hat. Der Rationalismus aber wollte mit einer Summe von Vernunftsätzen dieses Leben ersetzen, —Vernunftsätzen, wie sie philosophisch gestimmten Naturen vielleicht die Gluth religiöser Ueberzeugung zum Theil ersetzen, — dem fromm begeisterten Volke aber eine schale Theorie sind. Nicht an den Mängeln seiner Geschichtsauffassung ist der Nationalismus

zu Grunde gegangen. Hier war er mit allen seinen Blössen hundertfach achtungswerther als so vieles, was jetzt biblische Wissenschaft heisst. Er musste untergehen, weil er so wenig wie sein Gegner, der Supranaturalismus, das Wesen der Frömmigkeit, den geschichtlichen Character des Christenthums begriff, weil er den Hunger und Durst nach lebendigem Geiste mit Gesetzen über die Art der Ernährung stillen wollte.

Und wie viel tiefer noch steht die moderne Aufklärung, wie sie in unsern Tagen auf der Oberfläche des kirchlichen Lebens sich zeigt. Aufklärung des Volkes durch Sätze aus der Geschichts- oder Naturwissenschaft, damit meint sie eine Kirche erbauen zu können, — ebenso unwissend wie ihre Gegner über das Wesen der Frömmigkeit, aber tausendmal schädlicher, weil sie den Kern zur Seite lässt, die anders gefärbte Schale allein bietet. Unter ihren Händen wird die Begeisterung für das in Jesus der Menschheit erschienene Leben, die fromme Ueberzeugung, die auf dieses das eigne innere Leben baut, zum vorwitzigen, knabenhaften Richten und zur eitlen Selbstüberhebung, — dem Gegensatze aller Frömmigkeit.

Nicht als wäre nicht oft und fast in jeder Zeit seit hundert Jahren auch das richtige Verhältniss mehr oder weniger klar erfasst . Schon bei Lessing bricht das richtige Gefühl nicht selten durch seine mehr auf Wissenschaft angelegte Natur hindurch, wenn ihm das Blut aufwallt, dass man ihn aus seines Vaters Hause treiben will. Schon viele der tieferen Naturen, welche Kant angeregt hat, haben einen Eindruck von dem wahren Mittelpunkte des Christenthums gehabt. Und Schleiermacher hat fast Alles, was hier gesagt werden kann, schon oft und tiefsinnig ausgesprochen. Aber sie alle waren für die Gemeine zu schwer verständlich, zu vornehm. In ihnen Allen, — Schleiermacher vielleicht ausgenommen, — war der Character des Gelehrten das Erste, der des Frommen erst das Zweite. lind in Zeiten religiöser Lebensbewegungen hilft nie die blosse Einsicht. Eine wirksame Macht, eine lebenzeugende Bewegung geht in der Kirche ihrem Wesen nach nie von dem Gelehrtesten oder Freisinnigsten aus, sondern nur von dem Frömmsten, in welchem die Begeistrung

der Religion von innen die Schranken sprengt und die Gleichgestimmten mit fortreisst. Nicht Entleerung, sondern grössere Tiefe, grösserer Ernst, das Trachten nach einer "besseren Gerechtigkeit" bringt die religiösen Fortschritte. Alle Verneinung bereitet nur vor. Das Bejahende, das Bauende allein macht die wahren Reformationen.

Aber auch abgesehen von diesen geschichtlichen Mängeln liegt der Grund des schlechten Erfolgs dieser Bewegung in der Sache selbst. Wer für Religion besonders empfänglich ist, wird selten auch eine besondere Anlage zur wissenschaftlichen Beobachtung und Kritik besitzen. Denn wer den Eindruck des Ewigen im Zeitlichen überwältigend empfindet, hat selten daneben die Anlage das Zeitliche zu beherrschen, ihm unbefangen gegenüber zu stehen. Die Haller und Pascal kommen vor, aber sie sind nicht die Regel. So hat der Meister auf dem Gebiete der Religion, der Fromme, selten zugleich einen sehr lebhaften Trieb, die dem Wissen zugewendete Seite des Christenthums auch wahrhaft wissenschaftlich zu behandeln. Für seine Frömmigkeit, für das Glaubensleben in seinem Innern, ist es ja keine Förderung, wenn er eine richtige historisch--kritische Ansicht von den biblischen Büchern gewinnt, — sein Christenthum hat keinen Gewinn davon, wenn er die Naturanschauung des Moses mit der des Copernikus vertauscht. Ja er muss und wird einen gewissen innern Widerspruch gegen die an sich unfromme Thätigkeit wissenschaftlichen Urtheils fühlen, sobald sie das Gebiet berühren will, welches ihm das heilige ist. Was ihn mit Seligkeit und Ehrfurcht erfüllt, das wird er nur ungern wissenschaftlich bearbeitet, d. h. gerichtet, veurtheilt sehen, wird sich schwer überzeugen lassen, dass diese Thätigkeit ja das gar nicht berühren kann, was wirklich sein Glaubensleben bewegt.

