Schleiermacher in seiner Bedeutung für das religiöse kirchliche und sittliche Leben.

Rektoratsrede gehalten bei der fünfunddreissigsten Stiftungsfeier der Berner Hochschule und der Säkularfeier des hundertjährigen Geburtstages Schleiermacher's,

den 21. November 1868,
Ed. Müller.
Professor der Theologie.
Bern.
Druck von K. J. Wyss.
1868.

Separatabdruck aus Nr. 48-50 der "Sonntagspost" von 1808.

Hochverehrte Versammlung!

Es bedarf wohl kaum der Rechtfertigung, dass wir dieses Jahr die Stiftungsfeier unserer Hochschule auf den heutigen Tag verlegt haben, um im Verein mit den schweizerischen und deutschen Universitäten den hundertjährigen Geburtstag Friedrich Schleiermacher's zu feiern. Mit der Stiftung unserer Hochschule ist diese auch eingetreten in die Geschichte des akademischen Lebens; sie hat damit Theil erhalten an seinen lichten Höhepunkten, seinen bahnbrechenden Heroen, den grossen Lehrern der akademischen Jugend und ihren Schöpfungen. Sie hat mit diesem Gut die Pflicht übernommen, es in Ehren zu halten und sich dankbar mitzufreuen, wo ein Glied wird herrlich gehalten. Schon dass Schleiermacher an der Gründung und Organisation der Universität Berlin einen massgebenden Antheil hatte, dass er den Grundsatz zur Geltung brachte, die Universität müsse der Herd und Hort freier Wissenschaft sein, wenn sie ihre den Geist befreiende Mission erfüllen wolle, und dass er diesen Grundsatz mannhaft aufrecht erhielt und durchfocht auch in trüber Zeit: schon dies sichert ihm ein ehrenvolles Andenken in der Geschichte des akademischen Lebens. Dass ihm ferner: unter den grossen akademischen Lehrern eine der ersten Stellen gebührt, dass er ein genialer Meister war in der Beherrschung, der Verarbeitung und der Mittheilung des Stoffes, dass er die Jugend zu fesseln, zu begeistern und zu bilden wusste, wie selten Einer, — das haben auch seine Gegner willig zugestanden, Und wie er dem Katheder und der Kanzel, der Familie, den Freunden und dem Vaterlande

ganz angehörte mit ungetheilter Liebe, so hatte er in der philosophischen und in der theologischen Fakultät Wurzel geschlagen mit ganzer ungetheilter Geisteskraft. Er hat in seiner Uebersetzung des Plato dem griechischen Weltweisen die deutsche Zunge verliehen und dem deutschen Wort den hellenischen Geist. Er hat der Philosophie, als der Mutter aller Wissenschaften, ihr Oberhoheitsrecht im Reiche der Wissenschaft gewahrt. Er hat sich auf's Gründlichste mit den philosophischen Systemen der alten und neuen Zeit aus einander gesetzt; er hat durch seine Kritik der ethischen Systeme die Ethik wissenschaftlich neu begründet; er hat in seiner Dialektik ein selbstständiges philosophisches System geschaffen; die Geschichte der Philosophie, die Psychologie, die Aesthetik, die Politik, die Pädagogik, alle diese Disziplinen, die er vorgetragen, haben von ihm Anregung und Bereicherung erhalten. Doch seine eigenthümliche schöpferische Kraft und seine providentielle Mission bekundete Schleiermacher auf dem Gebiete der Religion und der Theologie. Als Neander seinen Zuhörern den Tod Schleiermacher's mit tiefbewegtem Herzen ankündigte, fügte er hinzu, der Mann sei dahin geschieden, von dem ab eine neue Epoche der Theologie datiren werde. Er ist der Vater und Begründer der neuen Theologie; er hat die Theologie in ihrem Zusammenhang mit der allgemeinen Wissenschaftslehre und in ihrer Eigenthümlichkeit als positive Wissenschaft, als einheitlichen Organismus zu durchsichtiger Darstellung gebracht; er hat nicht nur alle Disziplinen der Theologie mit Ausnahme der alttestamentlichen Exegese selbstständig bearbeitet und neue Disziplinen, wie das Leben Jesu und die kirchliche Statistik, hinzugefügt, er hat insbesondere der systematischen Theologie einen neuen Aufbau gegeben, und seine Glaubenslehre wird als das grösste Meisterwerk der theologischen Wissenschaft seit den Institutionen Calvin's allgemein anerkannt. "Er steht", wie K. Schwarz bemerkt, "noch immer im Centrum der nach den verschiedensten Punkten auslaufenden Radien und ist so sehr eingedrungen

in alle Poren der modernen Theologie, dass die entgegengesetzten Richtungen — die Extreme moderner Kirchlichkeit bis zu einem Kliefoth, wie die äussersten Spitzen der Kritik bis zu Strauss — auf ihn sich stützen und aus ihm schöpfen."

Schleiermacher als religiöser Charakter ist in diesem Saal bereits vor neun Jahren von meinem verehrten Freund und Kollegen, Hrn. Prof. Immer, in eingehender, anschaulicher und geistvoller Weise dargestellt worden. Hieran anknüpfend möchte ich Ihnen, hochverehrte Anwesende, heute nicht vorzugsweise den grossen Gelehrten und Denker schildern; ich möchte, so weit es der enge Rahmen eines akademischen Vortrages gestattet, auf die Lichtstrahlen hinweisen, welche von diesem Geiste und seiner Lebensarbeit erleuchtend, erwärmend und befruchtend auf eine Reihe von Geschlechtern ausgegangen sind; ich möchte nachweisen, wie aus der stillen, rastlosen Arbeit ernster Wissenschaft ein fruchtbarer Ertrag unvergänglicher Wahrheitsschätze hervorgegangen ist für alles Volk; die Bedeutung Schleiermacher's für das religiöse, das kirchliche und das sittliche Leben auch der Gegenwart möchte ich Ihnen in gedrängten Zügen darstellen.

Schleiermacher erscheint in der Reihe der bahnbrechenden Geister, welche an der Scheide der beiden Jahrhunderte in Verbindung mit den weltgeschichtlichen Ereignissen der französischen Revolution und der Unabhängigkeitserklärung der nordamerikanischen Freistaaten eine neue Zeit ankündigen und bringen. Die providentielle Sendung Schleiermacher's lag auf dem religiösen Gebiet. Hier erscheint er als der Herold der neuen Zeit, als der prophetische Bürger einer bessern Zukunft. Zu dieser Sendung ist er nicht nur eigenthümlich und auf's Reichste begabt, auch alle seine Lebensverhältnisse und Schicksale führen ihn in diese Bahn hinein und halten ihn in derselben fest.

Schon der Naturboden, aus welchem Schleiermacher erwuchs, war ein religiöser. In seinen Vorfahren väterlicher

und mütterlicher Seite trafen lutherisches und reformirtes Glaubensleben, hervorragende religiöse Gaben, energische kirchliche Thätigkeit, Schwärmerei, Mystizismus, Skeptizismus und das Märtyrerthum der Salzburger Emigration zusammen. Sein Vater, ein schroffer, biederer, wahrheitsliebender Mann, war, wie er selbst bekennt, in früheren Jahren mit derselben Energie ein Prediger des Unglaubens gewesen, mit welcher er später als Prediger des Glaubens auftrat. Seiner Mutter, die er früh verlor, einer Frau von klarem Geist, kindlich frommem Gemüth und aufopfernder Treue, lag die Erziehung der Kinder beinahe ausschliesslich ob, da der Vater als reformirtes Feldprediger der schlesischen Regimenter viel von Hause abwesend war, Als die Eltern die Brüdergemeinde kennen lernten, wurden sie von dem in derselben wehenden Geiste der Heilands- und der Bruderliebe so tief ergriffen und die Einrichtungen, insbesondere die Erziehungsanstalten und Grundsätze der Gemeinde fanden so sehr ihre Zustimmung, dass sie es für das grösste Glück hielten, ihre Kinder vor den Versuchungen der Welt in diesem frommen Asyl zu bewahren. Hier durchlebte Schleiermacher jene schönen Jahre, in welchen sich im kindlichen Gemüth die ersten Blüthen reiner Frömmigkeit entfalten. Auf diese Zeit hat er in spätern Jahren stets dankbar zurückgeschaut. Er bekannte, "dass die mystische Anlage, die ihm so wesentlich sei und ihn unter allen Stürmen des Skeptizismus gerettet, sich zuerst in der Brüdergemeinde entwickelt, so dass, was damals aufgekeimt, sich später ausgebildet habe und er von sich sagen könne, er sei wieder ein Herrnhuter geworden, nur nach einer höheren Ordnung." Auf diese Bildungsstätten seines religiösen Charakters bezieht sich, was er in seiner ersten Rede über Religion von sich sagt: "Frömmigkeit war der mütterliche Leib, in dessen heiligem Dunkel mein junges Leben genährt und auf die ihm noch verschlossene Welt vorbereitet wurde; in ihr athmete mein Geist, ehe er

noch sein eigenthümliches Gebiet in Wissenschaft und Lebenserfahrung gefunden hatte."

Allein bald finden wir den heranreifenden Jüngling auf dem Seminar zu Barby im heissesten Zweifelskampf. Sein Wahrheitssinn sagt ihm, dass er die übernatürlichen Gnadenwirkungen, die einen wesentlichen Bestandtheil der Herrnhut'schen Frömmigkeit bilden, nicht erfahren; sein gesunder Sinn sträubt sich, sie zu forcieren, den Inhalt der überschwenglichen Phraseologie kann er nicht fassen, mit wesentlichen dogmatischen Lehren ist er zerfallen. In einer im sechsundzwanzigsten Lebensjahre verfassten Selbstbiographie sagt er: "Meine Begriffe gingen bald so weit von dem System der Brüdergemeinde ab, dass ich nicht länger glaubte, mit gutem Gewissen ein Mitglied derselben bleiben zu können." Er theilt sich offen seinem Vater mit.

Der Briefwechsel des Vaters mit dem Sohn in dieser Angelegenheit hat etwas Tragisches. Die eindringlichsten Zureden, Beweise und Wehklagen des Vaters vermögen den Sohn bei aller Pietät nicht zurückzubringen. Er ist sich bewusst, dass er zweifelt, nicht aus Mangel an Religion, sondern aus Religion. Er will prüfen, Alles prüfen, um zu einer festen, geläuterten Erkenntniss, einem eigenen, frischen und starken Glauben zu kommen. Es ist innerster, heiligster Gewissensdrang, der ihn in diese Skepsis treibt.

