Sprachkritik und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert

Rektoratsrede gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel

am 30. November 1990
Verlag Helbing &Lichtenhahn Basel 1990

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Pestalozzi, Karl:
Sprachkritik und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert:
Rektoratsrede gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel
am 30. November 1990/Karl Pestalozzi.
Basel: Helbing und Lichtenhahn, 1990
(Basler Universitätsreden: H. 86)
ISBN 3-7190-1164-X
NE: Universität <Basel>: Basler Universitätsreden

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ISBN 3-7190-1164-X
Bestellnummer 2101164
© 1990 by Helbing &Lichtenhahn Verlag AG, Basel

Im Juni 1873 diktierte der neunundzwanzigjährige Friedrich Nietzsche, seit vier Jahren Professor für klassische Philologie an der Universität Basel, seinem Freund Carl von Gersdorff, der bei ihm am Schützengraben 45 zu Besuch war, die Reinschrift einer Abhandlung mit dem Titel "Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne"1. Es handelte sich um die Nebenfrucht eines Kollegs über "Griechische und Römische Rhetorik", das Nietzsche im Wintersemester zuvor gehalten hatte, allerdings nur vor zwei Zuhörern und deshalb in seiner Wohnung. Die Abhandlung gedieh nicht über ein erstes und Ansätze zu weiteren Kapiteln hinaus und wurde von Nietzsche selbst nie veröffentlicht.

Dieses Fragment mutet heute, aus dem Rückblick, wie das erste Erklingen eines Themas an, das in der Geistes- und Literaturgeschichte unseres Jahrhunderts in immer neuen Variationen und mit wachsender Eindringlichkeit verarbeitet wurde und bis heute nicht ausgeschöpft ist. Im Gegenteil, die Aufmerksamkeit, die "Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" in der jüngsten Nietzsche-Diskussion und darüber hinaus findet, deutet auf eine neue Aktualität, wie denn überhaupt der Basler Nietzsche gegenwärtig eine erstaunlich breite Resonanz hat, nicht zuletzt in Frankreich.

Thema von Nietzsches Abhandlung ist die Sprachkritik, die grundsätzliche Reflexion auf die Leistungsfähigkeit der menschlichen Sprache. Ich möchte es zunächst, von "Über Wahrheit und Lüge" ausgehend, exponieren. Hauptsächlich aber soll es im folgenden darum gehen, an ausgewählten Beispielen zu untersuchen, wie die deutsche Literatur auf diese Thematisierung ihres Mediums, eben der Sprache, reagiert hat. Es geschieht nicht zuletzt in der Hoffnung, auf diese Weise manche Schwierigkeiten, die uns das Lesen moderner Literatur bereitet, zwar nicht zu beheben, wohl aber in ihrer Notwendigkeit verständlich zu machen. Und vielleicht gelingt es gar, am Leitfaden der Sprachkritik gewisse allgemeine Erscheinungen unseres Kulturzustandes zu bedenken.

I

In Nietzsches früher Schrift geht es um das philosophische Problem, ob die Wirklichkeit, die der menschlichen Erkenntnis zugänglich ist, die Wirklichkeit an sich sei, wie wir das in unserem Alltagsbewusstsein annehmen, ob wir, wie Nietzsche sagt, "die Wahrheit" erkennen können. Es ist die Problemlage Kants und Schopenhauers, und in ihrem Gefolge verneint auch Nietzsche, dass das, was der menschliche Intellekt erkennen kann, das "Ding an sich"sei. Er erspart sich jedoch die langwierige Begründung Kants, setzt sie vielmehr voraus und untermauert sie mit neuen, darwinistischen Argumenten: Jedes Lebewesen, zum Beispiel auch die Mücke, habe sein eigenes Organ des Wahrnehmens und Erkennens, und dieses stehe im Dienste der Lebenserhaltung. So diene dem Menschen sein Intellekt dazu, zu überleben. Wie aber im Umgang mit andern der Intellekt zum Selbstschutz durch Verstellung gebraucht werde, zum "Lügen und Trügen", so sei auch die von ihm erkannte Welt eine Täuschung, freilich eine lebensnotwendige und insofern "Lüge im aussermoralischen Sinne". Was wir gewöhnlich für Wahrheit halten, ist folglich Lüge — auf diese für Nietzsche typische Umkehrung läuft es zunächst hinaus.

Das Neue und Weiterführende liegt nun darin, dass Nietzsche die Sprache in diese Problematik einbezieht und fragt: "Und überdies; wie steht es mit jenen Conventionen der Sprache? Sind sie vielleicht Erzeugnisse der Erkenntnis des Wahrheitssinnes: decken sich die Bezeichnungen und die Dinge? Ist die Sprache der adaequate Ausdruck aller Realitäten?"Jahrhundertelang waren diese Fragen überwiegend positiv beantwortet worden oder doch so, dass eine Entsprechung —adaequatio —zwischen menschlicher Sprache und aussermenschlicher Realität angenommen wurde, ob man die Sprache als Gabe Gottes oder als menschliche Erfindung betrachtete. Nietzsche setzt zur Destruktion des Glaubens an, dass

