Schleiermacher in seiner Bedeutung
für das
religiöse kirchliche und sittliche Leben.
Rektoratsrede gehalten
bei der fünfunddreissigsten Stiftungsfeier der Berner Hochschule
und der Säkularfeier des hundertjährigen Geburtstages
Schleiermacher's,
den 21. November 1868,
Ed. Müller.
Professor der Theologie.
Bern.
Druck von K. J. Wyss.
1868.
Separatabdruck aus Nr. 48-50 der "Sonntagspost" von 1808.
Hochverehrte Versammlung!
Es bedarf wohl kaum der Rechtfertigung, dass wir dieses
Jahr die Stiftungsfeier unserer Hochschule auf den heutigen
Tag verlegt haben, um im Verein mit den schweizerischen
und deutschen Universitäten den hundertjährigen Geburtstag
Friedrich Schleiermacher's zu feiern. Mit
der Stiftung unserer Hochschule ist diese auch eingetreten in
die Geschichte des akademischen Lebens; sie hat damit Theil
erhalten an seinen lichten Höhepunkten, seinen bahnbrechenden
Heroen, den grossen Lehrern der akademischen Jugend
und ihren Schöpfungen. Sie hat mit diesem Gut die Pflicht
übernommen, es in Ehren zu halten und sich dankbar mitzufreuen,
wo ein Glied wird herrlich gehalten. Schon dass
Schleiermacher an der Gründung und Organisation der
Universität Berlin einen massgebenden Antheil hatte, dass er
den Grundsatz zur Geltung brachte, die Universität müsse
der Herd und Hort freier Wissenschaft sein, wenn sie ihre
den Geist befreiende Mission erfüllen wolle, und dass er diesen
Grundsatz mannhaft aufrecht erhielt und durchfocht auch in
trüber Zeit: schon dies sichert ihm ein ehrenvolles Andenken
in der Geschichte des akademischen Lebens. Dass ihm ferner:
unter den grossen akademischen Lehrern eine der ersten Stellen
gebührt, dass er ein genialer Meister war in der Beherrschung,
der Verarbeitung und der Mittheilung des Stoffes,
dass er die Jugend zu fesseln, zu begeistern und zu bilden
wusste, wie selten Einer, — das haben auch seine Gegner
willig zugestanden, Und wie er dem Katheder und der
Kanzel, der Familie, den Freunden und dem Vaterlande
ganz angehörte mit ungetheilter Liebe, so hatte er in der
philosophischen und in der theologischen Fakultät Wurzel geschlagen
mit ganzer ungetheilter Geisteskraft. Er hat in
seiner Uebersetzung des Plato dem griechischen Weltweisen die
deutsche Zunge verliehen und dem deutschen Wort den hellenischen
Geist. Er hat der Philosophie, als der Mutter aller
Wissenschaften, ihr Oberhoheitsrecht im Reiche der Wissenschaft
gewahrt. Er hat sich auf's Gründlichste mit den
philosophischen Systemen der alten und neuen Zeit aus einander
gesetzt; er hat durch seine Kritik der ethischen Systeme
die Ethik wissenschaftlich neu begründet; er hat in seiner
Dialektik ein selbstständiges philosophisches System geschaffen;
die Geschichte der Philosophie, die Psychologie, die Aesthetik,
die Politik, die Pädagogik, alle diese Disziplinen, die er
vorgetragen, haben von ihm Anregung und Bereicherung erhalten.
Doch seine eigenthümliche schöpferische Kraft und
seine providentielle Mission bekundete Schleiermacher auf dem
Gebiete der Religion und der Theologie. Als Neander seinen
Zuhörern den Tod Schleiermacher's mit tiefbewegtem Herzen
ankündigte, fügte er hinzu, der Mann sei dahin geschieden,
von dem ab eine neue Epoche der Theologie datiren werde.
Er ist der Vater und Begründer der neuen Theologie; er
hat die Theologie in ihrem Zusammenhang mit der allgemeinen
Wissenschaftslehre und in ihrer Eigenthümlichkeit als
positive Wissenschaft, als einheitlichen Organismus zu durchsichtiger
Darstellung gebracht; er hat nicht nur alle Disziplinen
der Theologie mit Ausnahme der alttestamentlichen
Exegese selbstständig bearbeitet und neue Disziplinen, wie
das Leben Jesu und die kirchliche Statistik, hinzugefügt, er
hat insbesondere der systematischen Theologie einen neuen
Aufbau gegeben, und seine Glaubenslehre wird als das grösste
Meisterwerk der theologischen Wissenschaft seit den Institutionen
Calvin's allgemein anerkannt. "Er steht", wie K. Schwarz
bemerkt, "noch immer im Centrum der nach den verschiedensten
Punkten auslaufenden Radien und ist so sehr eingedrungen
in alle Poren der modernen Theologie, dass die entgegengesetzten
Richtungen — die Extreme moderner Kirchlichkeit
bis zu einem Kliefoth, wie die äussersten Spitzen der Kritik
bis zu Strauss — auf ihn sich stützen und aus ihm schöpfen."
Schleiermacher als religiöser Charakter ist in diesem
Saal bereits vor neun Jahren von meinem verehrten Freund
und Kollegen, Hrn. Prof. Immer, in eingehender, anschaulicher
und geistvoller Weise dargestellt worden. Hieran anknüpfend
möchte ich Ihnen, hochverehrte Anwesende, heute
nicht vorzugsweise den grossen Gelehrten und Denker schildern;
ich möchte, so weit es der enge Rahmen eines akademischen
Vortrages gestattet, auf die Lichtstrahlen hinweisen,
welche von diesem Geiste und seiner Lebensarbeit erleuchtend,
erwärmend und befruchtend auf eine Reihe von Geschlechtern
ausgegangen sind; ich möchte nachweisen, wie aus der stillen,
rastlosen Arbeit ernster Wissenschaft ein fruchtbarer Ertrag
unvergänglicher Wahrheitsschätze hervorgegangen ist für alles
Volk; die Bedeutung Schleiermacher's für das
religiöse, das kirchliche und das sittliche Leben
auch der Gegenwart möchte ich Ihnen in gedrängten Zügen
darstellen.
Schleiermacher erscheint in der Reihe der bahnbrechenden
Geister, welche an der Scheide der beiden Jahrhunderte
in Verbindung mit den weltgeschichtlichen Ereignissen der
französischen Revolution und der Unabhängigkeitserklärung
der nordamerikanischen Freistaaten eine neue Zeit ankündigen
und bringen. Die providentielle Sendung Schleiermacher's
lag auf dem religiösen Gebiet. Hier erscheint er als der
Herold der neuen Zeit, als der prophetische Bürger einer
bessern Zukunft. Zu dieser Sendung ist er nicht nur eigenthümlich
und auf's Reichste begabt, auch alle seine Lebensverhältnisse
und Schicksale führen ihn in diese Bahn hinein
und halten ihn in derselben fest.
Schon der Naturboden, aus welchem Schleiermacher
erwuchs, war ein religiöser. In seinen Vorfahren väterlicher
und mütterlicher Seite trafen lutherisches und reformirtes
Glaubensleben, hervorragende religiöse Gaben, energische
kirchliche Thätigkeit, Schwärmerei, Mystizismus, Skeptizismus
und das Märtyrerthum der Salzburger Emigration
zusammen. Sein Vater, ein schroffer, biederer, wahrheitsliebender
Mann, war, wie er selbst bekennt, in früheren
Jahren mit derselben Energie ein Prediger des Unglaubens
gewesen, mit welcher er später als Prediger des Glaubens
auftrat. Seiner Mutter, die er früh verlor, einer Frau von
klarem Geist, kindlich frommem Gemüth und aufopfernder
Treue, lag die Erziehung der Kinder beinahe ausschliesslich
ob, da der Vater als reformirtes Feldprediger der schlesischen
Regimenter viel von Hause abwesend war, Als die
Eltern die Brüdergemeinde kennen lernten, wurden sie von
dem in derselben wehenden Geiste der Heilands- und der
Bruderliebe so tief ergriffen und die Einrichtungen, insbesondere
die Erziehungsanstalten und Grundsätze der Gemeinde
fanden so sehr ihre Zustimmung, dass sie es für das grösste
Glück hielten, ihre Kinder vor den Versuchungen der Welt
in diesem frommen Asyl zu bewahren. Hier durchlebte Schleiermacher
jene schönen Jahre, in welchen sich im kindlichen
Gemüth die ersten Blüthen reiner Frömmigkeit entfalten.
Auf diese Zeit hat er in spätern Jahren stets dankbar zurückgeschaut.
Er bekannte, "dass die mystische Anlage, die ihm
so wesentlich sei und ihn unter allen Stürmen des Skeptizismus
gerettet, sich zuerst in der Brüdergemeinde entwickelt, so
dass, was damals aufgekeimt, sich später ausgebildet habe
und er von sich sagen könne, er sei wieder ein Herrnhuter
geworden, nur nach einer höheren Ordnung." Auf diese
Bildungsstätten seines religiösen Charakters bezieht sich, was
er in seiner ersten Rede über Religion von sich sagt: "Frömmigkeit
war der mütterliche Leib, in dessen heiligem Dunkel
mein junges Leben genährt und auf die ihm noch verschlossene
Welt vorbereitet wurde; in ihr athmete mein Geist, ehe er
noch sein eigenthümliches Gebiet in Wissenschaft und Lebenserfahrung
gefunden hatte."
Allein bald finden wir den heranreifenden Jüngling auf
dem Seminar zu Barby im heissesten Zweifelskampf. Sein
Wahrheitssinn sagt ihm, dass er die übernatürlichen Gnadenwirkungen,
die einen wesentlichen Bestandtheil der Herrnhut'schen
Frömmigkeit bilden, nicht erfahren; sein gesunder
Sinn sträubt sich, sie zu forcieren, den Inhalt der überschwenglichen
Phraseologie kann er nicht fassen, mit wesentlichen
dogmatischen Lehren ist er zerfallen. In einer im
sechsundzwanzigsten Lebensjahre verfassten Selbstbiographie
sagt er: "Meine Begriffe gingen bald so weit von dem
System der Brüdergemeinde ab, dass ich nicht länger glaubte,
mit gutem Gewissen ein Mitglied derselben bleiben zu können."
Er theilt sich offen seinem Vater mit.
Der Briefwechsel des Vaters mit dem Sohn in dieser
Angelegenheit hat etwas Tragisches. Die eindringlichsten
Zureden, Beweise und Wehklagen des Vaters vermögen den
Sohn bei aller Pietät nicht zurückzubringen. Er ist sich bewusst,
dass er zweifelt, nicht aus Mangel an Religion, sondern
aus Religion. Er will prüfen, Alles prüfen, um zu
einer festen, geläuterten Erkenntniss, einem eigenen, frischen
und starken Glauben zu kommen. Es ist innerster, heiligster
Gewissensdrang, der ihn in diese Skepsis treibt.
