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TIMOR DOMINI INITIUM SAPIENTIAE

timor Domini initium sapientiae —«die Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit». In goldenen Majuskeln rankt sich dieser Satz auf dem Medaillon der Rektoratskette der Zürcher Universität um das Siegel der AIma Mater Turicensis.

Die Sentenz entstammt —im Wortlaut der Vulgata —dem Alten Testament, und der, der diese Kette heute zu tragen die Ehre und Bürde hat, ist von Hause aus Alttestamentler.

Es legt sich also nahe, diesen Satz zum Thema der diesjährigen Rektoratsrede zu machen. Was hat dieser alte Spruch an einer modernen Universität zu suchen —oder: was hat er in ihr verloren?

Der Begriff «Weisheit» lenkt den Blick des Alttestamentlers auf ein in der Antike weit verbreitetes, interkulturelles Phänomen. «Weisheit» ist ein elementares Bemühen des Menschen, durch Erkenntnis und Erfahrung Klarheit über seinen Ort, sein Verhalten und sein Geschick in der Welt zu gewinnen. Weise ist, wer massvoll lebt, wer zur rechten Zeit das Rechte tut und das Richtige zu sagen weiss, wer Gerechtigkeit übt und sich von der Ungerechtigkeit nicht anfechten lässt, wer das Gute tut und das Böse meidet, wer das Leben kennt, nicht nur das seine, auch das des Nächsten, selbst das der Tiere und Pflanzen.

Das ist mehr als oberflächliche Alltagsklugheit; es geht um die Grundfrage des Menschen nach dem Leben. Die Weisheit geht davon aus; dass die Welt auf Leben hin angelegt ist, dass sie das Leben birgt und gewährt. So ist der weise, der die Ordnungen der Welt erkennt und ihnen entspricht. Der gewinnt das Leben.

Die Weisheit ist ein Lebensbaum denen,
die sie ergreifen. (Prov 3,18)

sagt so das Alte Testament, oder:

Wer feststeht in der Gerechtigkeit,
dem gereicht es zum Leben;
wer aber dem Bösen nachjagt,
dem gereicht es zum Tode. (Prov 11,19)

Doch wo von Weisheit die Rede ist, meldet sich auch gleich deren Grund-Problem zu Wort: Führt denn Erkenntnis tatsächlich zur Weisheit, und führt Weisheit tatsächlich zum Leben? Einen Kristallisationspunkt dieser Fragen kennen Sie unter dem Namen «Hiob» alle. Der Gerechte, der Weise, muss leiden, der Frevler lebt in Saus und Braus. Den Gerechten wie den Frevler, den Weisen wie den Toren — sie alle trifft am Schluss das gleiche Geschick: der Tod. Wie lässt sich da die Welt als gerechte, Leben gewährende Einheit begreifen?

Wie die Weisheit selbst ist auch die Krise der Weisheit international: Ähnliche Klagen erklingen in Ägypten, vergleichbare «Hiob»-Dichtungen sind aus Mesopotamien überliefert, und entsprechend fragt in Griechenland der Elegiker Theognis (Fr. 743): «Wie kann gerecht sein, dass der Gerechte, der keinerlei Frevel verübt hat, ungerechtes Geschick erleidet?»

In der alttestamentlichen Weisheitsliteratur vollzieht sich an diesem Punkt etwas höchst Auffälliges: Die Weisheit wird zur «Frau Weisheit» personifiziert. Sie wird als Gastgeberin vorgestellt, die die Vorübergehenden anspricht und mit beredten Worten zum Tisch der Weisheit lädt:

Hört auf mich, meine Söhne,
denn wer mich findet, der findet das Leben. (Prov 8,32 f.)