sich Wörter und Dinge entsprechen, und zwar auf zwei Wegen: Zum einen verweist er auf eine Theorie des Sprachursprungs: "Was ist ein Wort? Die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten.[...] Das Ding an sich [...] ist auch dem Sprachbildner ganz unfasslich und ganz und gar nicht erstrebenswerth. Er bezeichnet nur die Relationen der Dinge zu den Menschen und nimmt zu deren Ausdruck die kühnsten Metaphern zu Hülfe. Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher.[...]Logisch geht es jedenfalls nicht bei der Entstehung der Sprache zu, und das ganze Material, worin und womit später der Mensch der Wahrheit, der Forscher, der Philosoph arbeitet und baut, stammt, wenn nicht aus Wolkenkukuksheim, so doch jedenfalls nicht aus dem Wesen der Dinge." Nietzsches Sprachursprungs-Hypothese geht auf Herder, hundert Jahre früher, zurück. Während aber Herder die Sprachentstehung als Leistung des Menschen gefeiert hatte, sieht Nietzsche nun darin ein Zeichen menschlicher Beschränktheit. Auch das andere Argument, mit dem Nietzsche die Inadäquatheit von Sprache und Dingwelt zu beweisen sucht, ist traditionell. Es betrifft den Umstand, dass die Sprache die Dingwelt vermenschlicht und das Einzelne und Einmalige allgemeinen Begriffen subsumiert: "Wir theilen die Dinge nach Geschlechtern ein, wir bezeichnen den Baum als männlich, die Pflanze als weiblich: welch willkürliche Übertragungen." Die Bezeichnungen machen die Dinge menschenförmig, anthropomorph und verstellen ihre jeweilige Besonderheit. Schliesslich fasst Nietzsche seine These in den Satz zusammen: "Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind [...]." Hier wird die Nähe zur Rhetorikvorlesung hörbar. Indem Nietzsche behauptet,

die Sprache arbeite immer schon mit rhetorischen Figuren, setzt er Sprache und Rhetorik in eins, als gebe es den Unterschied nicht, den man gewöhnlich annimmt. Und wie in der deutschen Tradition seit der Goethezeit die Rhetorik im Rufe stand, künstlich und unwahr zu sein — "im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist", sagt der Baccalaureus im "Faust" —, so stützt hier der Nachweis der ursprünglichen Rhetorik der Sprache die Grundthese, sie sei Lüge, und nur die Gewöhnung an ihre Verlogenheit lasse sie als wahr erscheinen.

Mit diesen Überlegungen steht Nietzsche am Anfang der modernen Sprachkritik, diese setzt mit "Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne"ein. Das bedarf jedoch der Verdeutlichung. Es gibt eine ältere, weit zurückreichende Tradition der Sprachkritik, die sich darauf bezieht, dass sich das Innere des einzelnen Menschen, seine Gefühle und Empfindungen, nie angemessen ausdrücken lassen. Diese, wie man gesagt hat, "sentimentale" Sprachkritik (Mauthner) wurde im Verlauf der Geistesgeschichte immer dann aktuell, wenn das Innere als Offenbarungsort von Wahrheit verstanden wurde, in der Mystik, im Pietismus, in der Gefühlskultur der Goethezeit. Schiller fand dafür die einprägsame Formel "Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr". Nietzsche war durch Richard Wagner mit dieser Traditionslinie bekanntgeworden, der gegen die Worte die Tonsprache, die Musik, als unmittelbare Sprache des Gemüts propagierte; in der "Vierten Unzeitgemässen Betrachtung" geht es darum. Im Unterschied dazu diskutiert unsere Schrift das Missverhältnis zwischen Sprache und äusserer Wirklichkeit, Sprachkritik als Erkenntniskritik. Auch damit griff Nietzsche ältere Anregungen auf. Er entnahm sie, wie man hat nachweisen können, dem kurz zuvor erschienenen Buch von Gustav Gerber "Die Sprache als Kunst"2, wie übrigens auch die Gleichsetzung von Sprache und Rhetorik. Gerber referiert die Sprachskepsis der Goethezeit, von Hamann, Herder und Wilhelm von Humboldt. Nietzsches eigene

Zutat sehe ich in der Moralisierung des Problems, in der Anwendung der Kategorien Wahrheit und Lüge auf die Sprache. In der Feststellung, die Sprache lüge per se, steckt eine Klage, ein Vorwurf und ein Appell, Abhilfe zu schaffen. In Nietzsches Abhandlung erscheint der Mensch als einer, der mithilfe der Sprache um sich herum eine eigene Welt geschaffen hat, eine Scheinwelt wie die des Traums, die ihm den Zugang zur Wirklichkeit an sich verstellt, in die er eingeschlossen ist. Doch weiss er normalerweise nichts davon, bis ihn jemand über die wahren Verhältnisse aufklärt.

Nietzsche hielt diese Abhandlung, wie er später schrieb, geheim. Die Werke, die er zur gleichen Zeit veröffentlichte, "Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" und die "Unzeitgemässen Betrachtungen", sprechen in der Nachfolge Schopenhauers vom "Weltwillen" als dem "Ding an sich", als habe ihr Autor nie das Gegenteil gedacht. Solche widersprüchliche Mehrstimmigkeit des Denkens macht, nebenbei gesagt, Nietzsche heute wieder so attraktiv. In den späteren Werken finden sich nur noch vereinzelt sprachkritische Bemerkungen. Als, nach Nietzsches Zusammenbruch, "Über Wahrheit und Lüge" in der ersten Gesamtausgabe, 1893, veröffentlicht wurde, fand es kaum ein Echo.