Sodann wird mit den Vertretern der wissenschaftlichen Thätigkeit naturgemäss aus innrer Neigung immer die ganze Menge derer verbündet sein, welche überhaupt nicht Frömmigkeit suchen, welchen sie unverständlich, überflüssig ist. und schon diese Verbindung wird den Frommen schrecken. Die unfrommen Bundesgenossen der freisinnigen Frömmigkeit sind ihre schlimmsten Feinde.

So hat ja auch die Reformationszeit ihre grössten Gefahren in der Verbindung mit dem Humanismus und später mit der politischen Umsturzparthei gehabt. — Endlich ist das werdende Neue immer zugleich das Mannigfaltige, scheinbar Unsichre und Widerspruchsvolle, — und ängstliche Gemüther lieben das Sichere, Geschlossene, lieben was man irgendwie "schwarz auf weiss" besitzt! Lesen wir doch schon bei Freidank, dass ihn nichts mächtiger an die römische Kirche fesselt als ihre innere Geschlossenheit und Einheit, gegenüber der bunten Mannigfaltigkeit abweichender Meinungen.

So bietet uns die kirchliche Gegenwart folgendes Bild. Auch abgesehen von der theologischen Zunft, die nach dem natürlichen Wesen jeder Zunft schwerer zu unbefangenem Urtheil kommt, fühlt die Mehrzahl der wahrhaft Frommen heute eine innre Abneigung gegen eine klare Trennung des Glaubens von dem Wissen, — gegen das volle Recht der Wissenschaft. Und von denen, welche dieses Recht betonen, hat die Mehrzahl wenig tiefere Begeisterung für das Christenthum, fragt im Grunde wenig nach dem, was reines Christenthum ist, würde ohne besonderen Schmerz auch das Gebiet des Glaubens dem Wissen überweisen. Genug ist die Zahl derer, welche das Recht der Wissenschaft aus Frömmigkeit betonen, weil ihr Gewissen sie treibt, weil ihr Glaubensleben keine Elemente dulden kann, die ihm innerlich fremd sind.

Und doch zweifle ich an dem Erfolge keinen Augenblick. Mit dem ersten Widerspruch gegen die Unfehlbarkeit der sichtbaren Kirche und die religiöse Bedeutung der kirchlichen Werke war der altrömische Kirchenbegriff geschichtlich gerichtet, wenn er auch noch Jahrhunderte lang jede Bewegung unterdrücken konnte, bis wahre Frömmigkeit sie unaufhaltsam entfesselte. Mit dem ersten kritischen Buche, mit der ersten Abweichung von der altprotestantischen Schriftlehre ist die Trennung von Glauben und Wissen für das Heilsgebiet geschichtlich entschieden, — mag sich nun das officielle kirchliche Gemeinwesen noch Jahrzehnte oder Jahrhunderte dem verschliessen.

Man wende dagegen nicht ein, dass ja das Christenthum auch in seinem Beginn in Widerspruch war gegen die Bildung und

Weisheit der alten Welt. Wenn eine neue Bewegung aus dem Schoosse des Volks unscheinbar als frisches verjüngendes, Leben in die Weit eintritt, ist der Widerspruch der wissenschaftlich gebildeten Kreise gegen sie nur natürlich, beweist; nichts gegen ihre Wahrheit. Aber wenn eine bestimmte religiöse Form Jahrhunderte lang .die Bildung beherrscht, die besten Geister erfüllt hat, —und dann allmählich mit dem Gewissen der Gebildeten zerfällt, zur Anschauung der Ungebildeten herabsinkt (pagani); — dann ist sie als Form gerichtet. Eine Form, die unterlegen ist, wie die altprotestantische einem Lessing gegenüber, hat nur noch ein scheinbares Leben.

Wie sich der nothwendige Fortschritt zu vollziehen hat, das ist natürlich ein Geheimniss. Es war ja an sieh auch kein Abbruch der abendländischen Kirche nöthig, hätte sie willig die neuen Kräfte der deutschen Reformation aufgenommen. Noch weniger verlangt die evangelische Kirche eine Neubildung, sind doch ihre Grundsätze überall genügend und richtig. Aber allerdings, wenn sie ihren Grundsätzen untreu an dem einst Erreichten starr festhalten will, so kann auch sie ihr Erstgeburtsrecht verlieren, — "Gott auch aus diesen Steinen Abraham Kinder erwecken."

