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Vergangenheit und Zukunft des menschlichen Gehirns

Das Bindeglied zwischen
Affe und Mensch sind
— wir (Konrad Lorenz).

Die heutige Welt bietet ein ungewisses und besorgniserregendes Bild, weil zahlreiche durch den Menschen geschaffene Umstände und Entwicklungen nicht mehr eindeutig kontrolliert werden können. Sagen wir es deutlicher: wenn die heutige menschliche Gesellschaft vom traditionsreichen Stand einer Hochkultur in die Barbarei absinken und schliesslich untergehen sollte, so letztlich, weil eine ungeheure Kluft zwischen Kenntnis und Macht die rechtzeitige geistige und moralische Verarbeitung überdimensionierter Technologien und die notwendig gewordenen strukturellen Anpassungen im menschlichen Zusammenleben zu verunmöglichen scheint. Insofern als das Gehirn zu den vorherrschenden Schwierigkeiten entscheidend beigetragen hat, stellt sich u. a. die Frage nach seiner Arbeitsweise und nach der Entwicklung seiner Möglichkeiten.

Millionen Jahre Hirnentwicklung

Wie alt ist überhaupt das Gehirn des heutigen Homo sapiens, und wie ist es entstanden? Nach dem irischen Erzbischof Ussher, der im 16. Jahrhundert gelebt hat, entstand die Welt und mit ihr der Mensch im Jahr 4004 v. Chr. Er stützte diese Hypothese auf alttestamentliche Altersangaben über Adam und seine Nachkommen. Hätte der gute Kirchenfürst, der übrigens ein namhafter Fachmann für semitische Sprachen gewesen sein soll, nicht eine derartig unhaltbare Hypothese aufgestellt, so wäre er vielleicht nie in die Annalen der Wissenschaftsgeschichte eingegangen. Immerhin zu seinen Lebzeiten fand seine Berechnung vielseitige Zustimmung. Heute sind wir über das Datum der Schöpfung nicht mehr so sicher. Man spricht von fünf Milliarden Jahren Erdgeschichte, und die ersten Menschen werden von den Anthropologen und Paläontologen auf mindestens 100000 Jahre zurückdatiert. Und diese nicht unbeträchtliche Zeitspanne ist nur die vorläufige Endphase einer über mehrere hundert Millionen Jahre dauernden Entwicklungsgeschichte der Wirbeltiere, aus der die Primaten als Vorfahren des Menschen besonders herausragen. Mit dieser Feststellung habe ich nun bereits eine weitere Theorie der Menschwerdung angesprochen, nämlich diejenige Darwins, wonach sich der Mensch und sein

Gehirn kontinuierlich durch Selektion aus vorangegangenen Arten heraus entwickelt haben, und gehe also davon aus, dass das menschliche Gehirn nicht abseits der Stammesgeschichte geschaffen wurde. Hierzu haben auch an unserer Universität Paläontologen und Anthropologen (A. H. Schultz, J. Biegert) wichtige Beiträge geliefert. Dabei ging es vor allem um die wissenschaftliche Bearbeitung von Skeletten von Spezies, welche die vermutlichen Verbindungsglieder zwischen den Urahnen der höchstentwickelten Primaten und denjenigen des heutigen Menschen darstellen. Es ist allerdings zuzugeben, dass es auch heute noch keine lückenlose Beweisführung für den Stammbaum des Menschen gibt.

Auch die Hirnwissenschaften haben Beobachtungen geliefert, welche die Entwicklung des Menschenhirns aus tierischen Vorstufen belegen können: die Übereinstimmung oder Ähnlichkeit der Bausteine und der Baupläne.