In Halle, wohin sich Schleiermacher zu seinem Onkel
Stubenrauch begab, welcher dort Professor der Theologie war,
war es besonders das Studium der Entwicklungsgeschichte
des menschlichen Geistes, welches ihn fesselte. Es war ihm
Bedürfniss, die verschiedenen Meinungen und Systeme zu vergleichen
und zu prüfen. Die damals herrschende Aufklärungs-Philosophie
konnte einem so tiefgehenden Geiste keine Befriedigung
gewähren; in den beiden herrschenden theologischen
Richtungen, dem Rationalismus und dem Supranaturalismus,
konnte er die wahre Religion nicht finden; beiden war
die Religion ein Conglomerat von Lehrmeinungen und Geboten,
welche der Rationalismus mit dem Ansehen der
Vernunft, in der Regel aber des platten Verstandes, der
Supranaturalismus mit dem Ansehen einer übernatürlichen
Offenbarung bekleidete. Beide setzten die Religion auf eine
sehr kühle Temperatur, in ein sehr zweideutiges Abhängigkeitsverhältnis
herab. Beide waren schwächliche Apologeten
der Religion. Als Mittel auch der sinnlichen Glückseligkeit,
als Ausklärungsmittel, als Moralisirungs- und Polizeimittel
für die ungebildeten Klassen sollte die Religion vom Gesichtspunkte
des praktischen Nutzens aus sich der Obrigkeit und
dem aufgeklärten Publikum empfehlen. Selbst der ehrwürdige
Spalding glaubte die Nutzbarkeit des Predigtamtes dadurch
stützen zu müssen, dass er die Prediger zu "Depositärs
der öffentlichen Moral" im Dienste des Staates promovirte,
zum Zorne Herder's, der erwiderte: "Warum macht man
sie am Ende nicht zu geheimen Finanz- und Polizeibedienten,
zu Bau- und Wasserräthen?"
In Drossen, wohin Schleiermacher seinen Oheim, der
die dortige Pfarrei übernommen, begleitete, vertiefte sich
Schleiermacher namentlich in die Werke von Kant. Sein
Vater, der ihm wieder in väterlicher Liebe nahe getreten
war, rieth ihm besonders angelegentlich das Studium der
Kantischen Schriften an Er solle nun Alles thun, um der
Wahrheit auf den Grund zu kommen. Und Schleiermacher
hat redlich diesen Rath befolgt.
So war denn die religiöse Skepsis wie bei allen
tiefer angelegten religiösen Naturen auch bei Schleiermacher
der zweite wesentliche Faktor seiner religiösen Charakterbildung.
Mit Beziehung hierauf fährt er in der bereits
angeführten Stelle seiner ersten Rede fort: "Frömmigkeit
half mir, als ich anfing, den väterlichen Glauben zu sichten
und Gedanken und Gefühle zu reinigen von dem Schutte
der Vorwelt; sie blieb mir, als auch der Gott und die Unsterblichkeit
der kindlichen Zeit sich dem zweifelnden Auge
verloren," Hiezu kam die Noth des Lebens, welche so viele
der grössten Männer grossgezogen und von welcher der vom
Glück so verwöhnte Dichter zu preisen weiss:
"Wer nie sein Brod mit Thränen ass,
Wer nie die kummervollen Nächte
Auf seinem Bette weinend sass,
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte."
Als Schleiermacher in Berlin sein theologisches Examen
bestanden, brachte er drei Jahre in Schlobitten als Hauslehrer
in der gräflichen Familie Dohna-Schlobitten zu. Hier
wurde sein Sinn für edle Geselligkeit und ein von seiner
und doch freier Sitte und ungeschminkter Frömmigkeit durchwehtes
Familienleben angeregt und gebildet.
1794 finden wir ihn als Pfarrgehülfen eines Verwandten
in Landsberg an der Warthe, 1796 als Prediger
an der Charité in Berlin. Hier wurde er bald in dem
geistreichen, lebensfrohen, von der Begeisterung der Romantik
berauschten Kreise einheimisch, der sich um Henriette
Herz, die geistreiche Gemahlin eines jüdischen Arztes, sammelte
. Er trat mit einer Anzahl der hervorragendsten
Männer in nähere Bekanntschaft, und insbesondere schloss
er mit Henriette Herz und Friedrich Schlegel einen innigen
Freundschaftsbund. Das Verhältniss Schleiermacher's zur
Romantik, so sehr es ihn in Berührung mit der Welt brachte
und so grosse Gefahren es in sich barg, war ferner einer
der wesentlichen Faktoren, welche die Bildung seines religiösen
Charakters bestimmten. Nicht nur, dass diess frische
geistige Leben ihn mächtig anregte und die Anerkennung
und Freundschaft, die er fand, sein Selbstvertrauen weckte
und seinem nach Freundschaft hungernden Gemüthe die tiefste
Befriedigung gewährte, — die Rücksichtslosigkeit, mit welcher
die Romantik die nüchterne, seichte Verstandes-Aufklärung
und Moral mit ihrem Zopf verurtheilte, und die Mittel
des Gemüthes und des Geistes, mit welchen sie ein neues
Geistesleben für das nahende neue Jahrhundert wach zu
rufen suchte, bestärkten den Glauben Schleiermacher's, dass
unter diesen Mitteln die Religion das verkannteste und doch
das gewaltigste sei, und dass er berufen, als ihr Herold sie
in den todten Herzen ihrer Verächter wach zu rufen. Mit
Beziehung hierauf schliesst Schleiermacher in der angeführten
Stelle seine Rechtfertigung, über die Religion als ein Religiöser
zu reden, mit den Worten: "Frömmigkeit leitete mich
absichtslos in das thätige Leben; sie zeigte mir, wie ich mich
selbst mit meinen Vorzügen und Mängeln in meinem ungetheilten
Dasein heilig halten sollte, und nur durch sie habe ich
Freundschaft und Liebe gelernt." Und kurz vorher in derselben
Rede sagt er, um dem Vorurtheil zu begegnen, dass er als
Geistlicher im Interesse seines Standes die Religion vertrete:
"Als Mensch rede ich zu euch von den heiligen Geheimnissen
der Menschheit nach meiner Ansicht, von dem, was in mir
war, als ich noch in jugendlicher Schwärmerei das Unbekannte
suchte; von dem, was seitdem ich denke und lebe, die
innerste Triebfeder meines Daseins ist und was mir auf
ewig das Höchste bleiben wird, auf welche Weise auch noch
die Schwingungen der Zeit und der Menschheit mich bewegen
mögen. Und dass ich rede, rührt nicht her aus irgend
einem vernünftigen Entschlusse, auch nicht aus Hoffnung
oder Furcht, noch geschieht es aus sonst irgend einem willkürlichen
oder zufälligen Grunde; vielmehr ist es die reine
Nothwendigkeit meiner Natur; es ist mein göttlicher
Beruf; es ist das, was meine Stelle in der Welt bestimmt
und mich zu dem macht, der ich bin."
So finden wir denn in dem Wesen, dem Entwicklungsgang
und der Bildung Schleiermacher's jene epochemachende
That begründet, durch welche er seinen göttlichen Beruf
und seine providentielle Bedeutung für das religiöse Leben
der neuen Zeit beurkundete. Seine Reden über die
Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern,
welche er bei einem kurzen Aufenthalt in Potsdam ausarbeitete
und welche 1799 erschienen, waren ein Ereigniss
von durchgreifender Tragweite. Selbst ein Zaremba und
ein Claus Harms bekannten, dass sie von denselben einen
Anstoss zu ewiger Bewegung empfangen hätten. Der Grundgedanke
ist wie bei allen grossen Schöpfungen ein sehr einfacher.
Was ihr als Religion verachtet, ist nicht diese selbst,
es ist das Zerrbild, welches menschliche Weisheit und menschliche
Thorheit an ihre Stelle gesetzt; es ist ein oft mühsam
und wunderlich genug zusammengenähtes Kleid von allerlei
Wissen und mancherlei Praxis, das man ihr ohne und wider
ihren Willen angezogen und das man nun für sie selbst
ausgibt. Die Religion ist nicht von Aussen her dem Menschen
eingeimpft, nicht ein von Gott oder Menschen ihm
bloss äusserlich angehängtes Beiwerk, — sie ist nicht ein
Wissen oder ein Thun, ein System oder eine Praxis, Lehre
oder Kunst, sie ist am allerwenigsten bloss ein für den Staat
nutzbares Mittel, — ja sie ist auch nicht Theologie — es
gebührt ihr vielmehr die Würde eigener und vollständiger
Selbstständigkeit, —sie gehört zum innersten Wesen des
Menschen, zu den heiligsten Erfahrungen, die dem Menschen
über sich selbst zu Theil werden, zu dem, was erst den
Menschen zum Menschen macht, — ja sie ist das Ursprüngliche,
Göttliche im Menschen, der göttliche Lebensquell,
welcher im innersten Heiligthum des Gemüthes aufquillt und
den endlichen Menschen mit der Fülle des Unendlichen überströmt,
die in den geheimnissvollen Tiefen des Gemüths verborgene
Lebenswurzel, aus welcher das seitliche Sein des
Badenschen die Nahrung des Ewigen empfängt und Eins
wird und sich Eins weiss mit dem Ewigen mitten in der Zeit.
Heben wir nur wenige bezeichnende Stellen hervor.
Am Schluss seiner ersten Rede sagt Schleiermacher: "Dass
die Frömmigkeit aus dem Innern jeder bessern Seele nothwendig
von selbst entspringt, dass ihr eine eigene Provinz
im Gemüthe angehört, in welcher sie unumschränkt herrscht,
dass sie es würdig ist, durch ihre innerste Kraft die Edelsten
und Vortrefflichsten zu beleben und ihrem innersten Wesen
nach von ihnen aufgenommen und erkannt zu werden: das
ist es, was ich behaupte und was ich ihr gern sichern
möchte." "Die Vervollkommnung der Glaubenslehren und
der Systeme ist oftmals eher Alles, nur nicht Vervollkommnung
der Religion; ja nicht selten schreitet jene fort ohne
die geringste Gemeinschaft mit dieser. — Was sind doch
diese Lehrgebäude für sich betrachtet anders als Kunstwerke
des berechnenden Verstandes, worin jedes einzelne seine Haltung
nur hat in gegenseitiger Beschränkung? oder gemahnen
sie euch anders, diese Systeme der Theologie, diese Theorien
vom Ursprung und Ende der Welt, diese Analysen von der
Theorie eines unbegreiflichen Wesens, worin Alles auf ein
kaltes Argumentieren hinausläuft und auch das Höchste nur
im Tone eines gemeinen Schulstreites kann behandeln werden?