Der Stand der Theologen als solcher wird schwerlich die Erneuerung bringen, —wohl aber am Ersten Einzelne aus diesem Stande. Denn eine neue .Religion, zwar kann ein Frommer bringen ganz ohne Bildung. Eine Reformation aber, die auf richtiger Einsicht in das Wesen eines einmal Gegebenen ruht, nur ein Frommer, der gebildet, am besten der theologisch gebildet ist. — Aber gewiss, sobald der wahrhaft Fromme aus Glaubenstrieb, nicht im wissenschaftlichen Interesse, zu dem Losungsworte durchgedrungen ist, welches auch die Gemeine verstehen kann, wird diese Erneuerung geschehen sein, und die Denkenden unter den Frommen, wie die Frommen unter den Denkenden werden sich bei diesem Losungsworte zusammenfinden. '

Nur die Frommen. Denn nie kann eine Zeit kommen, wo man den Nichtfrommen mit mathematischen Gründen von der Wahrheit des reinen Christenthums überzeugen kann. Man spricht viel von dem Gegensatze unsrer neueren Bildung gegen das

Christenthum. Eine thörichte Rede! Der Gegensatz der auf das Sinnliche gerichteten Geistesentwickelung gegen die Religion eines lebendigen Gottes und eines ewig geltenden Lebens des Geistes ist so alt wie diese selbst. Es bedarf keines Fernrohres um zu sehen, dass Gott nicht mit den Augen zu finden ist, keines Mikroscops, um zu wissen, dass das Leben des Geistes nicht mit den Sinnen zu fühlen ist. Der Unglaube, die Neigung, im Handeln und Erkennen sich nur durch den Eindruck der sinnlichen Welt bestimmen zu lassen, war den Zeitgenossen Jesu eben so geläufig wie unserer Zeit. Nur das Eine ist richtig, dass unsre Zeit, welche mit ungeahntem Ernst und Erfolg den Mechanismus des Seins zu erforschen begonnen hat, leichter als andre Zeiten die Neigung fühlen kann, über der Freude an den Einzelheiten dieses Mechanismus den Eindruck des ewigen Lebens in ihm zu vergessen. Nicht dem Christenthum, nur einer Form der theologischen Wissenschaft im Christenthum steht unsre Zeit ferner als frühere Zeiten.

Es sei mir zum Abschlusse dieser Betrachtung noch ein naheliegendes Bild gestattet, welches mir im Laufe der Darstellung schon oft vorschwebte. Es war ein vollkommenes Meisterwerk der Töne, alle fühlenden Herzen erschütternd, erhebend und stärkend, ja auch fähig, die wenig Empfänglichen allmählich zu ergreifen und zu sich empor zu ziehen. Man trug es lange Zeit mit aufrichtigem Willen vor, etwas steif und altväterlich, aber ernsthaft und würdig. Man gab dabei Erläuterungen über seinen Ursprung, über die Tongesetze, die ihm zu Grunde lagen, vielfach mit Legende vermischt, nach veralteten Grundsätzen. — Diese Erläuterungen begannen den Gebildeten unter den Hörern zweifelhaft zu werden. Man prüfte sie, man stellte andere Vermuthungen auf, richtige und falsche. Die Empfänglichen, soweit sie nicht gebildet oder ohne wissenschaftliche Anlage waren, verdross wohl hie und da solche Neuerung; aber sie hörten die wunderbaren Töne und vergassen jenen Streit. — Da kamen Andere, die hörten nach und nach ganz auf, das Kunstwerk vorzutragen. Sie boten statt dessen Vorschriften feil, wie man jederzeit selbst ein gleiches schaffen könne, einige leichtverständliche Aussprüche über Tonkunst und Tondichtung. Manche der Gebildeten unter den früheren Hörern hatten Freude

daran, auch wohl Nutzen, wenn auch nicht die alte Erhebung und Begeisterung. Die Menge aber der Empfänglichen wusste Nichts damit zu thun. Sie hörte ganz auf, nach den Tönen zu fragen, oder sie ging zu den alten Meistern und ihrer alten Weise.

Noch Andre kamen, die boten statt der Töne eine scharfsinnige Prüfung der früheren Erläuterungen und meinten damit zu ersetzen, was sie wegnahmen Aber nur einige Gelehrten hatten ihre Freude oder ihren Streit an der neuen Art. Von den früheren Hörern hielten die Einen nur um so fester an der alten Weise, die Andern verloren alle Lust an dem Ganzen.

