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VERSCHLINGT DIE ZEIT DIE MATERIE?

JAHRESBERICHT 1981/82

Rede des Rektors

Frau Prof. Dr. Verena Meyer

gehalten an der 149. Stiftungsfeier
der Universität Zürich am 29. April 1982

Verschlingt die Zeit die Materie?

—Tempus edax rerum — Ovid, Metamorphosen, XV

Nur drei Bausteine sind es, aus welchen die Vielfalt aller Stoffe in unserer Umwelt zusammengesetzt ist. Positiv geladene Protonen und neutrale Neutronen bilden den Atomkern. Er enthält fast die ganze Masse des Atoms, ist aber viel kleiner als die Hülle, welche aus leichten, negativen Elektronen besteht. Da die einzelnen Atome gleich viele negative und positive Ladungen enthalten, sind sie, wie die ganze Materie, elektrisch neutral. Dieser Schluss mag zwar einleuchten, ist jedoch nur dann zulässig, wenn die Ladungen von Proton und Elektron, abgesehen vom Vorzeichen, exakt gleich sind. Oder umgekehrt: Aus Experimenten, welche die Neutralität von Atomen sehr genau verifiziert haben, wissen wir, dass sich die Ladungen von Proton und Elektron dem Betrag nach um weniger als ein Teil in 10 21 unterscheiden. Warum sind die Ladungen zweier so verschiedenartiger Teilchen gleich? Auf diese Frage werden wir später zurückkommen.

Neben den drei genannten Bausteinen unserer Materie existiert ein weiteres Teilchen, das Neutrino. Da es masselos und ungeladen ist, entzieht es sich nicht nur unseren Sinnen, sondern ist auch mit empfindlichsten Methoden nur schwer nachweisbar. Doch wissen wir, dass es allgegenwärtig ist.

Ausser diesen vier stabilen Teilchen wurden in den vergangenen Jahrzehnten viele andere entdeckt. Mit der Erschliessung immer neuer Energiebereichs durch stets grössere Beschleuniger kamen immer weitere dazu, und es scheint, dass ihre Zahl unbegrenzt ist. Zunächst war diese zunehmende Fülle sogenannter Elementarteilchen verwirrend. Doch ist in den letzten fünfzehn Jahren die Klassifizierung all dieser Teilchen gelungen und damit der Durchbruch zu einer ganz neuen Vorstellung vom Bau der Materie und von den in der Natur wirkenden Kräften. Alle neu entdeckten Teilchen sind instabil und zerfallen kurz nach ihrer Entstehung. Da die gesamte Energie erhalten ist und da Masse und Energie

äquivalent sind, müssen die Zerfallsprodukte leichtere Teilchen sein. Der Zerfall verläuft in unserer Zusammenstellung von oben nach unten, allenfalls über instabile Zwischenstufen, bis nur noch eines oder mehrere der aufgeführten stabilen Teilchen und Strahlung übrig bleiben.

Mit der Entdeckung des von Dirac vorausgesagten positiven Elektrons, des Positrons, im Jahre 1932 wurde auch der Bereich der Antimaterie dem Experiment erschlossen. Es hat sich seither bestätigt, dass jedem Teilchen ein Antiteilchen zugeordnet werden kann. Die Eigenschaften von Teilchen und Antiteilchen sind komplementär in der Art, dass sie sich beim Zusammentreffen paarweise vernichten und nichts als Energie in Form von Strahlung übrig bleibt. Ein Positron wäre in einer Umwelt aus Antimaterie ebenso stabil wie bei uns das Elektron. Wenn es jedoch, etwa in einem radioaktiven Zerfall, in unserer Materie entsteht, so hat es wenig Überlebensaussicht, da es nach kürzester Zeit einem Elektron begegnet und mit diesem zusammen annihiliert. Es ist kein Zufall, dass hier von <unserer> Materie die Rede ist und so die Antimaterie als fremd erscheint. Sicher ist, dass die Erde aus Materie und nicht aus Antimaterie besteht. Ob dies auch für ferne Himmelskörper gilt, ist schwieriger zu entscheiden. Nachrichten von dort erhalten wir vorläufig einzig in Form von Strahlung, deren Quanten, die Photonen, Antimaterie von Materie nicht unterscheiden, da Photon und Antiphoton identisch sind. Dennoch bestehen Gründe zur Annahme, dass unser Universum nur aus Materie besteht.