Doch neben die Frau Weisheit tritt Frau Torheit, die mit umgekehrten Vorzeichen ihr Haus anpreist. Was sie verheisst, ist verführerisch:

Gestohlenes Wasser ist süss,
und heimliches Brot schmeckt gut. (Prov 9,17)

Was hat sich vollzogen? Das faktische Erleben scheint die Weitsicht der Weisheit zu widerlegen. Die Weisheit, die einst umittelbar Evidenz beanspruchte, bekommt Konkurrenz. Sie muss um sich werben; sie muss ihre Evidenz inmitten einer strittig gewordenen Welterfahrung behaupten. Die Weisheit wird zum Anspruch an den Menschen, sie wird zum Postulat. Zur Weisheit muss man sich entscheiden. Herakles steht am Scheideweg.

In diesem Zusammenhang fällt nun das Wort der Rektoratskette: timor Domini initium sapientiae, «die Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit» (Prov

9,10). Es hat seinen Ort in der Krise der Weisheit und markiert den alttestamentlichen Umgang mit der Krise. Es besagt: Auch in der Situation der mehrdeutig gewordenen Erfahrung kann der Anspruch der Weisheit und des Lebens durchgehalten werden: im Vertrauen auf den, der als Schöpfer der Welt den Zusammenhang von Weisheit und Leben gerade im Widerstreit der Erfahrung gewährt. Wer diesen Herrn fürchtet, vermag sich von der vordergründigen Evidenz der Torheit nicht blenden zu lassen und auf dem Weg der Wahrheit und des Lebens zu bleiben.

So ist die Furcht des Herrn der Anfang der Weisheit nicht im historischen Sinn, sondern im Sinn ihres sachlichen Anfangs. Das unterstreicht die Vulgata, wenn sie gerade an dieser Stelle unseren Leitsatz übersetzt mit principium sapientiae timor Domini (Prov 9,10): Darin ist die Furcht des Herrn der Anfang der Weisheit, dass sie das ihr innewohnende Prinzip ist, das sie Bedingende, das sie fundamental Begründende.

Doch die Krise der Weisheit führt nicht nur in die Entscheidung; sie hat noch einen anderen Aspekt. Im 28. Kapitel des Hiobbuches findet sich ein Gedicht, das meist als «Lied von der Weisheit» überschrieben wird, zunächst aber viel mehr das Hohelied der Technik singt.

Das Gedicht preist die weitreichende Fähigkeit des Menschen, den Dingen auf den Grund zu gehen. Bis in die tiefsten Berge hinein vermag er seine Schächte vorzutreiben, auf Pfaden, die selbst der Falke nicht sieht und der Löwe nicht beschreiten kann. Die Härte des Gesteins, das Dunkel, die einbrechenden Wasser —alles, was sich ihm entgegenstellt, vermag der Mensch zu überwinden, und er stösst vor zu den grössten Schätzen, die die Welt gewähren kann, Silber, Gold und Lapislazuli.

Doch dann kommt das grosse Aber: Aber die Weisheit — wo ist sie zu finden (V. 12)?

Der Mensch kennt nicht den Weg zu ihr,
sie ist nicht zu finden im Land der Lebendigen.
Die Flut spricht: In mir ist sie nicht,
und das Meer spricht: Sie ist nicht bei mir.
Die Weisheit also — woher kommt sie?
Wo ist die Stätte der Erkenntnis?
Verhüllt ist sie den Augen alles Lebendigen,
und den Vögeln des Himmels ist sie verborgen.
(Auch) Abgrund und Tod, sie sprechen:
Nur ein Gerücht von ihr haben wir gehört. (Hi 28, 13f. 20-22)

So weit der Mensch auch vorzudringen vermag, auf die Weisheit stösst er nicht. Was Urgrund des Lebens ist, ist der Welt nicht einfach abzulesen. Durch die Erforschung der Welt wird die Frage nach Weisheit und Leben nicht schon beantwortet, sondern erst eigentlich gestellt.