Man muss die etwas unbestimmte Kategorie des Zeitgeistes bemühen, um zu erklären, dass nach der Jahrhundertwende die Sprachkritik, wie sie Nietzsche präludiert hatte, schlagartig ein zentrales und vielbesprochenes Thema wurde. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde diese erkenntniskritische Sprachkritik durch Fritz Mauthner und Hugo von Hofmannsthal bekannt gemacht. Mauthner veröffentlichte 1901/02 sein dreibändiges Werk "Beiträge zu einer Kritik der Sprache"3. Der Grundgedanke aus Nietzsches Schrift wird darin in vielen Richtungen entfaltet. Über Nietzsche hinaus gelangt Mauthner mit der Einsicht, dass ja auch das Sprechen über die Sprache der Sprachkritik unterstehe: "Der kann das Werk der Befreiung von der Sprache nicht vollbringen, der mit Worthunger, mit Wortliebe und Worteitelkeit ein Buch zu schreiben

ausgeht in der Sprache von gestern oder von heute oder von morgen, in der erstarrten Sprache einer bestimmten festen Stufe. Will ich emporklimmen in der Sprachkritik, die das wichtigste Geschäft der denkenden Menschheit ist, so muss ich die Sprache hinter mir und vor mir und in mir vernichten von Schritt zu Schritt, so muss ich jede Sprosse der Leiter zertrümmern, indem ich sie betrete. Wer folgen will, der zimmere die Sprosse wieder, um sie abermals zu zertrümmern." So ist Mauthners ganzes Werk ein Anrennen mit der Sprache gegen die Sprache, ein verzweifelter denkerischer Ausbruchsversuch. —Gleichzeitig mit Mauthners Werk erschien Hofmannsthals berühmter Chandos-Brief 4. Darin wird die moderne Sprachkritik dreihundert Jahre zurückdatiert und einem englischen, humanistisch gebildeten Adligen in den Mund gelegt, der an der Sprache verzweifelt, weil sie die Realität nicht erreiche: Alle Aussagen erscheinen Lord Chandos, wie er sagt, "so unbeweisbar, so lügenhaft, so löcherig wie nur möglich. Mein Geist zwang mich, alle Dinge, die in einem solchen Gespräch vorkamen, in einer unheimlichen Nähe zu sehen: so wie ich einmal in einem Vergrösserungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte, das einem Blachfeld mit Furchen und Höhlen glich, so ging es mir nun mit den Menschen und ihren Handlungen. Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, nichts mehr liess sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich ..." Man hat diese Stelle zurecht mit dem Physiker Ernst Mach in Verbindung gebracht, der in seinen "Beiträgen zur Analyse der Empfindungen" Ähnliches feststellt. Überhaupt war wohl die in den Naturwissenschaften beobachtete, scheinbar aussersprachliche Realität entscheidend am Aufkommen des Bewusstseins beteiligt, Sprache und Wirklichkeit klafften unüberbrückbar auseinander, die benannte Welt sei ohne reale Entsprechung. Hofmannsthals Lord Chandos spricht dieses Bewusstsein aus und will fortan der Sprache entsagen, so weit es geht.

Mit dem Hinweis auf Ernst Mach soll mindestens angedeutet sein, dass die um die Jahrhundertwende aufkommende neue Sprachkritik mit bestimmten historischen Bedingungen zusammenhing. Es fällt auch auf, dass die meisten prominenten Vertreter dieser Sprachkritik aus dem Vielvölker- und Vielsprachenstaat Österreich-Ungarn stammten und viele jüdische Intellektuelle, die sich emanzipiert und assimiliert hatten, unter ihnen waren. Eine restlos überzeugende Erklärung haben diese Beobachtungen bisher noch nicht gefunden. Nietzsches Vorläuferrolle kann davor warnen, allzu eindeutige Kausalitäten aufzustellen, etwa die Sprachkritik zu einer österreichischen Besonderheit zu erklären oder darin vor allem eine saekularisierte Form des alttestamentlichen Bilderverbots zu sehen.

II

Dichtung und Literatur waren von der neuen Sprachkritik direkt betroffen. Seit Plato mussten sich die Dichter gegen den Vorwurf verteidigen, sie seien Lügner. Dieser Vorwurf, der auf die Scheinhaftigkeit der Kunst überhaupt zielte, schien sich nun von der Materialseite her zu radikalisieren, wenn die Sprache insgesamt der Lüge bezichtigt wurde. In Frage gestellt war besonders die vorausgehende Literatur des 19. Jahrhunderts. Konfrontiert mit der modernen Sprachkritik, mussten die Dichter Wesen und Aufgabe der Dichtung, beziehungsweise der Wortkunst, wie man damals zu sagen begann, neu bestimmen.

Nietzsche wies in seiner Abhandlung der Dichtung die grundsätzliche Aufgabe zu, Ort der Wahrheit zu sein, ein Anspruch, der bis heute gilt. Er begründete das, in Weiterführung seines Gedankengangs, folgendermassen: Was wir normalerweise für Wahrheit halten, ist ein Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen,

rhetorischen Kunstmitteln also. Lüge ist sie deshalb, weil wir uns dessen nicht bewusst sind, vergessen haben, dass die Sprache ein Kunstwerk ist. Die Dichtung will dagegen per definitionem nicht Wahrheit sein. Sie bekennt sich dazu, Kunstmittel zu verwenden und Scheinwelten, Fiktionen aufzubauen. Indem sich die Dichtung dazu bekennt, "zu lügen und zu trügen", ist sie wahr. Der Begriff der Wahrheit verschiebt sich dabei allerdings unmerklich zu dem der Wahrhaftigkeit, einer Zentralkategorie von Nietzsches Denken. Woran nun erkennt man diese Wahrhaftigkeit der Dichtung? Daran, sagt Nietzsche, dass sie die gängige Vorstellungswelt umgestaltet, ja durcheinanderwirbelt. Wenn der Intellekt die Welt der Begriffe "zerschlägt, durcheinanderwirft, ironisch wieder zusammensetzt, das Fremde paarend und das Nächste trennend, so offenbart er, dass er [...}jetzt nicht von Begriffen, sondern von Intuitionen geleitet wird."Dichtung ist somit als Wahrheit kenntlich an einem vom gewöhnlichen abweichenden, anderen Sprechen, und zwar in doppelter Weise. Es ist offensichtlich rhetorisch, arbeitet mit Tropen und Figuren, das heisst Bildern, Vergleichen, Metaphern, Wortwiederholungen etc. Und zum andern stört es konsequent die Ordnungen und die begriffliche Logik der üblichen Sprache und erscheint als irres und wirres Reden.

Damit ist in erstaunlicher Hellsicht ein Programm der Dichtung des 20. Jahrhunderts entwickelt. Von da aus lassen sich viele Erscheinungen zumal der deutschen Lyrik in Symbolismus und Expressionismus verstehen. Am nächsten stehen Nietzsches vorgreifender Poetik wohl dadaistische Un-Sinn-Gedichte. Ich denke etwa an das Gedicht von Hans Arp "Kaspar ist tot"5:

Weh unser guter kaspar ist tot.
wer verbirgt nun die brennende fahne im wolkenzopf und
schlägt täglich ein schwarzes schnippchen.
wer dreht nun die kaffeemühle im urfass.
wer lockt nun das idyllische reh aus der versteinerten tüte.

wer schneuzt nun die schiffe parapluis windbeuter bienenväter ozonspindeln und entgrätet die pyramiden. weh weh weh unser guter kaspar ist tot, heiliger bimbam kaspar ist tot.

Parodiert wird hier auf provozierende Art der übliche Nekrolog. Weil sich dieser Kaspar-Nekrolog um keinen Realitätsbezug schert und gerade keinerlei Anspruch auf Wahrheit erhebt, ist er wahr. Das Gedicht zeigt deutlich vor, in den Wortwiederholungen zum Beispiel, dass es rhetorisch gebaut ist, und indem es Unvereinbares aneinanderreiht, wirft es jede begriffliche Ordnung über den Haufen. Sein im übrigen schwer fassbarer Reiz hätte dann damit zu tun, dass es uns von der Verpflichtung entlastet, realitätsgerecht zu sprechen, und von den logischen Normen, die normalerweise unsere Welt konstituieren. Es spielt frei. Das macht es zum amüsanten Bürgerschreck, aber verbreitet doch auch schwermütige Trauer.

Ein anderer Weg der Dichter, auf die Sprachkritik zu antworten, war nach 1900 das Schweigen. Maurice Maeterlinck, der es von Paris aus in Dramen und Aufsätzen von grosser Suggestion verbreitete, fand damals in Deutschland ein weites Echo. Auch die Renaissance des mittelalterlichen Mystikers Meister Eckhart stand in diesem Zusammenhang, man las ihn als Sprachkritiker. Denn wenn es zutraf, dass die Sprache den Zugang zum "Ding an sich", was immer das war, und damit zur Wahrheit, verstellte, dann musste die Dichtung darauf tendieren, in der Sprache die Sprache zu übersteigen, wie Mauthner es wollte, und eine "Rhetorik des Schweigens"(Hart-Nibbrig) zu entwickeln.

Dieses Problem steht, als Reflexion und Gestaltung, im Zentrum von Rilkes Spätwerk. Dieses bemüht sich um das "Unsägliche" im wörtlichen Sinn als das "ganz andere" der sprachlichen Welt. Dabei geht es um die Paradoxie, dass das Schweigen die Sprache braucht, um vernehmbar werden zu können, aber nur so,

dass es sie ausser Kraft setzt. Ein Beispiel dafür ist Rilkes spätes Gedicht "Gong"(1925)6. Der Gong, der angeschlagen wird und dessen Ton ganz allmählich verhallt, ist Thema des Gedichtes und zugleich Symbol seiner Gestalt, so dass das Gedicht, indem es vom Gong spricht, zugleich von sich selber redet. Die zweite Strophe ist darin besonders deutlich:

Summe des Schweigenden, das
sich zu sich selber bekennt,
brausende Einkehr in sich
dessen, das an sich verstummt,
Dauer, aus Ablauf gepresst,
umgegossener Stern ...: Gong!