Der wichtigste Baustein des Gehirns ist die Nervenzelle, die u. a. vom hochangesehenen Zürcher Psychiatrieprofessor August Forel vor bald 100 Jahren als solcher erkannt wurde. Die Nervenzelle (Neuron) und ihre Funktionsweise, soweit bis heute bekannt, scheint bei allen Tierarten sehr ähnlich zu sein. Sie besteht aus Zellkörper und dessen Fortsätzen, welche als Verbindungskabel dienen. Der Mensch hat natürlich sehr viel mehr solche Elemente als noch seine nächsten Verwandten unter den Primaten und ein erheblich grösseres und komplexeres Verbindungsnetz. Auch die Tätigkeit der Nervenzellen, also die Entstehung und Fortpflanzung der Erregungsimpulse, scheint sich in gleicher Weise bei Mensch und Tier abzuspielen. Auch bei den so wichtigen Kontaktstellen (Synapsen), wo die elektrisch registrierbaren Erregungsimpulse durch spezifische Stoffe von einer Zelle zur andern übertragen werden, findet man keine grundsätzlichen Unterschiede. Erstaunlich ist auch die Tatsache, dass z. B. Neuropeptide und Monoamine, welche für das Zustandekommen von Stimmungen und Affekten, insbesondere auch von Lust und Leid, eine wichtige Rolle spielen, keine Neuerfindungen des menschlichen Gehirns sind.

Nicht nur die Bauelemente, sondern auch die Baupläne zeigen in den Grundzügen grosse Übereinstimmung innerhalb der Wirbeltierreihe bis hin zum Menschen. Dabei kann man feststellen, dass bestehende Strukturen nicht aufgegeben, sondern z.T. bewahrt oder umgewandelt und mit neuen Strukturen schichtweise überlagert werden, wie das etwa im Sakralbau häufig der Fall ist. Das bedeutet, dass strukturelle Überreste aus den Gehirnen der Vorgänger, etwa der Reptilien (Krokodil) oder der primitiven Säugetiere, in den tieferen Schichten des menschlichen Gehirns noch anzutreffen sind. Eine vielsagende Tatsache, die zur Erklärung gewisser Formen des menschlichen Verhaltens herangezogen werden könnte... Die eben skizzierte Entwicklung macht es verständlich, dass die Entwicklungsstadien des menschlichen Embryonenhirns den Gehirnen der aufsteigenden Tierreihe vom Fisch zum Homo sapiens so ähnlich sehen. In weniger als einem Jahr werden in der Ontogenese Stadien durchlaufen, die in der Stammesgeschichte der Wirbeltiere Hunderte von Millionen Jahre repräsentieren.

Die Baugeschichte des menschlichen Gehirns macht es ebenfalls verständlich, dass die neu hinzugebildeten Hirnteile den bestehenden auch funktionell im Sinne einer Hierarchie übergeordnet werden. Allerdings wird dieses Prinzip durch die Entwicklung rückläufiger Verbindungen durchbrochen, mit deren Hilfe sich Erregungen der unteren Schichten nach «oben» mitteilen und geltend machen können. Nur andeutungsweise sei auch die Gefahr der Gleichgewichtsstörungen zwischen oben und unten vermerkt, insbesondere wenn die oberen Etagen sich im Verhältnis zu den unteren unverhältnismässig stärker entwickeln. So z. B., wenn sich die prädominante Hirnrinde in den harmonischen Ablauf der vorwiegend subcortical gesteuerten Regulationen von Herz und Kreislauf oder Verdauungsapparat einschaltet und damit zum Mitverursacher sog. psychosomatischer Krankheiten wird.

