Depressionen —
Forschung und Prophylaxe
Rektoratsrede
gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel
am 25. November 1983
Verlag Helbing &Lichtenhahn Basel 1983
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Kielholz, Paul:
Depressionen —Forschung und Prophylaxe: Rektoratsrede gehalten an der
Jahresfeier der Universität Basel am 25. November 1983 /Paul Kielholz.
Basel: Helbing &Lichtenhahn, 1983
(Basler Universitätsreden; H. 77) ISBN 3-7190-0861-4.
NE: Universität «Basel»: Basler Universitätsreden
ISBN 3 7190 0861 4
Bestellnummer 21 00861
© 1983 by Helbing &Lichtenhahn Verlag AG, Basel
Prophylaktische Massnahmen können nur bei genauer Kenntnis
der Ursachen und Entstehungsbedingungen sowie der Verbreitung
und Häufigkeit einer Krankheit erfolgversprechend
sein. Sie sind das höchste Ziel der Medizin, denn verhüten ist
besser als heilen! Das gilt auch für ein so qualvolles und noch
dazu so häufiges Leiden wie die Depression.
Häufigkeit
Churchill soll sich einmal ironisch geäussert haben, er vertraue
nur einer Statistik, die er selbst gefälscht habe. Dass ich
mich mit diesem Bonmot nicht identifizieren kann, werden Sie
gleich sehen, wenn ich einige statistische Prozentzahlen nenne,
denen ich vertraue.
Nach allen epidemiologischen Untersuchungen nimmt die
Zahl der Depressionen, insbesondere in den Städten der sogenannten
zivilisierten Länder, laufend zu. Nach Schätzungen der
Weltgesundheitsorganisation (WHO)1 beträgt die Tagesprävalenz
der Depressionen —unter Tagesprävalenz versteht man die
Häufigkeit einer bestimmten Krankheit an einem bestimmten
Stichtag —3-5%der Weltbevölkerung; das sind über 200 Millionen
Menschen, die an depressiven Zuständen leiden. In einer
1
Basler Depressionsstudie 2, die vom Schweizerischen Nationalfonds
unterstützt wurde und an der sich 74 in der Praxis niedergelassene
Ärzte beteiligten, wurden 1480 Patienten psychiatrisch
untersucht. Davon waren 15%depressiv, so dass man annehmen
kann, dass jeder sechste Patient, der einen Arzt konsultiert, an
einer Depression leidet.
In keinem einzigen Land hat man bisher die Gesamtbevölkerung
im Hinblick auf die Häufigkeit der Altersdepressionen
untersucht. Somit fehlen auch exakte statistische Unterlagen.
Bisherige Studien beschränkten sich auf Stadtteile von Kopenhagen,
London und München. Dabei konnte festgestellt werden,
dass von den über 65 Jahre alten Menschen zirka 11%depressiv
waren. Wenn wir diese Zahl von 11% mit den von der WHO
ermittelten 3-5% der Gesamtbevölkerung vergleichen, ist der
Schluss naheliegend, dass das Risiko, an einer Depression zu
erkranken, bei Betagten wesentlich grösser ist als bei jüngeren
Menschen.
Suizidalität und Depressionen sind eng miteinander verknüpft.
Dieser Zusammenhang ist von Bedeutung im Hinblick auf die
Prophylaxe von Selbsttötungen. Die Zahl von Suiziden und
Suizidversuchen lässt aber auch Rückschlüsse auf die Depressionshäufigkeit
zu, da wir aus verschiedenen Untersuchungen
wissen, dass zirka 60-70%der Selbsttötungen und Selbsttötungsversuche
auf Depressionen zurückzuführen sind. Die WHO, welche
die umfangreichste Datenbank über Suizide und Suizidversuche
in allen Ländern der Welt besitzt, registrierte in den letzten
10 Jahren eine steigende Zunahme der Depressionen und der
suizidalen Handlungen. Dabei neigen jüngere Menschen mit
Depressionen mehr zu Suizidversuchen, sie richten damit einen
Hilfeschrei, einen Appell an die Umwelt, während betagte depressive
Menschen in der Regel ernsthafte Suizidhandlungen
begehen, da sie an ein Echo auf Hilfeschreie nicht mehr glauben.
Erkennen der Depression
Unter Depression verstehen wir ein Syndrom, eine Trias, die
eine gedrückte und/oder ängstliche Grundstimmung, ein verlangsamtes,
ständig um die depressiven Inhalte kreisendes Denken
sowie eine gehemmte oder agitierte Psychomotorik umfasst.
So kommt es zu einem Schwund des Elan vital mit Niedergeschlagenheit,
Hoffnungslosigkeit, Verlust der Glaubens- und Liebesfähigkeit
und schliesslich zu völliger Verzweiflung.
Die Depression, eines der qualvollsten Leiden, ist aber nicht
nur durch ein Darniederliegen der Gemütskräfte gekennzeichnet,
sie führt fast immer auch zu einer Vielfalt von vegetativen Störungen
und funktionellen Organbeschwerden. Sie vermag deshalb
je nach vegetativer Symptomatik fast jede organische
Krankheit vorzutäuschen. Ist die körperliche Symptomatik so
überwältigend, dass sie das depressive Geschehen völlig überdeckt,
spricht man von maskierter Depression 3. Eine solche
Depression wird oft zu spät diagnostiziert. Nicht selten kommt es
vor, dass der Kranke mit seinen Klagen einen Arzt nach dem
anderen konsultiert und immer wieder erfolglos körperlich untersucht
wird, bis schliesslich eine vertiefte Anamnese und eine
gezielte psychiatrische Exploration aufdecken, dass sich hinter
der körperlichen Maske ein depressives Geschehen verbirgt.
Bevor wir auf die ursächlich verschiedenen Depressionsformen
zu sprechen kommen, ist die physiologische Trauer vom
depressiven Geschehen abzugrenzen. Trauer ist eine der Grösse
des Verlustes adäquate Gemütsreaktion, die der Betroffene durch
Vernunft und zweckmässiges Handeln sowie durch affektives
Abreagieren verarbeiten kann. Der Trauernde lässt sich ablenken,
er kann hoffen und sich freuen. Wiederholte Trauerverarbeitung
ist ein Lernprozess, der dazu verhilft, analoge Situationen
schneller und besser zu überwinden. Trauer als Lernprozess
bedarf keiner Behandlung.