In Halle, wohin sich Schleiermacher zu seinem Onkel Stubenrauch begab, welcher dort Professor der Theologie war, war es besonders das Studium der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes, welches ihn fesselte. Es war ihm Bedürfniss, die verschiedenen Meinungen und Systeme zu vergleichen und zu prüfen. Die damals herrschende Aufklärungs-Philosophie konnte einem so tiefgehenden Geiste keine Befriedigung gewähren; in den beiden herrschenden theologischen Richtungen, dem Rationalismus und dem Supranaturalismus, konnte er die wahre Religion nicht finden; beiden war die Religion ein Conglomerat von Lehrmeinungen und Geboten,

welche der Rationalismus mit dem Ansehen der Vernunft, in der Regel aber des platten Verstandes, der Supranaturalismus mit dem Ansehen einer übernatürlichen Offenbarung bekleidete. Beide setzten die Religion auf eine sehr kühle Temperatur, in ein sehr zweideutiges Abhängigkeitsverhältnis herab. Beide waren schwächliche Apologeten der Religion. Als Mittel auch der sinnlichen Glückseligkeit, als Ausklärungsmittel, als Moralisirungs- und Polizeimittel für die ungebildeten Klassen sollte die Religion vom Gesichtspunkte des praktischen Nutzens aus sich der Obrigkeit und dem aufgeklärten Publikum empfehlen. Selbst der ehrwürdige Spalding glaubte die Nutzbarkeit des Predigtamtes dadurch stützen zu müssen, dass er die Prediger zu "Depositärs der öffentlichen Moral" im Dienste des Staates promovirte, zum Zorne Herder's, der erwiderte: "Warum macht man sie am Ende nicht zu geheimen Finanz- und Polizeibedienten, zu Bau- und Wasserräthen?"

In Drossen, wohin Schleiermacher seinen Oheim, der die dortige Pfarrei übernommen, begleitete, vertiefte sich Schleiermacher namentlich in die Werke von Kant. Sein Vater, der ihm wieder in väterlicher Liebe nahe getreten war, rieth ihm besonders angelegentlich das Studium der Kantischen Schriften an Er solle nun Alles thun, um der Wahrheit auf den Grund zu kommen. Und Schleiermacher hat redlich diesen Rath befolgt.

So war denn die religiöse Skepsis wie bei allen tiefer angelegten religiösen Naturen auch bei Schleiermacher der zweite wesentliche Faktor seiner religiösen Charakterbildung. Mit Beziehung hierauf fährt er in der bereits angeführten Stelle seiner ersten Rede fort: "Frömmigkeit half mir, als ich anfing, den väterlichen Glauben zu sichten und Gedanken und Gefühle zu reinigen von dem Schutte der Vorwelt; sie blieb mir, als auch der Gott und die Unsterblichkeit der kindlichen Zeit sich dem zweifelnden Auge verloren," Hiezu kam die Noth des Lebens, welche so viele

der grössten Männer grossgezogen und von welcher der vom Glück so verwöhnte Dichter zu preisen weiss:

"Wer nie sein Brod mit Thränen ass,
Wer nie die kummervollen Nächte
Auf seinem Bette weinend sass,
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte."

Als Schleiermacher in Berlin sein theologisches Examen bestanden, brachte er drei Jahre in Schlobitten als Hauslehrer in der gräflichen Familie Dohna-Schlobitten zu. Hier wurde sein Sinn für edle Geselligkeit und ein von seiner und doch freier Sitte und ungeschminkter Frömmigkeit durchwehtes Familienleben angeregt und gebildet.

1794 finden wir ihn als Pfarrgehülfen eines Verwandten in Landsberg an der Warthe, 1796 als Prediger an der Charité in Berlin. Hier wurde er bald in dem geistreichen, lebensfrohen, von der Begeisterung der Romantik berauschten Kreise einheimisch, der sich um Henriette Herz, die geistreiche Gemahlin eines jüdischen Arztes, sammelte . Er trat mit einer Anzahl der hervorragendsten Männer in nähere Bekanntschaft, und insbesondere schloss er mit Henriette Herz und Friedrich Schlegel einen innigen Freundschaftsbund. Das Verhältniss Schleiermacher's zur Romantik, so sehr es ihn in Berührung mit der Welt brachte und so grosse Gefahren es in sich barg, war ferner einer der wesentlichen Faktoren, welche die Bildung seines religiösen Charakters bestimmten. Nicht nur, dass diess frische geistige Leben ihn mächtig anregte und die Anerkennung und Freundschaft, die er fand, sein Selbstvertrauen weckte und seinem nach Freundschaft hungernden Gemüthe die tiefste Befriedigung gewährte, — die Rücksichtslosigkeit, mit welcher die Romantik die nüchterne, seichte Verstandes-Aufklärung und Moral mit ihrem Zopf verurtheilte, und die Mittel des Gemüthes und des Geistes, mit welchen sie ein neues Geistesleben für das nahende neue Jahrhundert wach zu rufen suchte, bestärkten den Glauben Schleiermacher's, dass

unter diesen Mitteln die Religion das verkannteste und doch das gewaltigste sei, und dass er berufen, als ihr Herold sie in den todten Herzen ihrer Verächter wach zu rufen. Mit Beziehung hierauf schliesst Schleiermacher in der angeführten Stelle seine Rechtfertigung, über die Religion als ein Religiöser zu reden, mit den Worten: "Frömmigkeit leitete mich absichtslos in das thätige Leben; sie zeigte mir, wie ich mich selbst mit meinen Vorzügen und Mängeln in meinem ungetheilten Dasein heilig halten sollte, und nur durch sie habe ich Freundschaft und Liebe gelernt." Und kurz vorher in derselben Rede sagt er, um dem Vorurtheil zu begegnen, dass er als Geistlicher im Interesse seines Standes die Religion vertrete: "Als Mensch rede ich zu euch von den heiligen Geheimnissen der Menschheit nach meiner Ansicht, von dem, was in mir war, als ich noch in jugendlicher Schwärmerei das Unbekannte suchte; von dem, was seitdem ich denke und lebe, die innerste Triebfeder meines Daseins ist und was mir auf ewig das Höchste bleiben wird, auf welche Weise auch noch die Schwingungen der Zeit und der Menschheit mich bewegen mögen. Und dass ich rede, rührt nicht her aus irgend einem vernünftigen Entschlusse, auch nicht aus Hoffnung oder Furcht, noch geschieht es aus sonst irgend einem willkürlichen oder zufälligen Grunde; vielmehr ist es die reine Nothwendigkeit meiner Natur; es ist mein göttlicher Beruf; es ist das, was meine Stelle in der Welt bestimmt und mich zu dem macht, der ich bin."

So finden wir denn in dem Wesen, dem Entwicklungsgang und der Bildung Schleiermacher's jene epochemachende That begründet, durch welche er seinen göttlichen Beruf und seine providentielle Bedeutung für das religiöse Leben der neuen Zeit beurkundete. Seine Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern, welche er bei einem kurzen Aufenthalt in Potsdam ausarbeitete und welche 1799 erschienen, waren ein Ereigniss von durchgreifender Tragweite. Selbst ein Zaremba und

ein Claus Harms bekannten, dass sie von denselben einen Anstoss zu ewiger Bewegung empfangen hätten. Der Grundgedanke ist wie bei allen grossen Schöpfungen ein sehr einfacher. Was ihr als Religion verachtet, ist nicht diese selbst, es ist das Zerrbild, welches menschliche Weisheit und menschliche Thorheit an ihre Stelle gesetzt; es ist ein oft mühsam und wunderlich genug zusammengenähtes Kleid von allerlei Wissen und mancherlei Praxis, das man ihr ohne und wider ihren Willen angezogen und das man nun für sie selbst ausgibt. Die Religion ist nicht von Aussen her dem Menschen eingeimpft, nicht ein von Gott oder Menschen ihm bloss äusserlich angehängtes Beiwerk, — sie ist nicht ein Wissen oder ein Thun, ein System oder eine Praxis, Lehre oder Kunst, sie ist am allerwenigsten bloss ein für den Staat nutzbares Mittel, — ja sie ist auch nicht Theologie — es gebührt ihr vielmehr die Würde eigener und vollständiger Selbstständigkeit, —sie gehört zum innersten Wesen des Menschen, zu den heiligsten Erfahrungen, die dem Menschen über sich selbst zu Theil werden, zu dem, was erst den Menschen zum Menschen macht, — ja sie ist das Ursprüngliche, Göttliche im Menschen, der göttliche Lebensquell, welcher im innersten Heiligthum des Gemüthes aufquillt und den endlichen Menschen mit der Fülle des Unendlichen überströmt, die in den geheimnissvollen Tiefen des Gemüths verborgene Lebenswurzel, aus welcher das seitliche Sein des Badenschen die Nahrung des Ewigen empfängt und Eins wird und sich Eins weiss mit dem Ewigen mitten in der Zeit.

Heben wir nur wenige bezeichnende Stellen hervor. Am Schluss seiner ersten Rede sagt Schleiermacher: "Dass die Frömmigkeit aus dem Innern jeder bessern Seele nothwendig von selbst entspringt, dass ihr eine eigene Provinz im Gemüthe angehört, in welcher sie unumschränkt herrscht, dass sie es würdig ist, durch ihre innerste Kraft die Edelsten und Vortrefflichsten zu beleben und ihrem innersten Wesen nach von ihnen aufgenommen und erkannt zu werden: das

ist es, was ich behaupte und was ich ihr gern sichern möchte." "Die Vervollkommnung der Glaubenslehren und der Systeme ist oftmals eher Alles, nur nicht Vervollkommnung der Religion; ja nicht selten schreitet jene fort ohne die geringste Gemeinschaft mit dieser. — Was sind doch diese Lehrgebäude für sich betrachtet anders als Kunstwerke des berechnenden Verstandes, worin jedes einzelne seine Haltung nur hat in gegenseitiger Beschränkung? oder gemahnen sie euch anders, diese Systeme der Theologie, diese Theorien vom Ursprung und Ende der Welt, diese Analysen von der Theorie eines unbegreiflichen Wesens, worin Alles auf ein kaltes Argumentieren hinausläuft und auch das Höchste nur im Tone eines gemeinen Schulstreites kann behandeln werden? Und diess wahrlich, ich berufe mich auf euer eigenes Gefühl, ist doch nicht der Charakter der Religion." "Aber warum seid ihr nicht tiefer eingedrungen bis zu dem, was das Innere dieses Aeusseren ist? — Warum betrachtet ihr nicht das religiöse Leben selbst? jene frommen Erhebungen des Gemüthes vorzüglich, in welchen alle andern euch sonst bekannten Thätigkeiten zurückgedrängt oder fast aufgehoben sind und die ganze Seele aufgelöst in ein unmittelbares Gefühl des Unendlichen und Höhern und ihrer Gemeinschaft mit ihm?" — Und in der zweiten Rede: "Die Betrachtung des Frommen ist nur das unmittelbare Bewusstsein von dem allgemeinen Sein alles Endlichen im Unendlichen und durch das Unendliche, alles Zeitlichen im Ewigen und durch das Ewige. Dieses Suchen und Finden in Allem, was lebt und sich regt, in allem Werden und Wechsel, in allem Thun und Leiden, und das Leben selbst im unmittelbaren Gefühl nur haben und kennen als dieses Sein, —- das ist Religion. Ihre Befriedigung ist, wo sie dieses findet; wo sich dieses verbirgt, da ist für sie Aengstigung und Hemmung, Noth und Tod. Und so ist sie freilich ein Leben in der unendlichen Natur des Ganzen, im einen und allen, in Gott, habend und besitzend Alles in Gott und Gott in Allem." —