Und diess wahrlich, ich berufe mich auf euer eigenes Gefühl,
ist doch nicht der Charakter der Religion." "Aber warum
seid ihr nicht tiefer eingedrungen bis zu dem, was das
Innere dieses Aeusseren ist? — Warum betrachtet ihr nicht
das religiöse Leben selbst? jene frommen Erhebungen des
Gemüthes vorzüglich, in welchen alle andern euch sonst bekannten
Thätigkeiten zurückgedrängt oder fast aufgehoben sind
und die ganze Seele aufgelöst in ein unmittelbares Gefühl
des Unendlichen und Höhern und ihrer Gemeinschaft mit
ihm?" — Und in der zweiten Rede: "Die Betrachtung des
Frommen ist nur das unmittelbare Bewusstsein von dem
allgemeinen Sein alles Endlichen im Unendlichen und durch
das Unendliche, alles Zeitlichen im Ewigen und durch das
Ewige. Dieses Suchen und Finden in Allem, was lebt
und sich regt, in allem Werden und Wechsel, in allem Thun
und Leiden, und das Leben selbst im unmittelbaren Gefühl
nur haben und kennen als dieses Sein, —- das ist Religion.
Ihre Befriedigung ist, wo sie dieses findet; wo sich dieses
verbirgt, da ist für sie Aengstigung und Hemmung, Noth
und Tod. Und so ist sie freilich ein Leben in der unendlichen
Natur des Ganzen, im einen und allen, in Gott,
habend und besitzend Alles in Gott und Gott in Allem." —
"Vergesst nur nicht, dass die wissenschaftliche Behandlung
der Religion, das Wissen um sie nicht sie selbst ist, und
dass dieses Wissen als die Beschreibung des Gefühls unmöglich
im gleichen Range stehen kann mit dem beschriebenen
Gefühle selbst. Vielmehr kann dieses in seiner vollen Gesundheit
und Stärke Manchem innewohnen, wie denn fast
alle Frauen Beispiele hievon sind, ohne dass es besonders
in Betrachtung gezogen werde; und ihr dürft dann nicht
sagen, dass Frömmigkeit fehle und Religion, sondern nur
das Wissen darum. — Wenn Jemand die Grundsätze und
Begriffe (über Religion) noch so vollkommen versteht, weiss
aber nicht und kann nicht aufzeigen, dass sie aus den Aeusserungen
seines eigenen Gefühls in ihm selbst entstanden und
ursprünglich sein eigen sind, so lasst euch ja nicht überreden,
dass ein solcher fromm, und stellt mir ihn nicht als einen
solchen dar; denn seine Seele hat nie empfangen auf dem
Gebiete der Religion, und seine Begriffe sind nur untergeschobene
Kinder, Erzeugnisse anderer Seelen, die er im Gefühl
der eigenen Schwäche adoptirt hat."
So finden wir überall denselben Grundgedanken: die Religion
ist selbstständig für sich, sie ist nicht das Wissen um die
Religion, nicht eine Tochter der Theologie oder Spekulation;
diese hat vielmehr auf die Religion zurückzugehen, sie in
ihrem eigensten Wesen zu erkennen, an diesem ihre Begriffe
und Prinzipien über die Religion zu rechtfertigen, und nicht
von einem von auswärts hergeholten Begriff die Religion zu
konstruieren und zu machen. Sie ist aber auch nicht selbst ein
Wissen, sonst fällt sie zurück in Mysticismus und leere
Mythologie. Sie ist auch nicht ein Handeln; vielmehr das
Handeln des Frommen empfängt seine Impulse aus seiner
Frömmigkeit: "der wahrhaft Fromme wird auch sittlich sein
und der wahrhaft Sittliche fromm; der wahrhaft Wissende
wird fromm sein und der Fromme wohl unwissend sein
können, aber nie falsch wissend, denn sein Sein ist ein
wahres Sein, welches auch wahres Sein erkennt."
Von diesem Gesichtspunkt aus prüft nun Schleiermacher
auch die traditionellen dogmatischen Begriffe über Offenbarung,
Wunder, Weissagung, Inspiration und bildet sie um
ja selbst die von der gangbaren Zeitphilosophie der Religion
substituirten Begriffe Gott und Unsterblichkeit will er als
Begriffe nicht verwechselt wissen mit der Religion selbst.
Aus demselben Grunde erklärt sich Schleiermacher gegen die
sogen. "natürliche Religion." Sie ist nach seinem Urtheil
gewöhnlich so abgeschliffen und hat so philosophische und
moralische Manieren, dass sie wenig von dem eigenthümlichen
Charakter der Religion durchschimmern lässt, "während dagegen
jede positive Religion gar starke Züge und eine markierte
Physiognomie hat, so dass sie bei jeder Bewegung
unfehlbar an das erinnert, was sie eigentlich ist. Wenn ihr
sie an ihrer Quelle und ihren ursprünglichen Bestandtheilen
nach untersucht, so werdet ihr finden, dass alle die todten
Schlacken einst glühende Ergiessungen des innern Feuers
waren, das in allen Religionen enthalten ist." In jedem
religiösen Menschen wird die allgemeine Religion individuell
und daher positiv. Dass das Christenthum die Religion
selbst als Stoff für die Religion verarbeitet und so gleichsam
eine höhere Potenz derselben ist, das macht das Unterscheidendste
seines Charakters, das bestimmt seine ganze Form.
Weil es ein ungöttliches Wesen als überall verbreitet voraussetzt,
weil dieses ein wesentliches Element des Gefühls ausmacht,
auf welches alles Uebrige bezogen wird, ist es durch
und durch polemisch und sein Ziel eine unendliche Heiligkeit.
Es verlangt die Religion als ein continuum als die herrschende
Grundstimmung des Gemüthes, welche den Menschen
in allen Momenten seines Daseins bestimmt. Und in Beziehung
auf den Stifter des Christenthums sagt Schleiermacher:
"wenn ich das heilige Bild dessen betrachte, der
der erhabene Urheber des Herrlichsten ist, was es bisher gibt
in der Religion, so bewundere ich nicht die Reinigkeit seiner
Sittenlehre, die doch nur ausgesprochen hat, was alle
Menschen, die zum Bewusstsein ihrer geistigen Natur gekommen
sind, mit ihm gemein haben; ich bewundere nicht
die Eigenthümlichkeit seines Charakters, die innige Vermählung
hoher Kraft mit rührender Sanftmuth, das Alles sind
nur menschliche Dinge; aber das wahrhaft Göttliche ist die
göttliche Klarheit, zu welcher die grosse Idee, welche darzustellen
er gekommen war, sich in seiner Seele ausbildete, die
Idee, dass alles Endliche einer höhern Vermittlung bedarfe
um mit der Gottheit zusammenzuhängen, und dass für den
von dem Endlichen und Besondern ergriffenen Menschen,
dem sich nur gar zu leicht das Göttliche selbst in dieser Form
darstellt, nur Heil zu finden ist in der Erlösung. — Das
Bewusstsein seines Wissens um Gott und Seins in Gott,
von der Ursprünglichkeit der Art, wie es in ihm war, und
von der Kraft derselben, sich mitzutheilen und Religion aufzuregen,
war zugleich das Bewusstsein seines Mittleramtes
und seiner Gottheit. Als er verlassen, im Begriff auf
immer zu verstummen, jenes Ja aussprach, das grösste Wort,
das je ein Sterblicher gesagt hat: so war diess die herrlichste
Apotheose, und keine Gottheit kann gewisser sein als die,
welche so sich selbst verkündigt."
Durcheilen wir nun rasch einen Zeitraum von mehr
als zwanzig Jahren. Schleiermacher's Reden über die Religion
hatten ihm den Vorwurf des Pantheismus, des Spinocismus,
des Atheismus, des Mysticismus, der Schwärmerei
zugezogen; sein Umgang mit seinen jüdischen Freunden und
Friedrich Schlegel ihn sittlich verdächtig gemacht. Sein
väterliche Freund, der Bischof Sack, schrieb ihm einen
feierlichen Absagebrief. Schleiermacher zog sich als Prediger
nach Stolpe zurück, wo er zwei Jahre voller Arbeit und innerer
Kämpfe durchlebte. Im Begriff, einem Rufe nach
Würzburg zu folgen, liess er sich für Halle gewinnen;
es schliessen sich ihm gerade die geistigsten und strebsamsten
Studierenden an. Hier verfasste er auch um Weihnacht 1805
jenes anmuthige, tiefsinnige Gespräch, die "Weihnachtsfeier", .
in welchem die Vertreter der verschiedenen theologischen Richtungen
friedlich um den Weihnachtsbaum versammelt ihre
Meinungen über die Geburt und die Bedeutung Christi austauschen,
und in welchem offenbar Ernst die Ansicht Schleiermacher's
ausspricht: die innige Gemeinschaft mit dem Erlöser
sei das Wesen der christlichen Frömmigkeit, — wo diese sei,
da sei auch die freieste, kritische Stellung zu der geschichtlichen
Erzählung möglich.
Nach der Schlacht von Jena kommt Halle an das
neugebildete Königreich Westphalen; Schleiermacher siedelt
nach Berlin über; wir finden ihn in den Reihen der wackersten
Patrioten; er wird Prediger an der Dreifaltigkeits-Kirche,
Professor der neu gestifteten Universität, Mitglied und später
Sekretär der Akademie; er gründet einen eigenen glücklichen
Hausstand; wir finden ihn vertieft in die mannigfachsten
wissenschaftlichen Arbeiten; er ist in beinahe allen theologischen
Fachwissenschaften als Meister einheimisch; bei der Erhebung
des deutschen Volkes steht er in den vordersten Reihen —
er begrüsst freudig die Union. Doch bald ist er in theologische,
kirchliche und politische Streitigkeiten verwickelt; seine
Hoffnungen auf bessere Zustände sind gesunken, allein er
bleibt rüstig, muthig, fest, — da, —auf der Höhe seines
Lebens, als er bereits das fünfzigste Lebensjahr überschritten —
erscheint (1821, 22) sein Hauptwerk: "Der christliche
Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen
Kirche im Zusammenhange dargestellt."
In diesem Meisterwerke nun treten dieselben Grundanschauungen
hervor, wie in den Reden über die Religion,
nur gereinigt, vertieft und in ihrer bestimmten Beziehung
zu Christo und dem Glauben der Kirche. Mit meisterhafter
Dialektik werden "sichere gerade Linien gezogen", und in fein
gegliedertem, schwungvollem architektonischem Aufbau tritt
der Grundgedanke in all' seinen Momenten durchsichtig hervor.
Der in den Reden für die Konstruktion der Religionswissenschaft
aufgestellte Grundsatz, dass diese im Wesen der
Religion ihren Ausgangspunkt zu nehmen habe, ist scharf,
sicher und allseitig durchgeführt.