Indem es selber erklingt und in leere Satzzeichen ausläuft, wie oft bei Rilke, ahmt dieses Gedicht den Gong nach, aber auch darin, dass es sich zunehmend der Verständlichkeit entzieht in schönes Geraune. Auf diese Weise soll Schweigen evoziert werden als die Wahrheit jenseits der Sprache. Das Lesen, das dieser Intention folgen will, geht in Meditation über.

Wie in Rilkes "Gong" ist das Schweigen zu einem immer neu besprochenen lyrischen Thema geworden. Als sichtbares Schweigen wird vielfach der leere weisse Raum zwischen den Strophen und um das Gedicht herum mit Bedeutung erfüllt. Das schwarz Gedruckte auf weissem Blatt erscheint als graphische Entsprechung der Sprache, die vom Schweigen umstanden ist.

In noch stärkerem Masse als die Lyrik waren die erzählenden Gattungen, Roman und Novelle, durch die Sprachkritik, wie wir sie bei Nietzsche gefunden haben, herausgefordert; denn sie hatten im sogenannten Realismus des 19. Jahrhunderts den Anspruch erhoben, Wirklichkeit darzustellen. Und wie erst stand vor der Sprachkritik das naturalistische Programm da, mit der von Arno Holz formulierten Parole: "Die Kunst hat die Tendenz, wieder die Natur

zu sein"? Dass sich die grossen Erzähler der Epoche dieser Problematik bewusst waren, zeigt etwa das Maeterlinck-Motto, das Musil seinem ersten Roman 7 voranstellte, das beginnt: "Wenn wir etwas aussprechen, entwerten wir es seltsam." In Thomas Manns früher Erzählung "Enttäuschung"8 beklagt eine an Nietzsche erinnernde Figur das Umgekehrte: "Die Sprache, dünkt mich, ist reich, ist überschwenglich reich im Vergleich mit der Dürftigkeit und Begrenztheit des Lebens."Beide Autoren gingen von der Diskrepanz zwischen Sprache und Realität aus. Wie konnte so überhaupt noch erzählt werden, es sei denn, man ignorierte das Problem wie zum Beispiel Hermann Hesse?

An Thomas Manns Entwicklung, der mit den "Buddenbrooks" naturalistisch begonnen hatte, lässt sich zeigen, dass eine mögliche Lösung darin bestand, dass der Erzählvorgang selbst zunehmend deutlicher zum Thema der Erzählung gemacht wurde. Das kann etwa so geschehen, dass sich eine Erzählerstimme zu Wort meldet. So hebt "Der Zauberberg"9 an: "Die Geschichte Hans Castorps, die wir erzählen wollen, nicht um seinetwillen (denn der Leser wird einen einfachen, wenn auch ansprechenden jungen Menschen in ihm kennenlernen), sondern um der Geschichte willen, die uns in hohem Grade erzählenswert scheint, [...]diese Geschichte ist sehr lange her [...] und unbedingt in der Zeitform der tiefsten Vergangenheit vorzutragen." Im weiteren nennt sich der Erzähler den "raunenden Beschwörer des Imperfekts". Diese Erzählerinstanz meldet sich immer wieder zu Wort, wie ein Spielleiter, der vor den Vorhang tritt, so dass dem Leser bewusst bleibt, dass er es mit einer sprachlichen Veranstaltung zu tun hat und mit einer Fiktion. Das geschieht auch durch Thomas Manns gern als maniriert gescholtene Art des Erzählens, die den Erzählvorgang mit dem erzählten Inhalt nahezu gleichrangig macht. Bleibt im "Zauberberg" die Fiktion immerhin noch auf die historische Realität vor 1914 bezogen, so verringert sich dieser Realitätsanteil, wenn wie im Josephsroman eine schon erzählte Geschichte nacherzählt wird, als weiträumiges

Spiel. Auch Musils "Mann ohne Eigenschaften"verweist gleich auf der ersten Seite auf sein Erzähltsein.

Solches Erzählen, das miterzählt, dass es erzählt, heisst seit der Frühromantik Ironie und stammt ursprünglich aus dem humoristischen Roman. Mit solchem ironischen Erzählen gelingt es, in den epischen Gattungen der Sprachkritik Rechnung zu tragen. Viele Techniken haben sich im Laufe der Zeit dafür ausgebildet. Interessanterweise setzt übrigens nach der Jahrhundertwende in der Germanistik auch die wissenschaftliche Erzählforschung ein und die Unterscheidung zwischen Autor und Erzählinstanz.

Diese Beispiele sollten demonstrieren, dass und wie die Dichtung auf die Sprachkritik der Jahrhundertwende reagierte. Es setzt damit jener Prozess ein, in dessen Verlauf sich die Literatur mehr und mehr vom gewohnten Sprachgebrauch entfernte und von der Leserschaft entsprechend grössere Anstrengung forderte. Wir kennen die Parallelen in Malerei und Musik, wo ebenfalls das Material dazu tendiert, sich zu verselbständigen. Während sich die andern Künste dabei vor allem gegen ihre bisherige Tradition absetzten, ging es in der Literatur immer auch um Distanznahme zum alltäglichen Sprechen und Sprachgebrauch. So ist die moderne Literatur in doppeltem Sinne ein anderes Sprechen. Dabei verstand sich die Dichtung immer strenger als Erscheinungsort der Wahrheit im moralischen Sinne, wie Nietzsche es ihr zugedacht hatte.