Da traten wieder neue Lehrer auf, die bewiesen aus den Regeln der Gehörslehre und der Geschichte, das ganze Kunstwerk sei nur eine zufällige Anhäufung von verschiedenen Bewegungen der Luft, seine Wirkung ruhe nur auf des Einzelnen Einbildung, einen tieferen Sinn habe es nicht, auch sei es leicht, in jedem Augenblick ein besseres zu schaffen. Sie redeten. Aber die, welche ein Herz für die Schönheit hatten, lächelten nur über ihre Thorheit und hörten mit doppelter Seligkeit die wunderbaren Töne, und liessen ihr Herz bewegen und begeistern, unbekümmert um allen Spott. —

Wann kommt der Meister, der den Forschern bei ihren Fragen nach des Kunstwerks Ursprung und Regeln mit aufrichtiger Freude zusieht, wenn sie nur ernst arbeiten, ja wenn ihm die Gabe ward, selbst mitforscht ohne Furcht und Zurückhaltung, —der aber mit voller Gluth des Herzens, mit begeistertem Gemüthe den Hörern die alten Töne mit neuer Fertigkeit darbietet, —und von den eignen Gedanken und den gelehrten Fragen schweigt, und alle Empfänglichen um sich sammelt zu Seligkeit und Begeisterung?

So urtheilen wir über die Bewegung, welche so lange schon die evangelische Kirche bewegt. Es bleibt zu fragen, was nun die Theologie als Wissenschaft sein soll in dieser Bewegung.

Sie soll eine Wissenschaft sein, die Wissenschaft von dem christlichen Glauben. So hat sie als solche nichts zu glauben, nur zu wissen. So isi sie zuerst Wissenschaft von dem Ursprunge der christlichen Religion; ihr erster Gegenstand sind die heiligen

Schriften. Sie soll wissen, nicht glauben, wie diese Bücher entstanden, wie die in ihnen berichtete Geschichte wirklich verlief, was der ursprünglichen Erscheinung des Christenthums angehört, was sich erst später daran geschlossen hat. Abergläubisch wäre sie oder gewissenlos, wenn sie etwas, was der wissenschaftlichen Prüfung hier sich aufdrängt, aus Glauben gründen statt aus Gründen der Wissenschaft bekämpfte oder verschwiege. Verblendet, wenn sie die Regeln der Wissenschaft, welche gesundes Denken und wissenschaftliche Erfahrung bieten, auf ihrem Gebiete verschmähte. Leichtsinnig, wenn sie da, wo nach wissenschaftlichen Grundsätzen eine feste Ueberzeugung noch nicht möglich ist, aus vermeintlichem Interesse des Glaubens voreilig eine bestimmte Parther ergriffe.

Sie ist sodann Wissenschaft von der Geschichte des Christenthums, hat zu untersuchen, wie dasselbe sich im Denken und Leben der Völker Gestalt suchte, — hat die Erscheinungen zu prüfen. ob sie nothwendiger, fortbildender Ausdruck des ursprünglich Christlichen, oder ob sie nur Erzeugnisse des Weltlichen und Volksthümlichen sind, in welchen das Christliche nach einer Form rang. Auch hier kennt sie kein andres Gesetz als das der Geschichte.

Sie ist ferner Wissenschaft von dem Wesen des Christenthums. Sie hat geschichtlich zu erkennen, was in der ersten Erscheinung des Christenthums ihm eigenthümlich, unzertrennlich von ihm ist, was dagegen Ausdruck der allgemeinen Entwicklungsstufe, auf der die Menschheit jener Zeiten stand. Sie hat das wahrhaft Christliche in Glauben und Leben, wie es nach der Entwicklung des evangelisch-kirchlichen Grundgedankens in einem lebendigen Gliede der Kirche sich ausprägt, zu beschreiben, nach den Forderungen gesunden Denkens zu ordnen und in die Grenzgebiete des gesammten menschlichen Geisteslebens einzufügen. Auch hier ist sie nur die wissenschaftliche Untersuchung von etwas, was in der Erfahrung vorliegt. Etwas, wovon ein Christ als Christ keine wirkliche Glaubens- und Lebenserfahrung haben kann, darf hier nie gelehrt werden, bloss weil es irgendwie einmal mit dem Gedankenkreise der frommen christlichen Gemeine verbunden gewesen ist.

Endlich ist die Theologie Wissenschaft von her Anwendung des Christenthums. Sie lehrt die auf Erfahrung gegründeten Regeln,

wie man das Christliche der Gemeine und den draussen stehenden am fruchtbarsten, einfachsten und bleibendsten überliefern kann, -- bestimmt danach die Aufgabe des christlichen Lehrers, Seelsorgers, Missionars.