Heben wir auch hier einige der wesentlichsten Sätze
hervor. Das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit wird
dahin bestimmt, "dass wir uns unserer selbst als schlechthin
abhängig, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung
mit Gott bewusst sind." Die Frömmigkeit gehört zu den
Grundthatsachen des menschlichen Bewusstseins; sie ist selbstständig,
sie ist innere Erfahrung und Anschauung, ihr Organ
der Glaube. Alle dogmatischen Lehrsätze haben ihren Gehalt
an dem religiösen Grundbewusstsein zu erhärten, die christlichen
dogmatischen Lehrsätze an dem durch Christum bestimmten
frommen Bewusstsein. Die christliche Glaubenslehre
hat daher die frommen Gemüthszustande als Produkt
Christi und seines Geistes zu beschreiben. Das Christenthurn
ist seinem Wesen nach Erlösungsreligion; es gipfelt in dem
Gegensatz der Sünde und der Gnade; die Aufhebung der
Sünde als Grundbedingung der Gemeinschaft mit Gott ist
sein Ziel. Es ist teleologische Religion, Die Erscheinung
des Erlösers in der Geschichte als göttliche Offenbarung ist
weder etwas schlechthin Uebernatürliches, noch etwas schlechthin
Uebervernünftiges; im Christenthum ist Alles übervernünftig
und Alles vernünftig, —übervernünftig, "weil eine
wahre Aneignung der christlichen Sätze nicht auf wissenschaftliche
Weise erfolgen kann, sondern nur erfolgt, sofern Jeder
selbst hat wollen die Erfahrung machen, wie ja alles Einzelne
und Eigenthümliche nur kann durch die anschauenwollende
Liebe aufgefasst werden"; —vernünftig, "weil die Sätze der
christlichen Lehre denselben Gesetzen der Begriffsbildung und
Verknüpfung unterworfen sind, wie alles Gesprochene."
Mittelpunkt des christlichen Glaubens ist Jesus als der Erlöser;
der Glaube an ihn daher Grundbedingung und Wesen
der christlichen Frömmigkeit. Seine Einzigkeit besteht darin,
dass er als der Sündlose und schlechthin Vollkommene der
Erlöser ist, dass in ihm die Gnade als Aufhebung der:
Sünde und Schuld geschichtliches Dasein, persönliches Leben
geworden, dass in seiner Person das Urbild der Menschheit,
die Menschennatur wie Gott sie gewollt, vollkommen verwirklicht
worden und jeder geschichtliche Moment seines
Lebens das Urbildliche in sich trägt. "Der Erlöser ist allen
Menschen gleich durch die Selbigkeit der menschlichen Natur,
von allen aber unterschieden durch die stetige Kräftigkeit
seines Gottesbewusstseins, welche ein eigentliches Sein Gottes
in ihm war." Beide aber, das Menschliche und das Göttliche,
sind in ihm Eins. "Der Erlöser nimmt die Gläubigen
in die Kräftigkeit seines Glaubensbewusstseins auf, und diess
ist seine erlösende Thätigkeit. Er nimmt sie in die Gemeinschaft
seiner ungetrübten Seligkeit auf, und das ist seine
versöhnende Thätigkeit." Der Glaube ist die Aneignung der
Vollkommenheit und Seligkeit Christi. Der Akt des Glaubens
an ihn ist ein sittlicher Akt; das Verhältniss der Wiedergebornen
zu Christo ist zwar geheimnissvoll, hat aber
nichts Magisches; — Theil an der Gnade erhält nur, in
welchem Christus eine Gestalt gewinnt, welcher das Urbildliche,
das er von ihm in sich aufgenommen, nun auch als
neues Leben in seinem Leben auswirkt. "Der heilige Geist
ist die Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen
Natur in der Form des das Gesammtleben der
Gläubigen beseelenden Gemeingeistes." Dieses vom heiligen
Geist beseelte Gesammtleben ist die christliche Kirche; — die
Kirche ist daher nicht ein theokratisches, ein politisches oder
ein theologisches Institut, sondern die Gemeinschaft Aller,
deren Gemeingeist der Geist Christi ist. "Dadurch, dass die
Kirche sich aus der Welt nicht bilden kann, ohne dass auch
die Welt einen Einfluss aus die Kirche ausübt, begründet
sich für die Kirche selbst der Gegensatz zwischen der sichtbaren
und der unsichtbaren Kirche; die erste ist eine getheilte,
die andere aber ungetheilt eine, die erste ist immer dem
Irrthum unterworfen, die andere aber untrüglich. Alle
Irrthümer, welche sich in der sichtbaren Kirche erzeugen,
werden durch die in derselben immer fortwirkende Wahrheit
aufgehoben. Die Pflanzung und Verbreitung der christlichen
Kirche ist Gegenstand der göttlichen Weltregierung, in welcher
sich uns die göttliche Ursächlichkeit darstellt als Liebe und
als Weisheit."
Was der christlichen Glaubenslehre Schleiermacher's
ihren divinatorischen Charakter und ihre bahnbrechende Bedeutung
gibt, das ist zunächst ihre wissenschaftliche Methode.
Sie stellt ab auf die Thatsache des christlich frommen Bewusstseins
als auf den sichern, unantastbaren, selbstständigen
Punkt. Diese Thatsache hat nicht erst die Wissenschaft oder
die Dogmatik gegeben; sie ist unabhängig von jedem, wenn
auch noch so gangbaren oder traditionell kanonisierten Begriff;
vielmehr hat die Wissenschaft jene Thatsache anzuerkennen
und ihrem Wesen nach zu entwickeln und darzustellen.
Die Theologie ist nicht die Mutter der Religion, sie ist einfach
die Wissenschaft von der Religion als einer Thatsache,
die vor ihr und ohne sie da ist. "Niemals", schreibt Schleiermacher
in seinem zweiten Sendschreiben an seinen Freund
Lücke, "niemals werde ich mich dazu bekennen können, dass
mein Glaube an Christum von der Philosophie her sei.
Der Begriff Gottes und des Menschen, das ist freilich ein
köstliches Kleinod, aber nur wenige können es besitzen, und
ein solcher Privilegierter will ich nicht sein in der Gemeine,
dass ich unter Tausenden den Grund des Glaubens allein
habe." — "Wenn die Reformation, aus deren ersten Anfängen
unsere Kirche hervorgegangen ist, nicht das Ziel hat,
einen ewigen Vertrag zu stiften zwischen dem lebendigen
christlichen Glauben und der nach allen Seiten frei gelassenen,
unabhängig für sich arbeitenden wissenschaftlichen Forschung,
so leistet sie den Bedürfnissen unserer Zeit nicht Genüge.
Meine Ueberzeugung aber ist, der Grund zu jenem Vertrag
sei schon damals gelegt, und es thue nur Noth, dass wir
zum bestimmten Bewusstsein unserer Aufgabe kommen, um
sie zu lösen."
Und gewiss, wenn diese Schleiermacher'sche Anschauung
vom Verhältniss der Wissenschaft zum Glauben durchschlägt,
— und diess wird geschehen, —so wird nicht nur manch'
unerquicklicher Hader der Theologie mit der Wissenschaft und
manch' unerbaulichen Hausstreit der Theologen unter einander
verstummen, sondern ächte Frömmigkeit und ächte Wissenschaft
ihres eigenthümlichen Lebens — jede in ihrem Gebiet —
und beide dann auch ihrer gegenseitigen Beziehungen wieder
froh werden.
Der zweite grosse Fortschritt der Schleiermacher'schen
Glaubenslehre ist die durch dieselbe vollzogene Ueberwindung
der beiden herrschenden, sich gegenseitig bekämpfenden theologischen
Hauptrichtungen, des Rationalismus und des
Supranaturalismus. Beide sind nach Schleiermacher im
Grunde nicht Gegensätze, da der eine sich auf die Begebenheiten,
der andere auf die Erkenntnisquelle bezieht; beide
laufen im Grund auf dasselbe hinaus, nämlich statt der
christlichen Frömmigkeit als Leben blosse Lehren zu statuiren,
und statt des Glaubens ein blosses Fürwahrhalten dieser
Lehren. Bei beiden kommt das spezifische Wesen des Christenthums
zu kurz, — dort sein idealer, hier sein historischer
Gehalt, — dort kulminiert dasselbe im weisen tugendhaften
Landrabbiner, hier im unnahbaren dogmatisch formulierten
Gott, in einem doketischen Gespenst.
Vor Allem aber ist 's die Leistung selbst, welche der
Schleiermacher'schen Glaubenslehre eine so hohe Bedeutung
verleiht. Er hat das von ihm aufgestellte Princip mit der
grössten wissenschaftlichen Energie durchgeführt; er hat nach
demselben die kirchlichen Dogmen einer scharfen, durchgreifenden
Kritik unterworfen; er hat rücksichtslos beseitigt, was
sich als unwesentlich, als Trübung, als Auswuchs erwies;
er hat aber zugleich mit hingebender Liebe und schöpferischer
Genialität aufgebaut und neu gebaut; er hat die Wahrheitssubstanz
des Dogma's vom Schutte gereinigt und herausgebildet
zu klaren, festen Begriffen; er hat für das christlich
fromme Bewusstsein der Gemeinde der Gegenwart und der
kommenden Geschlechter den wesentlichen Gehalt des Christenthums
nach protestantischer Anschauung zu einem hellen und
tiefen Ausdruck gebracht. Er konnte mit vollem Recht an
Lücke schreiben: "Nun wohl — es sei meine Behandlung der
Kirchenlehre immerhin heterodox; aber ich bin fest überzeugt,
es ist jene divinatorische Heterodoxie, die schon noch zeitig
genug, wenn auch nicht gerade durch mein Buch und wenn
auch erst lange nach meinem Tode, orthodox werden wird."
Und im Hinblick auf die Entwicklung der Naturwissenschaften,
die Forschungen der historischen Kritik, die Raschheit der
Mittheilung der wissenschaftlichen Resultate auch an die
Massen — und die Stellung der herkömmlichen kirchlichen
Dogmatik diesen Mächten gegenüber, konnte er im zweiten
Sendschreiben an Lücke mit prophetischem Blicke sagen:
"Was soll dann werden, lieber Freund? Ich werde
diese Zeit nicht mehr erleben, sondern kann mich ruhig
schlafen legen. Aber Sie, mein Freund, und Ihre Altersgenossen,
so viele deren mit uns gleichen Sinnes sind, was
gedenken Sie zu thun? Wollt Ihr euch dennoch hinter
diesen Aussenwerken verschanzen und von der Wissenschaft
blokiren lassen? Das Bombardement des Spottes will ich
für nichts rechnen, — aber die Blokade? die gänzliche Aushungerung
von aller Wissenschaft, die dann, nothgedrungen,
weil ihr euch so verschanzt, die Fahne des Unglaubens aufstecken
muss! Soll der Knoten der Geschichte so auseinandergehen —
das Christenthum mit der Barbarei und die Wissenschaft
mit dem Unglauben? Viele freilich werden es so
machen; die Anstalten dazu werden schon stark genug getroffen
und der Boden hebt sich schon unter unsern Füssen,
wo diese düstern Larven auskriechen wollen, von enggeschlossenen
religiösen Kreisen, welche alle Forschung ausserhalb
jener Umschanzungen eines alten Buchstabens für satanisch
erklären. Aber diese können doch nicht ausersehen sein zu
Hütern des heiligen Grabes, und ich kann mir Sie und
unsere gemeinschaftlichen Freunde und deren Schüler und
Nachfolger nicht unter ihrer Zahl denken."