Eine entscheidende, wenn auch noch z.T. rätselhafte Phase in der Baugeschichte des Menschenhirns ist der Übergang von den Urahnen der heutigen Menschenaffen bis zu den Vorgängern des heutigen Homo sapiens. In der Gewichtskurve, welcher Schädelausgüsse zu Grunde liegen, zeigt sich ein entscheidender Aufschwung, indem sich das Gewicht zwischen den frühesten Menschenartigen und unserem Urahnen, dem Homo erectus, im Laufe von ca. 1 Million Jahre von 400 auf 1000 g mehr als verdoppelt. Entscheidend sind allerdings nicht nur das Gewicht, sondern die regionalen Unterschiede, die sich vor allem in der Vergrösserung des Stirnhirns und des Parietallappens manifestieren. In diese Epoche, die 2-3 Millionen Jahre zurückdatiert werden muss, fällt u.a. die Entwicklung des aufrechten Ganges mit frei beweglichen Händen, die nicht nur geschickte Bewegungen ausführen, sondern auch tragen können. Immer mehr wird die Intelligenz zu einem entscheidenden Selektionsfaktor, indem nicht mehr unbedingt der körperlich «Stärkere», sondern der Intelligentere die grösseren Überlebenschancen hat. Die parallel zu den Schädelfunden gemachten Ausgrabungen von Steingeräten und anderen kulturellen Hinterlassenschaften geben ein faszinierendes Bild über diese Phase, in welcher u. a. vor etwa 400000 Jahren auch das Feuer entdeckt wurde. Bei Homo erectus, von welchem die wichtigsten Funde aus China und Java stammen (Alter: ca. 2 Millionen bis 400000 Jahre), fand man —speziell in China — auch Reste primitiver Unterkünfte als Zeichen des differenzierteren Soziallebens, welches von da an im Zusammenhang mit der Sprachentwicklung einen immer entscheidenderen Einfluss auf die Selektionierung unserer Spezies ausgeübt haben dürfte. Mit seinem Hirngewicht erreichte der Homo erectus von Peking bereits die untere Grenze desjenigen von Homo s. sapiens. Die Weiterentwicklung führte dann vor ca. 200000 Jahren über archaische Sapiensvertreter. zu den Cro-Magnon-Menschen, zu unseren unmittelbaren Vorfahren. Von diesen späteiszeitlichen Europäern, deren älteste vor ca. 35000 Jahren lebten, blieben uns die ersten wirklich künstlerischen Werke erhalten. Damals entstanden die berühmten Höhlenmalereien in Nordspanien und Südfrankreich und ausserdem ganz exquisite Plastiken aus Stein und Horn, wie diejenige des Pferdekopfes aus Mas d'Azil und eines Frauenkopfes mit geschmücktem Haar, der «Venus» von Brassampouy in Frankreich (ca. 20000 Jahre). Um diese Zeit beginnt eine Periode der stetig beschleunigten Kulturentwicklung in verschiedenen Gebieten

der Erde, die mit Ackerbau, Tierzucht und der Gründung permanenter Siedlungen einhergeht und namentlich auch durch die Erfindung der Schrift, der Zahlensystems und der Zeitmessung charakterisiert ist und vor ca. 8000-9000 Jahren zu den ersten städtischen Hochkulturen (Jericho) führte.

Zusammenfassend ergibt die bis heute rekonstruierbare Geschichte der Menschwerdung, dass vor 2-3 Millionen Jahren ein sehr starker Selektionsdruck zugunsten einer ungewöhnlichen Volumenvermehrung des Hirns geherrscht hat. Das Resultat war die Abtrennung der menschlichen Urahnen von der Linie der Menschenaffen: ein immer unreiferes Geschöpf wurde geboren, dessen Schädel eben noch den Geburtskanal des weiblichen Beckens passieren konnte und dessen Gehirn nach der Geburt noch um das Mehrfache an Gewicht zunahm. Dafür wurden die langdauernde Elternabhängigkeit und die späte Geschlechtsreife eingetauscht, zusammen mit einer immer ausgedehnteren Lernperiode, was die Ausprägung der Familie und der Sippenstrukturen verstärkte, die schliesslich auf die weitere Selektionierung in der Hirnentwicklung zurückwirkte. So — nimmt man an — waren schliesslich die cerebralen Voraussetzungen geschaffen für die kulturelle Evolution, die erst zögernd einsetzte, um dann immer mächtiger und rascher zu werden. Dabei entpuppte sich die sog. Rinde des Grosshirns zum spektakulärsten Element der ganzen Entwicklungsgeschichte. Mit ihr haben wir uns kurz zu beschäftigen.