"Vergesst nur nicht, dass die wissenschaftliche Behandlung der Religion, das Wissen um sie nicht sie selbst ist, und dass dieses Wissen als die Beschreibung des Gefühls unmöglich im gleichen Range stehen kann mit dem beschriebenen Gefühle selbst. Vielmehr kann dieses in seiner vollen Gesundheit und Stärke Manchem innewohnen, wie denn fast alle Frauen Beispiele hievon sind, ohne dass es besonders in Betrachtung gezogen werde; und ihr dürft dann nicht sagen, dass Frömmigkeit fehle und Religion, sondern nur das Wissen darum. — Wenn Jemand die Grundsätze und Begriffe (über Religion) noch so vollkommen versteht, weiss aber nicht und kann nicht aufzeigen, dass sie aus den Aeusserungen seines eigenen Gefühls in ihm selbst entstanden und ursprünglich sein eigen sind, so lasst euch ja nicht überreden, dass ein solcher fromm, und stellt mir ihn nicht als einen solchen dar; denn seine Seele hat nie empfangen auf dem Gebiete der Religion, und seine Begriffe sind nur untergeschobene Kinder, Erzeugnisse anderer Seelen, die er im Gefühl der eigenen Schwäche adoptirt hat."

So finden wir überall denselben Grundgedanken: die Religion ist selbstständig für sich, sie ist nicht das Wissen um die Religion, nicht eine Tochter der Theologie oder Spekulation; diese hat vielmehr auf die Religion zurückzugehen, sie in ihrem eigensten Wesen zu erkennen, an diesem ihre Begriffe und Prinzipien über die Religion zu rechtfertigen, und nicht von einem von auswärts hergeholten Begriff die Religion zu konstruieren und zu machen. Sie ist aber auch nicht selbst ein Wissen, sonst fällt sie zurück in Mysticismus und leere Mythologie. Sie ist auch nicht ein Handeln; vielmehr das Handeln des Frommen empfängt seine Impulse aus seiner Frömmigkeit: "der wahrhaft Fromme wird auch sittlich sein und der wahrhaft Sittliche fromm; der wahrhaft Wissende wird fromm sein und der Fromme wohl unwissend sein können, aber nie falsch wissend, denn sein Sein ist ein wahres Sein, welches auch wahres Sein erkennt."

Von diesem Gesichtspunkt aus prüft nun Schleiermacher auch die traditionellen dogmatischen Begriffe über Offenbarung, Wunder, Weissagung, Inspiration und bildet sie um ja selbst die von der gangbaren Zeitphilosophie der Religion substituirten Begriffe Gott und Unsterblichkeit will er als Begriffe nicht verwechselt wissen mit der Religion selbst. Aus demselben Grunde erklärt sich Schleiermacher gegen die sogen. "natürliche Religion." Sie ist nach seinem Urtheil gewöhnlich so abgeschliffen und hat so philosophische und moralische Manieren, dass sie wenig von dem eigenthümlichen Charakter der Religion durchschimmern lässt, "während dagegen jede positive Religion gar starke Züge und eine markierte Physiognomie hat, so dass sie bei jeder Bewegung unfehlbar an das erinnert, was sie eigentlich ist. Wenn ihr sie an ihrer Quelle und ihren ursprünglichen Bestandtheilen nach untersucht, so werdet ihr finden, dass alle die todten Schlacken einst glühende Ergiessungen des innern Feuers waren, das in allen Religionen enthalten ist." In jedem religiösen Menschen wird die allgemeine Religion individuell und daher positiv. Dass das Christenthum die Religion selbst als Stoff für die Religion verarbeitet und so gleichsam eine höhere Potenz derselben ist, das macht das Unterscheidendste seines Charakters, das bestimmt seine ganze Form. Weil es ein ungöttliches Wesen als überall verbreitet voraussetzt, weil dieses ein wesentliches Element des Gefühls ausmacht, auf welches alles Uebrige bezogen wird, ist es durch und durch polemisch und sein Ziel eine unendliche Heiligkeit. Es verlangt die Religion als ein continuum als die herrschende Grundstimmung des Gemüthes, welche den Menschen in allen Momenten seines Daseins bestimmt. Und in Beziehung auf den Stifter des Christenthums sagt Schleiermacher: "wenn ich das heilige Bild dessen betrachte, der der erhabene Urheber des Herrlichsten ist, was es bisher gibt in der Religion, so bewundere ich nicht die Reinigkeit seiner Sittenlehre, die doch nur ausgesprochen hat, was alle

Menschen, die zum Bewusstsein ihrer geistigen Natur gekommen sind, mit ihm gemein haben; ich bewundere nicht die Eigenthümlichkeit seines Charakters, die innige Vermählung hoher Kraft mit rührender Sanftmuth, das Alles sind nur menschliche Dinge; aber das wahrhaft Göttliche ist die göttliche Klarheit, zu welcher die grosse Idee, welche darzustellen er gekommen war, sich in seiner Seele ausbildete, die Idee, dass alles Endliche einer höhern Vermittlung bedarfe um mit der Gottheit zusammenzuhängen, und dass für den von dem Endlichen und Besondern ergriffenen Menschen, dem sich nur gar zu leicht das Göttliche selbst in dieser Form darstellt, nur Heil zu finden ist in der Erlösung. — Das Bewusstsein seines Wissens um Gott und Seins in Gott, von der Ursprünglichkeit der Art, wie es in ihm war, und von der Kraft derselben, sich mitzutheilen und Religion aufzuregen, war zugleich das Bewusstsein seines Mittleramtes und seiner Gottheit. Als er verlassen, im Begriff auf immer zu verstummen, jenes Ja aussprach, das grösste Wort, das je ein Sterblicher gesagt hat: so war diess die herrlichste Apotheose, und keine Gottheit kann gewisser sein als die, welche so sich selbst verkündigt."

Durcheilen wir nun rasch einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren. Schleiermacher's Reden über die Religion hatten ihm den Vorwurf des Pantheismus, des Spinocismus, des Atheismus, des Mysticismus, der Schwärmerei zugezogen; sein Umgang mit seinen jüdischen Freunden und Friedrich Schlegel ihn sittlich verdächtig gemacht. Sein väterliche Freund, der Bischof Sack, schrieb ihm einen feierlichen Absagebrief. Schleiermacher zog sich als Prediger nach Stolpe zurück, wo er zwei Jahre voller Arbeit und innerer Kämpfe durchlebte. Im Begriff, einem Rufe nach Würzburg zu folgen, liess er sich für Halle gewinnen; es schliessen sich ihm gerade die geistigsten und strebsamsten Studierenden an. Hier verfasste er auch um Weihnacht 1805 jenes anmuthige, tiefsinnige Gespräch, die "Weihnachtsfeier", .

in welchem die Vertreter der verschiedenen theologischen Richtungen friedlich um den Weihnachtsbaum versammelt ihre Meinungen über die Geburt und die Bedeutung Christi austauschen, und in welchem offenbar Ernst die Ansicht Schleiermacher's ausspricht: die innige Gemeinschaft mit dem Erlöser sei das Wesen der christlichen Frömmigkeit, — wo diese sei, da sei auch die freieste, kritische Stellung zu der geschichtlichen Erzählung möglich.

Nach der Schlacht von Jena kommt Halle an das neugebildete Königreich Westphalen; Schleiermacher siedelt nach Berlin über; wir finden ihn in den Reihen der wackersten Patrioten; er wird Prediger an der Dreifaltigkeits-Kirche, Professor der neu gestifteten Universität, Mitglied und später Sekretär der Akademie; er gründet einen eigenen glücklichen Hausstand; wir finden ihn vertieft in die mannigfachsten wissenschaftlichen Arbeiten; er ist in beinahe allen theologischen Fachwissenschaften als Meister einheimisch; bei der Erhebung des deutschen Volkes steht er in den vordersten Reihen — er begrüsst freudig die Union. Doch bald ist er in theologische, kirchliche und politische Streitigkeiten verwickelt; seine Hoffnungen auf bessere Zustände sind gesunken, allein er bleibt rüstig, muthig, fest, — da, —auf der Höhe seines Lebens, als er bereits das fünfzigste Lebensjahr überschritten — erscheint (1821, 22) sein Hauptwerk: "Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt."

In diesem Meisterwerke nun treten dieselben Grundanschauungen hervor, wie in den Reden über die Religion, nur gereinigt, vertieft und in ihrer bestimmten Beziehung zu Christo und dem Glauben der Kirche. Mit meisterhafter Dialektik werden "sichere gerade Linien gezogen", und in fein gegliedertem, schwungvollem architektonischem Aufbau tritt der Grundgedanke in all' seinen Momenten durchsichtig hervor. Der in den Reden für die Konstruktion der Religionswissenschaft aufgestellte Grundsatz, dass diese im Wesen der

Religion ihren Ausgangspunkt zu nehmen habe, ist scharf, sicher und allseitig durchgeführt.