III

Bisher haben wir uns im Quellgebiet der modernen Sprachkritik aufgehalten. Wenn wir nun einen zeitlichen Sprung machen in die Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg, folgen wir dem Gang der Sache. Denn der Sprachkritik erging es wie der Donau: nach ihrem Aufkommen um die Jahrhundertwende und ihren ersten Auswirkungen

in der Literatur bis in die Zwanziger Jahre versickerte sie und trat erst in den späten Fünfziger Jahren wieder zu Tage, verändert und verbreitert. Wollte man beantworten, weshalb das so war, müsste man darauf verweisen, dass nach 1930 aus politischen Gründen die Zeit der freien Experimente auch auf diesem Felde aufhörte und restaurative Tendenzen die Macht ergriffen. Und nicht gleich 1945, sondern erst nach der Phase der politischen und geistigen Konsolidierung in Deutschland, wurde in der Literatur die Suche nach neuen Gestaltungsweisen wirklich produktiv. Doch muss ich es bei diesen Andeutungen belassen. Diese zweite Phase der Sprachkritik gründete gewiss auch in philosophischen Überlegungen. Dass Ingeborg Bachmann über Heidegger promoviert und Peter Handke Wittgenstein studiert hat, mag das belegen. Aber die breitere und in mancher Hinsicht bis heute andauernde kritische Beschäftigung mit dem Thema Sprache hatte vor allem einen realen Anlass: sie war der Versuch, den Missbrauch der Sprache durch den Nationalsozialismus zu erkennen und Lehren daraus zu ziehen. Nicht mehr in erster Linie die Erkenntniskritik, sondern aus der deutschen Katastrophe erwachsene Kultur- und Gesellschaftskritik bildete den Ausgangspunkt und den Rahmen.

Als Nietzsche Sprache und Rhetorik gleichsetzte, kam es ihm darauf an, die Uneigentlichkeit auch der sogenannten natürlichen Sprache aufzuzeigen. Dass Rhetorik auch die Kunst ist, mittels der Sprache "Glauben zu wirken" und etwas wahr zu machen, auch wenn es an sich unwahr ist und der, der es vertritt, nicht daran glaubt, blieb in "Wahrheit und Lüge"im Hintergrund. Es war nach der Jahrhundertwende Karl Kraus, dem die Wirkungsmacht des Gesprochenen und Geschriebenen, insbesondere der Phrase, aufging und der von da aus in seiner Zeitschrift "Die Fackel"die zeitgenössische Presse unablässig aufs Korn nahm. Die Macht der "veröffentlichten Meinung", die er anprangerte, brachte er auf die satirische Formel: "Im Anfang war die Presse /und dann erschien die Welt." 10

Der Nationalsozialismus machte sich diese bewusstseinsbestimmende und damit wirklichkeitschaffende Macht der Sprache in der Propaganda, die der' promovierte Germanist Joseph Goebbels organisierte, hemmungslos zunutze. Über Einzelheiten dieser öffentlichen Indoktrination sind wir unterrichtet durch die Sprachbeobachtungen, die der Romanist Victor Klemperer, der wegen seiner jüdischen Herkunft seinen Lehrstuhl in Berlin verloren hatte und nur dank seiner Frau überlebte, während der Nazizeit aufzeichnete und nach dem Krieg unter dem Titel "LTI"11, lingua tertii imperii, dem Decknamen seiner Notizen, herausgab. In der Einleitung bespricht er das Grundsätzliche: "... der Nazismus glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er in millionenfachen Wiederholungen aufzwang und die mechanisch und unbewusst übernommen wurden. Man pflegt das Schiller-Distichon von "der gebildeten Sprache, die für dich dichtet und denkt", rein ästhetisch und sozusagen harmlos aufzufassen. [...] Aber Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewusster ich mich ihr überlasse. Und wenn nun die gebildete Sprache aus giftigen Elementen gebildet oder zur Trägerin von Giftstoffen gemacht worden ist? Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da. Wenn einer lange genug für heldisch und tugendhaft: fanatisch sagt, glaubt er schliesslich wirklich, ein Fanatiker sei ein tugendhafter Held, und ohne Fanatismus könne man kein Held sein." An den Sprachmanipulationen der Nazi war Klemperer die fundamentale Einsicht aufgegangen, dass der einzelne durch die kollektive Sprache bis ins Innerste beherrscht und gesteuert werden kann. Das fand er ausgesprochen in dem Satz des jüdischen Sprachdenkers Franz Rosenzweig, den er als Motto voranstellte: "Sprache ist mehr als Blut." Im Unterschied zu Blut und Boden, auf die sich die Nazis

