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Gedanken über die psychische Energie

Unter den zahlreichen Liegenschaften unserer Universität befindet sich eine an der Rämistrasse, die einst mit goldenen Lettern die Bezeichnung trug: PHYSIK und PHYSIOLOGIE. Darin haben zwischen 1909 und 1951 nicht weniger als 5 Nobelpreisträger gelehrt und geforscht: Die Physiker Albert Einstein, Max von Laue, Peter Debye, Ernst Schrödinger und der Physiologe Walter Rudolf Hess. Allen gemeinsam war, dass sie sich —jeder in seiner Domäne — mit dem Energieproblem befasst haben. Wohl alle haben sich auch Gedanken über die Frage der psychischen Energie gemacht. Aber nur Hess fand von der Psychophysiologie her Anlass, sich über die psychischen Kräfte des Menschen zu äussern und eine Energie besonderer und unbekannter Art zu postulieren.

Wenn wir heute allgemein von Energie sprechen, dann meinen wir ein Problem von epochaler Aktualität, von dessen Lösung letzten Endes sehr wohl das Schicksal der Menschheit abhängen könnte. Energie ist ein Begriff, den jedermann zu verstehen glaubt und anscheinend niemand erklären kann. Er war schon im Altertum durch Aristoteles bekannt geworden, hat aber erst im letzten Jahrhundert seine heutige Bedeutung erlangt. Aristoteles meinte in seiner Lehre von der Metaphysik mit Energie (Energeia) die «Aktualität» im Gegensatz zur «Potentialität» (Dynamis). Von diesem Ansatz her hat sich wohl das Verständnis der Energie im Laufe der Zeit bis zu den heutigen Vorstellungen gewandelt.

Die Physiker im 19. Jahrhundert bemächtigten sich dieses Begriffs als Ersatz für denjenigen der Kraft und schufen in der Folge die Lehre der Thermodynamik von der Entropie bis zur Physik der werdenden Ordnung (Synergetik). Meine Vorgängerin im Amt, Frau Prof. Verena Meyer, hat über diese Entwicklung in der modernen Physik anlässlich der 150. Jubiläumsfeier der Universität berichtet.

Schon bald nach der Formulierung des Erhaltungssatzes und dem Nachweis der Quantifizierbarkeit der Energie durch R. Mayer (1842) und H. von Helmholtz (1847) hielt der Energiebegriff auch Eingang in die wissenschaftliche Psychologie und in die Psychiatrie. Schliesslich gab der physikalische Energiebegriff Anlass für eine alles umfassende Energielehre, mit der versucht wurde, auch die psychische Energie als transformierbare Energieform unter die thermodynamischen Grundgesetze zu stellen. Namhafte Psychophysiker und Psychologen wie Theodor Fechner (1860), Wilhelm Wundt (1874), Josef Breuer und Sigmund

Freud (1895) sowie Carl Gustav Jung (1928) beschäftigten sich intensiv mit diesen Fragen. Begriffe wie «élan vital» des Philosophen Henri Bergson (1897) und «Psychokym» des Psychiaters Eugen Bleuler (1921) erhellten die Szene eine Zeitlang, vermochten sich aber nicht durchzusetzen. Lorenz, Tinbergen und andere renommierte Verhaltensforscher haben versucht, den Begriff der Energie für die Ethologie nutzbar zu machen. Eine eigentliche Psychoenergetik ist bisher aber nicht fruchtbar geworden. Das wurde vom Medizinhistoriker Erwin Ackerknecht (1984) und von Norbert Bischof (1985) klar zum Ausdruck gebracht. Am besten hat sich der Libidobegriff Freuds bis heute erhalten.

Für den hervorragenden englischen Neurophysiologen Charles Sherrington («Man on his Nature», 1940) ist die neurale Energie notwendig, um zwischen Psyche und Materie zu vermitteln. Aber diese Energie ist an Materie gebunden, und die Kluft zwischen den beiden, Psyche und Materie bzw. Psyche und Energie, ist für ihn unüberbrückbar. Das Geistige bzw. Seelische kann nicht als Energieform erscheinen, und darin liegt das Rätselhafte, was Physiologie und Psychiatrie voneinander trennt und ein universales Energiekonzept unmöglich erscheinen lässt.

Ich habe das für einen Naturwissenschafter nicht ganz risikolose Thema gewählt, nicht weil ich damit eine neue Energielehre entwickeln wollte, sondern weil ich es angebracht fand, dass sich ein Neurobiologe Überlegungen darüber macht, was sich aus der Sicht der modernen Hirnforschung über den in der Umgangssprache gebräuchlichen Begriff der menschlichen «Energie» sagen lässt.