Heben wir auch hier einige der wesentlichsten Sätze hervor. Das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit wird dahin bestimmt, "dass wir uns unserer selbst als schlechthin abhängig, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewusst sind." Die Frömmigkeit gehört zu den Grundthatsachen des menschlichen Bewusstseins; sie ist selbstständig, sie ist innere Erfahrung und Anschauung, ihr Organ der Glaube. Alle dogmatischen Lehrsätze haben ihren Gehalt an dem religiösen Grundbewusstsein zu erhärten, die christlichen dogmatischen Lehrsätze an dem durch Christum bestimmten frommen Bewusstsein. Die christliche Glaubenslehre hat daher die frommen Gemüthszustande als Produkt Christi und seines Geistes zu beschreiben. Das Christenthurn ist seinem Wesen nach Erlösungsreligion; es gipfelt in dem Gegensatz der Sünde und der Gnade; die Aufhebung der Sünde als Grundbedingung der Gemeinschaft mit Gott ist sein Ziel. Es ist teleologische Religion, Die Erscheinung des Erlösers in der Geschichte als göttliche Offenbarung ist weder etwas schlechthin Uebernatürliches, noch etwas schlechthin Uebervernünftiges; im Christenthum ist Alles übervernünftig und Alles vernünftig, —übervernünftig, "weil eine wahre Aneignung der christlichen Sätze nicht auf wissenschaftliche Weise erfolgen kann, sondern nur erfolgt, sofern Jeder selbst hat wollen die Erfahrung machen, wie ja alles Einzelne und Eigenthümliche nur kann durch die anschauenwollende Liebe aufgefasst werden"; —vernünftig, "weil die Sätze der christlichen Lehre denselben Gesetzen der Begriffsbildung und Verknüpfung unterworfen sind, wie alles Gesprochene." Mittelpunkt des christlichen Glaubens ist Jesus als der Erlöser; der Glaube an ihn daher Grundbedingung und Wesen der christlichen Frömmigkeit. Seine Einzigkeit besteht darin, dass er als der Sündlose und schlechthin Vollkommene der Erlöser ist, dass in ihm die Gnade als Aufhebung der:

Sünde und Schuld geschichtliches Dasein, persönliches Leben geworden, dass in seiner Person das Urbild der Menschheit, die Menschennatur wie Gott sie gewollt, vollkommen verwirklicht worden und jeder geschichtliche Moment seines Lebens das Urbildliche in sich trägt. "Der Erlöser ist allen Menschen gleich durch die Selbigkeit der menschlichen Natur, von allen aber unterschieden durch die stetige Kräftigkeit seines Gottesbewusstseins, welche ein eigentliches Sein Gottes in ihm war." Beide aber, das Menschliche und das Göttliche, sind in ihm Eins. "Der Erlöser nimmt die Gläubigen in die Kräftigkeit seines Glaubensbewusstseins auf, und diess ist seine erlösende Thätigkeit. Er nimmt sie in die Gemeinschaft seiner ungetrübten Seligkeit auf, und das ist seine versöhnende Thätigkeit." Der Glaube ist die Aneignung der Vollkommenheit und Seligkeit Christi. Der Akt des Glaubens an ihn ist ein sittlicher Akt; das Verhältniss der Wiedergebornen zu Christo ist zwar geheimnissvoll, hat aber nichts Magisches; — Theil an der Gnade erhält nur, in welchem Christus eine Gestalt gewinnt, welcher das Urbildliche, das er von ihm in sich aufgenommen, nun auch als neues Leben in seinem Leben auswirkt. "Der heilige Geist ist die Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur in der Form des das Gesammtleben der Gläubigen beseelenden Gemeingeistes." Dieses vom heiligen Geist beseelte Gesammtleben ist die christliche Kirche; — die Kirche ist daher nicht ein theokratisches, ein politisches oder ein theologisches Institut, sondern die Gemeinschaft Aller, deren Gemeingeist der Geist Christi ist. "Dadurch, dass die Kirche sich aus der Welt nicht bilden kann, ohne dass auch die Welt einen Einfluss aus die Kirche ausübt, begründet sich für die Kirche selbst der Gegensatz zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Kirche; die erste ist eine getheilte, die andere aber ungetheilt eine, die erste ist immer dem Irrthum unterworfen, die andere aber untrüglich. Alle Irrthümer, welche sich in der sichtbaren Kirche erzeugen,

werden durch die in derselben immer fortwirkende Wahrheit aufgehoben. Die Pflanzung und Verbreitung der christlichen Kirche ist Gegenstand der göttlichen Weltregierung, in welcher sich uns die göttliche Ursächlichkeit darstellt als Liebe und als Weisheit."

Was der christlichen Glaubenslehre Schleiermacher's ihren divinatorischen Charakter und ihre bahnbrechende Bedeutung gibt, das ist zunächst ihre wissenschaftliche Methode. Sie stellt ab auf die Thatsache des christlich frommen Bewusstseins als auf den sichern, unantastbaren, selbstständigen Punkt. Diese Thatsache hat nicht erst die Wissenschaft oder die Dogmatik gegeben; sie ist unabhängig von jedem, wenn auch noch so gangbaren oder traditionell kanonisierten Begriff; vielmehr hat die Wissenschaft jene Thatsache anzuerkennen und ihrem Wesen nach zu entwickeln und darzustellen. Die Theologie ist nicht die Mutter der Religion, sie ist einfach die Wissenschaft von der Religion als einer Thatsache, die vor ihr und ohne sie da ist. "Niemals", schreibt Schleiermacher in seinem zweiten Sendschreiben an seinen Freund Lücke, "niemals werde ich mich dazu bekennen können, dass mein Glaube an Christum von der Philosophie her sei. Der Begriff Gottes und des Menschen, das ist freilich ein köstliches Kleinod, aber nur wenige können es besitzen, und ein solcher Privilegierter will ich nicht sein in der Gemeine, dass ich unter Tausenden den Grund des Glaubens allein habe." — "Wenn die Reformation, aus deren ersten Anfängen unsere Kirche hervorgegangen ist, nicht das Ziel hat, einen ewigen Vertrag zu stiften zwischen dem lebendigen christlichen Glauben und der nach allen Seiten frei gelassenen, unabhängig für sich arbeitenden wissenschaftlichen Forschung, so leistet sie den Bedürfnissen unserer Zeit nicht Genüge. Meine Ueberzeugung aber ist, der Grund zu jenem Vertrag sei schon damals gelegt, und es thue nur Noth, dass wir zum bestimmten Bewusstsein unserer Aufgabe kommen, um sie zu lösen."

Und gewiss, wenn diese Schleiermacher'sche Anschauung vom Verhältniss der Wissenschaft zum Glauben durchschlägt, — und diess wird geschehen, —so wird nicht nur manch' unerquicklicher Hader der Theologie mit der Wissenschaft und manch' unerbaulichen Hausstreit der Theologen unter einander verstummen, sondern ächte Frömmigkeit und ächte Wissenschaft ihres eigenthümlichen Lebens — jede in ihrem Gebiet — und beide dann auch ihrer gegenseitigen Beziehungen wieder froh werden.

Der zweite grosse Fortschritt der Schleiermacher'schen Glaubenslehre ist die durch dieselbe vollzogene Ueberwindung der beiden herrschenden, sich gegenseitig bekämpfenden theologischen Hauptrichtungen, des Rationalismus und des Supranaturalismus. Beide sind nach Schleiermacher im Grunde nicht Gegensätze, da der eine sich auf die Begebenheiten, der andere auf die Erkenntnisquelle bezieht; beide laufen im Grund auf dasselbe hinaus, nämlich statt der christlichen Frömmigkeit als Leben blosse Lehren zu statuiren, und statt des Glaubens ein blosses Fürwahrhalten dieser Lehren. Bei beiden kommt das spezifische Wesen des Christenthums zu kurz, — dort sein idealer, hier sein historischer Gehalt, — dort kulminiert dasselbe im weisen tugendhaften Landrabbiner, hier im unnahbaren dogmatisch formulierten Gott, in einem doketischen Gespenst.

Vor Allem aber ist 's die Leistung selbst, welche der Schleiermacher'schen Glaubenslehre eine so hohe Bedeutung verleiht. Er hat das von ihm aufgestellte Princip mit der grössten wissenschaftlichen Energie durchgeführt; er hat nach demselben die kirchlichen Dogmen einer scharfen, durchgreifenden Kritik unterworfen; er hat rücksichtslos beseitigt, was sich als unwesentlich, als Trübung, als Auswuchs erwies; er hat aber zugleich mit hingebender Liebe und schöpferischer Genialität aufgebaut und neu gebaut; er hat die Wahrheitssubstanz des Dogma's vom Schutte gereinigt und herausgebildet zu klaren, festen Begriffen; er hat für das christlich

fromme Bewusstsein der Gemeinde der Gegenwart und der kommenden Geschlechter den wesentlichen Gehalt des Christenthums nach protestantischer Anschauung zu einem hellen und tiefen Ausdruck gebracht. Er konnte mit vollem Recht an Lücke schreiben: "Nun wohl — es sei meine Behandlung der Kirchenlehre immerhin heterodox; aber ich bin fest überzeugt, es ist jene divinatorische Heterodoxie, die schon noch zeitig genug, wenn auch nicht gerade durch mein Buch und wenn auch erst lange nach meinem Tode, orthodox werden wird." Und im Hinblick auf die Entwicklung der Naturwissenschaften, die Forschungen der historischen Kritik, die Raschheit der Mittheilung der wissenschaftlichen Resultate auch an die Massen — und die Stellung der herkömmlichen kirchlichen Dogmatik diesen Mächten gegenüber, konnte er im zweiten Sendschreiben an Lücke mit prophetischem Blicke sagen: "Was soll dann werden, lieber Freund? Ich werde diese Zeit nicht mehr erleben, sondern kann mich ruhig schlafen legen. Aber Sie, mein Freund, und Ihre Altersgenossen, so viele deren mit uns gleichen Sinnes sind, was gedenken Sie zu thun? Wollt Ihr euch dennoch hinter diesen Aussenwerken verschanzen und von der Wissenschaft blokiren lassen? Das Bombardement des Spottes will ich für nichts rechnen, — aber die Blokade? die gänzliche Aushungerung von aller Wissenschaft, die dann, nothgedrungen, weil ihr euch so verschanzt, die Fahne des Unglaubens aufstecken muss! Soll der Knoten der Geschichte so auseinandergehen — das Christenthum mit der Barbarei und die Wissenschaft mit dem Unglauben? Viele freilich werden es so machen; die Anstalten dazu werden schon stark genug getroffen und der Boden hebt sich schon unter unsern Füssen, wo diese düstern Larven auskriechen wollen, von enggeschlossenen religiösen Kreisen, welche alle Forschung ausserhalb jener Umschanzungen eines alten Buchstabens für satanisch erklären. Aber diese können doch nicht ausersehen sein zu Hütern des heiligen Grabes, und ich kann mir Sie und

unsere gemeinschaftlichen Freunde und deren Schüler und Nachfolger nicht unter ihrer Zahl denken."