Doch die Weisheit mit ihrer Zusage des Lebens bleibt bestehen:

Gott, der weiss den Weg zu ihr,
und er, er kennt ihre Stätte.
Denn er erschaut die Enden der Welt,
was unter dem Himmel ist, sieht er alles. (Hi 28, 23 f.)

Was heisst das für den Menschen? Wen wird überraschen, was das Nachwort des Liedes sagt?

Und er sprach zum Menschen:
Siehe, die Furcht des Herrn, das ist Weisheit. (Hi 28, 28)

Dieses Lied rührt an das Thema der Wissenschaft. Das Problem der Weisheit, dass sie auf Erkenntnis angewiesen ist und sich doch aus der Erkenntnis nicht einfach ergibt, spitzt sich im Blick auf die Wissenschaft offensichtlich noch erheblich zu. Das jedenfalls ist abermals die Meinung der Vulgata, die unseren Satz einmal übersetzt mit timor Domini principium scientiae (Prov 1,7): Die Furcht des Herrn ist das Prinzip nicht nur der Weisheit, sondern auch der Wissenschaft.

So ist es denn kein Zufall, dass sich schon der erste Wissenschaftstheoretiker des Abendlandes, Aristoteles, eingehend mit der Frage nach dem Verhältnis von Weisheit und Wissenschaft befasste.

Es war programmatisch gemeint, wenn Aristoteles die Wissenschaften gemeinsam unter den Oberbegriff der Philosophie stellte, zu deutsch: der Liebe zur Weisheit. Die Wissenschaften fragen nach den Gründen und Ursachen dessen, was ist. Doch was Hiob 28 erkannte, weiss auch Aristoteles: Die αίσθησιζ, die Sinneswahrnehmung allein gewährt noch keine Weisheit (Metaph. I, 981 b). So entwirft Aristoteles eine Hierarchie der Wissenschaften: Je allgemeiner und grundsätzlicher die Gründe und Ursachen sind, die eine Wissenschaft zu benennen vermag, um so höher ist ihr Rang, bis hinauf zu Physik und Mathematik. Doch an der Spitze aller Wissenschaften und Philosophien, noch über Mathematik und Physik, steht die Weisheit. Sie ist die πρώτη φιλοσοφία, die erste Philosophie, denn ihr Gegenstand sind die allerersten Ursachen und Prinzipien, die πρώτα αϊτια und die άρχαί. Mehr noch: Da die ersten Ursachen und Prinzipien dem Bereich des Göttlichen angehören, heisst die Weisheit bei Aristoteles auch die θεολογιχή φιλοαοφία, die theologische Philosophie, die Theologie (Metaph. VI, 1, 1026a).

So gehören auch bei Aristoteles Weisheit und Wissenschaft eng zusammen. Die Scholastik hat das später auf die Formel gebracht: scientia est cognitio ex principiis, sapientia est cognitio principiorum: Wissenschaft ist Erkenntnis aus den Prinzipien, Weisheit ist Erkenntnis der Prinzipien (vgl. Nikomach. Ethik Vl/7, 1141a).

Diese Ausrichtung auf die Weisheit macht die Wissenschaften zur «Philosophie» — immerhin tragen zumindest zwei unserer Fakultäten noch heute das Adjektiv «philosophisch», weisheitsliebend, in ihrem Namen.

Gewiss, Aristoteles bewegt sich in vielerlei Hinsicht auf anderen Linien als das Alte Testament. Doch beide verweisen —je auf ihre Art — auf ein enges Beziehungsgeflecht von Weisheit, Wissenschaft und Furcht des Herrn, in dem ein jedes mit dem andern in Beziehung steht. Ich formuliere es — behelfsmässig — wieder in der Sprache der lateinischen Bibel: timor domini principium sapientiae, sapientia principium scientiae, «die Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit, und die Weisheit ist der Anfang der Wissenschaft».