Das Phänomen

Die menschliche Energie beobachten wir an Mitmenschen, und wir erfahren sie an uns selbst. Wenn wir von einem energischen Menschen sprechen, so meinen wir einen, der Entschlossenheit und Handlungsbereitschaft, innere Kraft, aufweist, die hinter allem Handeln steht. Energie erweist sich in der «Präsenz», in jener spontanen Bereitschaft zur Übernahme von Macht und Verantwortung, zum Anpacken einer Aufgabe oder zur Lösung eines Problems, aber auch in der Widerstandskraft gegen Schicksalsschläge und schwere Krankheiten. Im Grunde sind die meisten von uns Vitalisten, denn wir stellen uns unter psychischer Energie eine lebendige Kraft vor, die uns mit Spannung erfüllt. Das Gegenteil ist der Fall beim energielosen Menschen, der kraftlos, unentschlossen, zögernd an. die Arbeit und an Probleme herantritt. Sein Verhalten strahlt Pessimismus und Verzagtheit, Willensschwäche und Angst vor Verantwortung aus. Hinter der psychischen Energie vermuten wir eine Kraft, welche unsere geistige Tätigkeit bei gespannter Aufmerksamkeit, beim Denken und Handeln beeinflusst, welche aber auch unsere sinnliche Wahrnehmung, die affektive Anteilnahme, die Grundstimmung und die Merkfähigkeit bestimmt. Es handelt sich um ein komplexes Phänomen, das objektiv an der Intensität und an der Raschheit des Denkens und Handelns und an der Vielfalt der Gefühle skalierbar, wenn auch nicht messbar ist, und das subjektiv als primäre Wirklichkeit erfahrbar ist. Wesentlich

dabei scheint mir auch, dass die psychische Energie kein stationäres Phänomen ist, sondern grösseren Schwankungen (bis zur Erschöpfung) unterworfen bleibt, die sowohl von inneren als auch von äusseren Bedingungen abhängig sind.

Gibt es eine Wahrnehmung des Energieumsatzes im menschlichen Gehirn?

Das Gehirn, welches nur knapp 2% des Körpergewichtes ausmacht, beansprucht ungefähr 20-25% der Gesamtenergie des Organismus. Diese Energie entstammt grösstenteils dem zellulären Abbau der Glukose in den Nervenzellen.

Die durch Stoffwechselprozesse gewonnene Energie wird von den Nervenzellen benötigt, um daraus Ruhe- und Aktionsströme (Grössenordnung 0,01-1 Milliampère), aber auch komplexe chemische Stoffe zu bilden, die sowohl für die Informationsverarbeitung als auch für die strukturale Erneuerung des Gewebes erforderlich sind. Ein sehr grosser Teil der Stoffwechselaktivität spielt sich an den Kontaktstellen (Synapsen) zwischen den Nervenzellen ab, wobei zu beachten ist, dass auch inhibitorische Vorgänge auf Aktivität von Nervenzellen und Synapsen beruhen und deshalb ebenfalls Energie benötigen.

Man kann heute nicht nur den durchschnittlichen Energiehaushalt des gesamten Gehirns, z. B. am Sauerstoffverbrauch, messen, sondern mit Hilfe der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) auch quantitative Anhaltspunkte über den regionalen Sauerstoff- und Glukoseverbrauch in umschriebenen Funktionsarealen erhalten. Solche Untersuchungen können heute am gesunden und kranken Menschen bei vollem Bewusstsein und sowohl schmerzfrei als auch gefahrlos durchgeführt werden.

Mit Hilfe dieser Methoden ist es möglich geworden, aus dem raum-zeitlichen Aktivitätsmuster Aufschluss über die Kooperation der auf verschiedenen Etagen angesiedelten Gehirnzentren zu erhalten. Die Computerauswertung liefert ein stets wechselndes Bild von mehr oder weniger aktiven oder ruhenden Feldern der Grosshirnrinde, welche den beim Denken, Fühlen, Wahrnehmen und Handeln beteiligten Zell-Aggiomeraten entsprechen. Damit hat die Hirnforschung einen weiten Weg von der klinisch-pathologischen Bearbeitung von Autopsiematerial, d. h. vom «Negativbild» des toten Gehirns, bis zur dreidimensionalen Kartographierung der Gehirnaktivität am lebenden Organ zurückgelegt. Die Möglichkeiten, die sich für die Wissenschaft, aber auch für die Diagnostik der Hirnkrankheiten eröffnen, sind heute so unbegrenzt wie die Erregungskombinationen der über 10 Milliarden Nervenzellen.