Einem so tief angelegten und so klar durchgebildeten religiösen und theologischen Charakter musste aber auch eine hervorragende Bedeutung für das kirchliche Leben zukommen. Diese Bedeutung möchte ich Ihnen, hochverehrte Versammlung, um Sie nicht zu ermüden, nur in wenigen Zügen vergegenwärtigen. Dass Schleiermacher mit dem akademischen Amt zugleich das Predigtamt bekleidete, und dass er als Katechet, als Seelsorger und insbesondere als Prediger ebenfalls eine ausgezeichnete und reich gesegnete Stellung einnahm, ist bekannt. Er hatte das akademische Lehramt nicht gesucht, und zu seinen Lieblingswünschen gehörte, seine letzten Lebensjahre auf einer stillen Pfarre zubringen zu können. Wenn er in seinen Reden über die Religösen verlangt, dass die religiöse Rede mit dem besten, des erhabenen Gegenstandes würdigen Schmuck einherschreite, so hat er selbst diese Forderung im Sinn des äussern Redeschmuckes, der rhetorischen Effekte und Pointen nicht erfüllt. Und doch sind seine Predigten mit dem besten Schmuck angethan, mit der Macht und der Wahrheit der aus der Fülle des Textwortes und der eigenen Frömmigkeit und innern Ueberzeugung geschöpften Gedanken. Einfach, in antiker Klarheit, Gemessenheit und Keuschheit bewegt sich seine Rede, mit dialektischer Meisterschaft wird der Grundgedanke allseitig entwickelt, so dass er in der Andacht der Zuhörer sich gleichsam wie von selbst bildet und um so ungesuchter und wirksamer die Richtung auf's Leben nimmt. Und diese scheinbar so kalte Dialektik ist durchweht von der Gluth eines innig frommen Gemüthes. Die meisten seiner Predigten besitzen wir nur nach Nachschriften, an welche Schleiermacher vor der Herausgabe die nachbessernde Hand legte. Es genügten dem Meister des lebendigen Wortes wenige Stunden der Meditation. Diese Predigten werden nicht nur in der Geschichte der Predigt und der Homiletik stets einen ehrenvollen Rang

einnehmen, sie sind auch ein reicher Beitrag zur Entwicklung wichtiger sittlich religiöser Fragen vom Standpunkt der Gemeinde aus; — die patriotischen Predigten zugleich ein erhabenes geschichtliches Denkmal aus jener so denkwürdigen Zeit, die Predigten über den christlichen Hausstand eine Perlenreihe, hervorgeholt aus den Tiefen des christlichen Geistes und der christlichen Gesittung.

Bekannt sind ferner die Verdienste Schleiermacher's um die Hebung des geistlichen Standes. Er selbst fühlte sich glücklich fühlte sich in seinem innern Berufe, in einem schönen, heiligen Berufe als Träger des geistlichen Amtes. Er hatte von demselben eine ernste, aber sittlich freie Anschauung. Es war ihm Ernst mit dem allgemeinen Priesterthum der Gemeinde und ihrer Glieder. Er wollte von einer besondern klerikalen Kaste nichts wissen; der Geistliche ist Diener, Organ der Gemeinde, er hat sie als sittlich religiöser und theologisch gebildeter Charakter in ihren heiligsten Angelegenheiten zu fördern; es soll ihm kein Gewissenszwang auferlegt werden, und er soll keinen auferlegen. Wir hören es seinen Gutachten und seinen vertraulichen Mittheilungen an, wie ihm das Herz blutet, dass er den geistlichen Stand vielfach so tief herabgewürdigt sah, auf der einen Seite so viel Verkommenheit, auf der andern so viel pfäffisches Wesen, auf der einen Seite so viel Gesinnungslosigkeit und Servilismus gegenüber den materiellen Autoritäten, auf der andern Seite so viel Eitelkeit und Hochmuth. Wir hören es ihm an, wie es ihm Gewissenssache ist, wie er es für eine seiner ersten Aufgaben hält, mit aller Kraft dahin zu arbeiten, dass es besser werde. Und er hat dieser Aufgabe gelebt; bei vielen Täuschungen war es eine seiner erhebendsten Erfahrungen, dass es besser wurde. Von Schleiermacher angeregt ist eine grosse Zahl sittlich und wissenschaftlich tüchtiger, religiös lebendiger und in ihrem Wirken treuer und gesegneter Schüler ausgegangen. Wenn auch in unserem Vaterlande eine im Ganzen tüchtigere Generation

von Geistlichen erstanden ist, wir haben es vielfach den Anregungen Schleiermacher's zu danken, seiner religiösen Geistigkeit und Lebendigkeit, dem vertiefenden und befreienden Geist seiner Theologie, dem persönlichen Vorbild, das er aufgestellt. Eine ansehnliche Schaar von schweizerischen Jünglingen ist zu seinen Füssen gesessen, — und unter diesen von den besten, — und wie sie ein besonderes Verständniss für den grossen Lehrer hatten, so haben sie auch den Saamen besserer Erkenntniss, den er ausgestreut, zurückgebracht in die heimatlichen Thäler und hier wieder im Segen ausgestreut. Daher denn auch heute vieler Olten in unserem Vaterlande das Andenken Schleiermacher's dankbar gesegnet wird.

Einen tief eingreifenden Antheil hatte Schleiermacher ferner an der Neugestaltung der Kirchenverfassung. Bereits 1803 hatte er in einer Schrift: "Zwei unvorgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens" die Union befürwortet. Die dogmatische und die gottesdienstliche Differenz begründe die Trennung der beiden Kirchen nicht; beide Konfessionen hätten in Preussen dieselben bürgerlichen Rechte; in der Praxis hätten sich beide Kirchen so genähert, dass kein wesentlicher Unterschied sie trenne. Aber die Union solle nicht eine dritte Kirche in's Dasein rufen; nicht eine dogmatische Einigung sein; nicht eine starre Einerleiheit der Gottesdienstordnung im Gefolge haben; jeder Kirche, jeder Gemeinde solle ihre Eigenthümlichkeit gelassen werden; die Union solle sich vollziehen auf Grund des gemeinschaftlichen Glaubens der evangelischen Kirche .— Der Unionsgedanke war ein langjähriges Erbtheil des Hohenzollern'schen Fürstenhauses. Unter der religiösen Begeisterung, welche die Erhebung des deutschen Volkes durchwehte, Angesichts des dreihundertjährigen Jubiläums der Reformation wurde durch Friedrich Wilhelm III. in der Kabinetsordre vom 27. September 1817 die Union verwirklicht. Mit derselben fielen nicht nur eine Menge kleinlicher, das religiöse Gefühl verleihenden Beschränkungen dahin, —

so waren z. B. in Halle Schleiermacher als einem Reformirten die lutherischen Kanzeln verschlossen, und der König selbst durfte mit seiner unvergesslichen Gemahlin, der Königin Louise, nicht gemeinschaftlich das Abendmahl feiern — nicht nur wurde durch die Union der Grundsatz weitherziger Duldung und brüderlicher Gemeinschaft unter den Genossen verschiedener Glaubensbekenntnisse, und zwar nicht aus Mangel an Religion, sondern aus Interesse an der Religion, durch die That zu Ehren gebracht, sondern auch das dogmatische Bewusstsein wurde dadurch zum Segen für das fromme Bewusstsein erweitert, geläutert und von unwürdigen Fesseln befreit. Schleiermacher hätte nun freilich gewünscht, die Union wäre unter Zustimmung der Gemeinden vollzogen worden; um so mehr drang er darauf, dass die nächste Folge dieser That, durch welche einzig ihr voller Segen gewahrt und ausgewirkt werden könne, die Erhebung der Gemeinden und der Kirche zu kirchlicher Selbstständigkeit sein möchte. Er arbeitete einen Entwurf für eine kirchliche Repräsentativ-Verfassung aus, das Laienelement sollte zu der ihm gebührenden Vertretung kommen, die Synoden sollten nicht blosse Briefkasten zur Entgegennahme obrigkeitlicher Erlasse sein, nicht blosse Sprechsääle, in welchen die Theologen allein sich gegenseitig austauschen, um sich schliesslich in die Haare zu gerathen und die Minoritäten zu majorisieren, sie sollten unabhängig vom weltlichen Regiment die Angelegenheiten der Kirche berathen und diese leiten unter Wahrung des staatlichen Oberaufsichtsrechtes. In diesem Sinn stellte denn auch die Berliner Kreissynode, welche Schleiermacher zu ihrem Präsidenten gewählt hatte, weitgehende Anträge. Allein diese Antrage wurden "begraben".

Der König hatte die Bearbeitung einer neuen Agende einer aus seinen Hoftheologen zusammengesetzten liturgischen Kommission übergeben und betheiligte sich selbst in aufrichtig kirchlichem Interesse an dieser Arbeit. Er wollte in der gesammten evangelischen Kirche Preussen's liturgische Uniformität

einführen, und zudem sollten die sogenannten gebundenen liturgischen Elemente eine grössere, ja eine dominierende Stellung im Gottesdienst erhalten, unter Schmälerung der Predigt und des Gesanges. Diese Agende wurde 1821 als die Kirchenagende für die königlich preussische Armee und bald darauf als Kirchenagende für die Hof- und Domkirche zu Berlin eingeführt, nicht ohne die ausgesprochene Absicht, sie der Gesammtkirche zu oktroyieren. Es erhob sich gegen diese Absicht eine heftige Opposition; es kam zu Einschüchterungen, ja selbst zu gerichtlichen Verfolgungen der Widerstrebenden, während die Lobredner und Gehorsamen, wie der Bonner Professor Augusti, offiziell belobt und dekoriert wurden, wie Schleiermacher sagte propter agenda non propter acta. Da schrieb 1824 Schleiermacher seine Schrift: "Ueber das liturgische Recht des Landesherrn. Ein theologisches Bedenken von Pacificus Sincerus." In dieser Schrift bestreitet Schleiermacher das liturgische Recht des Landesherrn; es lasse sich weder aus dem Majestätsrecht noch aus dem kirchlichen Aufsichtsrecht herleiten, es gebühre vielmehr der Kirche in der Gesammtheit ihrer Gemeinden; es sei daher auch seine rücksichtslose Anwendung ein Eingriff in das Recht der Gemeinde und eine Beeinträchtigung der Gewissen. Der Geist und die Wahrheitsliebe dieser Schrift wurden vom König selbst anerkannt. Gleichwohl sollte die Angelegenheit mit Gewalt durchgeführt werden. Die Gegenschrift Marheineke's, des Kollegen Schleiermacher's, stellt sich nach dem Hegel'schen System auf den Standpunkt des Territorialismus: der Staat als die wirklich gewordene Vernunft, als der Inbegriff der nationalen Machtvollkommenheit, — und das Staatsoberhaupt als das Organ derselben hätten auch das Recht, die innern Angelegenheiten der Kirche festzustellen. Zudem wurden von Marheineke in nicht sehr edler Weise die Grundsätze seines Kollegen verdächtigt, — die Demokratisirung und Republikanisirung der Kirche müsse schliesslich auf Demokratisirung und Republikanisirung des Staates