Quantensprung der menschlichen Hirnrinde

Das menschliche Grosshirn, insbesondere der als Neocortex bezeichnete Anteil der Hirnrinde, entfaltet sich im Laufe der Primatenevolution lawinenartig, wenn man bedenkt, dass der «Progressionsindex» dieser Region beim Menschen im Vergleich zu demjenigen der niedrigen Primaten bis auf das Vierfache ansteigt (Stephan, 1972). Insgesamt beansprucht die Hirnrinde des Menschen zwei Drittel des gesamten Hirnvolumens und enthält bei einer Fläche von ungefähr 4000 cm2 eine riesige Anzahl von Nervenzellen in der Grössenordnung von ungefähr 30-50 Milliarden, die miteinander durch eine um mehrere Potenzen höhere Anzahl von Kontakten verbunden sind.

Die Erfassung der dynamischen Eigenschaften geordneter Aktivität in Milliarden von Nervenzellen mit den mannigfaltigen Verbindungsnetzen übersteigt zurzeit nicht nur unsere Vorstellungskraft; auch die Mathematiker haben noch keine adäquaten Modelle dafür anzubieten. Trotzdem waren in den letzten drei Jahrzehnten Fortschritte zu verzeichnen. Einer davon besteht in der Erkenntnis, dass in der Grosshirnrinde das gesamte Zentralnervensystem repräsentiert ist. Diese Einsicht verdanken wir der experimentellen Neuroanatomie und Neurophysiologie, welche im scheinbaren Chaos der corticalen Verkabelung dank neuen und sehr leistungsfähigen Methoden eine systematische Ordnung sichtbar werden liessen. Diese Entwicklung ist zu einem wesentlichen Teil den letztjährigen Ehrendoktoren der Medizinischen Fakultät, Walle J. H. Nauta (Massachusetts Institute of Technology) und Vernon B. Mountcastle (Baltimore) zuzuschreiben. Es stellte sich heraus, dass die mannigfaltigen Verbindungen zwischen den verschiedenen

Arealen der menschlichen Hirnrinde unter sich sowie zwischen der Hirnrinde und anderen Regionen viel spezifischer sind als vermutet werden konnte, so dass man nicht nur von einer quantitativen, sondern geradezu von einer qualitativen Entwicklung sprechen kann. Damit meine ich, dass die Hirnrindenareale im Gegensatz zu früheren Vorstellungen keine «Zentren» für isolierbare Funktionen, sondern vielmehr Knotenpunkte eines vernetzten Systems darstellen, dessen komplexe Leistungen dadurch zustande kommen, dass die distributiven Elemente in stets wechselnden Kombinationen interagieren und im Sinne der Theorie kooperativer Systeme bei zunehmender Komplexität Eigenschaften hervorbringen können, welche sich nicht auf diejenigen der einzelnen Elemente reduzieren lassen.