Nachdem wir festgestellt haben, dass die meisten Teilchen zerfallen, stellt sich jetzt die Frage, warum gerade die Nukleonen, Neutron und Proton, und das Elektron stabil sind und so erst die Existenz von Materie möglich wird. Für das Elektron ist die Antwort einfach zu geben. Die Theorie des Elektromagnetismus, welche

von Maxwell vor hundert Jahren begründet wurde, lehrt, dass Ladung nicht verschwinden kann. Da es keine leichteren Teilchen gibt, die geladen sind, verbietet dieser Satz von der Ladungserhaltung den Zerfall des Elektrons. Für das Neutron besteht kein solches Hindernis. Tatsächlich zerfällt ein einzelnes Neutron in Proton, Elektron und Antineutrino, drei Teilchen, die zusammen ebenfalls ungeladen sind. Im Innern des Atomkerns ist dieser Prozess meistens aus energetischen Gründen nicht möglich; einem Zerfall in Positron und Elektron würde jedoch nichts im Wege stehen. Auch das Proton könnte unter Erhaltung der Gesamtladung in ein Positron und neutrale Teilchen zerfallen. Weil das Positron sogleich mit einem Elektron seiner Umgebung annihilierte, wäre die Welt nach diesem Zerfall um ein Proton und ein Elektron ärmer. Die Bestandteile eines Wasserstoffatoms hätten sich in Strahlung aufgelöst; die Materie würde so allmählich verschwinden, verschlungen von der Zeit, wie Ovid sagt: Tempus edax rerum.

Warum existiert die Materie noch heute, 10 Milliarden Jahre nach ihrer Entstehung? — Diese Frage stellte erstmals Hermann Weyl im Jahre 1929 in einer grundlegenden Arbeit. Er antwortete: «Ferner werden zwei Erhaltungssätze der Elektrizität auftreten müssen, die (nach der Quantisierung) besagen, dass die Anzahl der Elektronen wie der Protonen konstant bleibt.» Er konnte nicht wissen, dass es nicht das Proton, sondern das noch unentdeckte Positron war, das er in seiner Theorie beschrieb. Zehn Jahre später nahm der Schweizer Physiker Stueckelberg die Frage wieder auf und sagte: «Bei allen beobachteten Umwandlungen der Materie wurden noch keine Umwandlungen von schweren Partikeln (Neutron und Proton) in leichte Partikel (Elektron und Neutrino) beobachtet. Wir wollen daher einen Erhaltungssatz der schweren Ladung fordern.» Bevor wir auf diesen Erhaltungssatz der Baryonenzahl, wie wir die schwere Ladung heute nennen, zurückkommen, wenden wir uns den Experimenten zu und damit der Frage: «Ist die Materie wirklich stabil?»

Der Zerfall eines Nukleons wäre dem bekannten radioaktiven Zerfall ähnlich. Da jedoch alle Atomkerne aus Nukleonen bestehen, wären es nicht nur einige wenige und seltene Elemente wie das Uran, sondern alle Elemente wären radioaktiv. Ferner handelte es sich nicht um eine Umwandlung eines Atomkerns in einen anderen, sondern die Atome würden sich, wie wir oben gesehen haben, vollständig in Strahlung auflösen. Es ist offenkundig, dass dieser Prozess nicht sehr rasch abläuft; denn immerhin existiert die Erde heute noch. Überdies lässt sich, wie wir sehen werden, ganz einfach abschätzen, dass die Lebensdauer des Nukleons mindestens eine Million mal grösser ist als das Alter der Erde. Sorgfältige Experimente haben ergeben, dass sie mindestens 10 30 Jahre beträgt. Bedenken wir, dass unser Universum erst 1010 Jahre alt ist, so erscheint diese Zahl völlig unverständlich. Wie können wir durch Messungen innerhalb kurzer Zeiträume auf viele Milliarden mal längere Lebensdauern schliessen? Oder mit anderen Worten: Auch wenn unsere Materie seit 10 10 Jahren existiert, woher wissen wir, dass sie nicht morgen ohne jede Vorwarnung zerfallen wird? — Wir wissen es darum, weil dies den Gesetzen des radioaktiven Zerfalls widersprechen würde. Tausend genau gleiche radioaktive Atome oder instabile Teilchen zerfallen nicht