hinauslaufen, was bei der damaligen Situation eigentlich sagen wollte, der Gedanke daran schliesse eine Art von hochverrätherischen Tendenz in sich. Genug, es kam in Berlin zu einem Protest von zwölf Geistlichen, unter welchen Schleiermacher, zu einer gerichtlichen Vernehmung, zu polizeistaatlicher Bemaßreglung der Zwölf mit dem Andeuten, dass sie es lediglich der besondern Gnade Sr. Majestät zu verdanken hätten, wenn sie nicht in kriminelle Untersuchung gezogen würden. Der König war bei diesem Streit so sehr betheiligt, dass er selbst (1827) in einer anonymen Schrift: "Luther in Beziehung auf die preussische Agende" sein Werk vertheidigte, indem er nachwies, dass die angefochtene Agende ihren wesentlichen Bestandtheilen nach im Einklange stehe mit den Gottesdienstordnungen Luther's von 1523 und 1526. Obgleich nun Schleiermacher wusste, dass er in diesem Kampfe als persönlicher Gegner des Königs und eines seiner Lieblingswünsche erscheine, hatte er doch den Muth, in seinem "Gespräch zweier selbst überlegenden Christen" dem königlichen Theologen entgegenzutreten und offen auszusprechen, dass das weitere Vorgehen auf der eingeschlagenen Bahn zu einem Bruch führen müsse, und dass der Zeitpunkt gekommen sein möchte, zur Trennung von Kirche und Staat und zur Bildung freier Gemeinden zu schreiten. Es muss dem König nachgerühmt werden, dass er diese freimüthige Sprache würdigte: der Druck liess nach; man suchte den Eigenthümlichkeiten der verschiedenen Provinzialkirchen gerecht zu werden; es kam zu einem Kompromiss, — und obgleich Schleiermacher sich einzelnen Bestimmungen in seiner liturgischen Praxis nicht unterwarf, so liess man ihn doch in Ruhe.

Dass ein Mann, der mit solchem Muthe für die unveräusserlichen Rechte des religiösen Gewissens eintrat, sich auch gegen die Knechtung der Gewissen durch Symbolzwang erklärte, ist selbstverständlich. Die reaktionäre Strömung arbeitete an dem Gedanken, nicht nur den lutherischen

und reformirten Bekenntnissschriften ein erneutes bindendes Ansehen zu geben, sondern auch für die unwerte Kirche ein neues Bekenntniss aufzustellen und die Geistlichen eidlich auf dasselbe zu verpflichten. Es hatte sich das Gerücht verbreitet, der König selbst arbeite an einem solchen Symbol. "Der Tanz möchte noch ärger werden als bei der Agende", meinte Schleiermacher. Er hatte bereits 1819 in einer besondern Abhandlung "über den eigenthümlichen Werth und das bindende Ansehen der symbolischen Bücher" den geschichtlichen Beweis geliefert, dass der Bekenntnisstrieb der Kirche in der Regel in solchen Formeln sich ausgedrückt habe, wenn die Kirche genöthigt gewesen nach Aussen hin dem Staate gegenüber Zeugniss abzulegen von ihrem Glauben. Hiezu sei in der Gegenwart kein Grund vorhanden, Man könne "einen ganzen, uns wohlbekannten und nicht unbedeutenden Zeitraum nicht wie ungelebt machen, die Charaktere, die er unserer Geschichtstafel eingegraben, nicht wie mit einem Schwamme wegwischen, und so auf eine viel leichtere Art als sonst mit den alten Zügen eines codex rescriptus geschehen könne, die Schrift des siebenzehnten Jahrhunderts hervorzaubern und sie uns für unsere eigene anrechnen." Die reformatorischen Bekenntnissschriften hielt Schleiermacher hoch als ehrwürdige Denkmale der schöpferischen Anfänge der evangelischen Kirche und als Erkenntnisquellen der reformatorischen Grundprinzipien, welche die gesammte kirchliche Entwicklung bestimmen. Desshalb konnte er auch im Jahre 1830 das dreihundertjährige Jubiläum der Uebergabe der Augsburgischen Konfession feiern in einer Reihe von denkwürdigen Predigten, welche die reformatorischen Grundgedanken eben so tief entwickeln, als sie sich gegenüber dem Veralteten, Unwesentlichen und Anstössigen frei erklären und ernst warnen vor jeglicher Buchstabenknechtschaft.

In diesem Sinne erklärte er sich auch in seinem Sendschreiben an die Breslauer Theologen Daniel Schultz und von Cölln, welche sich weigerten an dieser Feier Theil zu

nehmen, weil sie darin, was allerdings in der Absicht des Kirchenregiments lag, eine unbedingte Zustimmung auch zum Buchstaben des Symbols erblickten. Insbesondere aber erklärte sich Schleiermacher gegen die eidliche Verpflichtung. Der Gewissenlose und Heuchler werde sie leicht nehmen, der Redliche von Gewissensbedenken gequält werden; eine grössere Sicherheit für die Lehre der Geistlichen werde dadurch nicht erreicht, wohl aber Stagnation, Knechtschaft und Heuchelei und zudem mit dem Eid ein unwürdiges Spiel getrieben.

Der Schwerpunkt der Bedeutung Schleiermacher's für das kirchliche Leben der Gegenwart und Zukunft liegt aber in seiner Ansicht über das Verhältniss von Staat und Kirche. Er ist der Vertreter und Verfechter des sogen. Kollegialsystems, d. h. der Lehre, dass die Kirche als religiöse Gemeinschaft selbstständig sei, unabhängig vom Staat, berechtigt sich durch sich selbst ihrem Wesen nach zu gestalten und zu leiten. Schleiermacher hat der Kirche, gegenüber der Ansicht, dass sie lediglich hierarchische, theologische oder politische Anstalt sei, ihren Gemeinschafts- und Gemeindecharakter wieder vindicirt. Dieser Grundsatz bestimmte auch seine ganze kirchliche Haltung dem cäsaro-papistischen Staatsregiment gegenüber.

Schleiermacher ist tief überzeugt, dass die Vermengung und Verquickung beider Gebiete, die ihrer Natur nach von einander geschieden seien, dass die willkürliche Uebertragung der Verfassung des einen auf das andere, dass die halbweltliche Kirche und der halbkirchliche Staat, dass der Episkopalismus und der Territorialismus die Quelle grossen Unheils seien für Staat und Kirche. Beide Gebiete würden so durcheinander in ihrer freien Entwicklung gehemmt, und während ein jedes in seiner Sphäre selbstständig auf das andere den wirksamsten Einfluss ausüben würde, hinderten sich beide in ihrer wesentlichen Aufgabe. So bricht er schon in den Reden über die Religion in den Ausruf aus: "Hätte man doch nie einen Fürsten in den Tempel gelassen, bevor

er nicht den schönsten königlichen Schmuck, das reiche Füllhorn aller seiner Gunst und Ehrenzeichen, abgelegt hätte vor der Pforte!" "Wie das furchtbare Medusenhaupt wirkt eine solche Konstitutionsakte politischer Präponderanz auf die religiöse Gesellschaft; alles versteinert sich, wo sie erscheint." "Hinweg mit jeder solchen Verbindung zwischen Kirche und Staat! Das bleibt mein catonischer Rathsschluss bis an's Ende." "Es ist vollkommen meine Ueberzeugung", sagt er in einer Anmerkung zu seinen Reden in der Ausgabe von 1821, "es ist vollkommen meine Ueberzeugung, dass es eine der wesentlichsten Tendenzen des Christenthums ist, Staat und Kirche völlig zu trennen, — und ich kann eben so wenig als der Verherrlichung der Theokratie der entgegengesetzten Ansicht beistimmen, dass die Kirche je länger je mehr im Staat aufgehen solle." Wir haben bereits bemerkt, wie Schleiermacher im Begriffe stand, aus der Staatskirche auszutreten. Allein er war der Ansicht, dass ohne eigentliche Gewissensnöthigung die Lösung des Verhältnisses nicht gewaltsam durchgeführt, sondern allmählig angebahnt werden solle; und die einfachste, der geschichtlichen Entwicklung und den gegebenen Verhältnissen angemessenste Lösung schien ihm darin zu liegen, dass der Staat selbst den ersten Schritt thue und unter Wahrung seines Aufsichtsrechtes der Kirche Unabhängigkeit und selbstständige Leitung gewähre. Während Schleiermacher früher die Zersplitterung in eine Mannigfaltigkeit kleiner eigenthümlicher Gesellschaften nach nordamerikanischem Muster für das Wünschenswertheste ansah, gestaltete sich ihm später das Ideal einer freien Kirche in grossem volksthümlichem Styl, welche allen Eigenthümlichkeiten, Gaben und Heterodoxieen den freisten Raum lasse und sich nur abwehrend verhalte gegen Alles, was das eigenthümlich Christliche und Protestantische grundsätzlich gefährde. Der Schulstreit sei den Schulen zu überlassen, er gehöre nicht zur Frömmigkeit, im kirchlichen Heiligthum solle der fromme Gemeingeist walten und Alle sich verbunden wissen durch den einfachen, wenn

auch theologisch noch so verschieden geformten Glauben an Christum den Erlöser. So schreibt er an Lücke: "Darüber: besorge ich keinen Zwiespalt unter uns, dass es weder christlich ist noch heilsam, die sogenannten Rationalisten, wenn auch freundlich und mit guter Art aus unserer Kirchengemeinschaft herauszunöthigen; und es ist schmerzlich, wenn Männer von mildem Charakter und wohlbegründetem Ansehen das wahre Interesse der Kirche so weit verkennen, dass sie sich in einen solchen Angriffskrieg hineinziehen lassen. Tritt nun eine einseitige Tendenz so stark hervor, als hiebei geschehen ist, so ist es meine, ich weiss nicht soll ich sagen Art oder Unart, dass ich aus natürlicher Furcht, das Schifflein, in dem wir alle fahren, möchte umschlagen, so stark als es bei meinem geringen Gewichte möglich ist, auf die entgegengesetzte Seite trete. Und da genügt mir nun nicht nur irgendwie zu erklären, wie bereitwillig ich meinerseits bin, die würdigen Männer, die man so nennt, in unserer Kirchengemeinschaft zu behalten, sondern ich möchte auch gern zeigen, dass sie mit ihrem guten Recht darin sein und bleiben können." Und an D. Schultz und v. Cölln: "Ich will lieber mit allen Rationalisten, die nur ein Bekenntniss zu Christo zulassen und aus Ueberzeugung fortfahren, sich Christen zu nennen, auch mit denen, gegen deren Lehrweise ich mich am bestimmtesten erklärt habe, in einer Kirchengemeinschaft sein, welche freie Forschung und friedlichen Streit zulässt, als mit jenen in einer Verschanzung zusammengesperrt, welche der starre Buchstabe bildet."