Physiologische Untersuchungen der Sinnesapparate und deren zentrale Repräsentationen mit der Methode der Signalregistrierung an einzelnen Zellen haben dazu geführt, dass wir heute etwas davon wissen, wie die in Merkmale zerlegten Umweltreize in Form neuraler Impulsserien fortwährend in unser Gehirn einströmen: Millionen von Impulsen in jeder Sekunde, täglich und lebenslang. Unsere Sinnesorgane kodieren aber nur ausgewählte Aspekte der Umwelt; vieles wird «ignoriert». Insgesamt enthält also die aufgenommene Information bereits an der Eingangspforte zwischen Aussen- und Innenwelt eine Abstraktion der Realität. Die so selektionierte Information wird durch kaskadenartig gegliederte afferente Systeme der Hirnrinde zugeführt, welche daraus wieder ihre eigenen Abstraktionen vornimmt. Dabei werden die in einer ungeheuren Zahl von parallel geführten Nachrichtenkanälen eintreffenden Meldungen nach Merkmalskategorien in speziellen, modulartig gegliederten Neuronenkollektiven der Hirnrinde eingeordnet, durch konvergente Schaltungen zu neuen Einheiten zusammengeführt und weiterverarbeitet. Die corticale Mikroschaltung ist, bei einer mittleren Packungsdichte von ca. 140000 Nervenzellen pro mm2 Cortex-Oberfläche (Powell, 1980), in eine sechsschichtige Matrix eingebaut, wobei die einzelnen Zellen in orthogonalen Säulen so angeordnet sind, dass die modalitätsspezifischen Mikromodule eines Areals nach dem jeweiligen Erregungsmuster zu immer wechselnden Makromoduln zusammengefasst werden. Diese rein funktionellen Strukturen konnten begreiflicherweise erst ermittelt werden, als es möglich wurde, die aktivierten von den ruhenden Zellen im mikroskopischen Bild zu unterscheiden (Beispiel: oculäre Dominanzmodule in der corticalen Sehsphäre, nach Hubel und Wiesel, 1977).

Wahrnehmungen und Vorstellungen über unsere Umwelt entstehen also auf der Basis einer Repräsentation im corticalen Mikrokosmos, d. h. im mikroskopischen Schaltwerk von Nervenzellen, welches sehr weitgehend genetisch determiniert ist. Dieser Tatbestand verleiht zunächst dem Prinzip der angeborenen und rationalen aprioristischen Erkenntnis eine überraschend gute Stütze. In einem gewissen Sinn sind die modernen Neurophysiologen dadurch zu Neokantianern geworden. Aber halt! Neuere Untersuchungen haben ergeben, dass die corticale Matrix durch Erfahrung modifiziert werden kann. Sie ist von eintreffenden peripheren Reizen mindestens während kritischer Perioden der Hirnreifung entscheidend abhängig und kann durch Veränderungen der Umweltinformation

Struktur der menschlichen Hirnrinde nach Cajal (1909) Es sind nur einige wenige Nervenzellen (A-K) dargestellt, In Wirklichkeit sind die Nervenzellen und ihre Verbindungen ausserordentlich eng ineinander verwoben. Ein corticaler Gewebszylinder von entsprechendem Durchmesser enthält über 100000 Nervenzellen.

z. T. dramatisch verändert werden. Entsprechende Entdeckungen wurden erst in den letzten 20 Jahren gemacht, speziell im Bereich der primären Tast- und Sehsphären. Bei Jungtieren hat sich herausgestellt, dass das Aufwachsen im Dunkeln (Hubel und Wiesel, 1963) oder das Einwirken eines sehr einseitig gestalteten visuellen Umfeldes (z. B. Wände mit ausschliesslich vertikalem Streifenmuster) während einer kritischen Periode der postnatalen Reifungsphase (Blakemore und Cooper, 1970) zur fehlerhaften Verschaltung der Hirnrinde und zu schweren Störungen der optischen Wahrnehmung führt. Wenn aber solche Modifikationen schon in einigermassen stabil strukturierten primären sensorischen Arealen möglich sind, so kann man sich vorstellen, wie viel mehr diese Plastizität den assoziativen Arealen der Hirnrinde innewohnt. So müssen wir anderseits bis zu einem gewissen Grade auch die Position der Empiriker wie z. B. John Locke akzeptieren, indem die durch unsere Gehirne wahrgenommene Welt mindestens zum Teil auch durch die postnatale Erfahrung geprägt ist. So

gesehen bietet die Neurophysiologie der Hirnrinde die Möglichkeit zu einem Kompromiss in der uralten Kontroverse zwischen Rationalismus und Empirizismus, zwischen «nature» und «nurture». Eine neue Synthese zwischen diesen Gegenüberstellungen wird langsam reif.