Einem so tief angelegten und so klar durchgebildeten
religiösen und theologischen Charakter musste aber auch eine
hervorragende Bedeutung für das kirchliche Leben
zukommen. Diese Bedeutung möchte ich Ihnen, hochverehrte
Versammlung, um Sie nicht zu ermüden, nur in wenigen
Zügen vergegenwärtigen. Dass Schleiermacher mit dem akademischen
Amt zugleich das Predigtamt bekleidete, und dass er
als Katechet, als Seelsorger und insbesondere als Prediger
ebenfalls eine ausgezeichnete und reich gesegnete Stellung
einnahm, ist bekannt. Er hatte das akademische Lehramt
nicht gesucht, und zu seinen Lieblingswünschen gehörte, seine
letzten Lebensjahre auf einer stillen Pfarre zubringen zu
können. Wenn er in seinen Reden über die Religösen verlangt,
dass die religiöse Rede mit dem besten, des erhabenen
Gegenstandes würdigen Schmuck einherschreite, so hat er
selbst diese Forderung im Sinn des äussern Redeschmuckes,
der rhetorischen Effekte und Pointen nicht erfüllt. Und doch
sind seine Predigten mit dem besten Schmuck angethan, mit
der Macht und der Wahrheit der aus der Fülle des Textwortes
und der eigenen Frömmigkeit und innern Ueberzeugung
geschöpften Gedanken. Einfach, in antiker Klarheit, Gemessenheit
und Keuschheit bewegt sich seine Rede, mit dialektischer
Meisterschaft wird der Grundgedanke allseitig entwickelt,
so dass er in der Andacht der Zuhörer sich gleichsam wie
von selbst bildet und um so ungesuchter und wirksamer die
Richtung auf's Leben nimmt. Und diese scheinbar so kalte
Dialektik ist durchweht von der Gluth eines innig frommen
Gemüthes. Die meisten seiner Predigten besitzen wir nur
nach Nachschriften, an welche Schleiermacher vor der Herausgabe
die nachbessernde Hand legte. Es genügten dem
Meister des lebendigen Wortes wenige Stunden der Meditation.
Diese Predigten werden nicht nur in der Geschichte
der Predigt und der Homiletik stets einen ehrenvollen Rang
einnehmen, sie sind auch ein reicher Beitrag zur Entwicklung
wichtiger sittlich religiöser Fragen vom Standpunkt der Gemeinde
aus; — die patriotischen Predigten zugleich ein erhabenes
geschichtliches Denkmal aus jener so denkwürdigen
Zeit, die Predigten über den christlichen Hausstand eine
Perlenreihe, hervorgeholt aus den Tiefen des christlichen
Geistes und der christlichen Gesittung.
Bekannt sind ferner die Verdienste Schleiermacher's um
die Hebung des geistlichen Standes. Er selbst
fühlte sich glücklich fühlte sich in seinem innern Berufe, in
einem schönen, heiligen Berufe als Träger des geistlichen
Amtes. Er hatte von demselben eine ernste, aber sittlich
freie Anschauung. Es war ihm Ernst mit dem allgemeinen
Priesterthum der Gemeinde und ihrer Glieder. Er wollte
von einer besondern klerikalen Kaste nichts wissen; der Geistliche
ist Diener, Organ der Gemeinde, er hat sie als sittlich
religiöser und theologisch gebildeter Charakter in ihren heiligsten
Angelegenheiten zu fördern; es soll ihm kein Gewissenszwang
auferlegt werden, und er soll keinen auferlegen.
Wir hören es seinen Gutachten und seinen vertraulichen
Mittheilungen an, wie ihm das Herz blutet, dass er den
geistlichen Stand vielfach so tief herabgewürdigt sah, auf
der einen Seite so viel Verkommenheit, auf der andern so
viel pfäffisches Wesen, auf der einen Seite so viel Gesinnungslosigkeit
und Servilismus gegenüber den materiellen
Autoritäten, auf der andern Seite so viel Eitelkeit und Hochmuth.
Wir hören es ihm an, wie es ihm Gewissenssache
ist, wie er es für eine seiner ersten Aufgaben hält, mit aller
Kraft dahin zu arbeiten, dass es besser werde. Und er hat
dieser Aufgabe gelebt; bei vielen Täuschungen war es eine
seiner erhebendsten Erfahrungen, dass es besser wurde. Von
Schleiermacher angeregt ist eine grosse Zahl sittlich und
wissenschaftlich tüchtiger, religiös lebendiger und in ihrem
Wirken treuer und gesegneter Schüler ausgegangen. Wenn
auch in unserem Vaterlande eine im Ganzen tüchtigere Generation
von Geistlichen erstanden ist, wir haben es vielfach
den Anregungen Schleiermacher's zu danken, seiner religiösen
Geistigkeit und Lebendigkeit, dem vertiefenden und befreienden
Geist seiner Theologie, dem persönlichen Vorbild, das er
aufgestellt. Eine ansehnliche Schaar von schweizerischen
Jünglingen ist zu seinen Füssen gesessen, — und unter diesen
von den besten, — und wie sie ein besonderes Verständniss
für den grossen Lehrer hatten, so haben sie auch den Saamen
besserer Erkenntniss, den er ausgestreut, zurückgebracht in die
heimatlichen Thäler und hier wieder im Segen ausgestreut.
Daher denn auch heute vieler Olten in unserem Vaterlande
das Andenken Schleiermacher's dankbar gesegnet wird.
Einen tief eingreifenden Antheil hatte Schleiermacher
ferner an der Neugestaltung der Kirchenverfassung.
Bereits 1803 hatte er in einer Schrift: "Zwei unvorgreifliche
Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens"
die Union befürwortet. Die dogmatische und die
gottesdienstliche Differenz begründe die Trennung der beiden
Kirchen nicht; beide Konfessionen hätten in Preussen dieselben
bürgerlichen Rechte; in der Praxis hätten sich beide Kirchen
so genähert, dass kein wesentlicher Unterschied sie trenne.
Aber die Union solle nicht eine dritte Kirche in's Dasein
rufen; nicht eine dogmatische Einigung sein; nicht eine
starre Einerleiheit der Gottesdienstordnung im Gefolge haben;
jeder Kirche, jeder Gemeinde solle ihre Eigenthümlichkeit gelassen
werden; die Union solle sich vollziehen auf Grund
des gemeinschaftlichen Glaubens der evangelischen Kirche .—
Der Unionsgedanke war ein langjähriges Erbtheil des
Hohenzollern'schen Fürstenhauses. Unter der religiösen Begeisterung,
welche die Erhebung des deutschen Volkes durchwehte,
Angesichts des dreihundertjährigen Jubiläums der
Reformation wurde durch Friedrich Wilhelm III. in der
Kabinetsordre vom 27. September 1817 die Union verwirklicht.
Mit derselben fielen nicht nur eine Menge kleinlicher,
das religiöse Gefühl verleihenden Beschränkungen dahin, —
so waren z. B. in Halle Schleiermacher als einem Reformirten
die lutherischen Kanzeln verschlossen, und der König
selbst durfte mit seiner unvergesslichen Gemahlin, der Königin
Louise, nicht gemeinschaftlich das Abendmahl feiern — nicht
nur wurde durch die Union der Grundsatz weitherziger
Duldung und brüderlicher Gemeinschaft unter den Genossen
verschiedener Glaubensbekenntnisse, und zwar nicht aus Mangel
an Religion, sondern aus Interesse an der Religion, durch
die That zu Ehren gebracht, sondern auch das dogmatische
Bewusstsein wurde dadurch zum Segen für das fromme Bewusstsein
erweitert, geläutert und von unwürdigen Fesseln
befreit. Schleiermacher hätte nun freilich gewünscht, die
Union wäre unter Zustimmung der Gemeinden vollzogen
worden; um so mehr drang er darauf, dass die nächste Folge
dieser That, durch welche einzig ihr voller Segen gewahrt
und ausgewirkt werden könne, die Erhebung der Gemeinden
und der Kirche zu kirchlicher Selbstständigkeit sein möchte.
Er arbeitete einen Entwurf für eine kirchliche Repräsentativ-Verfassung
aus, das Laienelement sollte zu der ihm gebührenden
Vertretung kommen, die Synoden sollten nicht blosse
Briefkasten zur Entgegennahme obrigkeitlicher Erlasse sein,
nicht blosse Sprechsääle, in welchen die Theologen allein sich
gegenseitig austauschen, um sich schliesslich in die Haare zu
gerathen und die Minoritäten zu majorisieren, sie sollten unabhängig
vom weltlichen Regiment die Angelegenheiten der
Kirche berathen und diese leiten unter Wahrung des staatlichen
Oberaufsichtsrechtes. In diesem Sinn stellte denn
auch die Berliner Kreissynode, welche Schleiermacher zu
ihrem Präsidenten gewählt hatte, weitgehende Anträge. Allein
diese Antrage wurden "begraben".
Der König hatte die Bearbeitung einer neuen Agende
einer aus seinen Hoftheologen zusammengesetzten liturgischen
Kommission übergeben und betheiligte sich selbst in aufrichtig
kirchlichem Interesse an dieser Arbeit. Er wollte in der
gesammten evangelischen Kirche Preussen's liturgische Uniformität
einführen, und zudem sollten die sogenannten gebundenen
liturgischen Elemente eine grössere, ja eine dominierende
Stellung im Gottesdienst erhalten, unter Schmälerung der
Predigt und des Gesanges. Diese Agende wurde 1821 als
die Kirchenagende für die königlich preussische Armee und
bald darauf als Kirchenagende für die Hof- und Domkirche
zu Berlin eingeführt, nicht ohne die ausgesprochene Absicht,
sie der Gesammtkirche zu oktroyieren. Es erhob sich gegen
diese Absicht eine heftige Opposition; es kam zu Einschüchterungen,
ja selbst zu gerichtlichen Verfolgungen der Widerstrebenden,
während die Lobredner und Gehorsamen, wie der
Bonner Professor Augusti, offiziell belobt und dekoriert wurden,
wie Schleiermacher sagte propter agenda non propter
acta. Da schrieb 1824 Schleiermacher seine Schrift: "Ueber
das liturgische Recht des Landesherrn. Ein theologisches
Bedenken von Pacificus Sincerus." In dieser Schrift
bestreitet Schleiermacher das liturgische Recht des Landesherrn;
es lasse sich weder aus dem Majestätsrecht noch aus
dem kirchlichen Aufsichtsrecht herleiten, es gebühre vielmehr
der Kirche in der Gesammtheit ihrer Gemeinden; es sei daher
auch seine rücksichtslose Anwendung ein Eingriff in das
Recht der Gemeinde und eine Beeinträchtigung der Gewissen.
Der Geist und die Wahrheitsliebe dieser Schrift wurden vom
König selbst anerkannt. Gleichwohl sollte die Angelegenheit
mit Gewalt durchgeführt werden. Die Gegenschrift Marheineke's,
des Kollegen Schleiermacher's, stellt sich nach dem
Hegel'schen System auf den Standpunkt des Territorialismus:
der Staat als die wirklich gewordene Vernunft, als der
Inbegriff der nationalen Machtvollkommenheit, — und das
Staatsoberhaupt als das Organ derselben hätten auch das
Recht, die innern Angelegenheiten der Kirche festzustellen.
Zudem wurden von Marheineke in nicht sehr edler Weise
die Grundsätze seines Kollegen verdächtigt, — die Demokratisirung
und Republikanisirung der Kirche müsse schliesslich
auf Demokratisirung und Republikanisirung des Staates
hinauslaufen, was bei der damaligen Situation eigentlich
sagen wollte, der Gedanke daran schliesse eine Art von hochverrätherischen
Tendenz in sich. Genug, es kam in Berlin
zu einem Protest von zwölf Geistlichen, unter welchen Schleiermacher,
zu einer gerichtlichen Vernehmung, zu polizeistaatlicher
Bemaßreglung der Zwölf mit dem Andeuten, dass sie es
lediglich der besondern Gnade Sr. Majestät zu verdanken
hätten, wenn sie nicht in kriminelle Untersuchung gezogen
würden. Der König war bei diesem Streit so sehr betheiligt,
dass er selbst (1827) in einer anonymen Schrift:
"Luther in Beziehung auf die preussische Agende"
sein Werk vertheidigte, indem er nachwies, dass die angefochtene
Agende ihren wesentlichen Bestandtheilen nach im
Einklange stehe mit den Gottesdienstordnungen Luther's von
1523 und 1526. Obgleich nun Schleiermacher wusste, dass
er in diesem Kampfe als persönlicher Gegner des Königs
und eines seiner Lieblingswünsche erscheine, hatte er doch
den Muth, in seinem "Gespräch zweier selbst überlegenden
Christen" dem königlichen Theologen entgegenzutreten
und offen auszusprechen, dass das weitere Vorgehen
auf der eingeschlagenen Bahn zu einem Bruch führen müsse,
und dass der Zeitpunkt gekommen sein möchte, zur Trennung
von Kirche und Staat und zur Bildung freier Gemeinden
zu schreiten. Es muss dem König nachgerühmt werden, dass
er diese freimüthige Sprache würdigte: der Druck liess nach;
man suchte den Eigenthümlichkeiten der verschiedenen Provinzialkirchen
gerecht zu werden; es kam zu einem Kompromiss,
— und obgleich Schleiermacher sich einzelnen Bestimmungen
in seiner liturgischen Praxis nicht unterwarf, so
liess man ihn doch in Ruhe.
Dass ein Mann, der mit solchem Muthe für die unveräusserlichen
Rechte des religiösen Gewissens eintrat, sich
auch gegen die Knechtung der Gewissen durch Symbolzwang
erklärte, ist selbstverständlich. Die reaktionäre Strömung
arbeitete an dem Gedanken, nicht nur den lutherischen
und reformirten Bekenntnissschriften ein erneutes bindendes
Ansehen zu geben, sondern auch für die unwerte Kirche ein
neues Bekenntniss aufzustellen und die Geistlichen eidlich auf
dasselbe zu verpflichten. Es hatte sich das Gerücht verbreitet,
der König selbst arbeite an einem solchen Symbol.
"Der Tanz möchte noch ärger werden als bei der Agende",
meinte Schleiermacher. Er hatte bereits 1819 in einer besondern
Abhandlung "über den eigenthümlichen Werth und
das bindende Ansehen der symbolischen Bücher" den geschichtlichen
Beweis geliefert, dass der Bekenntnisstrieb der Kirche
in der Regel in solchen Formeln sich ausgedrückt habe, wenn
die Kirche genöthigt gewesen nach Aussen hin dem Staate
gegenüber Zeugniss abzulegen von ihrem Glauben. Hiezu
sei in der Gegenwart kein Grund vorhanden, Man könne
"einen ganzen, uns wohlbekannten und nicht unbedeutenden
Zeitraum nicht wie ungelebt machen, die Charaktere, die er
unserer Geschichtstafel eingegraben, nicht wie mit einem
Schwamme wegwischen, und so auf eine viel leichtere Art als
sonst mit den alten Zügen eines codex rescriptus geschehen
könne, die Schrift des siebenzehnten Jahrhunderts hervorzaubern
und sie uns für unsere eigene anrechnen." Die reformatorischen
Bekenntnissschriften hielt Schleiermacher hoch als
ehrwürdige Denkmale der schöpferischen Anfänge der evangelischen
Kirche und als Erkenntnisquellen der reformatorischen
Grundprinzipien, welche die gesammte kirchliche Entwicklung
bestimmen. Desshalb konnte er auch im Jahre 1830 das dreihundertjährige
Jubiläum der Uebergabe der Augsburgischen
Konfession feiern in einer Reihe von denkwürdigen Predigten,
welche die reformatorischen Grundgedanken eben so tief entwickeln,
als sie sich gegenüber dem Veralteten, Unwesentlichen
und Anstössigen frei erklären und ernst warnen vor jeglicher
Buchstabenknechtschaft.
In diesem Sinne erklärte er sich auch in seinem Sendschreiben
an die Breslauer Theologen Daniel Schultz und
von Cölln, welche sich weigerten an dieser Feier Theil zu
nehmen, weil sie darin, was allerdings in der Absicht des
Kirchenregiments lag, eine unbedingte Zustimmung auch zum
Buchstaben des Symbols erblickten. Insbesondere aber erklärte
sich Schleiermacher gegen die eidliche Verpflichtung.
Der Gewissenlose und Heuchler werde sie leicht nehmen, der
Redliche von Gewissensbedenken gequält werden; eine grössere
Sicherheit für die Lehre der Geistlichen werde dadurch nicht
erreicht, wohl aber Stagnation, Knechtschaft und Heuchelei
und zudem mit dem Eid ein unwürdiges Spiel getrieben.
Der Schwerpunkt der Bedeutung Schleiermacher's für
das kirchliche Leben der Gegenwart und Zukunft liegt aber
in seiner Ansicht über das Verhältniss von Staat und
Kirche. Er ist der Vertreter und Verfechter des sogen.
Kollegialsystems, d. h. der Lehre, dass die Kirche als religiöse
Gemeinschaft selbstständig sei, unabhängig vom Staat,
berechtigt sich durch sich selbst ihrem Wesen nach zu gestalten
und zu leiten. Schleiermacher hat der Kirche, gegenüber der
Ansicht, dass sie lediglich hierarchische, theologische oder politische
Anstalt sei, ihren Gemeinschafts- und Gemeindecharakter
wieder vindicirt. Dieser Grundsatz bestimmte
auch seine ganze kirchliche Haltung dem cäsaro-papistischen
Staatsregiment gegenüber.
Schleiermacher ist tief überzeugt, dass die Vermengung
und Verquickung beider Gebiete, die ihrer Natur nach von
einander geschieden seien, dass die willkürliche Uebertragung
der Verfassung des einen auf das andere, dass die halbweltliche
Kirche und der halbkirchliche Staat, dass der Episkopalismus
und der Territorialismus die Quelle grossen Unheils
seien für Staat und Kirche. Beide Gebiete würden so
durcheinander in ihrer freien Entwicklung gehemmt, und
während ein jedes in seiner Sphäre selbstständig auf das
andere den wirksamsten Einfluss ausüben würde, hinderten
sich beide in ihrer wesentlichen Aufgabe. So bricht er schon
in den Reden über die Religion in den Ausruf aus: "Hätte
man doch nie einen Fürsten in den Tempel gelassen, bevor
er nicht den schönsten königlichen Schmuck, das reiche Füllhorn
aller seiner Gunst und Ehrenzeichen, abgelegt hätte vor
der Pforte!" "Wie das furchtbare Medusenhaupt wirkt eine
solche Konstitutionsakte politischer Präponderanz auf die religiöse
Gesellschaft; alles versteinert sich, wo sie erscheint." "Hinweg
mit jeder solchen Verbindung zwischen Kirche und Staat!
Das bleibt mein catonischer Rathsschluss bis an's Ende."
"Es ist vollkommen meine Ueberzeugung", sagt er in einer
Anmerkung zu seinen Reden in der Ausgabe von 1821, "es
ist vollkommen meine Ueberzeugung, dass es eine der wesentlichsten
Tendenzen des Christenthums ist, Staat und Kirche
völlig zu trennen, — und ich kann eben so wenig als der
Verherrlichung der Theokratie der entgegengesetzten Ansicht
beistimmen, dass die Kirche je länger je mehr im Staat aufgehen
solle." Wir haben bereits bemerkt, wie Schleiermacher
im Begriffe stand, aus der Staatskirche auszutreten. Allein
er war der Ansicht, dass ohne eigentliche Gewissensnöthigung
die Lösung des Verhältnisses nicht gewaltsam durchgeführt,
sondern allmählig angebahnt werden solle; und die einfachste,
der geschichtlichen Entwicklung und den gegebenen Verhältnissen
angemessenste Lösung schien ihm darin zu liegen, dass
der Staat selbst den ersten Schritt thue und unter Wahrung
seines Aufsichtsrechtes der Kirche Unabhängigkeit und selbstständige
Leitung gewähre. Während Schleiermacher früher
die Zersplitterung in eine Mannigfaltigkeit kleiner eigenthümlicher
Gesellschaften nach nordamerikanischem Muster für das
Wünschenswertheste ansah, gestaltete sich ihm später das
Ideal einer freien Kirche in grossem volksthümlichem Styl,
welche allen Eigenthümlichkeiten, Gaben und Heterodoxieen
den freisten Raum lasse und sich nur abwehrend verhalte
gegen Alles, was das eigenthümlich Christliche und Protestantische
grundsätzlich gefährde. Der Schulstreit sei den
Schulen zu überlassen, er gehöre nicht zur Frömmigkeit, im
kirchlichen Heiligthum solle der fromme Gemeingeist walten
und Alle sich verbunden wissen durch den einfachen, wenn
auch theologisch noch so verschieden geformten Glauben an
Christum den Erlöser. So schreibt er an Lücke: "Darüber:
besorge ich keinen Zwiespalt unter uns, dass es weder christlich
ist noch heilsam, die sogenannten Rationalisten, wenn
auch freundlich und mit guter Art aus unserer Kirchengemeinschaft
herauszunöthigen; und es ist schmerzlich, wenn
Männer von mildem Charakter und wohlbegründetem Ansehen
das wahre Interesse der Kirche so weit verkennen, dass
sie sich in einen solchen Angriffskrieg hineinziehen lassen.