So sehen wir denn, wie Schleiermacher auch auf kirchlichem Gebiet mit divinatorischem Scharfblick jene grundsätzliche Umgestaltung der kirchlichen Verfassungsform vertrat, welche zur brennenden Zeitfrage geworden und von Jahr zu Jahr dringender ihre thatsächliche Lösung verlangt. Wir sehen, wie er in dieser Lösung nicht nur nicht den Ruin des Staates oder der Kirche oder beider erblickt, sondern — wenn auch nach manchen Verwirrungen und Kämpfen —

eine bessere Zukunft für beide. Und dass ein Mann wie Schleiermacher diese Frage vertritt das scheint mir doch als Gewähr gelten zu dürfen, dass es sich hier weder um ein doktrinäres Hirngespinst noch um eine Destruktion der sittlichen und religiösen Grundlagen unseres Gemeinschaftslebens handelt.

Die Bedeutung Schleiermacher's für das sittliche Leben ist uns bereits in dem Gesagten entgegengetreten. Sie scheint mir eine doppelte zu sein. Einmal hat Schleiermacher gerade durch die scharfe Grenzbereinigung der verschiedenen Lebensgebiete einerseits jedem das Seine verschafft, andererseits die rechte Art nachgewiesen, wie jedes dem andern zu dienen habe; er hat insbesondere die theologische und kirchliche Form des evangelischen Christenthums ethisirt, indem er auf die religiöse Wurzel zurückgehend sie von ihren Schlacken reinigte, sie erweiterte, sie in reale und lebendige Beziehung zu den sittlichen Gütern brachte. Sodann hat er in seinem eigenen Leben den sittlichen Gehalt einer wahrhaft frommen Persönlichkeit ausgeprägt. Sein sittlicher Charakter ist die Frucht, an welcher auch sein Christenthum sich als gesunder Baum mit gesunder Wurzel bewährt hat. Zwar ist auch Schleiermacher sittlichen Gefahren nicht entgangen und nicht frei gewesen von menschlichen Schwächen, wenn auch an seinem Leben kein Mackel gröberer Art haftet. Seine Briefe über Schlegel's Lucinde lassen sich als das Opfer eines Freundes, der bereit ist, für den Freund auch den guten Ruf zu wagen, entschuldigen; die sittliche Enthüllung über die Prüderie, als die raffinierteste Art der Sinnlichkeit, werden wir mit ihm theilen, allein als Rechtfertigung eines unsittlichen Werkes lassen sich jene Briefe nicht rechtfertigen. Seine Ansicht über Ehe und Ehescheidung, — auch ein Dogma der romantischen Schule — in seinem Verhältniss zu Eleonore Grunow hat Schleiermacher selbst in seinen Predigten über den christlichen Hausstand als dem Geist christlicher Sitte widersprechend bezeichnet.

In seinen "Monologen", eine Neujahrsgabe (1800), hat er uns den ideellen Schleiermacher, der seiner sittlichen Aufgabe inne geworden und der ihrer Verwirklichung sein Leben gelobt, dargestellt. Schleiermacher hat dieses Gelübde gehalten. Er hat das seltene Pfund, das ihm verliehen war, in ernster, rastloser Arbeit ausgebildet und verwerthet. Er hat ganz seinem innern Beruf gelebt. Er hat das tiefste, reichste religiöse Gefühl mit der schärfsten, feinsten Dialektik, innigen Herzensglauben mit der freiesten wissenschaftlichen Forschung, lebendigen kirchlichen Sinn mit dem hellsten, offensten Blick für alle sittlichen Lebensverhältnisse, er hat unbedingtes Abhängigkeitsgefühl mit dem Vollgefühl sittlicher Freiheit, — Gegensätze, die sich so oft feindselig entgegentreten, — in sich vereinigt und zu einem harmonischen persönlichen Ganzen ausgebildet.

Bei aller Beweglichkeit ist er mit sicherem Schritt durch's Leben gegangen; bei aller Vielseitigkeit hat er sein grosses Lebensziel nie aus dem Auge verloren; bei aller Schärfe des Geistes ist ihm das warme reiche lieberfüllte Herz geblieben; dei aller Grossartigkeit seiner Anlage und seines Schaffens hat er den Sinn für die Kleinigkeiten des Lebens, die Treue im Kleinen bewahrt; und bei aller Hingabe an das Ganze hat er das Eigenthümliche selbst in seinen dürftigsten Erscheinungen stets liebevoll verstanden und heilig gehalten. Sein Briefwechsel, dessen Herausgabe wir dem jüngern Gass, dem Prediger Jonas und Professor Dilthey verdanken, ist der reinste Spiegel seines Innern, der treueste Kommentar seines Lebens und seiner Werke.

Wie wirkte er in seinem Beruf. Ein Meister des lebendigen Wortes und der klassisch geformten Schrift; in sich gekehrt, ganz bei der Sache und doch zugleich von einer Mittheilungsgabe, wie sie beinahe ohne Beispiel ist! Welch' eine sittliche Kraft in der Oekonomie seiner wissenschaftlichen Produktionen! Dieser Mann voll Talent, Geist und Wissen, voll origineller schöpferischer Gedanken und von

so seltener Darstellungskraft, — er theilte nur mit, was er unter der strengsten Geisteszucht erarbeitet hatte, als reife Geistesfrucht, als goldene Aepfel in silbernen Schalen. Welch' ein reich gesegnetes Verhältniss des akademischen Lehrers zu seinen Schülern auf dem Grund eines durch die gemeinsame Wahrheitsliebe, durch treue sichere Leitung auf der einen Seite und durch vertrauensvolle und dankbare Pietät auf der andern Seite veredelten Verkehrs. Welch' ein anziehendes Bild gewährt uns sein Familienleben, als er mit der Wittwe eines verstorbenen Freundes, Henriette v. Willich geb. v. Mühlenfels, 1809 einen eigenen Hausstand gegründet hatte. Stets hielt er sich für einen der glücklichsten Menschen, für einen vornehmlich durch sein häusliches Glück Hochbegnadigten. Seine Rede am Grabe seines einzigen Sohnes Nathanael trägt einen vorbildlichen Charakter für die Auffassung der herbsten häuslichen Prüfungen, die Vereinigung des tiefsten wahrsten Schmerzes mit der sichern Herrschaft über denselben auf dem Grund unerschütterlichen Gottvertrauens und fester, von jeder Täuschung freier, christlicher Hoffnung. Und welch' ein Freund war Schleiermacher! Treu, opferbereit, grossherzig, von den edelsten Männern und Frauen innig geliebt, von einer Gabe, sich auszutauschen, anzuziehen, zu sammeln und selbst dem Gegner gerecht zu werden, die noch heute, nachdem nach seinem Tode eine ganze Generation heimgegangen, ihren Zauber und ihren Segen bewährt. Welch' ein Virtuose der Geselligkeit! — der ernste tiefe Denker, der innig fromme Prediger, unerschöpflich in sprudelndem Humor und treffendem Witz, ein Muster freier, feiner und edler Sitte. Und welch' ein Bürger war dieser Mann! In der Zeit der tiefsten Erniedrigung seines Vaterlandes glaubensmuthig und voll Kraft, Andern seinen Glauben mitzutheilen. Er wollte lieber als hungernder Literat in dem verlorensten Winkel Preussen's leben, als glänzenden Anerbietungen folgen; er beneidete die, die Frau und Kinder hätten, weil sie ein grösseres Opfer bringen

könnten. "Geben Sie Alles dahin", schreibt er an seine Freundin, Charlotte v. Kathen, "um Alles zu gewinnen, und rechnen Sie Alles, was Ihnen erhalten wird, für Gewinn. Bedenken Sie, dass kein Einzelner bestehen, dass kein Einzelner sich retten kann, dass doch unser Aller Leben eingewurzelt ist in deutscher Freiheit und deutscher Gesinnung, und diese gilt es." Und zur Zeit der grossen Erhebung, wie wirkt er durch seine gewaltigen Predigten zum Hass gegen alle Feigheit und Niederträchtigkeit und zur Neubelebung der patriotischen Hoffnungen, wo sie zu sinken drohten. Zu welch' sittlicher Energie vermochte der körperlich schwache Mann all' seine Kräfte zu steigern! An demselben Tag hält er zwei Vorlesungen, exerziert mit der Landwehr, segnet ein Bataillon in einer hinreissenden Ansprache ein, tagt in einer patriotischen Kommission, redigirt eine Zeitung und schreibt Nachts noch an seine Frau.

Was uns aber den sittlichen Charakter des Mannes in noch hellerem Lichte zeigt, —seine Liebe zu seinem Beruf, zu seiner Familie, seinen Freunden, seinem Vaterlande erkaltete nicht, als die Hoffnungen der besten Männer von der Reaktion niedergetreten, als mit De Wette seine vertrautesten Freunde, Georg Reimer, sein Schwager M. Arndt, Gass u. A., ja Schleiermacher selbst politisch verdächtigt und verfolgt wurden. Es wird ihm auch die Achtung Aller bleiben, die an einem Mann den Mannescharakter zu schätzen wissen. Der König selbst ehrte in einem Schreiben an die Wittwe Schleiermacher's das Andenken "des grossen Denkers, des trefflichen wahrheitsliebenden Mannes, von dessen hohem Werth er stets durchdrungen gewesen sei".