Haben nun die energetischen Prozesse, bei denen chemische und physikalische Vorgänge in neurale Erregungsenergie überführt werden, etwas zu tun mit der Erfahrung einer psychischen Energie bzw. Dynamik? Im Unterschied etwa zur Temperatur- oder Schmerzwahrnehmung, wo spezifische Kommunikations-Systeme für Kodierung, Bearbeitung und Dekodierung der neuralen Impulsmuster sorgen, kennen wir im Energiehaushalt weder einen Detektor, der Energiewerte

laufend registriert, noch einen Monitor, welcher den Stoffumsatz direkt ins Bewusstsein einfliessen lässt. Wenn Energiedissipation im Gehirn zum Energiegefühl beiträgt, so jedenfalls nur über die Bewusstwerdung der energiekonsumierenden spezifischen neuralen Prozesse.

Gibt es dynamisierende Zentren im Gehirn?

Gemeint sind Systeme, welche Entstehung und Ablauf von Erregungsmustern (z. B. der Wahrnehmung, der Motorik, des triebhaften Verhaltens, der Gefühle und Stimmungen) positiv beeinflussen können. Der bereits erwähnte Zürcher Physiologe W. R. Hess (1949) hat im Hypothalamus, d. h. in der untersten Etage des Zwischenhirns, eine Zone gefunden, deren elektrische Stimulation eine erhöhte Wachsamkeit und Aktionsbereitschaft, verbunden mit motorischer Unruhe sowie mit Aktivierung von Herz, Kreislauf und Atmung hervorruft und mit Schweissausbrüchen einhergeht und bei der auch die bioelektrische Hirnaktivität die Zeichen höchster Erregung aufweist. Hess hat diese Zone als «dynamogene Zone» bezeichnet. Sie überlappt teilweise mit Zentren des affektiven Abwehr- und Wutverhaltens, teilweise mit dem Zentrum der Wärmeabwehr bzw. des Hitzegefühls und steht im Gegensatz zur hypogenen Zone, deren elektrische Reizung charakteristisches Schlafverhalten auslöst, wobei die Beziehungen mit der Umwelt abgebrochen werden und die bewussten psychischen Potenzen erlöschen. Paradox ist allerdings der Energiehaushalt des schlafenden Gehirns: Sei es, um Stoffwechselprodukte zu entfernen, sei es, um Informationen intern weiter zu bearbeiten und zu speichern, sei es, um Strukturen zu erneuern, werden im Schlaf entgegen allen Erwartungen weder kleinere Blutmengen durch das Gehirn befördert noch weniger Sauerstoff verbraucht als bei geistiger Arbeit im Wachzustand.

Im Zusammenhang mit der Energiefrage interessiert vor allem die Rolle der dynamogenen Zone im Zwischenhirn. Diese steht über direkte Kommunikationswege, auf die zurückzukommen ist, mit der Grosshirnrinde in Kontakt und vermag deren Tätigkeit zu dynamisieren. Im Zwischenhirn befinden sich wie erwähnt auch die Zentren angeborenen Verhaltens, deren neurale Aktivität untrennbar mit Affekten und Stimmungen verbunden ist. So dürfen wir annehmen, dass auch das «Energiegefühl» als subjektives Korrelat aufs engste mit der Aktivität der dynamogenen Zone korreliert ist. Dazu kommt, dass die dynamogene Zone funktionell und lokalisatorisch eng mit den Zentren des vegetativen Nervensystems (Sympathikus und Parasympathikus) gekoppelt ist. Dadurch wird die zentrale Dynamisierung auf die inneren Organe übertragen, wobei die bei erhöhter Leistungsbereitschaft eintretende Akzeleration der Herzfrequenz und der gesteigerte Blutdruck an die dynamogene Zone zurückgemeldet werden. Die subjektive Erfahrung der erhöhten Vigilität wird somit durch positive Rückkoppelung noch verstärkt. Hess spricht im Zusammenhang mit diesen Wechselwirkungen zwischen psychischen und vegetativen Funktionen von einer übergeordneten «ergotropen» Steuerung.