Tritt nun eine einseitige Tendenz so stark hervor, als hiebei
geschehen ist, so ist es meine, ich weiss nicht soll ich sagen
Art oder Unart, dass ich aus natürlicher Furcht, das Schifflein,
in dem wir alle fahren, möchte umschlagen, so stark
als es bei meinem geringen Gewichte möglich ist, auf die
entgegengesetzte Seite trete. Und da genügt mir nun nicht
nur irgendwie zu erklären, wie bereitwillig ich meinerseits
bin, die würdigen Männer, die man so nennt, in unserer
Kirchengemeinschaft zu behalten, sondern ich möchte auch gern
zeigen, dass sie mit ihrem guten Recht darin sein und bleiben
können." Und an D. Schultz und v. Cölln: "Ich will lieber
mit allen Rationalisten, die nur ein Bekenntniss zu Christo
zulassen und aus Ueberzeugung fortfahren, sich Christen zu
nennen, auch mit denen, gegen deren Lehrweise ich mich am
bestimmtesten erklärt habe, in einer Kirchengemeinschaft sein,
welche freie Forschung und friedlichen Streit zulässt, als mit
jenen in einer Verschanzung zusammengesperrt, welche der
starre Buchstabe bildet."
So sehen wir denn, wie Schleiermacher auch auf kirchlichem
Gebiet mit divinatorischem Scharfblick jene grundsätzliche
Umgestaltung der kirchlichen Verfassungsform vertrat,
welche zur brennenden Zeitfrage geworden und von Jahr zu
Jahr dringender ihre thatsächliche Lösung verlangt. Wir
sehen, wie er in dieser Lösung nicht nur nicht den Ruin des
Staates oder der Kirche oder beider erblickt, sondern —
wenn auch nach manchen Verwirrungen und Kämpfen —
eine bessere Zukunft für beide. Und dass ein Mann wie
Schleiermacher diese Frage vertritt das scheint mir doch als
Gewähr gelten zu dürfen, dass es sich hier weder um ein
doktrinäres Hirngespinst noch um eine Destruktion der sittlichen
und religiösen Grundlagen unseres Gemeinschaftslebens
handelt.
Die Bedeutung Schleiermacher's für das
sittliche Leben ist uns bereits in dem Gesagten entgegengetreten.
Sie scheint mir eine doppelte zu sein. Einmal
hat Schleiermacher gerade durch die scharfe Grenzbereinigung
der verschiedenen Lebensgebiete einerseits jedem das Seine
verschafft, andererseits die rechte Art nachgewiesen, wie jedes
dem andern zu dienen habe; er hat insbesondere die theologische
und kirchliche Form des evangelischen Christenthums
ethisirt, indem er auf die religiöse Wurzel zurückgehend sie
von ihren Schlacken reinigte, sie erweiterte, sie in reale und
lebendige Beziehung zu den sittlichen Gütern brachte. Sodann
hat er in seinem eigenen Leben den sittlichen Gehalt
einer wahrhaft frommen Persönlichkeit ausgeprägt. Sein
sittlicher Charakter ist die Frucht, an welcher auch sein
Christenthum sich als gesunder Baum mit gesunder Wurzel
bewährt hat. Zwar ist auch Schleiermacher sittlichen Gefahren
nicht entgangen und nicht frei gewesen von menschlichen
Schwächen, wenn auch an seinem Leben kein Mackel
gröberer Art haftet. Seine Briefe über Schlegel's Lucinde
lassen sich als das Opfer eines Freundes, der bereit ist,
für den Freund auch den guten Ruf zu wagen, entschuldigen;
die sittliche Enthüllung über die Prüderie, als die
raffinierteste Art der Sinnlichkeit, werden wir mit ihm theilen,
allein als Rechtfertigung eines unsittlichen Werkes lassen sich
jene Briefe nicht rechtfertigen. Seine Ansicht über Ehe und
Ehescheidung, — auch ein Dogma der romantischen Schule —
in seinem Verhältniss zu Eleonore Grunow hat Schleiermacher
selbst in seinen Predigten über den christlichen Hausstand
als dem Geist christlicher Sitte widersprechend bezeichnet.
In seinen "Monologen", eine Neujahrsgabe (1800), hat
er uns den ideellen Schleiermacher, der seiner sittlichen
Aufgabe inne geworden und der ihrer Verwirklichung sein
Leben gelobt, dargestellt. Schleiermacher hat dieses Gelübde
gehalten. Er hat das seltene Pfund, das ihm verliehen
war, in ernster, rastloser Arbeit ausgebildet und verwerthet.
Er hat ganz seinem innern Beruf gelebt. Er hat das tiefste,
reichste religiöse Gefühl mit der schärfsten, feinsten Dialektik,
innigen Herzensglauben mit der freiesten wissenschaftlichen
Forschung, lebendigen kirchlichen Sinn mit dem hellsten,
offensten Blick für alle sittlichen Lebensverhältnisse, er hat
unbedingtes Abhängigkeitsgefühl mit dem Vollgefühl sittlicher
Freiheit, — Gegensätze, die sich so oft feindselig entgegentreten,
— in sich vereinigt und zu einem harmonischen persönlichen
Ganzen ausgebildet.
Bei aller Beweglichkeit ist er mit sicherem Schritt durch's
Leben gegangen; bei aller Vielseitigkeit hat er sein grosses
Lebensziel nie aus dem Auge verloren; bei aller Schärfe des
Geistes ist ihm das warme reiche lieberfüllte Herz geblieben;
dei aller Grossartigkeit seiner Anlage und seines Schaffens
hat er den Sinn für die Kleinigkeiten des Lebens, die Treue
im Kleinen bewahrt; und bei aller Hingabe an das Ganze
hat er das Eigenthümliche selbst in seinen dürftigsten Erscheinungen
stets liebevoll verstanden und heilig gehalten.
Sein Briefwechsel, dessen Herausgabe wir dem jüngern Gass,
dem Prediger Jonas und Professor Dilthey verdanken, ist
der reinste Spiegel seines Innern, der treueste Kommentar
seines Lebens und seiner Werke.
Wie wirkte er in seinem Beruf. Ein Meister des
lebendigen Wortes und der klassisch geformten Schrift; in
sich gekehrt, ganz bei der Sache und doch zugleich von
einer Mittheilungsgabe, wie sie beinahe ohne Beispiel ist!
Welch' eine sittliche Kraft in der Oekonomie seiner wissenschaftlichen
Produktionen! Dieser Mann voll Talent, Geist
und Wissen, voll origineller schöpferischer Gedanken und von
so seltener Darstellungskraft, — er theilte nur mit, was er
unter der strengsten Geisteszucht erarbeitet hatte, als reife
Geistesfrucht, als goldene Aepfel in silbernen Schalen. Welch'
ein reich gesegnetes Verhältniss des akademischen Lehrers
zu seinen Schülern auf dem Grund eines durch die gemeinsame
Wahrheitsliebe, durch treue sichere Leitung auf der einen
Seite und durch vertrauensvolle und dankbare Pietät auf
der andern Seite veredelten Verkehrs. Welch' ein anziehendes
Bild gewährt uns sein Familienleben, als er mit der
Wittwe eines verstorbenen Freundes, Henriette v. Willich
geb. v. Mühlenfels, 1809 einen eigenen Hausstand gegründet
hatte. Stets hielt er sich für einen der glücklichsten Menschen,
für einen vornehmlich durch sein häusliches Glück Hochbegnadigten.
Seine Rede am Grabe seines einzigen Sohnes
Nathanael trägt einen vorbildlichen Charakter für die Auffassung
der herbsten häuslichen Prüfungen, die Vereinigung
des tiefsten wahrsten Schmerzes mit der sichern Herrschaft
über denselben auf dem Grund unerschütterlichen Gottvertrauens
und fester, von jeder Täuschung freier, christlicher
Hoffnung. Und welch' ein Freund war Schleiermacher!
Treu, opferbereit, grossherzig, von den edelsten Männern
und Frauen innig geliebt, von einer Gabe, sich auszutauschen,
anzuziehen, zu sammeln und selbst dem Gegner gerecht zu
werden, die noch heute, nachdem nach seinem Tode eine
ganze Generation heimgegangen, ihren Zauber und ihren
Segen bewährt. Welch' ein Virtuose der Geselligkeit! —
der ernste tiefe Denker, der innig fromme Prediger, unerschöpflich
in sprudelndem Humor und treffendem Witz, ein
Muster freier, feiner und edler Sitte. Und welch' ein Bürger
war dieser Mann! In der Zeit der tiefsten Erniedrigung
seines Vaterlandes glaubensmuthig und voll Kraft, Andern
seinen Glauben mitzutheilen. Er wollte lieber als hungernder
Literat in dem verlorensten Winkel Preussen's leben, als
glänzenden Anerbietungen folgen; er beneidete die, die Frau
und Kinder hätten, weil sie ein grösseres Opfer bringen
könnten. "Geben Sie Alles dahin", schreibt er an seine
Freundin, Charlotte v. Kathen, "um Alles zu gewinnen,
und rechnen Sie Alles, was Ihnen erhalten wird, für Gewinn.
Bedenken Sie, dass kein Einzelner bestehen, dass kein
Einzelner sich retten kann, dass doch unser Aller Leben eingewurzelt
ist in deutscher Freiheit und deutscher Gesinnung,
und diese gilt es." Und zur Zeit der grossen Erhebung, wie
wirkt er durch seine gewaltigen Predigten zum Hass gegen
alle Feigheit und Niederträchtigkeit und zur Neubelebung der
patriotischen Hoffnungen, wo sie zu sinken drohten. Zu
welch' sittlicher Energie vermochte der körperlich schwache
Mann all' seine Kräfte zu steigern! An demselben Tag
hält er zwei Vorlesungen, exerziert mit der Landwehr, segnet
ein Bataillon in einer hinreissenden Ansprache ein, tagt in
einer patriotischen Kommission, redigirt eine Zeitung und
schreibt Nachts noch an seine Frau.
Was uns aber den sittlichen Charakter des Mannes in
noch hellerem Lichte zeigt, —seine Liebe zu seinem Beruf, zu
seiner Familie, seinen Freunden, seinem Vaterlande erkaltete
nicht, als die Hoffnungen der besten Männer von der Reaktion
niedergetreten, als mit De Wette seine vertrautesten Freunde,
Georg Reimer, sein Schwager M. Arndt, Gass u. A., ja
Schleiermacher selbst politisch verdächtigt und verfolgt wurden.
Es wird ihm auch die Achtung Aller bleiben, die an
einem Mann den Mannescharakter zu schätzen wissen. Der
König selbst ehrte in einem Schreiben an die Wittwe Schleiermacher's
das Andenken "des grossen Denkers, des trefflichen
wahrheitsliebenden Mannes, von dessen hohem Werth er stets
durchdrungen gewesen sei".
Und wenn sich im Alter und auf dem Sterbebette in
vielen Fällen der sittliche Ertrag eines Menschenlebens in
verklärtem Bilde darstellt, so ist dies auch bei Schleiermacher
der Fall gewesen. Er hat das Gelübde der Monologen erfüllt:
"Ewige Jugend schwör' ich mir selbst; nie werd' ich
mich alt dünken, bis ich auch fertig wäre; aber nie werd'
ich fertig sein, weil ich weiss und will, was ich soll. Lächelnd
seh' ich schwinden der Augen Licht und keimen das weisse
Haar zwischen den blonden Locken. Nichts, was geschehen
kann, mag mir das Herz beklemmen; frisch bleibt der Puls
des innern Lebens bis in den Tod." Auf seinem Sterbebette
theilte Schleiermacher W. v. Humboldt mit, dass in ihm die
tiefsten spekulativen Gedanken völlig eins seien mit den innigsten
religiösen Empfindungen. Und Georg Reimer, der fast
36 Jahre mit ihm zusammengelebt, schreibt an Sulpiz
Boisserée: "Wie sein Leben einer steten Veredlung und Verklärung
entgegenging, so war sein Tod die schönste Verherrlichung
im Geist, dessen siegende Gewalt noch im Scheiden
den Körper zwang, seinem Dienst zu folgen." Er starb,
nachdem er wenige Augenblicke zuvor mit den Seinigen in
erhebender Weise das Abendmahl genossen, den 12. Februar
1834.
Die Worte des Sterbenden: "In meinem Innern
erlebe ich die göttlichsten Momente; ich muss die
tiefsten spekulativen Gedanken denken, und die
sind mir völlig eins mit den innigsten religiösen
Empfindungen" — diese Worte enthüllen einfach und
klar das innerste Wesen und die eigenthümliche Bedeutung
Schleiermacher's. In seinem System hat er der Religion
und der Wissenschaft jeder ihre selbstständige Stellung verschafft,
in seinem Leben, im innersten Grund seiner
Persönlichkeit waren sie eins.
Man hat Schleiermacher mit den philosophischen Systemen
der alten und neuen Zeit in Verbindung gebracht, bald mit
Plato, bald mit Spinoza, bald mit seinen Zeitgenossen Kant,
Fichte unb Schelling, während der Gegensatz zu Hegel, seinem
Kollegen, allgemein anerkannt wird. Man hat überhaupt
den Schwerpunkt der wissenschaftlichen Leistungen Schleiermacher's
in seinem philosophischen System gesucht und auch
seine Glaubenslehre lediglich als ein Werk seiner philosophischen
Spekulation darstellen wollen. Wir halten dafür, dass
sich sein eigenthümliches System nicht auf eines der angeführten
Systeme zurückführen lasse, dass er wohl diese Systeme
gründlich durchforschte, ihren Wahrheitsgehalt sich aneignete,
überhaupt von denselben mannigfache Anregungen empfing,
dass aber das religiöse Gebiet der wesentliche Gegenstand
seiner selbstständigen, genialen und epochemachenden Forschung
war, und zwar in dem Sinn, dass er, wie er selbst stets
behauptete, die Religion nicht erst als ein Produkt seines
spekulativen Denkens auffinden und gestalten, sondern sie
mit den Mitteln der Wissenschaft als ein Gegebenes, Selbstständiges
in ihrem eigenthümlichen Wesen begründen und darstellen
wollte.
Man hat Schleiermacher den Vater der modernen Vermittlungstheologie
genannt. Man hat damit vielfach
den Vorwurf verbunden, dass er auf halbem Wege stehen
geblieben sei und sich in zweideutiger Schwebe zwischen den
Gegensätzen bewegt habe. Man hat Recht, wenn man mit
A. Rüge in seinen Reden über Religion an die Gebildeten
unter ihren Verehrern — mit dem Motto: "Statt den
Schleiermacher wollen wir den Schleierlüfter spielen" —
wenn man mit Ruge die Religion überhaupt als Aberglauben
erklärt und die Theologie als die dritte Stufe des
Aberglaubens, nämlich als die Spekulation über derselben,
und nun verlangt, dass damit gründlich aufgeräumt werde.
Ein solcher Ganzer war Schleiermacher nicht. Man hat
wieder Recht, wenn man mit Hengstenberg, der die heutige
Feier mit dem ganzen Hass eines Fanatikers in Acht und
Bann erklärt, die Restauration abgelebter kirchlicher Begriffe
und Satzungen für das wahre Wesen der Religion nimmt.
Ein Ganzer dieses Schlages war Schleiermacher ebenfalls
nicht. Man hat ferner Recht, wenn man wünscht, Schleiermacher
möchte als der Speerträger irgend einer theologischen
oder philosopischen Schulpartei aus dem Kampfplatz erschienen
sein und den theologischen Gegner schonungslos in den Grund
gebohrt haben. Uns erscheint es als einer der schönsten
Vorzüge Schleiermacher's, dass er auch den Gegner zu ehren
wusste und mit einer seltenen Gabe sich sein System zurechtlegte,
um den Punkt aufzufinden, wo seine Berechtigung und
sein Wahrheitsgehalt hervortrat. "Das ist mein Glaube",
schreibt er an De Wette, "und zwar gerade mein christlicher
Glaube, dass ich fest überzeugt bin, ein reines und ernstes
Bestreben, vornehmlich über die heiligen Gegenstände des
Glaubens sich verbreitend, müsse mit dem glücklichsten Erfolg
gekrönt werden; und das ist meine christliche Liebe, dass ich
in Jedem, den ich zu achten gedrungen bin, auch das Gute
und Schöne aussuche und wirklich sehe, was sich in diesem
Augenblick auch nicht äussert und sich vielleicht noch nicht
ganz entwickelt hat. Wer aber einen andern Glauben und
eine andere Liebe hat, dem will ich sie nicht beneiden."
Schleiermacher hat die Gegensätze nie verwischt, aber er
suchte nach der höhern Einheit für dieselben. An Schwankungen
und Irrthümern fehlt es zwar auch seinem Systeme
nicht, aber er ist ganz seinem Wahrheitstrieb gefolgt, er
hat ganz gearbeitet; was er weggeräumt und was er aufgebaut,
trägt den Stempel des ganzen Mannes.
Wenn man endlich mit jenem Vorwurf sagen will,
Schleiermacher habe Glauben und Wissen, Glauben, Wissen
und Leben vermittelt, so haben wir bereits ausgeführt, wie
gerade dieses seine Grösse, seine Ganzheit, seine Mission
ausmacht, wie er scharf auseinanderhielte, was unnatürlich
vermengt war, und wie er doch jene höhere Synthese gefunden
und jedenfalls gesucht hat, in welcher die höchsten
spekulativen Gedanken und die innigsten religiösen Gefühle
Eins sind. Und wenn er Sinn und Herz hatte für jede
religiöse Eigenthümlichkeit, wenn er den Streit der theologischen
Schule dieser überlassen, aber das fromme Bedürfniss
der Gemeinde nicht mit Theologie, sondern, wenn auch durch
Theologie, mit ächter Frömmigkeit genährt wissen wollte und
selbst nährte, obgleich er ein grosser Theologe und Denker
war, so denke ich, werden wohl die Meisten unter uns dieser
Vermittlungstheologie ihre Zustimmung nicht versagen. Freilich
gilt jener Vorwurf meist den Schülern. Unter diesen
sind eine Reihe Namen vom besten Klang. Ich nenne nur
Nitzsch, Gass, Lücke, Ullmann, Bleek, Jonas, unter den
Schweizern Usteri, Hagenbach und A. Schweizer. Dass freilich
Viele den Mantel des Meisters borgten ohne den Geist,
und dass Einige in Versuchung kamen, diesen Mantel nach
dem Winde zu drehen oder auf demselben über den Strom
zu schwimmen an's jenseitige Ufer, das ist eine Erscheinung,
die wir nicht nur auf dem Gebiete der Theologie zu beklagen
haben. Schleiermacher selbst hat öfter auf's Bestimmteste
erklärt, dass er nicht eine Schule habe gründen wollen.
Die Einen sind tiefer berührt von dem Faktor des
religiösen Gefühls in der Schleiermacher'schen Theologie und
zweigen sich wieder ab in Vertreter des religiösen Subjektivismus,
des kirchlichen Individualismus und der theosophischen
Mystik. Die Andern haben ihren Ausgangspunkt
mehr in dem dialektischen Element der Schleiermacher'schen
Theologie genommen und entweder die Resultate seiner Kritik
weiter verfolgt oder von seinen positiven Resultaten aus
weiter gebaut oder auch Restaurationen unternommen. Eine
dritte Hauptgruppe sucht im Sinne des Meisters Glauben
und Wissen mit einander zu versöhnen, die Einen, indem
sie beide "zu einander stimmen", die Andern, indem sie die
Selbstständigkeit und Verschiedenartigkeit beider Mächte anerkennen,
allein keinen Dualismus zugeben, sondern die
höhere Einheit suchen in dem innersten Wesen und den
höchsten Zwecken des einheitlich organisirten Menschengeistes.
Dass aber Theologen von verschiedener Richtung in der Ferne
und Nähe in dieser Zeit des grossen Meisters und dessen,
was sie ihm verdanken, einmüthig gedenken, das scheint mir
ein bemerkenswerthes Zeichen nicht der Vieldeutigkeit, wohl
aber der Vielseitigkeit und vor Allem der grossen schöpferischen
Kraft zu sein, die sich in Schleiermacher Bahn gebrochen
und selbst über sein System und seine Leistungen
hinaus mächtig fortwirkt in Gegenwart und Zukunft. Die
Gegensätze werden allerdings nicht aufhören und die Waffen
werden nicht ruhen; aber über den Streitenden weht ein
gemeinsames Panier, welches sie mitten im Streit einigt zu
besserem Kampf.
Dieses Panier hat Schleiermacher aufgepflanzt und hochgetragen.
Es ist der religiöse Idealismus, welcher,
geboren aus dem Geist des Christenthums und auf dem
Grunde der Gemeinschaft mit Christo, die sittlichen Realitäten
der Welt weiht und bildet zu Bausteinen eines ewigen
Gottesreiches der Wahrheit, der Freiheit und der Liebe.
Und wenn je im Verlauf der Entwicklung jenes Dilemma
uns bedrohen sollte, entweder das Christenthum mit der:
Barbarei oder der Unglaube mit der Wissenschaft, wenn je
durch irgend eine Gewalt die Güter ernstlich bedroht würden,
die allein unser Leben zu einem menschenwürdigen
machen, — dann werden sich alle "Mitverschwornen einer
bessern Zukunft" uni jene Fahne schaaren, um durch die
Macht der Wahrheit dem Glauben und durch die Macht des
Glaubens der Wahrheit ihr Recht und ihre Freiheit, ihren
Segen und ihren Sieg zu sichern.
In diesem Sinne schliesse ich mit den einst so sehr verdächtigten
Worten, welche Schleiermacher den 9. Februar
1820 bei der Feier des Bewaffnungsfestes in Treptow an
die Studierenden richtete: "Meine Brüder und Herren, wir
leben in einer Zeit des Kampfes und Streites. Auch wir
sind nicht unangefochten; rüsten wir uns zum rechten Streit
und halten wir uns wehrhaft wider Alles, was uns das
Leben und seine Güter verkümmern will."