alle gleichzeitig, sondern gemäss statistischen Gesetzen. Beträgt ihre Lebensdauer zum Beispiel tausend Jahre, so zerfällt in jedem, auch schon im ersten Jahr, der tausendste Teil der am Jahresanfang vorhandenen Teilchen. Dass wir von Lebensdauer sprechen, ist insofern irreführend, als ein Atom nicht wie das Leben einem Alterungsprozess unterliegt, der nach einer bestimmten Zeit zum Tode führt. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes Atom in der nächsten Sekunde zerfallen wird, nimmt mit der Zeit nicht zu. Der Zeitpunkt seines Zerfalls bleibt dem Zufall überlassen. Obwohl dies dem Prinzip von Ursache und Wirkung zu widersprechen scheint, verstehen wir diesen Prozess als eine Folge der Quantenmechanik.

Kommen wir auf unser Beispiel zurück, so haben wir festgestellt, dass bei einer Lebensdauer von tausend Jahren in einem Jahr ein Tausendstel der Teilchen zerfällt. Nach tausend Jahren wäre noch etwa ein Drittel der ursprünglichen Teilchen vorhanden. Allgemein gilt: Die Zahl der zerfallenden verhält sich zur Gesamtzahl der Teilchen wie die Messdauer zur Lebensdauer. Die Gesamtzahl nimmt so im Lauf der Zeit exponentiell ab. Nehmen wir jetzt an, ihre Lebensdauer wäre so gross wie das Alter des Universums, nämlich 10 Milliarden Jahre, dann würde jährlich ein Zehnmilliardstel von den 10 28 Nukleonen unseres Körpers zerfallen. Pro Sekunde wären dies 10 11 Zerfälle, das heisst, unser Körper wäre radioaktiv mit einer Quellenstärke von 3 Curie, lebensbedrohlich für ihn selbst und für seine Umgebung. In Wirklichkeit ist die Radioaktivität des Körpers mindestens eine Million mal schwächer, die Lebensdauer des Nukleons daher eine Million mal grösser als das Alter des Universums. Sie muss nach dieser groben Abschätzung mehr als 10 16 Jahre betragen. Einen um viele Grössenordnungen höheren Wert hat ein Experiment geliefert, das vor Jahren in einer Goldgrube in Südafrika in 3000 m Tiefe unter der Erdoberfläche zum Studium von Neutrinoreaktionen unternommen wurde. Eine nachträgliche Auswertung der Ergebnisse hat gezeigt, dass in 20 Tonnen einer durchsichtigen Flüssigkeit innerhalb der Beobachtungsdauer von drei Jahren nur fünf Ereignisse festgestellt wurden, die von einem Nukleonzerfall hätten herrühren können. Als untere Grenze für die Nukleonlebensdauer berechnet sich daraus der genannte Wert von 1O30 Jahren.