Ganz anders verhält es sich mit der Depression, bei der eine
völlig verzweifelte, hoffnungslose Grundstimmung mit Entschlussunfähigkeit
und Fehlen jeder Freudeempfindung, oft verbunden
mit Angst und Depersonalisationsgefühlen, vorherrscht.
Der Depressive kann seine Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit
sowie Suizidimpulse weder vernunftgemäss noch durch sinnvolles
Handeln und affektives Abreagieren verarbeiten. In fröhlicher
Umgebung wird er, im Gegensatz zum Trauernden, noch depressiver.
In der Regel ist deshalb die Depression behandlungsbedürflig.
Zur Abgrenzung der Depression von der Trauer sowie zur
Vertiefung des Verdachts, dass ein depressives Geschehen vorliegt,
muss man im Gespräch mit dem Patienten das Augenmerk
auf jene Punkte richten, die für Depressionen charakteristisch,
wenn auch nicht spezifisch sind. Dazu gehören der Schwund der
Fähigkeit, Freude zu empfinden, die Hemmung der Entschlussfähigkeit,
der Verlust jedes Interesses, auch für Hobbies, die Tendenz
zur Selbstisolation sowie Suizidideen mit Grübeln über
Wert und Unwert des Seins.
Lässt sich in der psychiatrischen Exploration sowie auf Grund
der Lebensgeschichte des Patienten, wobei nach einer eventuellen
hereditären Belastung zu fahnden sowie die familiäre, berufliche
und psychosoziale Umweltsituation zu berücksichtigen ist,
die Vermutung auf ein depressives Geschehen erhärten, so besteht
der nächste Schritt in der nosologischen Diagnostik. Die
heute übliche, auch von der Weltgesundheitsorganisation in der
«9th Revision of International Classification of Diseases» übernommene
nosologische Einteilung unterscheidet drei Hauptgruppen,
nämlich die psychogenen, die endogenen und die somatogenen
Depressionen. Da es Übergänge und Kombinationen der
verschiedenen Depressionen in allen Schattierungen gibt, sollte
man bei jedem einzelnen Kranken die vielschichtigen multifaktoriellen
Ursachen möglichst exakt klären, um daraus die Indikation
für eine erfolgversprechende Behandlung abzuleiten.
Was die psychogenen, vorwiegend umweltbedingten Depressionen
betrifft, haben Untersuchungen von Martin 4 an unserer
Klinik gezeigt, dass zu dieser Depressionsform in erster Linie
Persönlichkeiten mit anlagemässigen sowie lebensgeschichtlich
erworbenen Charakterstrukturen im Sinne von Überempfindlichkeit,
Introversion, Perfektionismus und Entäusserungsschwäche,
also Menschen, die ihre Gefühle nicht nach aussen
entladen können, disponiert sind. Hingegen beruhen die endogenen
Depressionen, die häufig durch psychische oder körperliche
Traumata ausgelöst werden, auf einer vorwiegend ererbten Disposition.
Wichtig ist es, dass man depressive Patienten nicht bloss
mit Antidepressiva, die zwar die depressive Grundstimmung aufhellen,
aber selbstverständlich keine Konflikte und Probleme zu
lösen vermögen, behandelt, sondern dass auch psychotherapeutische
Massnahmen ergriffen werden, wobei für ambulant behandelte
Patienten hauptsächlich die Gesprächstherapie und eine
konfliktkonzentrierte Psychotherapie sowie autogenes Training
in Betracht kommen. Da auch körperlich begründbare Depressionen
vorkommen, die sogenannten somatogenen Depressionen,
denen zerebrale oder andere organische Erkrankungen zugrunde
liegen, ist es nicht minder wichtig, jeden depressiven
Kranken auch neurologisch-internistisch gründlich zu untersuchen,
um primär ein eventuell bestehendes körperliches Grundleiden
zu behandeln.
Vererbbarkeit der Depressionen
Das Auftreten endogener Depressionen ohne ersichtliche äussere
Ursache legt es nahe, eine genetische Komponente anzunehmen.
Für eine Erbanlage sprechen zudem die Konkordanzunterschiede
zwischen eineiigen und zweieiigen Zwillingen, Erfahrungen
mit Adoptivkindern von endogen depressiven Eltern sowie
die eindeutige familiäre Häufung. Die höchste Durchschlagskraft
der Vererbung kommt den bipolaren Depressionen zu, die mit
vorwiegend depressiven und vereinzelten manischen Phasen verlaufen.
Für Kinder manisch-depressiver Eltern beträgt die Erkrankungswahrscheinlichkeit
33%, für Kinder mit nur einem
manisch-depressiven Elternteil 15%.
Noch eindeutiger sind die Zahlen für die Konkordanz (Übereinstimmung)
von eineiigen Zwillingen, die von Zerbin-Rüdin 5
vom Max Planck-Institut in München aus der Weltliteratur
zusammengestellt wurden. Sie fand für eineiige Zwillinge eine
Konkordanzrate von 80%, für zweieiige Zwillinge eine solche
von 36%. Die erhöhte Konkordanzrate bei eineiigen Zwillingen
stellt nach Meinung der Erbforscher eine der stärksten Stützen
der Erbtheorie dar. Die hohe genetische Durchschlagskraft bipolarer
Depressionen kommt auch darin zum Ausdruck, dass Zwillinge,
ob sie nun zusammen oder getrennt in einem verschiedenen
Milieu aufwachsen, ungefähr gleich häufig erkranken.
Zur Auslösung einer endogenen Depression braucht es einen
genetischen Hintergrund. Es sind dann Umwelteinflüsse und
intrapsychische Vorgänge, die häufig darüber entscheiden, ob die
depressive Erkrankung manifest wird oder nicht. Zerbin-Rüdin
hat dies treffend in einem einzigen Satz ausgedrückt: «Gene sind
immer in eine bestimmte Umwelt hineingestellt und die Umwelt
wirkt immer auf bestimmte Gene.»