beriefen, ist die Sprache aber nicht unveränderbar. Sie ist in die Verantwortung der Menschen gegeben. Victor Klemperer veröffentlichte seine Sprachbeobachtungen mit dem Ziel, für die Sprache des Dritten Reiches sensibel zu machen, damit sie künftig vermieden und so auch die durch sie bewirkte Unmenschlichkeit zum Verschwinden gebracht werden könne. Zwei weitere Sprachsammlungen, "Aus dem Wörterbuch des Unmenschen"12 und "Sprache in der verwalteten Welt"13 verfolgten später einen ähnlichen Zweck, wobei sie, wie der zweite Titel zeigt, die Sprachkritik über die Nazisprache hinaus ausdehnten auf sprachliche Erscheinungen, die die technisierte Welt hervorbrachte. Es ist heute umstritten, ob man einzelnen Wörtern und Wendungen soviel Einfluss zuschreiben kann, wie diese Sammlungen es tun. Für die sprachkritische Dichtung bildete die Auffassung, die ihnen zugrunde liegt, den Ausgangspunkt. Es ging ihr darum, und zwar mit grösstem Ernst, eine neue Sprache zu schaffen oder ihr doch den Weg zu bahnen, "Einen einzigen Satz haltbar zu machen, auszuhalten in dem Bimbam von Worten", wie es bei Ingeborg Bachmann einmal heisst. Das möchte ich wiederum an drei Beispielen erläutern.

Bei keinem anderen deutschen Dichter der Nachkriegszeit ist diese Kritik an der durch die Nationalsozialisten missbrauchten Sprache und die Hoffnung auf eine neue Sprache inständiger als bei Paul Celan, der die Verfolgung der Juden an seiner Familie und sich selbst erlitten hatte. In einem programmatischen Gedicht heisst es, als späte Antwort auf Bert Brecht 14:

Was sind das für Zeiten,
wo ein Gespräch
beinah ein Verbrechen ist,
weil es soviel Gesagtes
mit einschliesst?

Celans lyrisches Werk lässt sich gesamthaft verstehen als immer erneuter Versuch, dem Gesagten und dadurch Kompromittierten etwas anderes entgegenzusetzen, eine wieder Menschlichkeit garantierende Sprache. Berühmt ist das folgende Gedicht aus dem Band "Atemwende"(1967)15:

WORTAUFSCHÜTTUNG, vulkanisch,
meerüberrauscht.
Oben der flutende Mob
der Gegengeschöpfe: er
flaggte —Abbild und Nachbild
kreuzen eitel zeithin.
Bis du den Wortmond hinausschleuderst, von dem her
das Wunder Ebbe geschieht
und der herzförmige Krater
nackt für die Anfänge zeugt,
die Königsgeburten.

Beim ersten Hören und Lesen ist das schwerverständlich, und soll es auch sein. Das darf uns nicht überraschen. Wenn das Gedicht verständlich wäre, hiesse das ja, dass es noch die alte Sprache gebrauchte, und gerade keine neue, unverdorbene, die man erst erlernen muss. Vermieden ist darum auch, was an traditionelle Lyrik erinnert, der Reim, regelmässige Verse und Strophen. Bewahrt ist lediglich ein durchgehend daktylischer Rhythmus, wie übrigens in vielen scheinbar formlosen modernen Gedichten, in

dem antike Versmasse nachklingen. Die verwendeten Bilder sind in Gedichten neu: Aufschüttung, vulkanisch, Krater, Mond, Ebbe, Meer —sie stammen aus der geologischen Erdgeschichte. Auch aus anderen Fachsprachen oder aus entlegenen Sprachtraditionen wie der jüdischen Mystik suchte Celan unverbrauchtes und unkompromittiertes Wortmaterial für seine Gedichte zu gewinnen. Die geologischen Bilder sind übertragen gebraucht, als Metaphern. Worauf sie sich beziehen, erschliesst sich erst intensivem Nachdenken,' und auch nur ein Stück weit. Man erkennt, dass das Gedicht von zwei verschiedenen Sprachzuständen redet: "Oben /der flutende Mob / der Gegengeschöpfe: er /flaggte —Abbild und Nachbild /kreuzen eitel zeithin."In "Mob"steckt eine politische Anspielung, er besteht aus den "Gegengeschöpfen", Unmenschen wohl, die insofern "Abbild" und "Nachbild" heissen können, als sie, wie Klemperer es beobachtete, von der Sprache gesteuert sind. Im Kontrast dazu stellt der zweite Teil eine Neuschöpfung der Sprache in Aussicht, die von einem ursprünglichen und individuellen Akt ausgeht: "Bis du den Wortmond hinaus-/schleuderst, von dem her /das Wunder Ebbe geschieht". Dieser Wortmond ist wohl die Dichtung. Aber nicht sie ist die neue Sprache, ihre Kraft bestünde darin, den Meeresboden, einen verschütteten Urgrund, freizulegen, aus dem Erneuerung käme. Wie diese genau aussehen würde, bleibt offen, das Gedicht beschränkt sich redlicherweise darauf, die Hoffnung auf eine neue Sprache zu wecken oder wachzuhalten. Damit sind nur Grundlinien einer Interpretation angedeutet. Diese lassen immerhin erkennen, dass das Gedicht auch und vor allem von sich selber spricht. Solche Selbstbezüglichkeit, eine zentrale Struktur moderner Dichtung, steht hier im Zusammenhang damit, dass eine neue Sprache die Wirklichkeit erst schaffen muss, auf die sie sich beziehen kann.