Die gezielte Suche nach dem Nukleonzerfall wurde erst vor wenigen Jahren aufgenommen in der Hoffnung, die Empfindlichkeit noch einmal um das 100fache steigern zu können. All diesen Experimenten ist gemeinsam, dass sie, zum Schutz vor der kosmischen Strahlung, welche Zerfallsereignisse vortäuschen könnte, in 1000 bis 3000 m Tiefe vorgenommen werden, so in Bergwerken in den USA, in Indien, Japan und der Sowjetunion. Auch in Europa, z. B. im Mont-Blanc-Strassentunnel, sind Beobachtungen im Gang. In Proben von 50 bis 5000 Tonnen Wasser, Beton oder Eisen hofft man, einige wenige Nukleonenzerfälle nachzuweisen. Im Prinzip sind dafür zwei verschiedene Methoden denkbar. Dort, wo ein Nukleon zerfallen ist, fehlt es nachher. Dies bedeutet, dass sich ein Element in ein anderes verwandelt hat. Falls dieses in der Natur nicht vorkommt, lässt sein Nachweis auf Nukleonzerfall schliessen. Ein Experiment dieser Art wurde in einer alten Goldgrube in den USA durchgeführt. Es ergab, dass in einer

Probe von zwei Tonnen Kalium-Azetat im Lauf eines Tages höchstens ein Atom eines Argon-Isotops erzeugt wurde. Die Methode, wie einzelne Argon-Atome aus noch viel grösseren als der genannten Materialmenge extrahiert werden können, war in der gleichen Grube im berühmten Experiment zum Nachweis der Sonnenneutrinos entwickelt worden. Statt nach fehlenden Nukleonen zu suchen, kann man einen Zerfall aber auch direkter beobachten. Da beim Zerfallsprozess sehr viel Energie frei wird, haben die entstehenden Teilchen hohe Geschwindigkeiten und erzeugen Lichtblitze, die mit bekannten Methoden nachweisbar sind. Gegenwärtig sind vor allem Experimente dieses Typs im Gange. Wenn in 1000 Tonnen Wasser im Lauf eines Tages ein Nukleon zerfällt, so entspricht dies einer Lebensdauer von 2 . 10 30 Jahren. Da bisher kein einziger Zerfall zweifelsfrei nachgewiesen worden ist, stellt diese Zeit noch immer nur eine untere Grenze dar.

Eine Vorstellung können wir uns von einer so langen Zeit kaum machen. Denken wir uns etwa mit einem Zeitraffer das Alter des Universums auf eine Minute verkürzt, so wäre die Nukleonlebensdauer gerade gleich dem Alter des Universums, nämlich 10 10 Jahre. Ein Menschenleben wäre dann allerdings kürzer als ein Millionstel einer Sekunde. Ein anschaulicheres Bild hat das Hirtenbüblein im Märchen erfunden. Verlegen wir seinen Diamantberg aus Hinterpommern in die Schweiz und stellen uns das Matterhorn vor: Das Vögelein möge alle 100 Jahre herbeifliegen und ein Körnchen von einem Gramm wegpicken. Etwa 10 19 Jahre dauert es dann, bis das Matterhorn verschwunden ist. Im Märchen ist dies die erste Sekunde der Ewigkeit. Wenn auch die Lebensdauer des Nukleons nicht ewig ist, so müsste doch das Vögelein noch oft wiederkehren. Auch wenn es sich Zeit lässt und nicht alle 100, sondern nur alle 1000 Jahre kommt, muss es nicht nur das Matterhorn, sondern die ganze Erde wegpicken, bis 2 . 10 30 Jahre, die minimale Lebensdauer der Nukleonen, verstrichen sind. Die Zahlen, die ich nenne, sind alle nicht exakt, sondern gerundet. Bei diesen Grössenverhältnissen spielt es doch wohl kaum eine Rolle, ob wir es mit 10 30, 10 31 oder gar 10 32 Jahren zu tun haben. Diese Vermutung wäre berechtigt und die laufenden, aufwendigen Experimente wären sicher nicht unternommen worden, wenn nicht die neuen Theorien der Elementarteilchenphysik eine Lebensdauer von gerade der genannten Grössenordnung voraussagten. Es besteht daher Hoffnung, den Zerfall wirklich zu beobachten.