Die Art der Vererbung der endogenen Depression ist noch
nicht geklärt. Die früher angenommene Verknüpfung mit dem
X-Chromosom liess sich durch eine weltweite Verbundstudie der
WHO 6, an der sich auch unsere Klinik beteiligte, nicht bestätigen.
Die heutigen Daten der Erbforschung weisen eher auf einen
Übertragungsmodus mit mehreren Genen hin. Genetisch determiniert
wäre aber nicht nur die Bereitschaft, an einer endogenen
Depression zu erkranken, sondern auch eine erhöhte emotionale
Empfindsamkeit für psychische Belastungen und damit eine
erhöhte Disposition zu umweltbedingten Depressionen.
Schwangerschaft und fetale Entwicklung
Alle Kulturen sind sich darin einig, dass der schwangeren Frau
Aufregungen, emotionale Spannungen und Angst erspart bleiben
sollten, um das Kind vor psychischen und körperlichen Schäden
zu bewahren. Weit verbreitet war auch die Vorstellung, dass
durch emotionale Belastungen der Mutter während der Schwangerschaft
beim Säugling, neben psychischen und körperlichen
Störungen, auch gehäuft Mutter- und Flammenmale entstehen.
Schon Aristoteles meinte: «Schwangere Frauen müssen für ihren
Körper Sorge tragen, ihr Gemüt aber sollten sie von Sorgen frei
halten, denn das werdende Kind nimmt vieles von der es tragenden
Mutter an, wie die Pflanze von dem Erdreich, in dem sie
wurzelt.»
Schon seit langem weiss man von der schädigenden Wirkung
auf die fetale Entwicklung durch Virusinfektionen, Alkohol- und
Nikotinabusus der Mutter, durch Drogen und andere toxische
Substanzen sowie Röntgenstrahlen. Aber die emotionalen Einflüsse
sind erst in den letzten Jahren wissenschaftlich genauer
untersucht worden 7. Schwere psychische Belastungen der
Schwangeren führen zu verschiedenen endokrinen Dysfunktionen,
die wegen der biologischen Einheit zwischen Mutter und
Ungeborenem das Gehirn des letzteren dauernd überreizen und
die sich dann beim Neugeborenen in psychosomatischen Störungen
äussern können, wie etwa in Schreianfällen, Essstörungen
sowie in psychischer und vegetativer Übererregbarkeit und Reizbarkeit.
Emotionale Überbelastungen während der Schwangerschaft
können somit schon eine gewisse Disposition des Kindes,
im späteren Leben an einer neurotischen Depression zu erkranken,
hervorrufen.
Frühkindliche Entwicklung
Für eine harmonische Entwicklung bedarf das Kind nicht nur
der Befriedigung körperlicher Bedürfnisse wie Ernährung, Kleidung
und Unterkunft, es braucht auch Geborgenheit und eine
heile Familie, in der es anerkannt und geliebt wird und sich
persönlich entfalten kann. Von René Spitz 8 ist wissenschaftlich
belegt worden, dass affektive Wärme, Hautkontakt, Zärtlichkeit,
emotionale Zuwendung, Liebe, Sicherheit und Identifikationsmöglichkeiten
mit Mutter und Vater oder einer konstanten Bezugsperson
(Ersatzmutter) die Voraussetzung fr eine gesunde,
tragfähige psychische Entwicklung von Säugling und Kleinkind
sind. Ansonsten sind psychische und körperliche Störungen,
sogenannte Affektmangelkrankheiten, fast unweigerlich die Folge.
Freud, Sullivan und viele andere konnten nachweisen, dass
die Disposition zu psychischen Erkrankungen grundsätzlich von
der frühkindlichen Entwicklung abhängt. Wenn wir uns nur vergegenwärtigen,
dass in Basel jede vierte Ehe geschieden wird,
welcher konfliktgeladenen familiären Atmosphäre die Kinder
vor und während der Scheidung ausgesetzt sind, verstehen wir
auch, wie häufig die Disposition zu einer Depression im Kindesalter
erworben wird.
Depressionen bei Kindern
Es gehört zu den Wiederentdeckungen der modernen Psychiatrie,
dass Kinder, ja sogar Säuglinge depressiv erkranken können.
Die glückliche Kindheit voll Fröhlichkeit und Heiterkeit ist leider
nur ein Schlagwort. Nach Untersuchungen von Nissen 9 ist
anzunehmen, dass Depressionen im Kindesalter wohl nicht weniger
häufig sind als bei Erwachsenen; sie werden jedoch wesentlich
seltener erkannt und deshalb nicht behandelt. Kinder sind
gewöhnlich nicht imstande, ihre veränderte Grundstimmung zu
erkennen und zu verbalisieren; ihr Gemütszustand manifestiert
sich deshalb in körperlichen Symptomen, in Appetitstörungen,
Übelkeit, Magen-Darm-Störungen und in Grübeln, Selbstisolatien
sowie in Verlust der Freude an der Schule und in Leistungsabfall.
Derartige Zustände werden leider noch allzuoft als Faulheit,
Bequemlichkeit oder als Trotzreaktion gedeutet und dann
durch erzieherische oder sogar Strafmassnahmen noch verstärkt.
Die Zeit der Pubertät weist entwicklungspsychologische Besonderheiten
auf. Die sexuelle Reifung und die beginnende Loslösung
von den Eltern und den Idealen vergangener Kindheitsjahre
mit Einordnung in neue gesellschaftliche Gruppen sowie
der innere Kampf zur Selbstfindung können vielfältige Konflikte
ergeben, die den Jugendlichen emotional aufrühren und mit
innerer Unruhe, mit Spannung und Angst belasten. Gemütslabilität
und Aggression sowie das Gefühl, von der Umwelt unverstanden
zu sein, erschweren es dem Jugendlichen, seine Impulse
zur Selbstfindung zu bewältigen und die Ich-Identität zu verwirklichen.
Die Spannungen zwischen Realität und Idealen, Begabung
und Wirklichkeit können depressive Krisen, gelegentlich
gekoppelt mit Schuldgefühlen (V. Kuhn-Gebhardt l972)10 und
intensiven Suizidimpulsen, auslösen. Die Integration in die Pubertät
bereitet aber in der Regel keine wesentlichen Schwierigkeiten,
wenn durch die Eltern altersangepasst über sexuelle Probleme
aufgeklärt wird und wenn innerhalb der Familie ein Vertrauensverhältnis
mit der Möglichkeit einer echten mitmenschlichen
Aussprache besteht.