Meine Damen und Herren, in alledem ging es nicht nur um Vergangenes, sondern um Grundprobleme des Menschen im Umgang mit seinem Wissen und seiner Erfahrung; und spätestens seitdem die Rede auf die Wissenschaft kam, ging es auch um die Universität.

Wie stellt sich der Zusammenhang von Weisheit, Wissenschaft und Furcht des Herrn in der heutigen Universität dar?

Ich beginne mit dem zweiten Satz: Die Weisheit ist der Anfang der Wissenschaft. Aus der unterschiedlichen Zielsetzung von Weisheit und Wissenschaft folgte schon für Aristoteles notwendig, dass es zwar mehrere Wissenschaften, aber nur eine Weisheit gibt (Metaph. VI, 7, 1141 a). Wie recht Aristoteles bezüglich der Wissenschaft bis heute hat, zeigt jedes unserer Vorlesungsverzeichnisse. Die Wissenschaft ist ausdifferenziert in Fakultäten, Fächer und Unterfächer bald ohne Zahl. Jede Wissenschaft entwickelt ihre Methoden, und Methoden leben nicht zuletzt von der Ausgrenzung fachfremder Gesichtspunkte. Unübersehbar ist die Tendenz der Wissenschaften, die Wirklichkeit in Teilbereiche aufzulösen.

Weise wäre die Wissenschaft, die das Ganze im Blick behält und ihre Einzelarbeit im Kontext übergreifender Zusammenhänge tut und reflektiert. Ich wage fast nicht, das Wort «Interdisziplinarität» in den Mund zu nehmen. Und doch benennt es eines der vordringlichsten Postulate heutiger Wissenschaft —«Interdisziplinarität» nicht nur im Sinn des Austauschs zwischen den Fächern, sondern vor allem im Sinn eines ganzheitlicheren Ansatzes der Einzelwissenschaft. Es ist das Postulat der Weisheit, des Lebens. Denn die Fakten und Probleme unserer Welt halten sich nicht an den Fächerkanon der Universität.

Wer nach dem Leben fragt, der fragt nach Wert und Ziel. Eine von Weisheit geleitete Wissenschaft dürfte sich nicht darauf beschränken, nur zu wissen, was sie weiss und kann; sie muss auch wissen, was sie tut. Neben das Postulat der Interdisziplinarität tritt das einer Ethik der Wissenschaft. Dabei bestätigt sich die Erkenntnis von Hiob 28 mehr denn je. Wir stossen vor ins Weltall, wir stossen vor bis zu den kleinsten Elementarteilchen unserer Welt, wir stossen vor in die Grenzgebiete des Lebens. Doch die Frage nach Sinn und Ziel, nach den Werten, wird dadurch nicht gelöst, sondern erst eigentlich gestellt. Je weiter wissenschaftliche Erkenntnis gelangt, desto mehr bedarf sie der Weisheit als ihres Anfangs —solange sie dem Leben dienen will.

Es ist bekannt, wie schwierig es ist, die beiden Postulate zu erfüllen, Wissenschaft ganzheitlicher zu betreiben und sie mit der Frage nach Wert und Ziel zu verbinden. Vielleicht hängt die Schwierigkeit damit zusammen, dass wir aus unserem Leitsatz das Stichwort «Anfang» vergessen haben.

Die Weisheit ist der Anfang der Wissenschaft. Viele unserer Fragestellungen und Methoden haben ihre Anfänge in jenen Strängen der Aufklärung und des Positivismus, die meinten, auf eine die Wissenschaft leitende Weisheit gerade verzichten zu sollen, weil die Wahrheit im Einzelnen und Konkreten liege. So verständlich — und ertragreich —diese Emanzipation neuzeitlicher Wissenschaft auch war und ist, so hat inzwischen doch auch uns die altweisheitliche Einsicht wieder eingeholt, dass dieser Optimismus der Empirie seine Grenzen hat. Nur zögernd allerdings schlägt sich dies in unserem Alltag nieder. In ihrer Eigengesetzlichkeit wirken die eingeschliffenen Ansätze der Fragestellungen und Methoden weiter. Dabei sollten wir es eigentlich besser wissen. Wohl jeder unserer Wissenschaften ist bewusst geworden, wie sehr ihre Fragestellungen die Ergebnisse präjudizieren.