Und wenn sich im Alter und auf dem Sterbebette in vielen Fällen der sittliche Ertrag eines Menschenlebens in verklärtem Bilde darstellt, so ist dies auch bei Schleiermacher der Fall gewesen. Er hat das Gelübde der Monologen erfüllt: "Ewige Jugend schwör' ich mir selbst; nie werd' ich mich alt dünken, bis ich auch fertig wäre; aber nie werd'

ich fertig sein, weil ich weiss und will, was ich soll. Lächelnd seh' ich schwinden der Augen Licht und keimen das weisse Haar zwischen den blonden Locken. Nichts, was geschehen kann, mag mir das Herz beklemmen; frisch bleibt der Puls des innern Lebens bis in den Tod." Auf seinem Sterbebette theilte Schleiermacher W. v. Humboldt mit, dass in ihm die tiefsten spekulativen Gedanken völlig eins seien mit den innigsten religiösen Empfindungen. Und Georg Reimer, der fast 36 Jahre mit ihm zusammengelebt, schreibt an Sulpiz Boisserée: "Wie sein Leben einer steten Veredlung und Verklärung entgegenging, so war sein Tod die schönste Verherrlichung im Geist, dessen siegende Gewalt noch im Scheiden den Körper zwang, seinem Dienst zu folgen." Er starb, nachdem er wenige Augenblicke zuvor mit den Seinigen in erhebender Weise das Abendmahl genossen, den 12. Februar 1834.

Die Worte des Sterbenden: "In meinem Innern erlebe ich die göttlichsten Momente; ich muss die tiefsten spekulativen Gedanken denken, und die sind mir völlig eins mit den innigsten religiösen Empfindungen" — diese Worte enthüllen einfach und klar das innerste Wesen und die eigenthümliche Bedeutung Schleiermacher's. In seinem System hat er der Religion und der Wissenschaft jeder ihre selbstständige Stellung verschafft, in seinem Leben, im innersten Grund seiner Persönlichkeit waren sie eins.

Man hat Schleiermacher mit den philosophischen Systemen der alten und neuen Zeit in Verbindung gebracht, bald mit Plato, bald mit Spinoza, bald mit seinen Zeitgenossen Kant, Fichte unb Schelling, während der Gegensatz zu Hegel, seinem Kollegen, allgemein anerkannt wird. Man hat überhaupt den Schwerpunkt der wissenschaftlichen Leistungen Schleiermacher's in seinem philosophischen System gesucht und auch seine Glaubenslehre lediglich als ein Werk seiner philosophischen Spekulation darstellen wollen. Wir halten dafür, dass

sich sein eigenthümliches System nicht auf eines der angeführten Systeme zurückführen lasse, dass er wohl diese Systeme gründlich durchforschte, ihren Wahrheitsgehalt sich aneignete, überhaupt von denselben mannigfache Anregungen empfing, dass aber das religiöse Gebiet der wesentliche Gegenstand seiner selbstständigen, genialen und epochemachenden Forschung war, und zwar in dem Sinn, dass er, wie er selbst stets behauptete, die Religion nicht erst als ein Produkt seines spekulativen Denkens auffinden und gestalten, sondern sie mit den Mitteln der Wissenschaft als ein Gegebenes, Selbstständiges in ihrem eigenthümlichen Wesen begründen und darstellen wollte.

Man hat Schleiermacher den Vater der modernen Vermittlungstheologie genannt. Man hat damit vielfach den Vorwurf verbunden, dass er auf halbem Wege stehen geblieben sei und sich in zweideutiger Schwebe zwischen den Gegensätzen bewegt habe. Man hat Recht, wenn man mit A. Rüge in seinen Reden über Religion an die Gebildeten unter ihren Verehrern — mit dem Motto: "Statt den Schleiermacher wollen wir den Schleierlüfter spielen" — wenn man mit Ruge die Religion überhaupt als Aberglauben erklärt und die Theologie als die dritte Stufe des Aberglaubens, nämlich als die Spekulation über derselben, und nun verlangt, dass damit gründlich aufgeräumt werde. Ein solcher Ganzer war Schleiermacher nicht. Man hat wieder Recht, wenn man mit Hengstenberg, der die heutige Feier mit dem ganzen Hass eines Fanatikers in Acht und Bann erklärt, die Restauration abgelebter kirchlicher Begriffe und Satzungen für das wahre Wesen der Religion nimmt. Ein Ganzer dieses Schlages war Schleiermacher ebenfalls nicht. Man hat ferner Recht, wenn man wünscht, Schleiermacher möchte als der Speerträger irgend einer theologischen oder philosopischen Schulpartei aus dem Kampfplatz erschienen sein und den theologischen Gegner schonungslos in den Grund gebohrt haben. Uns erscheint es als einer der schönsten

Vorzüge Schleiermacher's, dass er auch den Gegner zu ehren wusste und mit einer seltenen Gabe sich sein System zurechtlegte, um den Punkt aufzufinden, wo seine Berechtigung und sein Wahrheitsgehalt hervortrat. "Das ist mein Glaube", schreibt er an De Wette, "und zwar gerade mein christlicher Glaube, dass ich fest überzeugt bin, ein reines und ernstes Bestreben, vornehmlich über die heiligen Gegenstände des Glaubens sich verbreitend, müsse mit dem glücklichsten Erfolg gekrönt werden; und das ist meine christliche Liebe, dass ich in Jedem, den ich zu achten gedrungen bin, auch das Gute und Schöne aussuche und wirklich sehe, was sich in diesem Augenblick auch nicht äussert und sich vielleicht noch nicht ganz entwickelt hat. Wer aber einen andern Glauben und eine andere Liebe hat, dem will ich sie nicht beneiden." Schleiermacher hat die Gegensätze nie verwischt, aber er suchte nach der höhern Einheit für dieselben. An Schwankungen und Irrthümern fehlt es zwar auch seinem Systeme nicht, aber er ist ganz seinem Wahrheitstrieb gefolgt, er hat ganz gearbeitet; was er weggeräumt und was er aufgebaut, trägt den Stempel des ganzen Mannes.

Wenn man endlich mit jenem Vorwurf sagen will, Schleiermacher habe Glauben und Wissen, Glauben, Wissen und Leben vermittelt, so haben wir bereits ausgeführt, wie gerade dieses seine Grösse, seine Ganzheit, seine Mission ausmacht, wie er scharf auseinanderhielte, was unnatürlich vermengt war, und wie er doch jene höhere Synthese gefunden und jedenfalls gesucht hat, in welcher die höchsten spekulativen Gedanken und die innigsten religiösen Gefühle Eins sind. Und wenn er Sinn und Herz hatte für jede religiöse Eigenthümlichkeit, wenn er den Streit der theologischen Schule dieser überlassen, aber das fromme Bedürfniss der Gemeinde nicht mit Theologie, sondern, wenn auch durch Theologie, mit ächter Frömmigkeit genährt wissen wollte und selbst nährte, obgleich er ein grosser Theologe und Denker war, so denke ich, werden wohl die Meisten unter uns dieser

Vermittlungstheologie ihre Zustimmung nicht versagen. Freilich gilt jener Vorwurf meist den Schülern. Unter diesen sind eine Reihe Namen vom besten Klang. Ich nenne nur Nitzsch, Gass, Lücke, Ullmann, Bleek, Jonas, unter den Schweizern Usteri, Hagenbach und A. Schweizer. Dass freilich Viele den Mantel des Meisters borgten ohne den Geist, und dass Einige in Versuchung kamen, diesen Mantel nach dem Winde zu drehen oder auf demselben über den Strom zu schwimmen an's jenseitige Ufer, das ist eine Erscheinung, die wir nicht nur auf dem Gebiete der Theologie zu beklagen haben. Schleiermacher selbst hat öfter auf's Bestimmteste erklärt, dass er nicht eine Schule habe gründen wollen.

Die Einen sind tiefer berührt von dem Faktor des religiösen Gefühls in der Schleiermacher'schen Theologie und zweigen sich wieder ab in Vertreter des religiösen Subjektivismus, des kirchlichen Individualismus und der theosophischen Mystik. Die Andern haben ihren Ausgangspunkt mehr in dem dialektischen Element der Schleiermacher'schen Theologie genommen und entweder die Resultate seiner Kritik weiter verfolgt oder von seinen positiven Resultaten aus weiter gebaut oder auch Restaurationen unternommen. Eine dritte Hauptgruppe sucht im Sinne des Meisters Glauben und Wissen mit einander zu versöhnen, die Einen, indem sie beide "zu einander stimmen", die Andern, indem sie die Selbstständigkeit und Verschiedenartigkeit beider Mächte anerkennen, allein keinen Dualismus zugeben, sondern die höhere Einheit suchen in dem innersten Wesen und den höchsten Zwecken des einheitlich organisirten Menschengeistes. Dass aber Theologen von verschiedener Richtung in der Ferne und Nähe in dieser Zeit des grossen Meisters und dessen, was sie ihm verdanken, einmüthig gedenken, das scheint mir ein bemerkenswerthes Zeichen nicht der Vieldeutigkeit, wohl aber der Vielseitigkeit und vor Allem der grossen schöpferischen Kraft zu sein, die sich in Schleiermacher Bahn gebrochen und selbst über sein System und seine Leistungen

hinaus mächtig fortwirkt in Gegenwart und Zukunft. Die Gegensätze werden allerdings nicht aufhören und die Waffen werden nicht ruhen; aber über den Streitenden weht ein gemeinsames Panier, welches sie mitten im Streit einigt zu besserem Kampf.

Dieses Panier hat Schleiermacher aufgepflanzt und hochgetragen. Es ist der religiöse Idealismus, welcher, geboren aus dem Geist des Christenthums und auf dem Grunde der Gemeinschaft mit Christo, die sittlichen Realitäten der Welt weiht und bildet zu Bausteinen eines ewigen Gottesreiches der Wahrheit, der Freiheit und der Liebe. Und wenn je im Verlauf der Entwicklung jenes Dilemma uns bedrohen sollte, entweder das Christenthum mit der: Barbarei oder der Unglaube mit der Wissenschaft, wenn je durch irgend eine Gewalt die Güter ernstlich bedroht würden, die allein unser Leben zu einem menschenwürdigen machen, — dann werden sich alle "Mitverschwornen einer bessern Zukunft" uni jene Fahne schaaren, um durch die Macht der Wahrheit dem Glauben und durch die Macht des Glaubens der Wahrheit ihr Recht und ihre Freiheit, ihren Segen und ihren Sieg zu sichern.

In diesem Sinne schliesse ich mit den einst so sehr verdächtigten Worten, welche Schleiermacher den 9. Februar 1820 bei der Feier des Bewaffnungsfestes in Treptow an die Studierenden richtete: "Meine Brüder und Herren, wir leben in einer Zeit des Kampfes und Streites. Auch wir sind nicht unangefochten; rüsten wir uns zum rechten Streit und halten wir uns wehrhaft wider Alles, was uns das Leben und seine Güter verkümmern will."

reden.arpa-docs.ch
Rektorats Reden © Prof. Schwinges
Vol
Rate