Depressionen in biologischen Krisenzeiten
In den biologischen Krisenzeiten, das heisst während der
Pubertät, vor der Menstruation, nach der Geburt, während des
Klimakteriums, im Involutionsalter sowie im Senium, ist das
Risiko, in einen depressiven Zustand zu sinken, erhöht. Endogene
Depressionen, die sich nach dem 45. Lebensjahr zum ersten
Mal manifestieren, werden als Involutions- oder Spätdepressionen
bezeichnet.
Die depressiven Zustandsbilder während des Klimakteriums
und in der Menopause weisen gewöhnlich ein ängstliches Gepräge
auf.
Für die Zunahme der Disposition zu Depressionen bei Frauen
in den Wechseljahren schien die Hypothese recht plausibel, dass
Oestrogen, ein weibliches Sexualhormon, das depressive Erleben
verstärkt, während Testosteron, ein männliches Hormon, davor
schützt. Die Resultate der Behandlung mit Sexualhormonen
waren aber bei den klimakterischen Depressionen so enttäuschend,
dass die Hormonhypothese immer mehr erschüttert
wurde.
Bei über 50% der Frauen treten während der Wechseljahre
vielfältige vegetativ-endokrine Symptome auf wie Wallungen,
Hitzegefühl, Frösteln, Schweissausbrüche, Schwindelanfälle,
Kopfschmerzen, Palpitationen, Parästhesien und Schlafstörungen.
Im sogenannten Klimakterium virile sind diese Erscheinungen
praktisch nicht festzustellen; trotzdem ist auch bei Männern
zwischen dem 50. und 65. Lebensjahr die Disposition zu Depressionen
eindeutig erhöht. Nicht so selten sind Frauen immer noch
der irrtümlichen Meinung, dass in der Menopause das sexuelle
Empfinden und Verlangen erlischt; sie sehen demnach in den
Ausfallserscheinungen ein Alarmzeichen für das Nahen des Alters
und reagieren darauf besonders empfindlich. So genügen in
diesem Lebensabschnitt, auch bei Männern, mehr oder minder
starke psychische Belastungen wie etwa eheliche Zerwürfnisse
oder ein schmerzlich empfundener Wegzug der Kinder, um
depressive Entwicklungen im Sinne von Erschöpfungsdepressionen
oder bei entsprechender Disposition endogene Depressionen
auszulösen.
Depressionen bei Betagten
Das Alter ist ein natürlicher Lebensabschnitt, in dem aber
viele bedrückende Ereignisse, z.B. der Verlust des Ehepartners
oder von Freunden, Verlust von Ansehen und Macht, Verlust
von körperlicher und psychischer Leistungsfähigkeit, zu bewältigen
sind, ein Lebensabschnitt, der Anpassungs- und Umstellungsprozesse
erfordert. Der bekannte Altersforscher Adolf Lukas
Vischer 11 hat deshalb zutreffend von einem Lebensabschnitt
der Verluste gesprochen.
Als Basismotive für das Entstehen einer Altersdepression dominieren
die Abnahme der psychischen und körperlichen Kräfte,
zunehmende Vereinsamung, Selbstisolierung mit Mangel an echten
mitmenschlichen Beziehungen. Die Vereinsamung führt zur
Anstauung von unlustbetonten und aggressiven Affekten, zu
Schlafstörungen und zu depressiven Reaktionen. Plötzliche Inaktivierung
durch Pensionierung, Pflichtleere durch Wegzug der
Kinder mit dem Gefühl, nutzlos zu sein, den Angehörigen zur
Last zu fallen, sind besonders quälend. Eine schwere Belastung
kann auch der Umzug in eine neue Umgebung sein, in ein Pflegeheim,
ein Seniorenheim oder, was vor allem für die Frau belastend
ist, in eine kleinere Wohnung, wobei ihr meist auch noch
die ganze Verantwortung für den Umzug zugeschoben wird. Zu
alldem ergibt sich mit zunehmendem Alter eine verstärkte Hinwendung
zur eigenen Person, zum eigenen Körper, oft verbunden
mit gesteigerter Selbstbeobachtung und Krankheitsangst. Viele
Betagte können sich mit dem Alter einfach nicht abfinden, sie
können und wollen nicht verstehen, dass sie zurückstecken müssen,
der Schonung und gelegentlich der ärztlichen Hilfe bedürfen.
11
Transmitter-Hypothese der Depressionen
Wenden wir uns nun der neurobiologischen Grundlagenforschung
der Depressionen zu, die die Zusammenhänge zwischen
dem affektiven Geschehen und den neurophysiologischen Vorgängen
zu ergründen versucht. Diese Forschungsrichtung will ein
psychosomatisches Gesamtbild des Menschen schaffen. Nur ganz
kurz möchte ich aufzeigen, welche Fortschritte hier in den letzten
Jahren erzielt werden konnten.
Der Mensch verfügt im zentralen Nervensystem über mindestens
10 Milliarden Nervenzellen, die durch eine Vielzahl von
Dendriten (Nervenfortsätze) und Synapsen (Kontakt- und
Schaltstellen) miteinander verbunden sind. Die Nervenzellen leiten
Informationen in Form von elektrischen Signalen weiter,
durch die an den Enden der Nervenfasern chemische Substanzen
freigesetzt werden, von denen man bereits weiss, dass es sich um
biogene Amine handelt, nämlich Noradrenalin, Serotonin und
Dopamin sowie um Acetylcholin und bestimmte Aminosäuren.
Diese Substanzen difundieren durch die haarfeinen Schaltstellen.
an die Rezeptoren (Empfangsorgane) der nächsten Nervenfaser,
wo sie ein neues elektrisches Aktionspotential auslösen, das die
Information weitergibt. Die genannten Substanzen werden deshalb
als Transmitter (Überträgerstoffe, Botenstoffe) bezeichnet.
Besteht ein Mangel an Überträgerstoffen, werden die elektrischen
Impulse mit Verzögerung und nur zum Teil weitergeleitet, was zu
einer Hemmung psychischer und körperlicher Funktionen
führt.