Darum ist die Frage nach der Weisheit als dem Prinzip der Wissenschaft gleichzeitig die nach deren Anfang. Ob eine Wissenschaft nach den kleinsten Bausteinen ihrer Gegenstände fragt oder nach deren Sinn, ihrer Stellung und Bedeutung in einem umgreifenden Ganzen, wird das Ergebnis entscheidend beeinflussen. Vielleicht finden wir zu neuen Horizonten nicht primär über neue Ergebnisse, sondern über neue Fragestellungen — gerade auch im Blick darauf, was sachgerecht mit «Interdisziplinarität» gemeint sein kann. Für die neuzeitliche Wissenschaft, die nicht mehr nur, wie nach Aristoteles, nach Gründen und Ursachen fragt, sondern darauf aus ist, Noch-nicht-Vorhandenes zu produzieren und neue Wirklichkeit zu schaffen, ist dieser Gesichtspunkt erst recht von vitalem Interesse.

Besonderer Beachtung bedarf diese Umkehrung des Ansatzes im Blick auf die Frage der Wissenschaftsethik. Verbreitet ist das Denkmodell: Die Wissenschaften zeigen, was machbar ist, Theologie und Philosophie mögen dann die Kriterien dafür liefern, was davon auch realisiert werden soll und darf. Doch bei allem, was Theologie und Philosophie beizutragen haben: Letztlich ist die Frage nach dem Gewissen, nach der Ethik, nach der Weisheit nicht delegierbar. Es reicht nicht aus, die Wissenschaften am Schluss mit einer von ihr unabhängigen Ethik zu korrelieren. Wessen wir bedürfen, ist eine Wissenschaft, die die ethische Frage von allem Anfang an mitbedenkt — in ihrer eigenen Tätigkeit. «Weisheit ist Erkenntnis der Prinzipien.»

Erkenntnis der Prinzipien bedarf der Entscheidung, persönlicher, gemeinsamer, heute auch globaler. Diesem Anspruch der Weisheit kann sich die Wissenschaft nicht entziehen. Selbst Herakles stand einst am Scheideweg. Es wäre gewiss kein Rückschritt, die Neugier und den faustischen Drang des Menschen als Anfang der Wissenschaft durch die Weisheit zu ersetzen.

Damit wird deutlich: «Weisheit» meint nicht eine neue Metaphysik und nicht eine neue Vorordnung von Theologie oder Philosophie vor die Einzelwissenschaft; «Weisheit» meint nicht ein von den Wissenschaften losgelöstes Wertsystem. «Weisheit» meint, dass die Wissenschaften selbst weiser — und solidarischer — werden, dass sie selbst zur Weisheit beitragen. Schon die alte Weisheit stand nicht neben Erkenntnis und Erfahrung, sondern war deren Anfang und Prinzip.

Doch nicht nur die Wissenschaft, auch die Weisheit hat ihren Anfang und ihr Prinzip. Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit. Was ist damit noch gesagt?

Stellen wir zunächst die Komplementärfrage: Welches ist der Preis, der dafür zu bezahlen ist, wenn die Furcht des Herrn als Anfang der Weisheit gestrichen wird?

Ohne Gottesfurcht steht der Mensch mit seiner Weisheit und seiner Wissenschaft allein. Dann muss der Mensch zum Mass aller Dinge werden; auf ihn allein fällt die Verantwortung für alles, was geschieht. Entweder zieht er sich dann darauf zurück, nur Mechanismen und Funktionen zu beschreiben, oder er wird dazu bestimmt, zum Macher zu werden. Entweder verweigert er sich den Fragen nach dem Ganzen und den Zielen, oder es liegt nun an ihm, die letzten Werte zu bestimmen. Er ist es dann, der System- und Gesellschaftstheorien zu entwerfen, darnach zu handeln und sie erst noch zu gewährleisten hat.