Wer die neuere Entwicklung der Physik kennt, wird nicht erstaunt sein zu hören, dass dieser theoretischen Voraussage Symmetrie-Betrachtungen zugrunde liegen. Nur andeutungsweise und stark vereinfacht kann die heutige Vorstellung vom Bau der Materie hier skizziert werden. Wir glauben heute zu wissen, dass die Nukleonen nicht elementar sind, sondern aus drei Teilchen, den sogenannten Quarks, bestehen. James Joyce, aus dessen Werk Finnegans Wake dieses Wort stammt, hat sich kaum träumen lassen, dass er einmal den Namen für die fundamentalen Bestandteile der Materie liefern würde. Ein Nukleon besteht aus drei Quarks q1, q2 und q3. Die Kräfte zwischen ihnen kommen dadurch zustande, dass sie untereinander Feldquanten, die sogenannten Gluonen, austauschen und sich dabei auch ineinander verwandeln können. Schematisch ergibt sich dafür

eine Darstellung, die wir etwa so wie eine Distanztabelle lesen können. Anstelle der Distanz von q, zu q2 steht hier das Gluon G12, welches die starke Wechselwirkung von q1 mit q2 bewirkt. Diese Gluonen sind es, welche die Quarks im Nukleon und die Nukleonen im Atomkern aneinander binden.

Solche Schemata sind nicht reine Spielereien. Als Abbilder einer physikalischen Realität, welche mathematisch durch die Gruppentheorie beschrieben werden, sind sie experimentell überprüfbar. In den letzten zehn Jahren ist es gelungen, nicht nur die stabilen, sondern auch alle instabilen Baryonen als Systeme von je drei Quarks zu verstehen. Diese haben so die Nukleonen von ihrem Platz als Elementarteilchen verdrängt.

Ein analoges Schema liess sich auch für die beiden Leptonen erstellen, nachdem es Glashow, Salam und Weinberg, den Nobelpreisträgern des Jahres 1979, gelungen war, die schwache und die elektromagnetische Wechselwirkung als eine einzige Kraft zu erkennen. Ihr grosser Erfolg auf dem Weg zur Vereinheitlichung der Kräfte ermutigte gleich zum nächsten Schritt, zur grossen Vereinheitlichung, welche auch die starke Wechselwirkung einbezieht. Er besteht darin, die Gruppen der Quarks und der Leptonen in eine einzige, grössere einzubetten. Eine der verschiedenen Darstellungen fasst drei Quarks, die ein Baryon bilden, sowie ein Elektron und sein Neutrino zusammen.

Aus einer solchen Vereinigung gewinnen wir neue, wesentliche Aussagen. So folgt mit Hilfe der Gruppentheorie, dass die Summe der elektrischen Ladungen in der obersten Zeile verschwinden muss. Dies bedeutet, dass die Ladung der drei Quarks zusammen, d. h. die Ladung eines Baryons, exakt entgegengesetzt gleich der Elektronenladung ist. Wir verstehen nun, wieso Proton und Elektron zusammen, die Atome und damit unsere Materie elektrisch neutral sind. So erfreulich es ist, dass diese altbekannte Tatsache hier erstmals eine Begründung findet, so wenig befriedigt die mangelnde Symmetrie unseres Schemas. Nur wenn wir die leeren Felder ausfüllen, wird die Figur zum symmetrischen Quadrat. In der Sprache der Physik bedeutet dies: Es sind zwölf Quanten X noch zu entdecken, welche zwischen Quarks und Leptonen ausgetauscht werden und diese Teilchen ineinander umwandeln können. Bedenken wir, dass die Nukleonen aus Quarks bestehen, so erkennen wir die Bedeutung dieser Quanten. Wenn eines der Quarks sich in ein Lepton verwandelt, zerfällt das Nukleon, und der Satz von der Erhaltung der Baryonenzahl ist verletzt. Aus allem, was heute über die Wechselwirkungen G und W bekannt ist, lassen sich Schlüsse auf die Eigenschaften der fehlenden Quanten X ziehen. Danach ist ihre Masse vermutlich so gross, dass keine Aussicht besteht, sie jemals künstlich in einem Beschleuniger zu erzeugen. Ihre spontane Entstehung ist infolgedessen ebenfalls höchst unwahrscheinlich, so dass nur ganz selten ein Quark sich in ein Lepton umwandelt. Gerade dies ist der Grund dafür, dass die Lebensdauer des Nukleons so gross ist und gemäss diesen Theorien etwa 10 31 Jahre beträgt. In ein bis zwei Jahren werden wir erfahren, ob diese Voraussage von den Experimenten bestätigt wird.