Auf Grund zahlreicher Forschungsresultate darf man hypothetisch
annehmen, dass die Depressionen auf einen Mangel oder
ein Ungleichgewicht der Transmitter und/oder auf eine Hyposensibilität
der Rezeptoren zurückzuführen sind.
Die endogenen Depressionen scheinen neben einem Mangel
an Transmittern mit einer Einbusse der Rezeptoren-Empfindlichkeit
einherzugehen, während bei den psychogenen Depressionen
ein Defizit an Überträgersubstanz durch Überverbrauch
vermutet wird. Der Mechanismus der dadurch an den Synapsen
ausgelösten Störungen ist übrigens mit dem Wackelkontakt einer
elektrischen Leitung verglichen worden, wobei die biochemischen
Schaltstellen als Steckdose und Stecker fungieren, die Depression
dem flackernden, teilweise ausfallenden Licht entspricht.
Die Transmitter-Hypothese wird durch die klinische Beobachtung
gestützt, dass Medikamente wie Reserpin und Amphetamin,
die eine Depression auslösen können, die Menge der
Überträgerstoffe in den Nervenenden deutlich vermindern.
Die Fortschritte der medikamentösen Therapie, insbesondere
der intravenösen Behandlung mit Antidepressiva, die einen eindeutig
stimmungsaufhellenden Effekt besitzt, sprechen ebenfalls
für die Transmitterhypothese. Denn die meisten Antidepressiva
erhöhen die Transmittermenge in den Synapsen, indem sie die
Wiederaufnahme der Botenstoffe aus den Synapsen in die präsynaptischen
Speicher blockieren, während die MAO-Hemmer den
Abbau der Transmitter in den Nervenenden verhindern.
Im Lichte neuerer Forschungsresultate und pathologisch-biochemischer
Merkmale (markers) eröffnet sich die Chance, dass es
in Zukunft zumindest bei bestimmten Depressionsformen möglich
sein wird, den ererbten oder erworbenen Mangel an Transmittern
durch Substitution, das heisst durch direkte Zufuhr entsprechender
Substanzen oder deren Vorstufen, zu verhüten oder
auszugleichen und damit die Depression zum Abklingen zu bringen.
Den Mangel an Überträgersubstanz konnte man bis vor
kurzem nur in der Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit (Liquor cerebrospinalis)
nachweisen. Jetzt hat Langer 12 gefunden, dass die
Blutplättchen die Fähigkeit besitzen, bestimmte Antidepressiva
an sich zu binden. Da zwischen dem Stoffwechsel in den Blutplättchen
und jenem im Gehirn eine Parallelität zu bestehen
scheint, hofft man nun, im Blut auf einfachere Weise feststellen
zu können, ob im zentralen Nervensystem ein Mangel an Serotonin
vorliegt.
Aber nicht nur der Transmitterstoffwechsel ist in Mitleidenschaft
gezogen, die zerebralen Störungen wirken sich via Hypophyse
auch auf endokrine Drüsen aus. Nach Gaben von Cortisol,
einem Nebennierenrindenhormon, wird beim Gesunden die Cortisolbildung
via Hypophyse gehemmt; das gleiche gilt für Dexamethason,
ein synthetisches Cortisolderivat. Hingegen wird, wie
Carroll 13 1968 mitgeteilt hat, bei einem Teil der endogenen Depressionen
die Cortisolbildung durch Dexamethason nicht gehemmt.
Mittlerweile konnten wir an unserer Klinik die Brauchbarkeit
des sogenannten Dexamethason-Suppressions-Tests
(DST) leider nur teilweise bestätigen. Diagnostisch von Bedeutung
wäre es, wenn sich erweisen sollte, dass der Dexamethason-Test
schon Wochen vor Beginn einer depressiven Phase pathologische
Werte aufweist und dass der Aufhellung der Depression
eine Normalisierung des Tests vorausgeht (state dependent marker).
Das Andauern pathologischer Testwerte könnte als Indikation
zur Fortsetzung der Behandlung und damit zur Verhütung
eines Rückfalls dienen. Im übrigen besteht die Hoffnung, dass der
Dexamethason-Test zur biologischen Klassifizierung endogener
Depressionen herangezogen werden kann.
Bei einigen depressiven Erkrankungen scheint ein Mangel an
Noradrenalin vorzuliegen (Noradrenalin-Hypothese). Dann
liesse sich in Blut und Urin ein zu niedriger Pegel des Hauptmetaboliten
(Abbaustoff des Noradrenalins (MHPG =3-Methoxy-4-Hydroxy-Phenyl-Glykol)
nachweisen. In einem solchen Fall
wäre die Behandlung mit einem Antidepressivum angezeigt, das
noradrenerg wirkt, das heisst, Noradrenalin in den Synapsen
anreichert.
Gestörte innere Uhr
Nach unseren Untersuchungen leiden 98%aller Depressiven
unter Schlafstörungen. Während bei umweltbedingten Depressionen
häufig Einschlafstörungen zu beobachten sind, gelten ein
zerhackter Schlaf und ein allzu frühes Erwachen eher als Zeichen
für ein endogènes depressives Geschehen. Die Störung des
Schlafrhythmus äussert sich bei endogenen Depressionen auch
darin, dass die sogenannte REM-Latenz-Zeit verkürzt ist, das
heisst, dass die erste Traumphase früher auftritt als bei Gesunden
und psychogen Depressiven.
Substitutionstherapie
Ich komme zurück auf die bereits erwähnte Zukunftsmöglichkeit,
den Mangel an Überträgerstoffen durch Substitution zu
beheben. Bisher besteht diese Möglichkeit nur bei den selten
vorkommenden Depressionen mit einem Mangel an Serotonin.
Da Serotonin selbst die Blut-Hirn-Schranke nicht durchdringt,
war es ein Fortschritt, als es in den letzten Jahren gelang, Vorstufen
von Serotonin, nämlich L-5-Hydroxytryptophan und L-Tryptophan,
zu entwickeln, die die Schranke durchbrechen und
in Gehirnnervenzellen zu Serotonin umgewandelt werden. Die
ersten therapeutischen Erfahrungen mit diesen beiden Substanzen,
besonders in Kombination mit einem serotonerg wirkenden
Antidepressivum, haben gezeigt, dass sich Depressionen, die auf
einem Serotonin-Mangel beruhen, schneller und besser aufhellen
lassen als mit der bisherigen Behandlung.