Dass dann die Wissenschaften ihre je eigenen Wertsysteme zu entwickeln beginnen, ist nichts als logische Konsequenz; ebenso wie die dann naheliegende Tendenz jedes Teilsystems, universelle Geltung zu beanspruchen. Und dann beklagen wir uns noch, dass keine übergreifenden ethischen Orientierungen mehr bestehen.

Der Mensch das Mass aller Dinge: Das war —vielleicht — so lange vertretbar, als der Glaube Bestand hatte, dass das Gute im Menschen obsiegt und die Wissenschaft aus sich selbst heraus das Leben gewährt. Doch nicht minder als der alten Weisheit ist auch uns dieser Glaube an die Allmacht des Menschen abhanden gekommen. Die Katastrophenszenarien, die heute so oft entworfen werden, sind das äussere Zeichen dafür. Sie sind es, gerade indem sie oft genug nur die negative Variante jener Selbstüberschätzung des Menschen sind, von der schon die alte Geschichte vom Turmbau zu Babel spricht — der Selbstüberschätzung jenes Menschen, der meint, dass ihm alles möglich sei.

Wo die Gottesfurcht verlorengeht, steht bald die Angst vor dem Menschen vor der Tür und beginnt die Wissenschaft, uns das Fürchten zu lehren. Im Schlusswort von Dürrenmatts «Physikern» meldet sich —durch Möbius — der weise König Salomo zu Wort und sagt: «Einst war ich unermesslich reich, weise und gottesfürchtig ... Aber meine Weisheit zerstörte die Gottesfurcht, und als ich Gott nicht mehr fürchtete, zerstörte meine Weisheit meinen Reichtum». Das ist Dürrenmatt, für den eine Geschichte dann zu Ende gedacht ist, wenn sie ihre

schlimmstmögliche Wendung genommen hat (21 Punkte zu den Physikern, Pt. 3). Der Spruch der Rektoratskette möchte verhüten, dass seine Geschichte unsere Geschichte wird.

Meine Damen und Herren, Sie erwarten sicher nicht von mir, dass ich die Probleme heutiger Wissenschaft stellvertretend für alle löse. An diesem Punkt sitzen wir gemeinsam im gleichen Boot.

Was ich tun kann, ist dies, als Theologe den Weg, den die biblische Tradition mit ihrem «Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit» im Blick hat, noch zu Ende zu führen.

Welches wären denn die positiven Kennzeichen einer Weisheit und Wissenschaft, die ihren Anfang in der Furcht des Herrn hat?

Ein erstes: Der Gott der alttestamentlichen Weisheit ist der Schöpfer der Welt; der, der hinter allem steht, was diese Welt umfasst, und doch mit keinem Teil der Welt identisch ist. Er ist der Herr des Ganzen. Die Furcht des Herrn weist dem Menschen seinen Platz im Ganzen zu, sie bewahrt ihn vor Selbstüberschätzung, vor Hybris, wie die Griechen sagten, und sie weist ihn an, sich selbst und seine Wissenschaft als Teil dieses — nicht von ihm geschaffenen — Ganzen zu verstehen.

An diesen Blick aufs Ganze wird z. B. erinnert, wenn noch neuzeitliche Verfassungen im «Namen Gottes, des Allmächtigen» einhergehen. Der Verweis auf Gott zeigt hier an, dass das Recht im letzten nie nur das Recht des Menschen, der Mächtigen, der Starken, der Mehrheit, aber auch nicht nur der Schwachen, sein darf, sondern Leben für alle ermöglichen muss. Es wäre ein Ausdruck von Weisheit, wenn ein solches «im Namen Gottes, des Allmächtigen» auch über unseren Wissenschaften stünde — um das Wissen darum zu erhalten, dass die Welt nie das Eigentum des Menschen und der Wissenschaft ist und werden darf.