Ueberall also handelt es sich in der Theologie um ein wirkliches Wissen. Ein Erfahrungsgebiet auf dem Felde des geistigen Lebens der Menschheit wird nach den Grundsätzen der Wissenschaft untersucht.

Und wie steht die Theologie in dem Kreise der menschlichen Wissenschaft? Der Wissenschaft; denn in Wahrheit ist sie nur Eine; "das nach den Gesetzen des Denkens geregelte gesammte Wissen von der gesammten Erfahrungswelt, die dem Menschen zugänglich ist." Aber dieses Gebiet theilt sich bis jetzt und vielleicht für immer in zwei grosse Kreise, deren Zusammenhang man als vorhanden freilich nachweisen kann, die aber für unser Erkennen unabhängig von einander auftreten. Es ist die Wissenschaft von der Natur und die Wissenschaft von der Geschichte des menschlichen Geistes.

In diesem Kreise nun hat die Theologie mit der Wissenschaft von der Natur schlechthin nichts zu thun. Wohl kann der Theolog als Christ in seiner Glaubensüberzeugung von dem ewigen Leben des geistigen Gottes, dessen Leben erlösend und versöhnend in Christus offenbart ist, der Glaubensüberzeugung eines Naturforschers gegenüberstehen, wenn derselbe ein Nichtchrist sein sollte. Aber als Theolog, seinem Wissen nach, kann er niemals in einem Widerspruche mit dem Naturforscher als solchem sein. Nicht als ob der Theolog als Gebildeter jede Theorie des gegenwärtigen Standpunktes der Naturwissenschaft als bindend ansehen müsste; aber seine etwaigen Zweifel daran dürfen nicht iii seiner Frömmigkeit oder in seiner Theologie begründet sein, sondern in seiner sonstigen Bildung und seinem Verstande.

Das Gebiet des Naturforschers endet mit der Sinnenwelt und ihren Verbindungen. Ihm kann als solchem das Kunstwerk nur das Resultat natürlicher Vorgänge, die Welt nur das Wirken aller Naturkräfte im gesammten Naturstoff sein. Das Gebiet des Theologen endet mit dem Glaubensleben des menschlichen Geistes. Wie dem Aesthetiker das Kunstwerk nur als das "Schöne" in

Betracht kommt, kommt dem Theologen alles weltliche Sein nur als von Gott ausgehendes, als Ausdruck göttlicher Freiheit und Güte in Betracht. So berühren sich Beide gar nicht. Keine naturwissenschaftliche Erkenntniss kann den christlichen Glauben fördern oder schädigen, — man müsste ja sonst vergessen, dass der Naturforscher nichts wissen kann über das Sinnliche hinaus. Keine christliche Frömmigkeit kann besondere naturwissenschaftliche Ansichten fordern, — man müsste ja sonst übersehen, dass man gegenüber dem Gebiete der Sinnenerfahrung nicht glauben kann.

Entschieden gehört die Theologie zu den Geschichts- oder Geisteswissenschaften, und breitet sich wie die Wissenschaft vom Recht oder von der Kunst über alle Theile dieses Gebietes aus. Ihre Wurzeln ruhen in der Alterthumskunde, getragen wird sie von der Wissenschaft der Erscheinungen und Gesetze des Seelenlebens, sowie von der Geschichtswissenschaft; ihr Haupt reicht in die Erziehungslehre und die Wissenschaft vom Staate und vom Rechte hinein. Und auch auf diesem Gebiete gilt es, dass der Theolog wohl als Christ in seinem Glauben an das persönliche Leben des geistigen Gottes, an die Offenbarung desselben zum Heil in Jesu, sich einem Alterthumsforscher entgegengesetzt führen kann, welchem etwa die heidnische Religionsentwicklung mehr zusagt, oder einem Philosophen, welcher überhaupt dem religiösen Leben seinen höheren Werth bestreitet neben der Vernunftauffassung von übersinnlichen Dingen. Aber als Gelehrter kann er sein Alterthum nicht anders erforschen wollen als der wahre Alterthumskenner auf andern Gebieten das seinige. Als Gelehrter darf er nicht andere Begriffe von Logik oder Seelenthätigkeit zu Grunde legen als der wahre Philosoph.

Und wenn er die augenblicklich geltenden Ansichten über das geschichtliche 'verfahren oder die philosophischen Grundsätze einer bestimmten herrschenden Philosophenschule nicht theilt, so muss er bestimmt wissen, dass er das nur aus Gründen der Wissenschaft, als Gelehrter thut, — dass sein Glaube, sein Christenthum dabei schlechthin keinen Antrieb giebt.