Schon seit längerer Zeit ist bekannt, dass die Menge der Transmitter
abhängt von Systemen im Gehirn, die von Enzymen
gesteuert werden. Die vererbte Disposition zu endogenen Depressionen
könnte nun auf einer genetischen Schwäche dieser
Hirnenzyme beruhen, die in affektiv belastenden Situationen
zum Transmittermangel Führt. In den letzten Jahren konnte man
auf dem Gebiet des Auf- und Abbaus der Hirnenzyme bedeutsame
Fortschritte erzielen. Neuerdings ist es geglückt, das für die
Bildung von Serotonin verantwortliche Hirnenzym medikamentös
zu beeinflussen. Sollte es tatsächlich zutreffen, dass bei
bestimmten Depressionsformen eine derartige Enzymschwäche
die ursächliche Rolle spielt, wäre der erste Schritt in Richtung
einer kausalen Behandlung von Depressionen getan.
Psychotherapie
Auch in der Psychotherapie der Depressionen sind in den
letzten Jahren bemerkenswerte Fortschritte erzielt worden. Neue
psychotherapeutische Methoden wie konfliktkonzentrierte Gesprächstherapie,
Verhaltens-, Paar- und Familientherapie in
Kombination mit Entspannungs- und Atemtherapie sowie —bei
entsprechender Indikation —mit autogenem Training und Musiktherapie
ermöglichen es, die Psychotherapie dem einzelnen
Patienten besser anzupassen und effektiver zu gestalten. Durch
eine Verbundforschung verschiedener Forschungszentren
konnte belegt werden, dass jede antidepressive Behandlung mit
Psychotherapie kombiniert werden muss. Die Antidepressiva
hellen wohl die depressive Grundstimmung auf, lösen jedoch
selbstverständlich keine Konflikte, helfen aber dem Patienten,
bewusste und unbewusste Probleme zu erkennen, zu verbalisieren
und mit Hilfe der Psychotherapie zu verarbeiten. Vergleichsstudien
haben gezeigt, dass die endogenen Depressionen auf eine
Kombination von Antidepressiva mit Psychotherapie, die umweltbedingten
Depressionen hingegen auf Psychotherapie, eventuell
kombiniert mit Antidepressiva, besser ansprechen als auf
die Pharmakotherapie allein. Für die klinische Erfahrung, dass
die Kombination der Psychotherapie mit Antidepressiva der
Monotherapie überlegen ist, bietet sich von der biologischen
Seite her folgende Hypothese an: Stimmt es, dass die umweltbedingten
Depressionen durch einen zu grossen Verschleiss von
Transmittern infolge langdauernder emotionaler Belastungen
bedingt sind, so könnte die Psychotherapie durch Verarbeitung
und Neutralisierung der psychischen Spannungen den Überverbrauch
und damit den Mangel an Überträgerstoffen allmählich
vermindern und auf diese Weise zur Aufhellung der Depression
beitragen.
Prophylaxe
Lassen sich in der Familiengeschichte eines Menschen affektive
Störungen oder depressive Zustände aufdecken, dann geht es
darum, bei der Prophylaxe die durch Vererbung gegebene genetische
Anlage zu berücksichtigen. Die Voraussetzung dafür wäre
eine genetische Familienberatung, wie sie in der Schweiz für
Frauen aus Risikofamilien für Mammakarzinom schon besteht,
um diejenigen, die sich mit erblichen Krankheiten belastet wissen
oder glauben, über die Risiken und prophylaktischen Möglichkeiten
aufzuklären und zu beraten. Bei den Depressionen ist eine
Verbesserung der Beratung in Sicht, da auf Grund von vererbten,
phasenunabhängigen biologischen Markern in Zukunft
eine Quantifizierung des Grades der Belastung möglich werden
könnte.
Der nächste prophylaktische Ansatz ist in der fetalen Entwicklung
zu suchen, die vor allem für die Entstehung der umweltbedingten
Depressionen von grosser Bedeutung ist. Wie die bereits
erwähnten toxischen Substanzen wirken auch schwere Gemütsbelastungen
der Mutter sowie Ablehnung der Schwangerschaft
schädigend auf den Fetus ein und können eine Embryopathie
verursachen, die sich beim Säugling und Kind in Nervosität,
Überempfindlichkeit, Affektiabilität sowie in psychosomatischen
Störungen und unter Umständen in Minderwuchs und
intellektueller Retardierung manifestiert. Da emotionale Belastungen
der Mutter die Entwicklung des Fetus schon im ersten
Trimenon der Schwangerschaft ungünstig beeinflussen, ist es
nötig, die schwangere Frau frühzeitig durch Gesundheitserziehung
darüber aufzuklären, wie wesentlich ein natürliches, gesundes
Leben, eine harmonische Partnerschaft und eine möglichst
sorgenfreie Schwangerschaft sind; die praenatale Psychologie
kann einiges dazu beitragen. Das heisst, der Umwelt sollte es
ein Anliegen sein, mit werdenden Müttern freundlich und verständnisvoll
umzugehen, wie dies schon von Aristoteles gefordert
wurde.
Die weitere Entwicklung hängt entscheidend vom frühkindlichen
Milieu, den ersten Erlebnissen, besonders aber von der
familiären Atmosphäre ab. Das heranwachsende Kind braucht
affektive Wärme, Zärtlichkeit, Sicherheit, Geborgenheit und
Identifikationsmöglichkeiten. Fehlen diese Voraussetzungen, so
können schon früh durch Affektmangel bedingte Störungen auftreten.