Die vegetative Innervation der Hirnrinde

W. R. Hess hat bereits 1925 in einer programmatischen Studie die Vermutung geäussert, dass nicht nur Blutgefässe und Eingeweide, sondern auch das Gehirn selbst von einer Art vegetativen Innervation kontrolliert wird. Gerade an den Beispielen des Schlafes und der Vigilität, von denen vorher die Rede war, wies er nach, dass dieselben neuralen Überträgerstoffe (Transmitter), welche die Tätigkeit der innern Organe regulieren und harmonisieren, auch die Leistungsbereitschaft des Zentralnervensystems beeinflussen können. Jedoch erst in den frühen 60er Jahren gelang es einer skandinavischen Forschergruppe, im Gehirn ein dünnkalibriges, monoaminhaltiges Innervationssystem mit histochemischen Methoden erstmals sichtbar zu machen (Falck und Hillårp, 1962), welches dem von Hess postulierten Binnensystem entsprechen konnte.

Unter dem Begriff «Transmitter» verstehen wir chemische Überträgerstoffe, welche die in Form von elektrischen Impulsen registrierbare Erregung von einer Nervenzelle auf die nächste weiterleiten. Die chemische Impulsvermittlung an den Synapsen stellt eine fundamentale Hypothese der modernen Neurophysiologie dar, die durch die Entwicklung der Psychopharmakologie bedeutende Fortschritte für Verständnis und Behandlung von Nerven- und Gemütskrankheiten gebracht hat.

Neben monoaminartigen Transmittersubstanzen (Adrenalin, Noradrenalin, Dopamin, Serotonin) ist inzwischen ein reiches Spektrum von weiteren Ammen und vor allem auch von kleinmolekulären Peptiden auch in der Hirnrinde nachgewiesen worden, welche auf das Vorhandensein eines differenzierten neurosekretorischen Systems schliessen lässt. Die Übereinstimmung zwischen den im Gehirn und den in den inneren Organen inkl. Verdauungstrakt vorkommenden Nervennetzen ist frappant! Die bisher vorgefundenen Transmittermoleküle werden von winzigen Nervenzellen in der Tiefe des Gehirns produziert. Diese bilden ein reich verzweigtes Faserwerk von variabler Dichte, welches die Millionen von «chip» artigen Funktionselementen der Gross- und Kleinhirnmatrix und sogar das Rückenmark durchwebt (Abb. 1). Bestimmte Funktionssysteme scheinen ihre eigenen bzw. bevorzugten Transmitter zu besitzen. Von den vielen Wirkstoffen im Gehirn interessieren uns das Dopamin und die sog. Endorphine in besonderer Weise. Das Dopamin ist bekannt für seine Mitwirkung bei der Selbststimulationssucht (Olds) und wird von gewissen Autoren mit der Lustempfindung in Zusammenhang gebracht. Die sog. Endorphine (körpereigene Morphine) anderseits, welche — obwohl nicht der Stoffgruppe des berüchtigten Alkaloids des Lachmohns angehörend — morphiumartige Eigenschaften besitzen, befreien nicht nur von Schmerz, sondern sie können jenes Hochgefühl induzieren, welches angeblich auf dem ((trip» verspürt wird. Der französische Molekularbiologe Changeux (1983) hat deshalb die Feststellung gemacht, dass diese Substanzen etwas mit der Entstehung des «Energiegefühls» zu tun haben könnten. Hier taucht vielleicht bei manchen die Frage auf, ob nicht die vielzitierte «Adrenalinausschüttung» ins Blut ebenfalls in diesen Zusammenhang gehöre. Da jedoch das Gehirn gegenüber dem Nebennierenhormon durch eine Gewebeschranke geschützt ist, kann ein stressbedingter Adrenalinausstoss höchstens indirekt auf die Psyche einwirken.

Verteilungsmuster der monoaminhaltigen Nervenfasern im Stirnhirn. Die drei Systeme zeigen im gleichen Areal je ein schichtspezifisch verschiedenes Verhalten (nach Lindvall und Björklund, 1984).

Energetik und Bioelektrizität beim Willensakt

Wohl nirgends ist man mehr geneigt, die Wirkung psychischer Energie anzunehmen, als bei spontanen Handlungen. Als einer der führenden Neurophysiologen der Gegenwart beschäftigt sich John Eccles seit längerer Zeit mit dem Leib-Seele-Problem (The Neurophysiological Basis 0f Mmd, 1953). Zusammen mit dem Philosophen Karl Popper hat er ein Buch über das Thema «The Self and its Brain» veröffentlicht (1977), worin u. a. auch das Problem der Willkürmotorik und des freien Willens zur Sprache kommt. Dank der modernen Hirnforschung ist die cerebrale Maschinerie der Bewegungszentren bis ins Detail bekanntgeworden. Wie steht es nun mit der geistigen Energie, die diese Maschinerie beherrscht? Welche cerebralen Ereignisse bedingen die Kette der psychischen Vorgänge, die bei der Vorbereitung einer Willkürbewegung — über den Denkvorgang, vom Motiv bis zur Absicht und schliesslich zum Handlungsimpuls — ins Spiel gebracht werden?

Die Zentren des Bewegungsapparates haben ihren Hauptsitz im Frontallappen des Grosshirns. Man kann zwei Komponenten unterscheiden. In der Reihenfolge ihrer Entdeckung sind es (1) der primäre motorische Cortex (Areal MI) als ausführendes Organ und (2) die supplementär-motorische Rinde (Areal MII) als Planungs-, Programmier- und Leitungssystem (Abb. 2). Beide stehen sich wie Orchester und Dirigent gegenüber. Beide sind in cortical-subcortical-corticale Regelkreise

eingeschlossen, welche Signale sowohl aus den Sinnessphären (Augen, Muskeln, Gelenks-Schwerkraftsrezeptoren usw.) als auch aus dem Kleinhirn beziehen. Auf Niveau Stirnhirn stehen die entscheidenden Repräsentanten beider Systeme in direkter Verbindung. Aber nur MI unterhält relativ direkte Beziehungen zum Skelettmuskelapparat. Während Ml schon vor über hundert Jahren mit Hilfe der elektrischen Stimulationsmethode entdeckt und seither systematisch durchforscht worden ist, weiss man über die Funktion von MII erst seit kurzer Zeit. Im Zusammenhang mit der Willkürmotorik ist dieses Areal aber von besonderem Interesse.

Cerebrale Organisation der Motorik. Links Die motorischen Rindenfelder MI und MII nach Woolsey (1958) (s. Text). Rechts: Vereinfachtes Schema der entsprechenden Regelkreise nach Wise und Strick (1984).

Bei unseren Überlegungen zur Entstehung des Willküraktes nehmen wir deshalb zunächst Bezug auf die Beobachtungen von Roland und seinen Mitarbeitern (1980), welche in Kopenhagen mit Hilfe der bereits erwähnten Messungen der Hirnrindendurchblutung feststellen konnten, dass bei willkürlichen Bewegungen die erste erkennbare Durchblutungszunahme in MII auftrat, und zwar mit deutlichem Vorsprung auf das primäre motorische Areal. Rolands Versuchspersonen erhielten zur Aufgabe, den Daumen in rascher Folge mit den Fingerspitzen der übrigen Finger 1-3 Mal hintereinander in Berührung zu bringen. Nach jedem Durchgang wurde die Reihenfolge umgekehrt und so fort während einer Minute. Während dieser Zeit wurde die Durchblutungszunahme durch über 250 über die ganze Hirnrinde verteilte Detektoren gemessen. Die Zunahme im primären motorischen Cortex (Ml), d. h. im Repräsentationsgebiet der Finger, war erwartungsgemäss etwa 30%. Aber auch im vorgelagerten supplementär-motorischen Areal (MII) stiegen die Werte signifikant an. Während diese Befunde die bisherigen Kenntnisse lediglich bestätigten, führte nun das folgende Experiment zur grossen Überraschung. Die Versuchspersonen wurden gehalten, die Fingerbewegungen, die sie vorher ausgeführt hatten, sich lediglich vorzustellen, und zwar so intensiv wie möglich. Wie erwartet traten dabei keine Veränderungen im

primären motorischen Cortex auf, dagegen war die Durchblutung als Kriterium für die gesteigerte Aktivität in MII deutlich erhöht, wie wenn die Fingerbewegungen tatsächlich ausgeführt worden wären. Daraus lässt sich folgern, dass dieses Areal bei der Intention einer Bewegung relativ stark beteiligt ist. Nirgendwo sonst in der Hirnrinde war ein ähnlicher Anstieg der Durchblutung bzw. des Energieverbrauchs festzustellen. Genau das umgekehrte Verhalten zeigten die beiden Areale, wenn automatische Bewegungen ausgeführt wurden. MII blieb stumm, und nur Ml zeigte Aktivierung. Offenbar wird MII nur dann beansprucht, wenn eine ständige geistige Anstrengung bei der Durchführung einer Bewegung erforderlich ist.

Mit diesen Ergebnissen ist klargeworden, dass MII eine dem primären motorischen Rindenareal übergeordnete Kontrollfunktion ausübt. Die Frage bleibt, woher MII seinerseits aktiviert wird. Bevor wir auf diese Frage eintreten, darf zur funktionellen Bedeutung von Mil noch eine weitere Beobachtung hinzugefügt werden. Klinische Erfahrungen mit Patienten, welche einen doppelseitigen Zerstörungsherd im Bereiche von MII aufweisen, zeigen nämlich eine sehr deutliche Antriebsschwäche für die Initiierung von Bewegungen, einschliesslich des Sprechens. Umgekehrt beeinträchtigen Läsionen von MI wohl die Ausführung von Bewegungen, nicht aber den Willen zur Ausführung.

Der nächste Schritt betrifft die Beziehungen des «Willensimpulses» zu den bioelektrischen Vorgängen, die sich in MII während der Vorbereitung einer willkürlichen Bewegung abspielen. Ein wichtiger Ansatz war die Entdeckung des «Bereitschaftspotentials» von Kornhuber (Kornhuber und Deecke, 1965). Es handelt sich dabei um eine bioelektrische Potentialschwankung, die in der Mitte über dem Stirnhirn des Menschen, speziell über der prämotorischen Rinde, registriert werden kann und vermutlich die Summation der Synapsenpotentiale darstellt. Sie beginnt, allmählich sich steigernd, ungefähr 1 Sekunde vor der Erregung des primären motorischen Rindenzentrums, welches darauf den Skelettmuskelapparat aktiviert. Wie verhält sich nun das Bereitschaftspotentiai Kornhubers zum bewussten Willensakt? Darüber haben kürzlich Libet und Mitarbeiter (1985) näheren Aufschluss erhalten, indem sie mittels einer besonderen Messanlage den Zeitpunkt des Bewusstwerdens der Intention für die Ausführung einer einfachen Handbewegung einigermassen verlässlich festlegen und mit dem Erscheinen des Bereitschaftspotentials an der Oberfläche des Stirnhirns vergleichen konnten. Das Überraschende dabei war, dass die Bereitschaftswelle deutlich vordem durch die Versuchsperson angekündigten Willensimpuls in Erscheinung trat (Abb. 3). Die Autoren zogen daraus den Schluss, dass die Vorbereitung einer Willkürbewegung, im Gegensatz zur landläufigen Meinung, nicht unter bewusster, sondern unter unbewusster Kontrolle beginnt. Wie zu erwarten war, beschworen diese Beobachtungen und ihre Deutung eine Weile des Protestes seitens einiger Psychologen und Philosophen herauf, vermutlich weil dadurch das Primat des bewussten Selbst und dessen freien Willens in Frage gestellt war. Die Kritik bezog sich vor allem auf allfällige technische Mängel und auf das relativ primitive Modell, welches eher einer automatischen Bewegung gleichzusetzen sei als einer bewussten Handlung. Gehen wir einmal davon aus, dass im

vorliegenden Experiment die Bereitschaftspotentiale und das Bewusstwerden der Willkürimpulse tatsächlich in der angegebenen Reihenfolge auseinanderlagen. Daraus würde ich schliessen, dass die «unbewusste» Anfangsphase des Bereitschaftspotentials sehr wohl mit den neuronalen Prozessen der Motivation zu tun hat, welche für die Willensbildung je nach Umständen von entscheidender Bedeutung sein können. Jedenfalls lassen die Libetschen Beobachtungen, so interessant und bedeutungsvoll sie sind, die Frage der Kausalitätsbeziehungen zwischen Wille und Hirntätigkeit auch weiterhin offen.

Beziehung zwischen Bereitschaftspotential und Willensimpuls bei Ausführung einer willkürlichen Handbewegung. Die vertikale Linie markiert den Moment, in welchem die Handmuskulatur aktiviert wird, W. = Moment, in welchem die Versuchsperson nach Libet (1985) den Willensimpuls verspürt (s. Text).

Nun ist ohnehin MII bei der Vorbereitung eines Willküraktes nicht allein beteiligt. Ich denke vor allem an klinische Hinweise auf ein Substrat nahe der Hirnbasis, welches ebenfalls mit der Auslösung von Willkürbewegungen in Verbindung gebracht wird. Ausgehend von der Erforschung der Parkinsonschen Krankheit wurde der Zusammenhang zwischen diesem Leiden und dem Überträgerstoff Dopamin bekannt. Die an dieser Krankheit leidenden Patienten haben bekanntlich Mühe, eine Bewegung in Gang zu bringen. Die Initiative zur Auslösung einer Bewegung fehlt, oder sie setzt verzögert ein. Man bezeichnet diese Störung als Bewegungsarmut oder gar als Akinesie. Heute weiss man, dass die Akinesie mindestens teilweise auf der mangelhaften Dopaminbildung im nigrostriatalen System beruht. In diesem Fall greift das Dopamin nicht nur im Stirnhirn, sondern auch in den tiefer liegenden sog. Stammganglien an. Dabei werden subtile Erregungsgleichgewichte verschoben, welche die in Vorbereitung befindliche Selektion eines Bewegungsmusters (Programms) auf Ebene des prämotorischen Stirnhirns beeinflussen können. Damit sind wir mit dem Dopamin ein zweites Mal auf die «vegetative Innervation» des Gehirns gestossen. Durch medikamentösen Ersatz (L-DOPA) kann dieser Transmittermangel behoben und damit die Akinesie weitgehend rückgängig gemacht werden.

Diese Erfahrungen bestätigen, dass bei der Bildung eines Willensimpulses nicht allein das Stirnhirn, sondern auch tieferliegende Hirnstrukturen beteiligt sind. Die Frage ist nur, ob auch diese Komponente an der Emergenz der bewussten Wahrnehmung beteiligt ist oder ob sie den unbewussten Vorgängen zuzuordnen sei. Gerade in der Motorik spielen ja unbewusste Vorgänge eine wichtige Rolle. Ich denke z. B. mit Schaudern daran, dass ich gelegentlich völlig «abwesend» mein Fahrzeug durch den Stadtverkehr gelenkt habe.

Gibt es eine besondere psychische Kraft bzw. Energie?

Ich hoffe, gezeigt zu haben, dass es im Gehirn dynamisierende Systeme mit Wirksubstanzen gibt, welche sehr wohl zum Gefühl der Energie beitragen könnten, etwa ähnlich wie das System, welches Schmerzinformation verarbeitet und auf noch unbekannte Weise am Zustandekommen einer entsprechenden bewussten Wahrnehmung beteiligt ist. Zusätzlich haben wir ein System kennengelernt, das den Bewegungszentren Impulse erteilt, die mit der Erfahrung des aktiven Wirkens und Handelns der Vorstellung einer psychischen Energie nahe kommt. In beiden Fällen haben wir es auf der neuralen Ebene mit hochkomplexen physikalischen und chemischen Geschehnissen zu tun, Vorgänge, welche auch einen erheblichen Energiekonsum zur Voraussetzung haben. Hier begegnet dem konsequenten Dualisten wiederum die Schwierigkeit, die Existenz einer übergeordneten Kraft bzw. Energie mit dem Erhaltungssatz in Einklang bringen zu müssen. Es werden deshalb immer wieder ernstzunehmende Versuche unternommen, dieses Dilemma zu umgehen. Indem wir kurz auf solche Versuche eingehen, verlassen wir unvermeidlich den Boden gesicherter Aussagen.

Nach W. R. Hess (s. von Wyss, 1948) ist das psychische Erlebnis die Wirkung einer «besonderen» Kraft. Es wird lediglich in einem psychischen Kräftefeld eine cerebral vorgebildete Gestalt des Handelns zum Spielen gebracht. Vom Wesen der psychischen Kraft ist damit nichts ausgesagt. Sie ist eine nicht erklärbare Eigentümlichkeit. Lediglich die Ordnung des psychischen Geschehens entspringt der Ordnung im zentralen Nervensystem und umgekehrt. Dabei ist die konkrete Erscheinungsform jeglicher Ordnung an Masse bzw. Energie gebunden, aber das Wesen der Ordnung ist ein davon abstrahierter Begriff. Somit erfolgt auch die Übertragung psychischer in neurale Energie und umgekehrt nicht im Sinne der Energieerhaltung, sondern im Sinne der Übertragung einer ordnenden Funktion. Im Mittelpunkt des Hessschen Denkens steht somit das psychische Erleben als primäre vitale Potenz, welche als Kräftesystem eigener Art aufgefasst und mit anderen Kräftesystemen durch die Übertragung der jeweiligen Ordnung in Wechselwirkung steht.