Des Theologen Gebiet ist ein bestimmtes Erfahrungsgebiet in der menschlichen Geistesgeschichte. Er hat es auszubauen nach den Grundsätzen treuer, unbestechlicher und unerschrockener Wissenschaft. Nur der schlechte Theolog, der wissenschaftliches Thun von

Frömmigkeit nicht zu unterscheiden weiss, kann von einem Streit mit der wahren Wissenschaft wissen, niemals der wahre Theolog. Dieser steht in der Gelehrtenwelt auf seinem bestimmten und wichtigen Gebiete, mit demselben guten wissenschaftlichen Rechte, völlig ebenbürtig irgend einem Arbeiter auf dem Felde dei Geisteswissenschaft.

Viel schwieriger ist die Frage, wie der Theolog als solcher zu dem Frommen, dem Christen als solchem steht, wie er sich zu dem Religionsverkündiger für die Gemeine verhält. Rühren doch nicht wenige der Mängel unsres kirchlichen Lebens davon her, dass man diese Frage gar nicht oder nur oberflächlich behandelt.

Die Theologie als Wissenschaft kann Niemanden fromm machen und hat es noch nie gethan. Wo ein Theolog christlichen Glauben erweckt, da thut er es, weil er zugleich ein christlich Frommer, ein Mann des Glaubens ist, nicht als Theolog. Nun sollen die religiösen Lehrer des christlichen Volkes christliche Frömmigkeit verbreiten, nicht Gelehrsamkeit oder Aufklärung. Und darum müssen sie in erster Linie gläubige Christen sein, Männer, deren innres Leben mit seinen Ueberzeugungen fest in dem von Jesus offenbarten erlösenden und versöhnenden Leben Gottes wurzelt, in denen diese Ueberzeugung die herrschende, ihr Leben bestimmende ist. Ohne das sind sie mit aller möglichen Theologie und sonstigen Wissenschaft nur elende Geistliche. Aber sie dazu zu machen, — das ist eine ganz unbillige Forderung an die Theologie der Universitäten als solche. Verlangt doch Niemand von dem Rechtslehrer, dass er seine Zuhörer redlich und gewissenhaft machen soll, ausser sofern die Beschäftigung mit dem Recht unwillkürlich dazu machen kann. Wer sich zu dem Amte eines christlichen Religionslehrers bereiten will, der soll, — wenn er nicht einen unendlich bedenklichen Lebensweg einschlagen will, — schon gewiss sein, dass in ihm das Glaubensleben die stärkste Lebensmacht ist. Und ihn darin zu fördern, zu bestärken, dazu ist nicht die Wissenschaft, ausser insofern sie ihm täglich die Quellen des Christenthums näher bringt und verständlicher macht, sondern die christliche Erbauung, die unmittelbare Macht des Schriftwortes, der Eindruck christlicher Persönlichkeiten, mögen sie seine theologischen Lehrer sein oder Nichttheologen.

Gewiss ist desshalb nur der ein Lehrer der Theologie in wahrem Sinne, welcher mit der wissenschaftlichen Anlage den begeisterten Glauben verbindet. Nur er kann zugleich belehren und Frömmigkeit pflanzen durch das unmittelbare Wort der Ermahnung und durch persönlichen Eindruck. Wird doch auch nur der für Kunst selbst begeisterte der eigentlich wahre Lehrer für Jünger der Kunst sein. Aber die theologische Wissenschaft als solche kann nur unterrichten, die Ansichten läutern, das Verständniss für die Entwicklung des Christenthums und der Kirche erweitern. Und zum Theologen ist die erste Bedingung die wissenschaftliche Anlage. Auch der Frömmste bleibt ohne sie ein schlechter Theolog. Und der wissenschaftlich Begabte kann auch ohne lebhafte Frömmigkeit immerhin gute Dienste auf dem Gebiete der Theologie leisten.

Wenn daher das Sprichwort sagt, dass das Herz den Theologen mache, so ist das nur in beschränktem Sinne richtig. Den Geistlichen, den Volksprediger, den Seelsorger macht das Herz, der Glaube. Und auf dem eigentlichen Centralgebiete der Theologie wird der, welchem dieses Herz fehlt, immer mehr ein Nachsprechender, ein Stümper bleiben. Aber zum Theologen, im Unterschiede vom Christen überhaupt, macht dennoch nicht das Herz, sondern die wissenschaftliche Begabung.