Depressive Neurosen können als Folge einer gefühls- und
gemütsmässigen Vernachlässigung und mangelnder konstanter
emotionaler Zuwendung in der Frühkindheit gesehen werden. So
konnte Kreisler, Leiter der Kinderabteilung des Psychosomatischen
Instituts in Paris, bei Säuglingen und bei Kleinkindern
unter 3 Jahren, die gespannten Elternbeziehungen ausgesetzt
oder deren Mütter überängstlich, überbesorgt waren, eine zunehmende
Nervosität mit Schlafstörungen sowie Weinkrämpfe und
Magen-Darm-Störungen beobachten. Die Disposition zu einer
Depression hat also ihren Ursprung nicht nur in der genetischen
Anlage, sondern auch in der psychischen Situation der Mutter
während der Schwangerschaft und in der frühkindlichen Mutter-Kind-Beziehung.
Zukünftige Mütter sollten immer wieder auf
die grosse Bedeutung der emotionalen Zuwendung für eine
harmonische Entwicklung ihres Kindes aufmerksam gemacht
werden.
Die erste biologische Krisenzeit beginnt mit der sexuellen
Reifung, dem Versuch der Loslösung von den Eltern und den
Idealen vergangener Kindheitsträume. Die Pubertät setzt in unseren
Breitengraden schon zwischen dem 11. und 12. Altersjahr
ein und dauert viel länger als früher an, oft bis zum 20. oder
22. Jahr. In dieser Entwicklungsphase ist es vor allem eine Diskrepanz
zwischen der infantilen Tendenz des Jugendlichen und
den einschiessenden Trieben von Sexualität, Motorik und Aggression
mit dem Streben nach Selbständigkeit und Unabhängigkeit,
die eine psychische Störung auslösen kann. Nicht so selten
gleitet ein Jugendlicher, der sich unverstanden fühlt und krisengeschüttelt
ist, in eine Depression, die rechtzeitig erkannt und
nicht etwa als Gleichgültigkeit und Faulheit gedeutet werden
sollte. Ansonsten besteht das Risiko, dass er zu Drogen greift oder
einen Suizidversuch unternimmt, der im Pubertätsalter fast immer
als Hilfeschrei an die Umwelt «Helft mir, ich weiss nicht
mehr weiter» zu verstehen ist. Um eine solche Krise zu verhüten,
die für beide Seiten, den Jugendlichen und die Eltern, Enttäuschung,
Qualen und Verzweiflung beinhaltet, bedarf es der Identifikation
mit der Geschlechtsrolle von Vater und Mutter durch
kontinuierliche Aufklärung und einer harmonischen Familie, in
der über alle Probleme und Konflikte mit Verständnis, Geduld
und Toleranz gesprochen werden kann.
Prophylaxe der endogenen Depressionen
Als der dänische Psychiater Schou 14 vor etwa 20 Jahren über
die Anwendung von Lithiumsalzen zur Vorbeugung endogener
Depressionsphasen berichtete, kündigte sich ein wesentlicher
Fortschritt in der prophylaktischen Depressionsbehandlung an.
Mit Lithium war es bei unipolaren und bipolaren Depressionen
oft gelungen, weitere Phasen zu verhüten oder zumindest abzuschwächen.
Die Erfahrungen von Schou sind inzwischen weltweit
bestätigt worden. Wie sich später gezeigt hat, eignen sich zur
Langzeitprophylaxe bei unipolaren Depressionen auch einige
Antidepressiva, und vor etwa 3 Jahren entdeckte man in Japan,
dass mit Carbamazepin die gleiche prophylaktische Wirkung zu
erzielen ist wie mit Lithium, was allerdings noch weltweit geprüft
werden muss.
Prophylaxe der psychogenen Depressionen
Für das Häufigerwerden psychogener Depressionen sind unter
anderem folgende Basismotive verantwortlich: ein zunehmender
Materialismus, eine zu schnelle Technisierung, ein erschwerter
Konkurrenzkampf, die Angst vor existentieller Bedrohung durch
Arbeitslosigkeit sowie durch das Computer- und Atomzeitalter,
ferner Vereinsamung in der anonymen Masse der Leistungsgesellschaft
ein Zerfall der familiären Bindungen und nicht zuletzt
ein Verlust der Bindungen an höhere Werte. Aus diesen Basismotiven
lässt sich ableiten, wie man umweltbedingten Depressionen
vorbeugen könnte. Dabei kommt es im wesentlichen darauf
an, das Familienleben harmonisch, den Mutter- und Familienschutz
sinnvoll zu gestalten, Konflikte in der Schwangerschaft
zu vermeiden, die Jugendlichen rechtzeitig über Sexualität
und Drogenabhängigkeit aufzuklären, ein günstiges Arbeitsklima
zu schaffen, den Materialismus zu bekämpfen und schliesslich
Kräfte zu erwecken, die im religiösen Glauben liegen. Hier kann
jeder von uns im Rahmen seiner Möglichkeiten dazu beitragen,
dass umweltbedingte Depressionen schon im Keim erstickt werden.
Prophylaxe der somatogenen Depressionen
Neben den endogenen und psychogenen Depressionen kommen
auch depressive Zustände vor, die körperlich begründbar
sind und bei denen in erster Linie das Grundleiden behandelt
werden muss. Ich erwähne nur Arteriosklerose, Herzinsuffizienz
und Herzinfarkt, die unter Umständen ein depressives Geschehen
auslösen. Obwohl die Disposition zu diesen Erkrankungen
anlagebedingt sein kann, ist es doch in vielen Fällen möglich,
durch ein gesundes Leben mit Ausschaltung von Risikofaktoren
wie übermässiges Rauchen, Bewegungsarmut und Übergewicht
oder durch rechtzeitige Behandlung von hohem Blutdruck den
Ausbruch der Erkrankung zu verhindern oder wenigstens viele
Jahre hinauszuzögern und damit auch das Risiko einer Depression
zu verringern.
Prophylaxe der Altersdepressionen
Die Disposition zu Depressionen nimmt beim betagten Menschen
deutlich zu. Ursachen dafür sind vornehmlich die Vereinsamung,
der Mangel an mitmenschlichen Beziehungen, körperliche
und intellektuelle Inaktivität mit Verlust von Interessen
und Zielsetzungen. Man sollte deshalb betagten Menschen raten,
aktiv zu bleiben, ein Hobby zu betreiben und sich geistigen Aufgaben
zu stellen, die das Selbstwertgefühl steigern und dem Leben
einen Sinn geben. Wird der Tag aktiv gestaltet, dann kommt ein
ruhiger Schlaf oft ganz von allein. Die Schlafdauer nimmt mit
zunehmendem Alter ab, so dass bei einem 70-90jährigen Menschen
in der Regel 4-6 Stunden genügen. Wenn man dies weiss,
entspannt und ruhig im Bett liegt und sich nicht über das Wachsein
ärgert und aufregt, wird die Basis geschaffen für ein besseres
Befinden am kommenden Tag. Zu Schlafmitteln sollte man nur
in Ausnahmefällen und nur kurzfristig greifen, da sie über lange
Zeit genommen fast unweigerlich zu Dosissteigerung und Abhängigkeit
führen.
Einen alten Baum verpflanzt man nicht, und so sollten betagte
Menschen so lange wie möglich in der ihnen vertrauten Wohnung
bleiben. Erfahrungserlebnisse und das Altgedächtnis erleichtern
das Leben im gewohnten Quartier. Ist ein Senioren-
oder Pflegeheim nicht mehr zu umgehen, dann ist eine quartierbezogene
Institution, in der der Betagte seinen angestammten
Lebensbereich findet, zu bevorzugen. Wer sein Leben im Alter
mit immer neuen Zielsetzungen und Zukunftsplänen psychisch
und körperlich aktiv gestaltet durch Sport, Wandern, Musizieren,
Malen, Besuch der Seniorenuniversität und von Sprachkursen,
durch Gartenarbeit, Haltung und Pflege von Tieren, Mithilfe
in politischen und kirchlichen Gremien, Teilzeitarbeit, um nur
einige Beispiele zu nennen, und wer echte mitmenschliche Kontakte
pflegt, hat eine Altersdepression kaum zu befürchten. Der
greise Goethe, der sich in seinem Leben durch mehrere depressive
Phasen kämpfen musste, wusste, wie wichtig es im Alter ist,
geistig aktiv zu bleiben, um Depressionen zu verhüten. Er vertraute
einem Freunde an: «Man muss sich immerfort verändern,
erneuern, verjüngen, um nicht zu verstecken.» 15
Ich möchte zum Schluss die in den letzten Jahren gewonnenen
Erkenntnisse der neurobiologischen und klinischen Forschung
sowie der Prophylaxe der Depressionen zusammenfassen.
Die biologisch orientierte Psychiatrie ist zum Teil auf harte
Kritik gestossen; man warf ihr vor, sie versuche, die seelischen
Vorgänge rein chemisch-materialistisch zu erklären. Diese Kritik
ist jedoch in keiner Weise berechtigt, denn gerade die biologische
Depressionsforschung möchte ein umfassendes psychosomatisches
Gesamtbild des Menschen schaffen, indem sie danach
strebt, die Zusammenhänge zwischen affektivem Geschehen und
neurophysiologischen Abläufen zu ergründen mit dem Ziel, die
Depressionen noch wirkungsvoller und eines Tages wenn möglich
kausal mit kombinierten psycho- und pharmakotherapeutischen
Massnahmen behandeln zu können.
Auf Grund von Ergebnissen der klinischen Depressionsforschung
und der biologischen Psychiatrie wissen wir heute viel
mehr darüber, welche Faktoren und Motive bei disponierten
Personen eine Depression auslösen können und was bei der werdenden
Mutter, in der Frühkindheit, in biologischen Krisenzeiten
sowie bei betagten Menschen getan werden muss, um der
Entstehung einer Depression vorzubeugen. Im Falle der endogenen
Depressionen ist die Kombination von Psychotherapie mit
antidepressiver Medikation sowie die prophylaktische Langzeitbehandlung
mit Lithium oder einem Antidepressivum in
Kombination mit Psychotherapie als bedeutsamer Fortschritt
zu werten.
Kein Zweifel kann bestehen, dass Liebe, Anerkennung, mitmenschliche
Anteilnahme, religiöse und familiäre Verankerung,
Hobbies und sinnvolle Freizeitgestaltung sowie ein Leben mit
Zukunftsplanung die psychische Tragfähigkeit für emotionale
Überbelastungen verstärken. Um eine Abwehrfront gegen die
Anstauung von Aggressionen und unlustbetonten Affekten aufzubauen,
sei man stets bemüht, dem Leben die erfreulichen Seiten
abzugewinnen und aus jeder mitmenschlichen Begegnung die
positiven Aspekte herauszuholen. Drohen uns berufliche, familiäre
und soziale Probleme zu überwältigen, sollten die emotionalen
Spannungen durch ein Selbst- oder Zwiegespräch verarbeitet
und neutralisiert werden. Dabei sollten wir uns selbst nicht zu
wichtig nehmen, wenn möglich über der Situation stehen und
über uns selbst lachen können.
Zu alldem kommt noch die verantwortungsvolle Aufgabe der
heutigen Gesellschaft, eine soziale und humane Umweltgestaltung
sowie die Sicherung der persönlichen Freiheit und der
Arbeit zu verwirklichen. Ebenso hat sie dafür zu sorgen, dass der
Zerstörung der Natur Einhalt geboten wird, materielle Gesichtspunkte
nicht überschätzt, Gemütskräfte nicht missachtet und
psychisch Kranke nicht diskriminiert werden. Die Güte einer
Gesellschaft lässt sich daran messen, wie sie für ihre schwächsten
Glieder, und das sind ohne Zweifel die psychisch Kranken,
sorgt.
Durch Selbsterkenntnis, kritisches Nachdenken über den Sinn
des eigenen Lebens im Wissen um die Vergänglichkeit des Seins,
durch eine gesunde Lebensführung sowie durch Toleranz gegenüber
den Mitmenschen kann jeder an seinem Platz dazu beitragen,
sich und seinen Mitmenschen vor Depressionen weitgehend
zu schützen.
Lassen Sie mich mit dem auf meiner Erfahrung beruhenden
Hinweis schliessen, dass eine positive Einstellung zum Leben und
zur Umwelt mit immer wieder neuen Zielsetzungen für die
Zukunft, eine laufende intellektuelle und affektive Verarbeitung
emotionaler und aggressiver Spannungen, Toleranz mit echter
mitmenschlicher Anteilnahme sowie die Bekämpfung eines
überbordenden Materialismus die beste Depressionsprophylaxe
bedeuten.