Was ich bis jetzt beschrieben habe, hat allgemeine Gültigkeit für die Grosshirnrinde der Säugetiere und auch für den menschlichen Cortex. Es sei noch speziell betont, dass trotz eifriger Bemühungen keine einzige Zelle oder Synapse bisher gefunden wurde, welche strukturell oder funktionell irgendwelche menschenspezifische Eigenschaften aufgewiesen hätte.

Das Besondere an der menschlichen Entwicklung liegt offenbar in der Entstehung von neuen Arealen und der multiplikativen Entwicklung der Verbindungen. Dies betrifft vor allem die bereits erwähnten Assoziationsgebiete, welche gegenüber den sensorischen und motorischen Arealen ca. 20mal mehr Cortexfläche beanspruchen und vermutlich für kognitive Funktionen und deren Bewusstwerdung das notwendige Substrat darstellen. Diese zwischen den Sinnessphären und im Stirnhirn befindlichen Gebiete sind denn auch beim Menschen im Vergleich zu niederen Primaten und Säugetieren enorm viel stärker ausgebildet.

In letzter Zeit hat die durch Computer unterstützte Technik der Szintigraphie Positron-abgebender Markiersubstanzen sowie der magnetischen Kernresonanz-Spektrographie zahlreiche frühere Vermutungen über die Funktion des assoziativen Cortex bestätigt und ergänzt. Dieses Verfahren ist deshalb von ganz besonderem Interesse, weil die Aktivität von Neuronenkollektiven aufgrund des Energieumsatzes gemessen und mit bestimmten Funktionszuständen wie z.B. des Denkens, Rechnens, Sprechens oder der Wahrnehmung in Bezug gebracht wird, ohne dass eine Gefährdung der Patienten oder Versuchspersonen befürchtet werden muss. Diese neuen Verfahren sind aufwendig, aber sie liefern nicht nur für das wissenschaftliche Verständnis wichtige Befunde, sondern bringen auch für die klinische Diagnostik ganz bemerkenswerte Fortschritte. Zum Beispiel ist es in Zukunft möglich, die Erholungschancen oder gegebenenfalls die Irreversibilität der Schädigung umschriebener Hirnbezirke nach Schlaganfällen sehr viel präziser zu beurteilen als dies durch die bisherigen Verfahren möglich war.

Durch die Aufgabenteilung zwischen den beiden menschlichen Hemisphären hat die Evolution einen weiteren Gewinn an funktioneller Kapazität erzielt gegenüber dem Säugetier, wo mehr oder weniger symmetrische Verhältnisse vorherrschen. Allgemein bekannt ist die Tatsache, dass bei über 85% der Bevölkerung die Sprachfunktionen vorwiegend auf der linken Seite repräsentiert sind. Besonderes Interesse seitens der Neuropsychologen erfuhr in letzter Zeit die nichtdominante Hemisphäre, also z. B. bei Linkssprachdominanz die rechte Grosshirnrinde. Entsprechende Beobachtungen konnten bei Patienten gemacht werden, bei welchen die Verbindungen zwischen den beiden Hemisphären aufgehoben oder nicht vorhanden waren. Zusammengefasst und vereinfachend lässt

sich sagen, dass die nichtdominante Seite sehr wichtige Aufgaben u. a. im Rahmen der Raumorientierung, der bildnerischen und gestalterischen Betätigung, der Musikalität, des synthetischen Denkens und der Intuition übernimmt, also Funktionen, von denen wahrscheinlich zu Recht behauptet wird, dass sie in der heutigen Schule nicht überall genügend und zur rechten Zeit gefördert werden. Normalerweise arbeiten die beiden Hemisphären störungsfrei zusammen, indem offenbar die mächtige Faserbrücke dafür sorgt, dass die beiden Hälften voneinander erfahren, was sie denken, fühlen und tun. Nur so lässt sich erklären, dass die sich in zwei funktionell ungleichen Gehirnhälften abspielenden Vorgänge in unserem Bewusstsein sich nicht gegeneinander abspalten, sondern als Einheit erfahren werden. Denkbar, aber nicht bewiesen ist es, dass die zum Schweigen verurteilte nichtdominante Hemisphäre weniger Zutritt zum Bewusstsein hat und eventuell zusammen mit tiefer liegenden Schichten des Gehirns das Substrat für sog. unbewusste Vorgänge bildet.

Zukunftsperspektiven

Weil sich die biologische Evolution in fast unvorstellbar langen Zeiträumen abspielt, wird eine kurzfristige Prognose über die strukturelle Zukunft des menschlichen Gehirns hinfällig. Es sei denn, man denke an die theoretische Möglichkeit, dass Homo s. sapiens versuchen wird, dieselbe durch Züchtung vorteilhafter Merkmale oder durch «genetic Engineering» in den Griff zu bekommen. Solchem Unterfangen fehlt jedoch zurzeit neben der ethischen auch eine solide wissenschaftliche Grundlage. In dieser Situation hat der Mensch begonnen, sich künstliche «Gehirne» zu schaffen, und ist damit im Begriff, die biologische Evolution einzuholen. Bereits übernehmen moderne Anlagen nicht nur Rechen-, sondern auch Denk- und Gedächtnisleistungen im grossen Stil. Auch wenn der Weiterentwicklung der Mikroelektronik vor der Grenze der psychischen Prozesse Halt geboten wird, so wäre es immerhin denkbar, dass durch die stürmische Entwicklung der Informatik ein gewisser Selektionsdruck zugunsten der kognitiven Hirnfunktionen zustande käme. Früher zu erwarten sind allerdings Auswirkungen der direkten Interaktion zwischen Gehirn und Computer, indem der Mensch lernt, die ihm von der Natur gegebenen cerebralen Potenzen dank intensivierter Anstrengungen der Hirnwissenschaften in Zusammenarbeit mit zahlreichen anderen Disziplinen besser zu verstehen und zu nützen.

Damit wenden wir uns einer aussichtsreicheren Möglichkeit der Evolution, derjenigen der Entwicklung und Anwendung neuer «Software», zu. Wenn es nämlich zutrifft, dass der heutige Mensch ungefähr seit mindestens 30000-50000 Jahren mit der gleichen Intelligenz ausgerüstet ist (und dafür gibt es gute Hinweise), so muss doch auffallen, wie nur sehr zögernd er die höchsten Potenzen seines Gehirns beansprucht hat. Erstrangige geistige Durchbrüche erfolgen nicht so rasant, wie es manchmal den Anschein macht. Darf man daraus nicht den Schluss ziehen, dass weitere Schritte in dieser Richtung zu erwarten sind? Einleuchtende Hinweise liefern uns geniale Menschen, wie Goethe, Mozart und Einstein. Sicher spielt dabei die Vererbung von Talent eine Rolle, und doch sind geniale Familien eher die Ausnahme. Genies sind durch verschiedene Umstände

bevorzugte Menschen, welche durch das Zusammenwirken mehrerer Faktoren ihre cerebral verankerte Begabung zur optimalen Entfaltung bringen können. Vielleicht spielt dabei die «Erschliessung» der mehr intuitiv arbeitenden, nichtdominanten Gehirnhälfte eine ganz entscheidende Rolle.

Grosse Hoffnung liegt in der Plastizität des reifenden Zentralnervensystems. Die Amerikanerin Helen Keller ist dafür ein interessantes Beispiel. Sie lebte um die letzte Jahrhundertwende und wurde in tragischer Weise schon in frühester Kindheit blind und taub. Während einer jahrelangen mühevollen und oft traumatischen Erziehungsarbeit gelang es ihrer Hauslehrerin, den Tastsinn des heranwachsenden Mädchens so zu sensibilisieren, dass eine erstaunlich vollständige Umwelterfahrung daraus entstehen konnte. So lernte Helen Keller die wichtigsten Elemente ihrer Umwelt zu ertasten, lernte sprechen, schreiben und lesen, absolvierte ein Universitätsstudium und konnte eine erfolgreiche Berufslaufbahn einschlagen. Diesen spektakulären Erfolg kann ich nur so erklären, dass assoziative Areale, die der corticalen Tastsphäre nachgeschaltet sind, bei härtester und systematischer Trainingsarbeit «umprogrammiert» wurden. Ähnliche Erfahrungen, wenn auch nicht so dramatische, konnten nach krankhaften oder unfallbedingten Zerstörungen des Gehirns, vor allem auch wieder bei jungen Menschen, gemacht werden. Bei solchen Fällen erhält man allerdings den Eindruck, dass die Instruktion der intakt gebliebenen Strukturen anhand neuer Programme oft nur unter Zwang oder, besser gesagt, nach deren zwangsläufigen Befreiung (zufolge Wegfalls von Hemmungen) und nicht unter normalen Bedingungen Erfolge bringt. An diesen und ähnlichen Problemen wird momentan in der Hirnforschung viel gearbeitet.

Vielleicht kommt man eines Tages auch dahinter, wie gewisse Strukturen in unserem Gehirn so programmiert oder umprogrammiert werden können, dass sie nicht nur den kognitiven Funktionen förderlich sind, sondern zu einem Ausgleich zwischen kognitiven und triebhaften Bereichen führen. Ob jemals eine sozio-positivere Reaktionsnorm des modernen Menschen erreicht wird, bleibt zumindest fraglich. Vielleicht müssen wir damit rechnen, dass ererbte Verhaltensmuster aus den unteren Etagen des Gehirns, die aus dem Repertoire der in begrenzten Sippen lebenden hominiden Baum- und Höhlenbewohner stammen, auch weiterhin sozusagen auf Gedeih und Verderben der corticalen Denkmaschinerie ausgeliefert bleiben.

Ich möchte jedoch meine Ausführungen nicht mit Utopien beenden, sondern mit einer verbindlichen Aussage. Wenn heute die Wissenschafter vor der Öffentlichkeit als Zauberlehrlings dastehen, indem sie zusammen mit den Politikern die Welt in eine praktisch unregierbare verwandelt haben, so glaube ich anderseits nicht, dass uns die Wissenschaftsfeindlichkeit und etwa die Rückkehr zur Romantik aus dieser unkomfortablen Lage befreien können. Es ist logischer zu denken, dass die gleiche Wissenschaft, welche die Zauberkräfte entfesselt hat, auch Wege finden muss, und finden wird, um sie zu bannen. Damit ist nun nicht nur die Hirnforschung angesprochen. Der Aufruf richtet sich an die Universität als Ganzes. Was ich vorhin mit der gängigen Metapher der «Software-Entwicklung»

bezeichnet habe, ist im Grunde nichts anderes als ein universaler Forschungs- und Erziehungsprozess, der mit mehr oder weniger wissenschaftlichen Grundlagen und Methoden schon immer im Gange war, der aber jetzt in eine kritische Phase eingetreten ist. Sicher werden die eingangs verkündeten Schwierigkeiten nicht behoben, wenn zu viele Unberufene sich einschalten oder wenn die Universität auf falsche Bahn gerät. Ziel und Kriterium für wissenschaftliche Arbeit ist in erster Linie die Suche nach der Wahrheit. Sie kann nur gedeihen, wenn wir, Studierende und Dozenten, uns in Bescheidenheit bewusst sind, dass niemand die reine Wahrheit wissen wird (Xenophanes vor über 2000 Jahren, zitiert nach Popper), und wenn wir aber aus innerer Verpflichtung trotzdem mit aller zu Gebote stehenden intellektuellen Redlichkeit danach suchen. Nur so verdienen wir die Autorität, die uns das Zürchervolk mit der Stiftung einer Universität übertragen hat.