Der Lehrer des christlichen Volkes bedarf vor Allem christlichen Glaubens. Hat er diesen, so könnte er an sich, — abgesehen von dem nothwendigen Aergerniss seines Widerspruchs gegen die Bildung, — ein vollkommener Geistlicher sein mit den mangelhaftesten Ansichten über Geschichte der Bibel und des Christenthums, mit den falschesten Begriffen von Natur und Welt. Der Theologie bedarf er nur, weil jede Berufsart, die sich nicht zum wissenschaftlichen Bewusstsein ihrer selbst erhebt, Handwerk bleibt oder zu unstät schwärmerischem Wesen ausartet, weil der Gebrauch eines dem Alterthum gehörenden Schriftthums ohne wissenschaftliches Verständniss eine Pfuscherei ist, die auch den Sinn für Wahrheit zerstören muss, — weil endlich der Beruf eines Geistlichen eine Sicherheit gegenüber der sonstigen Bildung, eine Bereitschaft gegenüber den Zweifeln und Fragen der Gemeine fordert, wie sie nur die Wissenschaft geben kann. Für den Stand der Geistlichen, für sein Ansehn, sein innres Leben und dessen Gesundheit

ist die Theologie unentbehrlich. Sie reinigt das Urtheil, giebt Sicherheit, bewahrt vor den Irrthümern und Ausschreitungen, denen jede blosse Begeisterung unterworfen ist. Ob aber jeder einzelne Geistliche auch Theolog sein müsste, die Frage wollen wir hier unbeantwortet lassen.

Der Geistliche als Lehrer des Volkes hat nur Glauben zu verbreiten, nicht Theologie, weder verneinende, noch bejahende. Er soll an der Schönheit des von Jesus offenbarten Lebens, an dem Eindruck seines Todes die Begeisterung entzünden für das göttliche Leben im menschlichen. Er soll die Ueberzeugung wecken, dass der, welchem dieses Leben der Inhalt seines innren Lebens wird, darin die Kraft besitzt, sein natürliches Herz zu überwinden, mit Gott und seinem eigenen Gewissen versöhnt zu sein, bei aller seiner Schwachheit. Er soll dieses Leben entfalten, wie es sich darlegt in den einzelnen Verhältnissen, Anforderungen, Versuchungen, Pflichten, — wie es die Furcht des Todes und den Reiz der Lust besiegt. Er soll nur das predigen, wovon er als von dem Inhalte des reinen und wahren Christenthums innerlich überzeugt ist. Und wenn ihm das, was er als wahres Christenthum erkennt, überhaupt nicht mehr Ueberzeugung abgewinnt, so soll er aufhören, als christlicher Prediger zu reden. Aber er soll sich vor der Thorheit und dem Verbrechen hüten, der Gemeine, die er mit Jesu Leben und Geist nähren soll, statt dessen Fragen, Zweifel, Kämpfe der Wissenschaft zu bieten, — die ob wahr oder falsch von dem Nichtgelehrten nur urtheilslos empfangen werden und darum nur Verderben stiften können.

An sich ist die theologische Partheistellung des Geistlichen ganz gleichgültig, wenn sie ehrlich und gewissenhaft erworben ist; sie dürfte von der Gemeine gar nicht störend empfunden werden, sobald der Geistliche ein frommer Christ sein will, sobald er überzeugt ist, dass in dem Lehen und Tode Jesu wirklich die Macht in die Welt gekommen ist, welche Sünde, Unseligkeit und Tod überwinden kann. Nur diese Ueberzeugung kann er ja predigen, welches auch seine wissenschaftliche Stellung sein mag. Und wenn er mehr predigen will, so vergisst er, dass er nicht Lehrer der Wissenschaft ist, sondern Prediger des Glaubens.

Nur diese Predigt, diese Ueberzeugung kann das Christenthum beweisen, vertheidigen, verbreiten. Sie erfasst wie ein Feuer das für Religion empfängliche Herz, sie überzeugt ohne Gründe durch den Eindruck auf das Gewissen und das fromme Gefühl. Wo hätte je ein Prophet, wo hätte Christus bewiesen oder vertheidigt! Der Glaube lässt sich nur bekennen und verkündigen. Jede Wissenschaft der Apologetik kann ja nur Anstösse beseitigen, die aus Missverständnissen der Theologie oder andrer Wissenschaften entspringen. Den Glauben verbreitet hat sie noch nie. Auch zwischen dem für das Schöne Empfänglichen und dem Nichtempfänglichen giebt es keine wissenschaftliche Auseinandersetzung. Nur der Eindruck des Schönen selbst kann unmittelbar, nach uns nach, aus dem Unempfänglichen einen Empfänglichen machen Es gilt von diesem Allen Lessing's Wort "Was gehen den Christen des Theologen-Hypothesen und Erklärungen und Beweise an? Ihm ist es doch einmal da, das Christenthum, welches er so wahr, in welchem er sich so selig fühlt. Wenn der Paralyticus die wohlthätigen Schläge des electrischen Funkens erfährt, was kümmert es ihn ob Nollet oder ob Franklin oder ob keiner von beiden Recht hat?"

Aus diesen Betrachtungen beantworten sich nun die zwei Fragen, an denen das Verhältniss der Frömmigkeit zur Wissenschaft der Theologie hängt.

Wie weit kann der christlich Fromme als solcher über das Gebiet der Theologie urtheilen? Er kann fühlen, ob die Frömmigkeit, welche die Theologie beschreibt, die christliche ist. Er kann der Kritik spotten, wenn sie den erlösenden Gottesgeist nicht finden kann, den er empfindet. Er kann der Weisheit lachen, welche durch Verstandesschlüsse das hervorbringen will, was er längst besitzt, als Seligkeit und Kraft neuen Lebens. Aber über keinen Punkt des Wissens kann er urtheilen, ausser als Gelehrter.

Wer über den Ursprung eines biblischen Buches, über den Verlauf der Geschichte des alten und neuen Testamentes, über die Dinge der Natur aus seiner Frömmigkeit urtheilen will, der ist nur zu entschuldigen, weil er nicht weiss was er thut.

Und zuletzt. Muss jeder Theolog zugleich ein christlich Frommer sein? Zweifellos ist es, dass jeder Geistliche es sein muss,

dass er lieber ein schlechter Theolog sein soll als ein Unfrommer oder auch nur ein Mann schwacher Ueberzeugung von dem Christenthum. Zweifellos auch, dass der theologische Lehrer der studirenden Jugend seinen schönen Beruf nur dann vollkommen erfüllen kann, wenn er mit seiner Wissenschaft die Begeisterung für das Leben Christi verbindet, — ja dass wenn die Hochschule einmal nur Männer der Wissenschaft ohne Frömmigkeit böte, die Kirche ihren zukünftigen Dienern von sich aus helfend nahen müsste.

Aber dennoch muss gesagt werden, dass nicht unbedingt jeder Theolog ein christlich Frommer sein muss. Das Gebiet der Theologie lässt sich auch hier nur mit dem der Kunstwissenschaft vergleichen. Nur ein Kunstbegeisterter kann die Meisterwerke der Kunst erklären, ihre Gesetze ergründen ohne zum Schwätzer herabzusinken. So kann nur ein christlich Frommer die Bibel als Buch der Religion verstehen und erklären, das Wesen des Christenthums in seinem Glauben und seiner Sitte darstellen, die Kunst lehren, das Christenthum wirksam zu verbreiten. Aber auch ein ganz für das Schöne Unempfänglicher kann Verdienste haben um die Biographie der Künstler, die Aeusserlichkeiten der Kunstgeschichte, ihre Zeitrechnung. Und so kann auch der Unfromme mit wissenschaftlicher Begabung sich grosse Verdienste erwerben um Text und Kritik der Schrift, für die der vorwiegend Fromme selten ein grosses Geschick hat, für die Geschichte der werdenden und gewordenen Kirche nach ihrer Aussenseite, — für die Rechtszustände innerhalb der einzelnen Kirchengemeinschaften. Und die Hochschule, als Anstalt der Wissenschaft, muss auch fur solche Elemente offen stehen. Erzieher freilich, christliche Freunde der Jugend, welche ihre Frömmigkeit nähren und stärken, können solche Männer nicht sein. Sie werden immer mehr Hülfsarbeiter auf dem Gebiete der Theologie sein.

Das ist, was ich nach dem Masse der Zeit und Gelegenheit vorzutragen gewünscht. Hochverehrte Versammlung! In wenigen Wochen nahen wir uns dem Tage, wo vor hundert Jahren Schleiermacher der Kirche des Evangeliums geschenkt ward, — der Mann der mehr als irgend Einer protestantische Freiheit und evangelische Frömmigkeit gefördert hat, dem nie ein Streit

bewusst war zwischen dem Rechte gewissenhaftester Forschung und innigster christlicher Frömmigkeit.

Es ist betrübend zu sehen, wie weit die Gegenwart unserer Kirche zurücksteht, nicht bloss hinter dem, was er erstrebt, sondern selbst hinter dem, was er schon erreicht hatte. Aber nicht Anlass zur Trauer sei uns jener Gedenktag. Er fülle Lehrende und Lernende mit der freudigen Gewissheit, dass das Ziel zu erreichen ist, mit dem Entschluss zu furchtloser und freier Forschung, mit der Gewissheit, dass sie niemals eine Feindin des Glaubens sein kann, der in Christo beseligt.