Wäre ein solches Ergebnis für uns relevant? Ist es vernünftig, dass viele Experimentatoren monatelang tief unter der Erde Hunderte von Tonnen Wasser oder Beton beobachten und darauf lauern, auch nur ein einziges Nukleon zerfallen zu sehen? Auch wenn damit die grundsätzliche Frage nach der Vergänglichkeit der Materie geklärt würde, so wissen wir doch jetzt schon, dass sie unvorstellbar

lange Bestand hat. Die Sonne wird in ein weiteres Lebensalter getreten sein und mit ihrer zunehmenden Hitze alles Leben auf der Erde vernichtet haben, lange bevor die materieverzehrende Zeit an ihr Spuren hinterlassen hätte.

Betrachten wir noch einmal das Schema der grossen Vereinheitlichung, so darf eine erstaunliche Feststellung nicht unterbleiben. Von allen Teilchen, die da aufgeführt sind, wurden bisher nur gerade drei, nämlich Elektron, Neutrino und das Photon, eines der mit W bezeichneten Quanten, experimentell nachgewiesen. Die übrigen W-Quanten hofft man in nächster Zeit an neuen Beschleunigern höchster Energie zu finden. Die intensive Suche nach Quarks ist bisher ergebnislos geblieben. Man vermutet daher jetzt, dass sie gar nicht einzeln vorkommen können. Ein Zweifel an ihrer und der Gluonen Existenz besteht dennoch kaum, da man aus ihnen die über hundert beobachteten instabilen Teilchen konstruieren kann. Die X-Teilchen aber und die Vereinheitlichung der drei Kräfte liegen in einem Massen- und Energiebereich, der auf der Erde künstlich nicht erreichbar ist. Nukleonzerfall — infolge der grossen Lebensdauer gerade an der Grenze des heute Messbaren —gehört zu den ganz wenigen Voraussagen der neuen Theorie, die einer experimentellen Nachprüfung überhaupt zugänglich sind. Dieses Experiment erlaubt uns daher einen tiefen Blick in die Struktur der Materie, in Bereiche, zu denen wir in absehbarer Zeit kaum einen andern Zugang haben werden. Darin liegt seine Bedeutung.

Hinzu kommt ein wesentlicher, letzter Punkt. Der russische Physiker Andrej Sacharow hat als erster im Jahre 1967 die Vermutung geäussert, dass es gerade die Prozesse, die zum Zerfall der Nukleonen führen, sind, denen wir unsere Existenz verdanken. Es sind wieder Gründe der Symmetrie, die dafür sprechen, dass im Anfang des Universums, vor 10 Milliarden Jahren, Baryonen und Antibaryonen gleich häufig waren. Diese hätten sich paarweise vernichtet und vollständig in Strahlung aufgelöst, wenn nicht Prozesse der oben postulierten Art einen geringen Baryonenüberschuss erzeugt, die vollständige Annihilation der Materie verhindert und so ihr Überleben bis heute gesichert hätten. So schliesst sich ein Kreis. Stellen wir mit den Experimenten zum Zerfall der Nukleonen Fragen an die fernste Zukunft, so erhalten wir Antwort zur Herkunft.

Seit jeher haben die Fragen nach Entstehung und Struktur der Materie die Phantasie des Menschen angeregt und ganz verschiedene Vorstellungen geweckt. Erst heute aber sind die Kunst der mathematischen Theorienbildung und die Kunst des Experimentierens so weit entwickelt, dass sich diese Vorstellungen an der Wirklichkeit prüfen lassen. Es ist zu hoffen, dass die Physik auf diesem Weg zu neuen Einsichten fortschreiten darf, auch wenn in der heutigen Zeit andere Probleme grössere Dringlichkeit beanspruchen.