Auch Eccles (1986) äussert sich, ausgehend von der Dreiwelten-Theorie Poppers. in ähnlicher Richtung, wobei er allerdings sehr ausgesprochen nach den cerebralen Kontaktstellen sucht, an welchen energiefreie mentale Kräfte der Welt 2 (d.h. der geistigen Sphäre) mit denjenigen der Welt 1 (der leiblichen) interagieren. Im Falle der Willkürhandlung glaubt er die Stelle im supplementärmotorischen

Cortex gefunden zu haben. In einem weiteren Schritt sucht er die Wechselwirkung auf Quantenebene, nämlich dort, wo in MII quantale, nach der Hypothese des Physikers Margenau energiefreie Wahrscheinlichkeitsfelder auf die Bildung von nervösen Impulsen an den Synapsen einwirken sollen. Eccles beruft sich dabei teilweise auf ein elektronenoptisch gesichertes Strukturmodell der Synapse, welches im hiesigen Institut für Hirnforschung erarbeitet wurde (Abb. 4). Es ist in der Tat seit langem bekannt, dass bei der sogenannten quantenhaften Ausschüttung der Transmittermoleküle an den Synapsen probabilistische Prozesse stattfinden. Ob diese aber die gesuchte Antwort auf die Frage nach der Einwirkung energiefreier Wahrscheinlichkeitsfelder geben können? Die von Eccles zur Diskussion gestellte Möglichkeit ist sicher wert, sorgfältig überprüft zu werden. Zurzeit ist es für mich aber naheliegender, dass die beim Willensakt empfundene Energie die subjektive Entsprechung der auf höchster Organisationsstufe sich abspielenden neuronalen Aktivität darstellt. Ich bin mir allerdings bewusst, dass die Türe für die Entdeckung neuer Felder und deren Wechselwirkungen offenbleiben muss, obwohl es gefährlich werden könnte, wenn mit entsprechenden Hypothesen pseudowissenschaftliche Erklärungen von Telepathie, Okkultismus, Hellseherei und anderen paranormalen Erscheinungen Eingang finden sollten. Die Annahme einer besonderen geistigen Kraft, welche dem neuronalen Apparat unseren freien Willen aufdrückt, ist vorläufig weder bewiesen noch widerlegt. Durch die unermesslich vielen und immer wechselnden Aussen- und Innenweltinformationen, die der extremen Komplexität des Zentralnervensystems zufliessen und darin gespeichert werden, kommt eine derartige Zahl von Freiheitsgraden für die Selektion der Handlungsmöglichkeiten zustande, dass für bewusste Entscheide stets mehr als genug auf höchster Ebene evaluierter Varianten zur Verfügung stehen. Das Korrelat dieser integrierten

Modellrekonstruktion einer Synapse. Die kugeligen Gebilde in der knopfartigen Nervendigung haben einen Durchmesser von ca. 20-40 nm und enthalten winzige Mengen von Transmittermolekülen. Eine Kugel befindet sich in einem kristallinen Gitter unmittelbar an der Membran und öffnet sich zur Ausschüttung des Inhalts (Pfeil) in den Synapsenspalt (Akert, 1973).

Information dürfte für das Zustandekommen des Erlebnisses einer mentalen Kraft und des freien Willens ausreichen. Damit ist Geist nicht aus der cerebralen Maschinerie verbannt. Im Gegenteil: Gehirn und Geist sind untrennbar, wenn auch unerklärbar miteinander verbunden.

Ausgewählte Literatur

Ackerknecht E. H., Geschichtliches zur Theorie der psychischen Energie. Schweiz. Arch. Neurol., Neurochir., Psychiat. 135: 181-185 (1984). —Baumgartner G., Psychophysics and central processing. In: Disease of the Nervous System. A. (A. K. Asbury, G. M. McKhann and W. I. McDonald, eds.) Clin. Neurobiol. Vol. Il, Saunders, Philadelphia, Heinemann, London, 1986, pp. 804-815. — Changeux J. J., L'Homme neuronal. Fayard, Paris, 1983. — Eccles J. C., Do mental events cause neural events analogously to the probability fields of quantum mechanics? Proc. R. Soc. (Lond.) B 227: 411-428 (1986). — Hess W. R., Psychologie in biologischer Sicht. 2. Aufl. Thieme, Stuttgart, 1968. — Kornhuber H. H. und Deecke L., Hirnpotentialänderungen bei Willkürbewegungen und passiven Bewegungen des Menschen: Bereitschaftspotential und reafferente Potentiale. Pflügers Arch. ges. Physiol. 284: 1-17 (1965). — Libet B., Unconscious cerebral initiative and the role of conscious will in voluntary action. Behav. and Brain Sci. 8: 529-566 (1985). — Roland P., Cortical organization of voluntary behaviour. Human Neurobiol. 4: 155-167 (1985). —Sherrington Ch., Man on his nature (2nd. Edition). Doubleday, New York, 1953.