Ein zweites: Einer der international meistbelegten Weisheitssätze lautet: «Der Mensch denkt, Gott lenkt». Dieser Satz leitet den Menschen an zur Bescheidenheit; mehr noch: er ermutigt ihn zum Erkennen und Wahrhaben seiner Grenzen.

Dass der Mensch mit seiner Welt umzugehen hat, dass er zu denken vermag und denken muss, dass ihm solches Denken zur Wissenschaft wird, das alles ist nicht nur sein Geschick, das ist auch sein Auftrag. Dass er dabei in Verantwortung vor Gott und den Menschen steht, ist darin eingeschlossen. Doch: «Der Mensch denkt, Gott lenkt». Gott sei Dank geschieht nicht nur das, was der Mensch inszeniert. Das ist im Alten Testament schon in der alten Geschichte von der Sintflut bedacht, die besagt, dass der Mensch seine Welt schon lange zugrundegerichtet hätte, wenn es nur nach seinem Dichten und Trachten ginge. Trüge die Welt nicht eine grosse Verheissung in sich, bestünde sie schon lange nicht mehr.

Bei Platon und Aristoteles steht am Anfang der Philosophie das Staunen. Solches Staunen steht auch am Anfang der biblischen Gottesfurcht und der biblischen Weisheit. Es könnte auch am Anfang unserer Wissenschaft stehen. Als das Staunen vor dem Geheimnis und der Verheissung der Wirklichkeit könnte es den Forscher auf seinem ganzen Weg begleiten. Es gibt dem Menschen seine Freiheit, ruft ihn gleichzeitig aber auch in die Verantwortung.

Ein drittes und letztes: Weisheit und Gottesfurcht sind älter als die Wissenschaft. Das ist kein Argument, aber doch ein Faktum. Die Frage nach Weisheit und Gottesfurcht als die Frage nach dem Leben und seinen letzten Gründen ist uns mit unserem Menschsein vorgegeben. Wie immer wir sie beantworten: Verweigern wir uns ihr, verlieren wir das Humanum. Vieles von dem, was in diesen Bereichen einst erkannt, gewusst und erfahren wurde, hat die neuzeitliche Wissenschaft ausgeklammert, vergessen oder verdrängt. Vielleicht könnte uns auch einmal die Erinnerung an Zurückgelassenes vorwärts bringen.

Gottesfurcht und Weisheit sind aber nicht nur vorgegeben, sie haben der Wissenschaft auch etwas voraus. Die Distanz zur Welt, in der der Mensch ohnehin schon steht, wird durch die Wissenschaft methodisch noch vergrössert. So unvermeidbar das ist, wird dadurch doch der beobachtete Gegenstand verfremdet und die Selbstwahrnehmung des Forschers verändert. Schnell kann dies zum Anfang der Entfremdung und der Manipulation der Gegenstände und ihrer Betrachter werden. Weisheit und Gottesfurcht erinnern daran, dass der Mensch in das, was er denkt und tut, immer selbst mit einbezogen und betroffen ist. Die «Furcht des Herrn» hält fest, dass es eine Instanz gibt, die den Menschen unmittelbar angeht — auch in seiner Wissenschaft.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, als vor dreissig Jahren der damalige Rektor, Professor Hans Fischer, die Rektoratskette, ein Geschenk des Zürcher Hochschulvereins, entgegennahm, tat er es mit den Worten: «Möge jeder, der die Kette trägt, der Verantwortung seines hohen Amtes bewusst sein». Lassen Sie mich dem anfügen: Möge die Universität als ganze der Verantwortung bewusst sein, die ihr das Motto dieser Kette zumutet: timor Domini initium sapientiae, «die Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit».