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Die Anfänge der Universität im Mittelalter

Rektoratsrede von

Prof. Dr. Arnold Esch
Verlag Paul Haupt Bern 1985

ISBN 3-258-03558-X
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 1985 by Paul Haupt Berne
Printed in Switzerland

Die Anfänge der Universität im Mittelalter

Rektoratsrede von Prof. Dr. phil. Arnold Esch

Der Historiker, den Sie zum Rektor des akademischen Jahres 1985/86 gewählt haben, wird die Institution Universität, der wir alle verpflichtet sind, auf seine Weise zu begreifen versuchen: aus ihrer historischen Entwicklung. In der folgenden Darstellung früher Universitätsgeschichte wird Ihnen manches bekannt vorkommen, auch wo Ähnlichkeit nicht beabsichtigt ist: denn wo Menschen forschend und lehrend tätig sind, werden sie einander über die Zeiten hinweg wiedererkennen.

Versuchen wir zunächst, in die Fremdheit der Anfänge einen raschen Einstieg zu finden: wir sollten erst einmal den Lehrstoff, die Bildungsverhältnisse des Frühmittelalters vor Augen haben — bevor wir eine neue Zeit darauf loslassen. Was also konnte man (sagen wir: um das Jahr 1000) wissen, was konnte man wissen wollen?

Das Wissbare oder Wissenswerte war zusammengefasst im Kanon der sogenannten 7 artes liberales, wörtlich: 7 «freie Künste», besser: 7 allgemeinbildende Fächer, denn gemeint sind Fächer ohne direkten Bezug zu unerlässlichem Broterwerb oder zu handwerklicher Tätigkeit, eben Fächer, wie sie sich der freie Mann leisten sollte. Sieben, nämlich drei plus vier: zunächst die Grundausbildung in der Dreiheit (Trivium) Grammatik, Rhetorik, Dialektik (das heisst: lateinische Redekunst beziehungsweise Briefstillehre; Logik als formale Denkschulung); sodann die Vierheit (Quadrivium) der exakten Wissenschaften Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie. Den Sinn dieses Kanons —im ganzen mehr Denkschulung als Fachwissen — hat niemand anders als Dorothy Sayers in einem klugen Essay über das Artes-System deutlich gemacht.

In diesem Schema — elementare («triviale») Grundfächer als Vorstufe für exakte Sachfächer — haben wir gewissermassen schon den Grundriss unserer beiden philosophischen Fakultäten, der (darum früher so genannten) Artisten-Fakultät. Die Rechtswissenschaft wird sich anfangs noch notdürftig im Trivium unterbringen lassen, die Theologie beansprucht sowieso alle Fächer als Trittstufen zu höherer Erkenntnis Gottes. Bleibt nur die Medizin ausserhalb dieses Kanons: sie ist zwar ars/Kunst, aber nicht liberalis/frei, denn sie steht im Verdacht, in erster Linie zum Zwecke des Erwerbs erlernt und ausgeübt zu werden (womit sie sich in guter Gesellschaft befand, denn lange Zeit wird auch die bildende Kunst als Handwerk gelten). Dieser Kanon der 7 artes liberales also ist seit der Spätantike das Grundgerüst von Wissenschaft und Unterricht. Das wird lange so bleiben: doch liess sich unter diesen alten Etiketten durchaus

Prof. Dr. Arnold Fach

1936 in Westfalen geboren, studierte Arnold Fach Geschichte und Klassische Archäologie an den Universitäten Münster und Göttingen sowie Politische Wissenschaften am Institut d'études politiques in Paris. Nach der Promotion 1964 war er Assistent am Historischen Seminar der Universität Göttingen und 1970-1973 am Deutschen Historischen Institut in Rom. 1974 habilitierte er sich in Göttingen für mittlere und neuere Geschichte, ging ein weiteres Jahr nach Rom und lehrte sodann ein Semester an der Freien Universität Berlin. 1977 wurde er als Ordinarius für mittelalterliche Geschichte an die Universität Bern berufen, 1981/1982 war er Dekan seiner Fakultät.

Seine Forschungen und Publikationen betreffen vor allem die Geschichte des Spätmittelalters und der Renaissance, darunter besonders wirtschaftsgeschichtliche Fragen, handelnde Personengruppen, und das Nachleben der Antike. Daneben hat er über einzelne Aspekte des 19. Jahrhunderts und über allgemeine methodische Probleme seines Fachs gearbeitet. Er ist Preisträger der Göttinger Akademie der Wissenschaften und Mitglied zweier wissenschaftlicher Beiräte viel Neues wissen, und Altes auf neue Weise.

Eine neue Dynamik

Und eben dies wird das Bedürfnis einer neuen Zeit. Etwa seit der Mitte des 11. Jahrhunderts gerät alles in Bewegung. Nach Jahrhunderten der Kontraktion tritt das Abendland in eine expansive Phase ein, treibt die Kreuzzüge aus sich heraus, ändert sein inneres Gefüge: das bisher so geschlossen wirkende Bild der Gesellschaft faltet sich auseinander, im sozialen Auf und Ab, im regionalen Hin und Her öffnen sich neue Bewegungsrichtungen, die Wirtschaft wächst in neue Dimensionen —kurz: eine unerhörte Dynamik erfasst schlechthin alles und wird uns im Zusammenhang der Erscheinungen auch die Entstehung der Universität begreifen lassen.

Sichtbares Zeichen dafür, dass sich da einiges regt, ist eine rapide Bevölkerungsvermehrung, die zwischen 1000 und 1300 die Bevölkerung Europas auf das Doppelte oder Dreifache treibt. Das scheint uns nicht eben viel, ist aber viel in einer Gesellschaft, die auf 1 ausgesätes Korn (nicht 20, 30, 40 Körner wie heute, sondern:) nur 2 oder 3 oder 4 Körner erntet, die Enge ihres Spielraums also drastisch zu spüren bekommt. Umstritten bleibt, ob diese Bevölkerungsvermehrung nur Symptom oder gar auslösender Faktor dieser neuen Dynamik ist, oder anders: was war Ursache, was Wirkung? Oder sollte sich das vielleicht gar nicht auseinanderdividieren lassen?

Eine rapide Bevölkerungsvermehrung jedenfalls mit all ihren sozialen, rechtlichen, wirtschaftlichen Implikationen. Die Menschheit richtet sich neu in ihren Ressourcen ein. Alte Grossgrundherrschaften lösen sich auf und setzen Menschen frei, angesaugt von den wachsenden Städten mit ihren neuen Chancen sozialen Aufstiegs. Alte Städte füllen sich, neue Städte bilden sich: da gibt es nun Hände genug, um neuen Produktionsweisen immer weitere Arbeitsteilung zu ermöglichen und sie immer fernere Märkte finden zu lassen; Köpfe genug, um in der städtischen Gesellschaft ein neues politisches Bewusstsein keimen zu lassen, das sich gegen den Stadtherrn kehrt: in der kommunalen Bewegung gelingt es damals vielen Städten, die Herrschaft des Bischofs abzuwerfen und sich eine autonome Verfassung zu geben.

In vielen Bereichen beginnt Weltliches und Geistliches sich voneinander abzuschichten. Die Kirche emanzipiert sich im Reformpapsttum aus Schutz und Bevormundung des Kaisertums — und sieht sich, nun selbst an die Spitze tretend, an ihrer Basis darum bald ihrerseits in Frage gestellt durch erste ketzerische Bewegungen. Neue Orden bilden sich, wie die Zisterzienser, deren Strenge und stromlinienhafte Geschlossenheit gerade die Jungen anzieht und ihnen ein alternatives Leben anbietet. Es ist, als hätten diese neuen Impulse, diese neuen Lösungen untergründig miteinander zu tun, auch wenn sie in so verschiedene Richtungen zielen.

Was hier für die unterschiedlichsten Bereiche skizziert wurde, ergibt zusammengenommen das Bild einer neuen Dynamik: ein (ab etwa 1050 fassbarer) äusserst komplexer Prozess, bei dem vieles ineinandergreift, ohne dass wir den Zusammenhang der Erscheinungen kausal immer begreifen könnten. Wie der Treibsatz dieser unerhörten Dynamik zusammengesetzt war, das zu analysieren müssen wir uns hier versagen. Genug: alles Indizien für eine Gesellschaft im Aufbruch, in der —ob nun Sog oder Schub oder beides — neue geistige, politische, soziale, wirtschaftliche Kräfte einander vorantreiben.

Versuchen wir nun, in diesem Gesamtbild mit seiner ganzen gärenden Unruhe die Linien wiederzufinden, die wir bei unserer Fragestellung verfolgen wollen. Eine in Bewegung geratene Gesellschaft, die im geistigen wie im materiellen Bereich ihre Bedürfnisse, Erwartungen, Möglichkeiten vervielfältigt und nun vielem nebeneinander Raum gibt, stellt naturgemäss neue Anforderungen, ist zunehmend auf geschulte, qualifizierte Leute angewiesen, die in begrenzten Aufgabenbereichen auch kompliziertere Sachverhalte beschreiben, begutachten, richten, übersetzen, auslegen können. Die Intensivierung von Handel und Produktion, die neuen Formen sozialen und politischen Zusammenlebens (nicht archaische Abhängigkeitsverhältnisse auf immer, sondern modernere Vertragsbindungen auf Zeit), all das verlangt einfach nach Notaren, die Verträge aufsetzen, nach Richtern, die (nicht einfach unter der nächsten Linde Recht sprechen, sondern:) auch

verwickelte Materien entscheiden können - und nach Schreibern, die das dann protokollieren, und so fort. Und das erfasst so nicht nur die Spitze, das dringt tief in die städtische Substanz, weil eben die Gesellschaft wachsenden Bedarf hat nicht einfach an Notaren, Richtern, Schriftlichkeit, sondern an viel Notaren, viel Richtern, viel Schriftlichkeit. Von deutschen Kaisern des 12. Jahrhunderts sind uns um die 40 Urkunden pro Jahr überliefert, von italienischen Notaren bis zu 4 Urkunden pro Tag! (Sogar das den Eltern gegebene Versprechen, vorläufig aufs Kartenspiel zu verzichten, wird vor dem Notar niedergelegt.)

Der Bedarf an ausgebildeten Kräften ist also gross. Sind diese qualifizierten Leute aber erst einmal da, dann werden sie diesen Prozess auch rasch in diese Richtung weitertreiben — wo sie nicht, in unentwirrbarer Gemengelage von Ursache und Wirkung, von Anfang an diese Nachfrage auch geschaffen haben: denn dies ist ein dialektisch aufeinander bezogener, sich selbst verstärkender, wechselwirkender Prozess. Und sie werden dabei vieles auf ihrem Wege mitreissen, Bedarf nicht nur befriedigen, sondern auch gestalten, neue Auffassungen bis in die Kapillaren der Gesellschaft dringen lassen.

Eine Gesellschaft also, die mehr wissen muss, die auch mehr wissen will, und die bereit ist, diese Art von Verlangen und Betätigung mit Ansehen, Geld, Karriere zu honorieren. Wissensdrang ist schon gut fürs Lebensgefühl, aber damit auch noch sozialen Aufstieg machen und den Mangel niederen Standes aufwiegen zu können, macht den Sog unwiderstehlich. Die Erwartung ging aber — und das zeigt die neue Färbung einer ganzen Zeit — über den Nützlichkeitsaspekt spürbar hinaus, das ganze Klima wird bildungsfreundlicher und erfasst eben darum sogar die, die es gar nicht nötig gehabt hätten: der Höfling wird geistreich, der König wird gebildet, der Papst gelehrt. Dass ein König, der nicht lesen und nicht schreiben kann, im Grunde ein «gekrönter Esel» sei, fällt eben erst jetzt auf — und der Hof lässt es sich sagen, der Fürst empfindet in Bildung und Ausbildung sowohl die persönliche Herausforderung als auch den staatlichen Nutzen: die neue Chance, durch Organisation von Herrschaft, durch Planung von Staatsfinanz, durch Vereinheitlichung der Rechtsprechung das disparate Herrschaftsgebilde mit all seinen feudalen Autonomien besser in den Griff zu bekommen.

Aus dem bisher Gesagten geht mindestens eines schon mit Deutlichkeit hervor: wenn wir Vorgeschichte und Anfänge der Universität fassen wollen, dann nur in der Stadt. Aus einem Benediktinerkloster — mag es eine noch so ehrwürdige Tradition haben wie Monte Cassino, noch so viele Bücher haben wie Umberto Ecos Abtei, noch so viele Schüler haben wie zeitweilig Sankt Gallen — wird noch keine Universität. Das erreichte irgendwie nicht die kritische Masse, die dazu erforderlich ist. Stadt und Universität (man konnte sagen: die beiden originellsten Leistungen des Mittelalters) haben miteinander zu tun — wer im Mittelalter

nur die Geschichte von Kaisern, Päpsten und Mönchen sieht, der ist es selber schuld.

Von was für Bildungsmöglichkeiten und Lehreinrichtungen in den Städten aber konnte die weitere Entwicklung ihren Ausgang nehmen? Erwarten wir da nicht zu viel. Bildungsvermittlung von einigem Niveau findet sich vor allem in den Kathedralschulen, dient der theologischen und liturgischen Ausbildung, führt aber (etwa in Chartres, Reims, Laon) oft weit über Mittelmass und erklärten Zweck hinaus. Dieser höhere Unterricht, zwar immer noch Monopol der Kirche und Laien nur begrenzt zugänglich, ist aber inzwischen aus der Hand der Ordensgeistlichen in die Hand der Weltgeistlichen übergegangen, ist aus den frühmittelalterlichen Klöstern in die hochmittelalterlichen Städte hineingewachsen.

Wäre allein der wissenschaftliche Rang schon hinreichende Voraussetzung gewesen, dann hätte es hohe Schulen früh schon in Chartres, Reims, Lüttich oder Köln geben müssen. Vielmehr musste weiteres hinzutreten: neue Bedürfnisse, weitere Öffnung, andere soziale Bedingungen. Wir werden das am konkreten Beispiel der beiden frühesten Universitäten zu beobachten versuchen: an Paris und an Bologna.

Paris im 12. Jahrhundert

In Paris war um 1100 geistiges und schulisches Zentrum durchaus noch die Kathedralschule von Notre-Dame, wo die Domherren unter Bischof und Kanzler vor wachsenden Hörerzahlen den herkömmlichen Lehrstoff vermittelten. Doch wanderte der Lehrbetrieb nun bald auch über die Seine-Brücken (auf denen dann kleine Unterrichtsräume nisteten wie die Läden auf dem Ponte Vecchio) hinüber auf die rive gauche in die Räumlichkeiten von Klöstern (genauer: Regularkanoniker-Stiften) wie Saint-Victor und den Hügel hinauf nach Sainte-Geneviève. Anlass für diese Verlagerung war nicht allein, dass die Ile die Masse der Hörer nicht mehr fassen konnte; Grund war vielmehr auch, dass man sich so. der Lehraufsicht des Kanzlers von Notre-Dame zu entziehen versuchte. Dort drüben auf der rive gauche, damals noch locker besiedelt und von Weinbergen durchsetzt, liess sichs luftiger wohnen und freier denken als im Schatten der Kathedrale, deren Lehrkontrolle desto dumpfer empfunden wurde, je kühner man sich von den traditionellen Lehrgegenständen und Lehrmethoden entfernte.

Beides aber hatte miteinander zu tun — der unerhörte Zulauf von Studenten und die unerhörte Neuheit der Lehre —, und für beides stehe ein Name: Abaelard, der grosse Pierre Abaelard (1079-1142), mit dessen beispiellosen Lehrerfolgen Paris, das bis dahin an den Ruf von Chartres oder Reims noch nicht heranreichte, seine Anziehungskraft erst begründete. Ein akademischer Lehrer hinreissend in Vortrag und Diskussion — aber ein unangenehmer Kollege, arrogant, polemisch, schneidend, so etwas wie der erste Intellektuelle (mit all den schrillen Obertönen, die in diesem Begriff

mitschwingen, und entsprechenden Reaktionen unter den Kollegen). Ein Mann, dessen Lehrmethode uns gut bekannt, ja dessen Individualität so ausgeprägt ist, dass man sich nicht wundern würde, wenn von ihm das früheste Porträt des Mittelalters überliefert wäre (auch er selbst hätte sich nicht darüber gewundert).

Bekannter ist Abaelards Name heute (und bekannt war er schon damals) durch sein Verhältnis zu seiner Schülerin Heloise. Dass diesem Mädchen (wenngleich natürlich in Form von Privatunterricht) Unterricht von solchem Niveau erteilt wurde, sagt an sich schon viel über die Zeit aus. Heloise ist eine jener grossartigen Frauen, wie es sie unter Studentinnen immer gab und gibt, auf die das Wort zutrifft, dass, wenn sie mit einem Mann beisammen sind, nach neun Monaten er, der Mann, ein Buch zur Welt bringe. Aus der Begegnung wird Leidenschaft —das erste, was darunter leidet, sind natürlich die Vorlesungen, und die Studenten merken es. Ein Kind kommt zur Welt. Dennoch rät Heloise ihrem Abaelard tapfer von der Ehe ab: «zwischen Kindergeschrei und schmutzigen Windeln» könne man nicht Vorlesungen schreiben das werden junge Magister (heute sagt man: der habilitierte Mittelbau) noch oft empfinden, denn rein vom Lebensalter her, wer wüsste es nicht, fallen erste Vorlesungen und erste Kinder eben oft zusammen. Aber lassen wir das und halten nur fest, dass auch Heloise in die Vorgeschichte der Universität gehört und zum Problem «Wissenschaft und Ehe» weit Lebensvolleres zu sagen hatte als die dazu meist zitierten Autoritäten Seneca, Paulus, Hieronymus mit all ihrem nicht nachvollziebaren Entweder-Oder.

Warum dieser Lehrerfolg in Paris? Was Abaelards Ruhm und seine Leistung ausmacht, ist der Ausbau einer neuen Lehrmethode, die man Scholastik nennen wird: heute ein befremdliches Wort, aber damals ein überwältigend neuer Ansatz mit dem Ziel, Glauben und Wissen in ein System zusammenzufügen und damit «schul»mässig (schola, Scholastik) lehrbar zu machen; Glauben und Erkennen (nicht: gegeneinander auszuspielen, aber:) miteinander in Einklang zu setzen und die — als solche unantastbar bleibenden — Glaubenswahrheiten so dem denkenden Menschen näher zu bringen. Die Dialektik oder Logik, die sich im Trivium als Modefach bereits an Grammatik und Rhetorik vorbei an die erste Stelle geschoben hatte, dringt nun in die Theologie ein.

Zwar wollte man damit, anders als dann die Aufklärung, die christliche Glaubenslehre nicht zersetzen, sondern strukturieren, die Autoritäten nicht überprüfen, sondern beglaubigen — aber es war doch nicht abzusehen, wohin das führen werde, wenn man Aristoteles auf das Dogma losliess; wenn man mit wissenschaftlicher Methodik Widersprüche zwischen den Grundtexten wie Bibel, Kirchenväter, Konzilsbeschlüsse zwar auflösen wollte, aber dadurch recht eigentlich erst auf sie aufmerksam machte! All das konnte, wie immer wenn der Geist sich auf Abenteuer begibt, zu Grenzüberschreitungen

von unerhörter Kühnheit führen. Wie der Massenandrang der Studenten zeigte, war das etwas verwegen Aktuelles, und die Kirche wird alles daran setzen, aus diesem Sprengstoff Baustoff zu machen und damit alles in einem riesigen System einzuwölben.

Denn natürlich erkannte die Kirche die Brisanz all dieser Regungen: dem Intellekt auch in diesem Bezirk einen legitimen Platz zuzugestehen («dieser Mann sieht nichts <nur rätselhaft und wie in einem Spiegel>, sondern alles gleich <von Angesicht zu Angesicht>», urteilte abgestossen Bernhard von Clairvaux über Abaelards Rationalität); mittels geistlicher Ausbildung weltliche Karriere zu machen; heidnische Autoren nun auch um ihrer selbst willen zu lesen statt allein zu besserem sprachlichen Verständnis der christlichen Autoren! All das konnte nicht im Sinne der Kirche sein. Aber noch verbrennt die Kirche nur Bücher und nicht auch die Autoren dazu; noch steht das alles, was da hervorbricht, frisch und offen neben- und gegeneinander.

Erkenntnisdrang und Ausbildungsbedarf

Denn gerade dieses 12. Jahrhundert lässt empfinden, wie aufregend Wissenschaft sein kann, und für wie viele aufregend — auch wenn ein unmittelbarer Nutzen nicht vor Augen stand: mit der Wiedergewinnung griechischer Texte, die im Westen verloren gegangen waren und nun über arabische Vermittlung ins Abendland zurückkehrten, öffneten sich neue Welten, in die man mit Staunen eintrat. Und so wächst in diesem ungewöhnlichen Jahrhundert auf das Natürlichste eine Vorstellung vom Eigenwert der Wissenschaft und lässt die Auffassung von Wissenschaft als blossem Mittel zum Zweck besserer Erkenntnis Gottes oft hinter sich einfach dadurch, dass man sich diese Frage nicht immer ausdrücklich stellte. Es ist bei vielen die unbefangene Zuversicht, das, was man da tue, sei irgendwie wichtig vor Gott und den Menschen; es ist bei einzelnen bereits ein sachtes Abheben, mit dem sie den Boden der Realität zeitweilig aus dem Auge verlieren, sich aber auch nicht wundern würden, wenn der Boden ihrem Denken nachkäme (manchmal tut er es ja auch, versetzt Grundlagenforschung Berge). Wir massen uns hier nicht an, einzelne Faktoren zu isolieren und ihnen bei dem nun einsetzenden Prozess Priorität zuzuerkennen: der blosse Erkenntnisdrang allein war es nicht, mag er das Jahrhundert auch prägen und ihm seine Frische geben; allein der praktische Bedarf einer expandierenden Gesellschaft war es auch nicht, mag er das Jahrhundert auch bestimmen und ihm seine Dynamik geben. Von Anfang an ist beides da, die Lust der Erkenntnis und das Verlangen nach praktischer Ausbildung, und ergibt in untrennbarer Verbindung früh schon die Substanz, aus der Universität immer gemacht sein wird.

Noch einmal: bemerkenswert an dem allen ist, noch bevor wir von «Universität» sprechen können, die Breitenwirkung.

Der höhere Schulbetrieb ist gerade in den Anfängen ein Massenphänomen — da hören wir früh schon von 300 Studenten in einem Hörsaal, und im 13. Jahrhundert dürfte Paris dann bereits so viele Studenten gehabt haben wie unsere Universität Bern um das Jahr 1970: 5000 Studenten, das waren vielleicht 10% der damaligen Pariser Bevölkerung! Und dementsprechend bunt ist auch die Zusammensetzung der Studentenschaft, sowohl in nationaler wie in sozialer Hinsicht. Was da im 12. Jahrhundert in Paris zusammenströmt, an Studenten wie an Dozenten, kommt aus fast allen Gegenden Europas; schon die spätmittelalterliche Universität wird darin provinzieller sein als die hochmittelalterlichen Anfänge.

Erstaunlicher noch ist, soweit wir sehen können, die soziale Zusammensetzung der Studentenschaft, die die Standesschranken der umgebenden mittelalterlichen Wirklichkeit kaum kannte. Da kommen Bürgersöhne, auch Handwerker- und Bauernsöhne, viele in Hoffnung auf sozialen Aufstieg, oft ohne Aussicht oder auch nur Absicht auf einen Studienabschluss; ja da kommt sogar der deutsche Aristokratensohn, obwohl seine adelige Geburt doch schon Leistungsausweis genug war — aber nun wollen auch die, die gar nicht müssen; wollen auch die, die gar nicht dürften; geraten sie alle in denselben Sog. Getrieben von neuen Bildungsgelüsten, von neuen Karriereerwartungen, kommen sie nach Paris, und gerade nach Paris, denn hier wurde — eine unwiderstehliche Verbindung — viel Wissenschaft und viel Welt zugleich geboten, Reihenfolge nach Wahl: da gab es einen richtigen König, da gab es Mädchen genug, Mitstudenten genug (und bald auch ein eigenes «akademisches Viertel», das Quartier Latin), Landsleute genug, grossstädtische Atmosphäre und immerhin auch noch brillante Professoren.

Der Lehrbetrieb trägt denn auch schon alle nachmals vertrauten Züge, wie wir aus frühen Studienberichten (etwa des Engländers Johannes von Salisbury [ca. 1115-1180]) anschaulich erfahren. Da hören wir von Modefächern, aus deren Leerlauf (wie jener Beobachter sich ausdrückt:) «akademische Greise» hervorgehen, die sich über die sinnvolle Anwendung ihres Faches keine Rechenschaft mehr ablegen. Da hören wir, umgekehrt, von anderen, die ganz pragmatisch nur die rasche Karriere vor Augen haben und das altmodische Bildungszeug im Schnellverfahren hinter sich bringen (repentini philosophi nennt sie unser Gewährsmann, wörtlich «schleunige Gelehrte», Expressgelehrte). Und vieles andere mehr: viel Jugendbewegtes bei den Studenten («Von überall schallt es einem entgegen: <Was will der alte Esel? ... Wir haben unser Wissen aus uns selbst; unsere Jugend belehrt sich selber!>»), viel Eitles bei den Professoren, und das gibt, mit den peinlichen Zügen versöhnend, viel Atmosphärisches wieder: die Frische einer Aufbruchstimmung, die Zuversicht, den Problemen der Zeit auch beikommen und gedankliche Lösungen finden zu können. All das gehört zu den klimatischen Voraussetzungen, ohne die die

Universität nicht entstanden wäre. Machen wir uns, für den weiteren Gang der Dinge, nur noch einmal klar: was Abaelard und seinesgleichen da bieten, ist universitätsgleicher Unterricht, ist aber nicht schon «Universität»! Der institutionelle Rahmen ist noch sehr schwach, vielmehr gilt: wo Abaelard ist, da ist wissenschaftlicher Lehrbetrieb —ob in Melun, in Paris, in Saint-Denis —, da sind Studentenmassen, da gewinnt der Lehrbetrieb Gestalt auch ohne Immatrikulationsbüro, ohne Rektorat, ohne Dies academicus. Um so mehr werden wir uns fragen müssen, was denn da eigentlich noch fehle.

Bologna und das Recht

Führen wir aber zunächst auch in der anderen künftigen Universitätslandschaft, in Oberitalien, die Entwicklung bis an diese Schwelle, bis an diese Frage. Zunächst die Voraussetzungen. Während in der Ile de France die Entwicklung ihren Ausgang von Kathedralschulen und jedenfalls ganz aus dem geistlichen Bereich nahm, scheint es in oberitalienischen Städten — und nur hier — immer auch nichtgeistliche Schulen gegeben zu haben. Das waren kleine Artes-Schulen, die im allgemeinen Rahmen des Trivium, aber doch zu vorwiegend praktischen Zwecken (etwa für die Ausbildung von Notaren und Richtern) notwendige Grundkenntnisse beibrachten, wie sie auch für die alltägliche Rechtspraxis erforderlich waren: ein dürftiges Latein, einige unentbehrliche Urkundenformeln, ein wenig Argumentation, so etwas liess sich auch in den Fächern Grammatik, Rhetorik, Dialektik vermitteln, da es doch eigentliche Rechtsschulen mit juristischer Fachausbildung selbst in Italien längst nicht mehr gab. Von solchen kleinen, meist privaten Artes-Schulen gab es auch in Bologna, an ihnen lehrten die ersten mit Namen bekannten Rechtslehrer wie Pepo (um 1075) und Irnerius (etwa 1060-1130), aus ihnen erwuchsen eigentliche Rechtsschulen, die dann im 12. Jahrhundert Bolognas Ruhm und endlich den Kern seiner Universität ausmachen werden. Denn wie in Paris die Theologie, so wird in Bologna das Recht im Mittelpunkt des Lehrbetriebs stehen.

Doch zuvor musste sich der Rechtsunterricht aus dem Trivium herauslösen und zur Jurisprudenz verselbständigen, zu einer Fachausbildung werden, die den neuen Anforderungen der Zeit besser entsprach als die traditionelle Rechtsfindung. Und dieser entscheidende Schritt wird, wie so vieles Grosse in der abendländischen Geschichte, mit Hilfe der Antike getan: nicht die Antike zu kopieren, sondern mit ihrer Hilfe zu eigenen Lösungen zu finden, ist kennzeichnend gerade für produktive Epochen und der eigentliche Sinn ihrer Antikennähe. Und so auch in diesem 12. Jahrhundert, das eines der erstaunlichsten Jahrhunderte der Weltgeschichte ist: was damals für die Kunst der Rückgriff auf die antike Skulptur, was für die Philosophie (und damit auch die Theologie) die Erschliessung des ganzen, originalen Aristoteles war — das wird für die Rechtslehre

die Neuentdeckung und Ergründung des römischen Rechts.

Um die Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert begann in Bologna jener Irnerius von seiner Ausbildung her nicht Jurist sondern magister artium, mit dem Studium des römischen Rechts in der von Kaiser Justinian abschliessend kodifizierten Form, dem (später so genannten) Corpus iuris civilis. Vor allem einer der vier Bestandteile des Corpus fand zunehmendes Interesse: die sogenannten Digesten, eine Sammlung von Rechtsgutachten und -entscheidungen römischer Juristen, die seit einem halben Jahrtausend verschollen war und erst jetzt wieder bekannt wurde, ausgehend von vermutlich einer einzigen unteritalienischen Handschrift —die Überlieferung dieser fundamentalen Texte, die die Welt verändern werden und ohne die auch die Neuzeit nicht wäre was sie wurde, hing lange Zeit am seidenen Faden einer einzigen Handschrift!

Was Irnerius dazu bewogen hat, sich aus eigener Initiative ohne Auftrag (cepit per se studere, wusste man von ihm: aus sich heraus, ganz einfach so) mit diesem scheinbar toten Rechtsstoff in seiner Ganzheit zu befassen und was ihn damit in seiner Zeit ein solches Echo finden liess — all das ist auf den ersten Blick schwer zu begreifen, denn das fällt unter die Grundfrage, die die Universitätsgeschichte von ihren Anfängen bis heute begleitet: ob sich der menschliche Geist nur in Aussicht auf unmittelbar erkennbaren Nutzen in Bewegung setze, oder ob ihn etwa auch die Faszination eines Problems allein nicht ruhen lasse. Denn von einer unmittelbaren Anwendung römischen Rechts, seit vielen Jahrhunderten ausser Geltung, konnte in diesen Anfängen natürlich nicht die Rede sein, ja dem stand einiges ausdrücklich entgegen: die Tatsache etwa, dass das im Grunde kaiserliches Recht war, in der gegenwärtigen Auseinandersetzung zwischen Kommunen und Kaiser also eher der Gegenseite dienlich sein würde («Kommune» kam darin nie vor, immer nur «Kaiser», und für die anderen aufsteigenden Mächte, für Papsttum und nationales Königtum, galt dasselbe). Was dieses Recht in einer gänzlich veränderten historischen Umwelt dann doch wieder lebendig werden liess, war die eigentümliche Faszination, die von seinem Studium ausging: seine Systematik wies den Weg zu einer Verwissenschaftlichung des Rechts, zu einer systematischen Durchdringung und Weiterentwicklung auch des geltenden Rechts — und darin liegt, wenngleich auf einer höheren Ebene und nicht vom ersten Augenblick an intendiert, denn doch ein einsichtiger Praxisbezug. Nicht lange, und das römische Recht wird sich auch im politischen Tageskampf einsetzen lassen (auf Rom wird sich noch jeder gegen jeden berufen!); werden die Fürsten auch die Möglichkeit direkterer Anwendung erkennen; wird man der Welt so, wie man sie haben will, ein neues juristisch abgesichertes Gefüge geben. Das Recht wird Sache der Studierten.

Aber so weit sind wir hier noch nicht. Generationen bedeutender Rechtslehrer werden im Bologna des 12. Jahrhunderts diese Texte kritisch verarbeiten,

kommentieren («glossieren»), Unstimmigkeiten erkennen und (ähnlich der Scholastik) methodisch auflösen. Glossen wucherten zu Glossen-Apparaten, diese streckten sich zu Summen, bis sich endlich (wie in der gleichzeitigen Theologie) alles zu einem gewaltigen, einheitlichen, widerspruchsfreien System auftürmen wird. Diese kritische Verarbeitung wirkt vorbildlich, disziplinierend, rationalisierend und damit modernisierend — ein Vorgang von unerhörter Tragweite für die europäische Geschichte. Wie in Paris, so fanden auch in Bologna neue Fragestellungen und neue Methoden breites Echo und grossen Zulauf, weil sie auf den Systemhunger einer Zeit antworteten, die sich neu zu organisieren begann.

Auch auf kirchlicher Seite empfand man seit einiger Zeit schon (und zumal jetzt, den neuen Erfordernissen der Universalkirche unter päpstlichem Primat entsprechend) das Bedürfnis, den in Jahrhunderten gewachsenen kirchlichen Rechtsstoff zu ordnen, und war dazu im Grunde auch besser gerüstet. Und so wird, gleichfalls in Bologna und nur eine Generation nach Irnerius, der Mönch Gratian in seiner Concordantia discordantium canonum (etwa: «Harmonisierung widersprüchlicher Vorschriften», um 1140) es unternehmen, die unübersichtliche Fülle des kirchlichen Rechtsstoffes zu sichten und ordnend zusammenzustellen, diese unförmige aber durchaus lebendige Überlieferungsmasse aus älteren Rechtssammlungen, Konzilsbeschlüssen, echten und falschen Papsterlassen mit Hilfe der scholastischen Methode zu durchdringen und die Widersprüche des disparaten Materials aufzulösen. Diese Konkordanzmethode war eben einfach das Modernste, und so ergriff sie alle erreichbaren Fächer fast gleichzeitig: Theologie, Zivilrecht, Kirchenrecht. Gratians Werk wird als Decretum Gratiani Grundstock des Corpus juris canonici, das bis in unser Jahrhundert das geltende Recht der katholischen Kirche zusammenfassen wird.

Mit Gratians Arbeit war erst einmal Ordnung geschaffen worden bis etwa 1140. Aber nun ging es erst richtig los: denn der Geist einer Zeit, die das Bedürfnis gehabt hatte, den Rechtsstoff zu ordnen und damit die neue päpstliche Weltmonarchie abzustützen, baute daran natürlich auch weiter, mit eigenem Material, mit neuen Erlassen. Bald wird die junge Wissenschaft vom Kirchenrecht auch das Papsttum ergreifen, werden grosse Juristenpäpste mit massenhaft erlassenen Dekretalen die Kirche zu einer Rechtsanstalt durchbilden, ihre Hierarchisierung und Bürokratisierung vorantreiben — und damit grenzenlosen Bedarf an weiterer juristischer Fachausbildung schaffen.

Warum Universität?

Wir sind auf der Hälfte unserer Ausführungen angelangt, ohne dass eine Universität gegründet wäre. Eben darin liegt eine wichtige Einsicht: die ersten Universitäten sind nicht gegründet, sie sind entstanden. Wie aber sind sie entstanden? Überblicken wir — um

nun den entscheidenden Schritt nach vorn tun zu können — noch einmal, was alles wir jetzt in Paris und Bologna haben, und fragen uns dann, was noch fehlt.

Was wir haben, sind akademische Lehrer, «Doktoren», die wir ruhig schon Professoren nennen können (und denen auch schon veritable Professoren-Anekdoten angehängt werden); sind Schüler, die wir ruhig schon als Studenten bezeichnen können; ist ein Lehrbetrieb, der an Rang und Dimension durchaus schon universitätsgleich ist. Was hingegen fehlt, ist zunächst einmal eben das Wort (und damit ja vielleicht auch die Sache): universitas oder studium generale oder ähnliche Begriffe kommen noch nicht vor, auch ein Rektor nicht. Wozu das alles gut sei, da es bislang doch Jahrzehnte hindurch auch ohne das ging, das eben ist die eigentliche Frage, ist die Gelenkstelle unseres Themas. Warum denn Institution, wo sie dem ausgebildeten Lehrbetrieb des 12. Jahrhunderts doch erst folgte? Also noch einmal: warum konnte das nicht einfach so weiterlaufen?

Es gab offensichtlich Probleme, derentwegen sich dann Institutionen ausbildeten wie eine Hornhaut dort, wo es scheuert. Um es vorwegzunehmen: die Universität als Institution wächst aus dem Konflikt, an den Konflikten bilden sich die Institutionen aus, die zur verfassten Universität führen. Was aber waren denn die Konfliktstoffe? Da war zunächst einmal die ungeklärte Frage des Rechtsstatus: soweit sie Geistliche waren oder Bürger von Paris und Bologna, war das kein Problem. Aber diese Studenten und Dozenten, die sich da so zahlreich in Paris und Bologna zusammenfanden, waren oft weder Geistliche (zumal nicht in Bologna) noch waren sie Bürger dort, sondern meist ortsfremd, oft landfremd, aus Deutschland, aus England usw. Sie hatten damit ihre angestammten Rechtskreise verlassen, sie waren (wie es in Kaiser Friedrich Barbarossas Erlass Habita, dem ersten Privileg für Scholaren, pathetisch aber treffend heisst) gewissermassen «aus Liebe zur Wissenschaft ins Exil gegangen».

Diese weitgehende Ungebundenheit entsprach zwar dem brodelnden Selbstbekenntnis dieser Scholaren, doch war das freie Schweben auf die Dauer alles andere als kommod: unter wessen Schutz standen sie denn, nach welchem Recht lebten sie denn? Der Basler Student in Bologna konnte für die Schulden seiner Landsleute dort haftbar gemacht werden — da hatte er sein Recht! Wenn Pariser Studenten draussen vor der Stadt auf den Wiesen gegen Saint-Germain (damals wirklich noch «des Prés», «auf den Wiesen») ihren Auslauf suchten, kam es immer wieder zu Zusammenstössen mit Bürgern, schlug die königliche Polizei rasch zu, so dass sich in drastischen Fällen die Professoren mit den Studenten solidarisierten — wie aber kamen die im Alltag zu ihrem Recht? Als einfachste Formel bot sich an, dem Studierenden den Status des Klerikers zu geben und ihn so (statt der lokalen weltlichen) der geistlichen Gerichtsbarkeit zu unterstellen. Wir hören in diese (von der Kirche angebotene,

vom König hingenommene, von den Studenten begrüsste) Formel mehr Klerikales hinein, als der Zeitgenosse heraushörte. Für den hiess Klerikerprivileg vor allem: Befreiung vom weltlichen Gericht, Unverletzlichkeit, Steuerfreiheit, Versorgungsanspruch und ähnlich schöne Dinge, und das noch ohne besondere geistliche Gegenleistung, solange man die höheren Weihen nicht folgen liess. Dass man für solche rechtliche und materielle Absicherung gewisse Abhängigkeiten in Kauf nahm, konnte jedoch auf die Dauer nicht ohne Folgen bleiben. Die Universität als Institution also wächst aus dem Konflikt, verfestigt sich aus der Versteifung auf eigene Rechte, in Reaktion auf typische Konfliktsfälle:

In Paris ging der Konflikt weniger um die Frage des Rechtsstatus (denn Dozenten und Studenten waren hier meist Kleriker), sondern vor allem um den anderen grossen Problemkreis: den äusseren Eingriff in den Lehrbetrieb. Die Kirche bot zwar Schutz, beanspruchte aber auch Kontrolle und gedachte nicht, ihren Anspruch auf das Lehrmonopol aufzugeben. Und das hiess hier konkret: dass der Bischof beziehungsweise der Kanzler des Kathedralkapitels die Erteilung der Lehrbefugnis, der licentia docendi, und die Gerichtshoheit nachdrücklich als alleiniges Recht behauptete, um so den hochschiessenden Lehrbetrieb, der in den herkömmlichen Formen kaum noch gefasst werden konnte und seine eigene Dynamik entwickelte, in den Griff zu bekommen und allzu selbständige Regungen niederzuhalten. Diese Eingrenzung wurde von den Lehrenden zunehmend als unzumutbar empfunden. Der Widerstand gegen Bischof und Kanzler liess sie zusammenrücken. Die Einsicht, in corpere besser wiederstehen zu können, veranlasste sie, neue Solidaritäten zu bilden, um in solchem Zusammenschluss mehr zu sein als nur die Summe der Teile. Sie schlossen sich zu einer Einung zusammen, antworteten also mit einer Formel, die im 12. Jahrhundert zu einer Bauformel städtischer Gesellschaft geworden war: in vielen Bereichen, auf vielen Ebenen organisierte Gesellschaft sich regional, beruflich, landsmannschaftlich nach solchem Modell, von der städtischen Kommune bis zur Eidgenossenschaft, von der Bruderschaft bis zur Zunft. Das waren — und inmitten hierarchischer Gliederung mit ihren vertikalen Schraffuren musste das ins Auge fallen — genossenschaftliche Verbände von Gleichberechtigten, die ihre Geschicke in die eigenen Hände nahmen und ihre Mitglieder durch Eid auf eine gemeinsame Linie verpflichteten: frei eingegangen, mit frei vereinbarten Statuten, als Körperschaften handelnd und anerkannt. Diese Formel lag damals also in der Luft und bot ein Organisationsmodell nun auch für die junge Hochschule, war in diesem Fall aber doch ein kühner Akt der Selbstbehauptung gegenüber der eifersüchtigen Machtwahrung seitens etablierter Autoritäten.

Noch fehlte dem Zusammenschluss der Pariser Magister denn auch das Letzte: die Anerkennung und Privilegierung als korporation durch eine öffentliche

Gewalt — und das war vor Ort, unter einem gleichgültigen König und gegen einen feindseligen Bischof, auch schwer zu erreichen. Doch kam ihnen unverhofft Hilfe von aussen: das Papsttum (und zumal ein Papst vom Weitblick eines Innozenz III., der die Pariser Verhältnisse zudem von Seinem Studium her kannte) war einsichtig und geschickt genug, die Erfordernisse zu erkennen und den Professoren beizustehen. Zwar war, was dieser Papst aus Paris über die moderne Theologie zu hören bekam (und solche Post wird er wohl häufiger erhalten haben), eher bedenklich: «Die unteilbare Dreieinigkeit wird im Trivium zerlegt und auseinanderdividiert, so dass es jetzt schon genau so viel Irrtümer gibt wie Professoren, pro Hörsaal eine Irrlehre ...» Und dann die Artes-Fakultät! «Liberales heissen sie und sind doch nicht mehr frei, sondern so knechtisch, dass langhaarige Halbwüchsige sich Lehrstühle anmassen! ... und die, die noch nicht mal wissen, wie man Student ist, die wollen schon Professor genannt werden.» Natürlich war die Hilfestellung des Papstes nicht uneigennützig. Sein Kalkül war, auf einem gewissen Niveau — das ohne zugestandenen Freiraum nicht zu erreichen war und ohne das die hohen Schulen dem Papsttum nicht dienlich sein würden — die Entwicklung in geordnete Bahnen finden zu lassen, diese Schulen direkt an das Papsttum zu binden und (etwa in der Ausbildung des Kirchenrechts und der Bekämpfung von Häresien) für die Papstkirche und ihre weitere Durchformung einzusetzen, kurz: diese wie andere neue Regungen der Zeit auf die Mühlen der Kirche zu leiten, statt sich davon ersäufen zu lassen.

Der ferne Papst half gegen den nahen Bischof, indem er die Korporation der Pariser Magister erst stillschweigend (1208/09), dann ausdrücklich anerkannte (1215) und ihr so den nötigen Rückhalt gab, gegen den jahrzehntelangen erbitterten Widerstand von Bischof und Kanzler schrittweise ihre Rechte auszubauen und ihre Organe zu entwickeln: gewählte Vertreter für die Ordnung nach innen und die Vertretung nach aussen, Verpflichtung der Mitglieder auf eigene Statuten, Regelung des Vorlesungsbetriebs, eigenes Siegel, vor allem aber: das Recht auf Selbstergänzung, wie es doch auch jede Handwerkerzunft in Anspruch nahm. Nicht mehr der Kanzler allein sollte bestimmen dürfen, wer in den Kreis der Lehrenden aufzunehmen war; vielmehr hatte er ohne Auflagen die Lehrbefugnis nun auch denen zu erteilen, die von den Professoren nach ordentlichem Verfahren dazu vorgeschlagen wurden. Mit all diesen Errungenschaften wurde aus den Lehrenden eine Körperschaft, im eigentlichen Sinne ein Lehr«körper».

Und damit steht die «Universität» schon leibhaftig vor uns. Denn universitas ist nichts anderes als der damals weithin übliche Begriff für Körperschaft. Im Unterschied zum späteren Wortverständnis, wonach «Universität», als universitas litterarum, die Gesamtheit der Wissenschaften meine, ist Universität im ursprünglichen Sinn eben dies: die organisierte Gesamtheit der Lehrenden oder der Lernenden,

dann beider: die universitas magistrorum et scolarium oder bald einfach universitas, weil man inzwischen eben wusste, dass damit nicht mehr irgendeine, sondern die akademische Zunft gemeint sei. Der korporative Zusammenschluss zur universitas also ist der entscheidende Schritt, und dass er es war, wird denn auch am deutlichsten von der Gegenseite erkannt und formuliert werden: «Früher», wird ein Kanzler von Notre-Dame resigniert feststellen, «früher, als jeder Magister noch für sich lehrte und der Begriff universitas noch nicht existierte, da... wurde noch eifrig studiert. Aber jetzt, wo Ihr Euch zu einer universitas zusammengeschlossen habt, ... sind Vorlesungen und Disputationen selten geworden; die Zeit, die man den Vorlesungen entzieht, wird in Sitzungen und Diskussionen vergeudet ...» —Sie sehen, das war schon immer der Preis von akademischer Selbstverwaltung.

Die Studenten in Bologna

Versuchen wir auch für Bologna die gleiche entscheidende Durchgangsphase zu erfassen und mit der Pariser Entwicklung zu vergleichen. Die Konfliktsituation war ähnlich, doch die Frontstellung anders. Hier waren es weniger die —grossenteils einheimischen —Professoren, die sich in fremder Umwelt hätten durchsetzen und einrichten müssen; hier waren es vielmehr die — grossenteils auswärtigen — Studenten, die das Ungesicherte ihres Status empfanden und das Misstrauen ihrer Umgebung zu spüren bekamen. Denn ein Lehrbetrieb von solchen Dimensionen bot unvermeidlich Anlässe, die Einwohner dagegen aufzubringen, und es musste im Interesse von Stadt und Obrigkeit liegen, dieses akademische Getümmel irgendwie in den Griff zu bekommen, zumal in dieser spannungsreichen Zeit, da die (zunächst noch kaiserfreundlichen) Rechtsschulen und die (zunehmend selbstbewusste und somit kaiserfeindliche) Kommune zusehends auseinanderdrifteten: was mochte da mit den Studenten so an Ghibellinen und sonst noch an fünften Kolonnen in die Stadt kommen?

Andrerseits aber hatte die Kommune Bologna — die junge Kommune gewissermassen mit der jungen Hochschule gemeinsam aufwachsend — durchaus ein Interesse daran, die angesehene Rechtsschule hier festzuhalten und pfleglich zu behandeln, zumal sich nun auch in benachbarten Städten Ansätze zu höherem Rechtsunterricht zeigten. Bis dahin waren die Professoren einzig ihren Studenten verpflichtet («denen ich zugleich vorgesetzt und untergeordnet bin», quibus praesum et subsum, wie ein Bologneser Professor darum einmal dieses Verhältnis zu seinen Studenten umschreibt); auf der Basis befristeter, freier Vereinbarungen standen sie ihren Studenten gegenüber, die ihrerseits unter sich sozusagen lauter einzelne Hörer-Konsortien bildeten (wir haben Briefe, in denen Studenten einen Professor zu einer Vorlesung einladen und ihm dabei für ein Jahr eine Mindesthörerzahl, und das heisst: ausreichende Bezahlung garantieren). Das sollte so locker gefügt nicht bleiben. Seit etwa 1180 beginnt

Bologna allen nichteinheimischen Professoren einen Eid abzunehmen, dass sie Vorlesungen nur in Bologna halten würden. Mit solch einem Bleibe-Eid aber wurden sie von der Stadt einzeln in die Pflicht genommen, wurde ihre Freizügigkeit eingeschränkt und ihnen die Möglichkeit entzogen, durch Wechsel in eine andere Stadt ihre Position zu behaupten oder zu verbessern. Sie standen ihren Studenten einzeln gegenüber, nun stehen sie auch der Stadt einzeln gegenüber: keine gute Aussicht für Wahrung oder Ausbau von Rechten.

In Bologna waren es denn auch nicht die Professoren, die sich zu solidarischem Handeln zusammenschlossen: die einheimischen Dozenten sahen keinen Anlass, die auswärtigen keine Möglichkeit. Es waren vielmehr die Studenten, die das Bedürfnis nach Absicherung stärker empfanden und im Konflikt mit der Kommune härter widerstanden: vom Kaiser hatten sie nichts mehr zu erwarten. Und so schlossen sich irgendwann zwischen 1190 und 1200 die auswärtigen Rechtsstudenten zu zwei grossen Verbänden zusammen, die landsmannschaftlich gegliedert waren: zum Verband der Ultramontani, der Studenten von nördlich der Alpen (im 13. Jahrhundert dann übrigens auch schon aus Bern), und dem Verband der Citramontani, der italienischen Studenten, beide mit je einem gewählten Rektor an der Spitze und all den üblichen Zügen einer damaligen Körperschaft. Und eben diese beiden universitates (die sich später in «Nationen» gliedern werden), sind es, die in Bologna den ersten Kern der verfassten Universität bilden werden; ihre beiden studentischen Rektoren werden die ersten Universitätsrektoren sein. Damit war die Entwicklung zur verfassten Universität anders gelaufen, als sie in Barbarossas Privileg Habita vorgezeichnet schien, hatten die Studenten aus ursprünglich schlechterer Ausgangsposition die Professoren gewissermassen überholt.

Wir wollen diese Entwicklung zur verfassten Universität — die für Paris in den Statuten des Legaten Robert de Courçon 1215, für Bologna nur in verstreuten Nachrichten des 13. Jahrhunderts erste greifbare Gestalt findet — nicht im einzelnen verfolgen, und könnten es mangels historischer Quellen auch gar nicht. Irgendwann zwischen 1180 und 1210 ist dieser Prozess in Gang gekommen und so weit gediehen, dass er nicht mehr zu bremsen war. Sicher ist, dass der Anstoss dazu aus dem eigenen Innern der hohen Schulen kam, die in einer an solchen Initiativen reichen Zeit sehr wohl selbst empfanden, dass sie «des Schutzes nach aussen und der Ordnung nach innen» bedurften (Classen) und ihr neues Bewusstsein anders nicht würden behaupten können. Es war eben nicht so, dass die beiden universalen Gewalten, die sich am Lehrstoff so interessiert zeigten, dass also Papst oder Kaiser diesem Lehrbetrieb eine Institution übergestülpt und somit die Universität gegründet hätten. Sie haben (und das gilt auch für den französischen König) die Entwicklung mit Sympathie begleitet und hin und wieder fördernd eingegriffen, der eigentlichen

Konstituierung der Universität ihre Hilfe aber nur nachgereicht. Zwar haben die frühesten Verfassungsurkunden der europäischen Universität die Form königlicher oder päpstlicher Privilegien, doch geben sie dem Historiker noch zu erkennen, dass nicht sie die Institution schaffen, sondern vorangegangene Entwicklungen nur bestätigen, die im Innern der Schulen in Gang gekommen waren. In solchen Urkunden werden also immer nur die Ergebnisse dieser Auseinandersetzungen sichtbar, gewissermassen nur noch die Resultante und nicht mehr die Vektoren im Parallelogramm der historisch wirkenden Kräfte.

Entfaltung der Wissenschaften

Das ist die Generation der spontan entstandenen, aus vorherigen Schulen allmählich herauswachsenden Universitäten, die einen Rahmen erst noch finden, Spontaneität in Institutionen fassen mussten und endlich einfach da sind, ohne dass man ein festes Datum nennen könnte (für Jubiläen übrigens recht hinderlich!). Zu dieser ersten Generation der «universités spontanées» gehören neben Paris und Bologna in zweiter Linie Oxford und wohl auch Montpellier: zwei Hochschulen, die den Lehrstoff (von dem bei unserem Thema wenig die Rede sein konnte) in spezieller Ausprägung vermittelten. Im frühen Montpellier steht im Mittelpunkt die Medizin, ausgehend von den antiken medizinischen Texten eines Hippokrates, eines Galen, die auf dem Umweg über arabisch-jüdische Vermittlung nun im Abendland nutzbar wurden, gerade weil dabei auch Erfahrungen der praxisorientierten arabischen Medizin mit angeeignet worden waren (aus Salerno, als medizinische Schule noch älter, noch berühmter, wird eine Universität damals nicht werden). In Oxford hingegen wächst aus den traditionellen Fächern des Quadrivium in ersten Ansätzen die moderne Naturwissenschaft, wird früh die Bedeutung des Experiments und der Beobachtung erkannt (die Beine der Fliege sich nicht mehr von Aristoteles vorzählen zu lassen, sondern selber hinzuschauen; die Natur des Lichts nicht mit Bibelzitaten zu beschreiben, sondern mit optischen Experimenten zu begreifen), wird die praktische Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse postuliert.

Mit diesen eigenen Akzentsetzungen wurde die (im buchstäblichen Sinn:) Entfaltung der Wissenschaften früh vorangetrieben. Dass man sich bald aneinander mass, war menschlich: der Streit über die Relevanz und damit den Rang der Fächer oder Fakultäten ist ein Streit so alt und ausgelaugt, dass man sich als Historiker geniert, dazu überhaupt Stellung zu nehmen (und heute erwartet es ja auch niemand). Bemerkenswerter ist ja doch das Umgekehrte, ist die Beobachtung, wie da so verschiedene Fächer, so verschiedene Veranlagungen zusammenfanden, zusammenwuchsen und als Fakultäten beieinanderblieben bis heute. Dieses Einverständnis der Fakultäten war nichts Selbstverständliches und sollte uns immer kostbar sein.

Für diese spontan entstehenden Universitäten

war freilich auch um 1220 das institutionelle Gehäuse noch nicht fertig gezimmert, war die Gefährdung durch typische Konflikte noch nicht gebannt. Die schärfste Waffe, über die diese akademischen Verbände dabei verfügten — genauer also: die Pariser Professoren, die Bologneser Studenten (nicht die Bologneser Professoren) — war der Auszug aus der Stadt, die zeitweilige Aufhebung der Universität, der Exodus. Auf ein derart drastisches Mittel konnte man nur verfallen, solange die Universität allein aus Personen bestand und nicht auch aus Gebäuden, Apparaten, Bibliotheken (eigentliche Universitätsgebäude wird es erst im Spätmittelalter geben). Wie sollte man heute wohl das Physikalische Institut kurzfristig nach auswärts, das Anatomische Institut nach Aarau verlegen? (Um so besser, dass wir — von so viel Verständnis umgeben — dazu auch nicht den geringsten Anlass haben.)

Aber Anlass hatten die Pariser. Als ein Krawall 1229 wieder einmal mehrere Studenten das Leben kostete (als Student lebte sichs damals eben gefährlicher) und an Recht nicht zu kommen war, solidarisierten sich die Professoren mit den Studenten, erklärten den Lehrbetrieb für eingestellt — und machten Ernst, zogen ab nach Orléans, nach Toulouse, nach England, und draussen riss man sich um sie. Sie nahmen damit ein bemerkenswertes Recht in Anspruch, das ihnen der Papst dann sogar ausdrücklich zuerkennen wird: das Streikrecht — Vorlesungsstreik nicht in dem Sinn, wie es in der jüngsten Universitätsgeschichte bisweilen verstanden wurde (denn dass Vorlesungen von Studenten «bestreikt» werden, ist ja eher dem Hungerstreik zu vergleichen), sondern echter Streik, Arbeitsniederlegung, Vorlesungsstreik der Professoren!

Die Rückführung der Universität nach Paris drei Jahre nach ihrer Auflösung erbrachte denn auch die Bestätigung und Präzisierung ihrer Rechte in der grossen päpstlichen Bulle Parens scientiarum von 1231. Man hat sie als die «Magna Charta der europäischen Universität» bezeichnet, da sie die Fragen von Lehrbetrieb, Lehrbefugnis, Lehrstoff, ja auch Kleiderordnung und Mietpreiskontrolle bis ins Detail regelte. Doch ist darauf hier nicht einzugehen.

Damit steht die Universität voll ausgebildet da, ist die Entwicklung vorläufig abgeschlossen —und nur bis zu diesem zeitlichen Horizont wollte ich Sie führen. Denn damit endet die Phase der gewachsenen Universitäten, beginnt die Phase der gegründeten Universitäten; beginnt auch die Konsolidierung der frühen Universitätsverfassungen mit ihren unterschiedlichen Strukturierungen (in Paris vor allem nach Fakultäten, in Bologna nach Nationen).

Wie dieses neue Gebilde mit dem zeitgenössischen Begriff universitas von seiner Verfassung her definiert wurde, so mit der anderen offiziellen Bezeichnung, studium generale, von seiner Geltung her. Während wir unter Studium generale heute ein gesamthaftes Verständnis für die Fülle der Wissenschaften verstehen, bezeichnete der Begriff nach damaligem Wortverständnis

die überregionale Geltung einer Lehreinrichtung, die im Unterschied zum studium particulare nicht nur den Nachwuchs einer Diözese oder einer Stadt oder eines Ordens ausbildete, sondern in weiter Öffnung Studierende gleich welcher Herkunft aufnahm und die licentia ubique docendi erteilte, die Befugnis, überall in der akademischen Welt zu lehren. Der Begriff war also, ebenso wie universitas, personen- und nicht sachbezogen: generale meint nicht das generelle Angebot aller Fächer (das hat es an der frühen Universität gar nicht gegeben), sondern die generelle Öffnung für alle Studierenden. Und eben darum braucht es das Gründungsprivileg von einer der beiden universalen Gewalten, die allein für die ganze Christenheit urkunden können: von Papst oder Kaiser.

Zwei Universitäts-Modelle

Entsprechend der unterschiedlichen Initiative bei der Ausbildung der Körperschaft (in Paris zuerst die Professoren, in Bologna zuerst die Studenten) und der daraus resultierenden Gewichtsverteilung, bezeichnet man die beiden fortan verfügbaren Universitäts-Modelle kurz als das Pariser Modell der Professoren-Universität und das Bologneser Modell der Studenten-Universität. Freilich darf man sich unter «Studenten-Universität» nichts Falsches vorstellen. Der Bologneser Rechtsstudent war nicht ein Student im Gymnasiastenalter wie die Mehrzahl der Studenten an der Pariser Universität mit ihrer alles erdrückenden Artisten-Fakultät. Das Artes-Studium, das im Grunde ja Vorstufe für die anderen Fakultäten war, hatte der Rechtsstudent schon hinter sich, ja er stellte zu Hause oft schon etwas dar und wusste entsprechend aufzutreten. Was seine Position stark machte, war neben dieser Seriosität auch die Tatsache, dass er den Professoren als Arbeitgeber gegenübertrat: schliesslich lebten die Bologneser Professoren, weil meist Laien, nicht wie die Pariser Professoren von Pfründen, sondern — gewissermassen freiberuflich —von Hörergeldern.

Die Professoren bekamen die daraus folgende Abhängigkeit drastisch zu spüren: der Lehrbetrieb in Bologna war auf das strengste reglementiert. Wer unter den Professoren mit dem Stoff nicht durchkam, musste Hörergeld zurückzahlen; wer seine Vorlesung nicht schon während des Läutens begann, hatte mit Gehaltsabzug zu rechnen. (Zu besserer Disziplinierung musste er darum bei Beginn des Studienjahres einen Teil seines Gehaltes als Kaution hinterlegen.) In jeder Vorlesung sassen vier heimlich gewählte Denunziatoren, die über jede Unregelmässigkeit Bericht erstatten und die Rektoren zum Eingeifen veranlassen konnten. Diese lähmende Zucht lockerte sich erst, seit die Professoren nicht mehr allein von den Hörergeldern lebten, sondern von der Stadt besoldet wurden.

Um aber kein falsches Bild von der sozialen und wirtschaftlichen Situation der Studenten aufkommen zu lassen, sei hier hinzugefügt, dass die Masse der Studenten auch in Bologna durchaus

aus die finanziellen Probleme kannte, denen Studenten immer und überall ausgesetzt sind. Wir erfahren davon sehr anschaulich aus einer historischen Quelle besonderer Art: aus frühen Sammlungen von Musterbriefen für alle Lebenslagen (wie es sie ja auch heute noch gibt: über die Mentalität eines Volkes erfährt man aus solchen Briefstellern mehr als aus vielen Büchern!). Da ist an alles gedacht, also auch: wie schreibe ich als Student, wenn ich Geld brauche? Vorschlag der Bologneser Briefmuster-Sammlung etwa: Ich muss hier in Bologna von Tür zu Tür betteln gehen, manchmal kriege ich zwanzigmal hintereinander nichts; oder: meine Bettlaken tendunt annihilari, «tendieren dazu sich in Nichts aufzulösen» — und so geht es fort in allen Variationen. Kurz: der studentische Bettelbrief hat in solchen Briefmustern früh seinen festen Platz. Aber solche Briefsammlungen müssen, wenn sie verkäuflich sein wollen, auch an die Antwort denken: wie schreibe ich als Vater, wenn ich kein Geld schicke? Etwa so: die Ernte war wegen der Regenfälle so schlecht, dass ich keinen Gewinn gemacht habe; oder aber (und diese alternative Antwort klingt infam, ist aber volkswirtschaftlich völlig korrekt): die Ernte war so gut, dass ich wegen der Überproduktion keinen Gewinn gemacht habe.

Gewachsene Universitäten — gegründete Universitäten

Gegen 1230 also endet die Phase der gewordenen, beginnt die Phase der geschaffenen Universitäten. Fortan waren mit Paris und Bologna Verfassungsmuster vorgegeben (auf deren Besonderheiten hier nicht einzutreten ist), die übernehmen oder modifizieren konnte, wer eine Universität gründen wollte. Wer aber wollte? Wer könnte das Interesse und die Mittel haben, eine Universität zu gründen? Ein letzter Ausblick auf diese Phase kann die Fülle der Erscheinungen nur gerade typisieren:

Da gibt es früh die Staatsuniversität, an die der Fürst seine Untertanen beordert: studiert hier oder gar nicht — Neapel 1224. Denn Friedrich II. will seinen Landeskindern keinen geistigen Auslauf lassen, zudem braucht er für seinen zentralistisch und bürokratisch durchorganisierten Staat qualifizierte Beamte, um die Rechtsprechung einheitlich, die Verwaltung effektiv, die Staatsfinanz straff führen zu können. Kurz: die Universität aus Staatsraison —und das wird Zukunft haben.

Da gibt es die päpstliche Universitätsgründung, deren Finanzierung dem unterlegenen Gegner auferlegt wird: Toulouse 1229. Nach Vernichtung der ketzerischen Albigenser im Languedoc gewissermassen als theologisches Trutz-Albi, als Zitadelle der Orthodoxie zum Zwecke geistlicher Reconquista gegründet, wird dieses Universitätsprojekt dem besiegten Grafen von Toulouse in die Friedensbedingungen diktiert: Du hast 14 Lehrstühle zu finanzieren (das sind Reparationen besonderer Art, in heutigen Kapitulationen schwer vorstellbar). Die Finanzierung schien damit gesichert, nun mussten noch die Professoren her.

Und so liess man sich ein Werbeschreiben einfallen, das unter anderen Dingen (hier sind die Einwohner höflich, die Preise niedrig) nicht-materielle Anreize besonderer Art in Aussicht stellt: wer hier lehrt oder studiert, erhält volle Sündenvergebung, und: hier dürft Ihr auch über jene aristotelischen Schriften lesen, die an der Universität Paris noch nicht zugelassen sind! In der Not frisst der Teufel eben Fliegen und die Kirche Aristoteles.

Da gibt es städtische Universitätsgründungen, die als Ableger anderer entstehen, weil Studenten und Professoren — aus Protest oder ganz einfach aus Unternehmungslust —geschlossen in eine andere Stadt abwandern und dort eine neues Studium zu errichten versuchen. Solche Zellteilungen gibt es vor allem in Oberitalien. Als Ableger Bolognas entsteht so 1222 Padua, um seinerseits schon 1228 eine weitere Universität aus sich zu entbinden: auf Einladung der Stadt Vercelli verhandelte damals eine Delegation von Paduaner Studenten-universitates über die Gründung. Die Stadt fragte nicht: was haben wir von einer Universität — sie wusste es. Das Verhandlungsergebnis ist überliefert und lässt auf das anschaulichste erkennen, welche Erwartungen und Vorstellungen beide Seiten in ein solches Vorhaben einbrachten. Da werden nacheinander alle vertrauten Probleme angesprochen: der Rechtsstatus der Studenten, das Wohnraumproblem (auf mindestens 500 Wohnungen wird der Bedarf geschätzt) und die Mietpreiskontrolle durch eine gemischte Kommission (das war eines der Grundrechte der frühen Universität); ausreichende Lebensmittelversorgung (zweimal wöchentlich Markt), und zinsgünstige Darlehen für den Anfang — das klingt uneigennützig, aber es lockte doch auch, und es band. Denn man hatte sehr wohl eine Vorstellung auch von der volkswirtschaftlichen Seite eines solchen Vorhabens. (Ein Gutachten vor Gründung der Universität Basel 1460 wird nicht nur eine Schätzung der zu erwartenden Studentenzahlen wagen, sondern auch der Summen, die die Studenten in Umlauf bringen würden: jeder Student werde im Jahr mindestens 20 Gulden verausgaben, das mache bei 500 Studenten 10000, bei 1000 Studenten immerhin 20000 Gulden — nur dass sich diese Prognose als völlig falsch erweisen wird, auch die niedrigere Zahl war noch viel zu hoch gegriffen.)

Doch zurück nach Vercelli und zum nächsten Verhandlungspunkt: wieviel Lehrstühle brauchen wir, und welche sollen es sein? Man einigte sich auf 14 Professuren in kennzeichnender Zusammensetzung: mit 4 phil.-hist./phil.-nat., 2 Medizinern (die wünschte sich wohl die städtische Seite), aber 7 Juristen und nur einem Theologen war diese projektierte Universität Vercelli deutlich eine Enkelin von Bologna und nicht von Paris. Ganz und gar bolognesisch verfasst ist denn auch die Berufungspraxis: über die Berufung der Professoren entscheiden, mochte deren Besoldung auch von der Stadt übernommen werden, allein die studentischen Rektoren. An Dienstpersonal schienen zwei Planstellen hinreichend.

Damit war die Universität im Aufriss


fertig. Die Zuversicht der akademischen Seite, «die ganze Universität Padua nach Vercelli zu ziehen», erwies sich, trotz landesweiter Werbung, dann doch als zu viel versprochen. Aber das berührt uns hier nicht mehr: an Gründungen, die nicht gelangen, wird die Universitätsgeschichte bald reich sein — wurden doch bald Universitäten gewissermassen auf Vorrat gegründet, denn eine Universität galt inzwischen als etwas Schönes, das sich ein Fürst um die Schultern legen konnte. Man besorgt sich von Kaiser oder Papst vorsorglich eine Gründungsurkunde — und belässt es dabei: Gründungsurkunden ohne Universität, wie vorher Universitäten ohne Gründungsurkunde, nichts könnte den zurückgelegten Weg besser kennzeichnen.

Das Gründungsprojekt Vercelli, das in seiner Frische und pragmatischen Direktheit so unmittelbar anspricht, gab uns noch einmal den Aufriss einer frühen Universität und zugleich einen Querschnitt durch praktisch alle Probleme der frühen Universitätsgeschichte. Darum stehe dieses Beispiel hier am Ende unserer Ausführungen, die Ihnen einen kleinen Einblick geben wollten in Zeitspannen von Universitätsgeschichte grösser als es unscheinbare Rektoratsjahre sind.

Historische Erfahrungen sind schwerlich übertragbar. Aber einiges lehren sie uns doch: man musste die Universität auch wollen, in Paris, in Bologna, im Länggassquartier, und sie gediehen und gedeihen, weil man sie dort will. Und auch noch etwas anderes lehrt uns diese Geschichte: den Respekt vor den Leistungen und Entscheidungen anderer. Denn hüten wir uns davor, Universitätsgeschichte (und Geschichte überhaupt) so zu lesen, als habe sie so und nicht anders ablaufen müssen, nur deshalb, weil sie eben so abgelaufen ist. Nein: Vergangenheit ist gewesene Gegenwart, Vergangenheit ist ein Raum einstmals offener Entscheidung, in dem Menschen sich entscheiden, Universitäten ihren Weg finden mussten — und dieser Weg ist nie einfach gewesen, im 13. Jahrhundert nicht einfacher als im 20. Jahrhundert, nur dass unsere Probleme andere sind. Versuchen darum auch wir —angeleitet oder doch ermutigt durch diese historische Erfahrung —, einvernehmlich und besonnen unsere Probleme auf unsere Weise zu bewältigen, und seien wir dankbar für das Verständnis, das wir finden