Die Gedichte Paul Celans sind wohl die dunkelsten der deutschen Nachkriegslyrik, sie haben eine fast mystische Aura. In ihrer Nähe stehen, auch thematisch, diejenigen von Ingeborg

Bachmann. Aber insgesamt verweigert sich die neuere Lyrik aller zitierbaren Eingängigkeit, wie wir sie von klassisch-romantischen Gedichten gewohnt sind. Wer sich ihr als Leser aussetzt, muss umdenken, sich umstellen, mindestens für kurze Zeit, auf ein anderes Sprechen.

Die "konkrete poesie"16, die in den 60er Jahren aufkam, nimmt nicht mehr auf die Sprache des Nationalsozialismus bezug, sondern auf den Sprachzustand, wie er sich durch das Erfordernis schneller Kommunikation herausgebildet hatte und im Schlagwort fassbar wird, das, um rasch verstanden zu werden, nicht nur kurz ist, sondern Lautkombinationen und Schriftbild mit einsetzt. Eugen Gomringer, der Erfinder der "konkreten poesie", begründet diese aus solch neuen Sprechgepflogenheiten und polemisiert gegen die individualistische Ausdruckslyrik, sie interessiere nur noch "einige eifrige Interpreten". Die "konkrete poesie"hat ihr Grundprinzip im Spiel mit den Wörtern als ihrem Material: Buchstabenspiele, Lautspiele, Wortspiele inklusive Kalauer — Ernst Jandl nennt eine Gedichtsammlung "laut und luise" —, auch die graphische Gestalt wird einbezogen wie bei barocken Figurengedichten.

Wir kennen heute alle diese Mittel aus der Werbung, kaum ein Texter, der auf sie verzichtet. Und so konnte es von Beginn an den Anschein machen, in der "konkreten poesie"werde die Lyrik an den durch die neuen Kommunikationsformen aufgekommenen Sprachgebrauch verraten. Aber ihre Theoretiker verstanden die "konkrete poesie" zugleich sprachkritisch. Gomringer etwa schreibt: "der beitrag der dichtung wird sein die konzentration, die sparsamkeit und das schweigen: das schweigen zeichnet die neue dichtung gegenüber der individualistischen dichtung aus, dazu stützt sie sich auf das wort."Das gilt ganz wörtlich, "konkrete poesie"ist in erster Linie stumm gelesene, also optisch aufgenommene Dichtung; darum kann ich hier auch kein Beispiel zitieren. Der Protestanspruch wird von Max Bense und Reinhard Döhl noch ausdrücklicher

erhoben: "Zwar bleibt auch dieser autor, als intellektuelles individuum einer zivilisation und ihrer gesellschaft, ebendieser gesellschaft verpflichtet: aber an stelle der ethischen verpflichtung tritt die ästhetische moral, an stelle des kategorischen imperativs zählt die ästhetische auseinandersetzung (mit der sprache des unmenschen etwa), an stelle der mitgeteilten fabel gilt das ästhetische spiel. in einem solchen sinne sprechen wir auch von poesie heute als einer ästhetischen negation gesellschaftlicher zustände, zivilisatorischer mängel."Die "konkrete poesie" soll also den Sprachzustand, dem sie sich anschliesst, zugleich kritisieren. Sie vermag das, indem sie mit ihm spielt, ihn damit zweckfrei macht und zum Gegenstand der Reflexion. Das ermöglicht den Leserinnen und Lesern Distanznahme zur Sprachwelt, die sie sonst beherrscht. Die gewonnene Freiheit manifestiert sich als Gelächter.

In der "konkreten poesie" liegt der Ursprung der neuen Schweizer Dialektlyrik. An deren Anfang steht das Bändchen von Kurt Marti, "Rosa Loui", "vierzg gedicht ir bärner umgangsschprach" (1967)17 Diese Gedichte sind bewusste, kalkulierte Spiele mit berndeutschen Wörtern und Wendungen. Wenn sich daraus Sinn ergibt, so steht er am Schluss und nicht am Anfang. Es geht um die Entdeckung der sprachschöpferischen Basis des Dialekts (Gomringer). Das erste Gedicht aus "Rosa Loui"mag das illustrieren. Es "lautet"(im wörtlichen Sinne!):

wie geits?
äs chunnt
äs geit
ganz zerscht
chunnt meh
als geit

doch gly
chunnts so
wies geit
und bald
geit meh
als chunnt
bis alles geit
und nüt me chunnt.

Aus dem Spiel mit nur zwei Wörtern aus dem alltäglichen Umgang, "geit", "chunnt", die immer mehr aufgeladen werden, ergibt sich schliesslich die lapidare Erzählung des Lebenslaufes, in dem sich manch einer wiedererkennen mag. Das Spiel führt paradoxerweise dazu, die Wörter ganz ernst zu nehmen, gegen das zeitgemässere Daherreden.

Solche "konkrete"Dialektpoesie, von Kurt Marti und anderen, hat die Mundartwelle ausgelöst. Auch in dieser, das ist zu überlegen, steckt wohl ursprünglich die Hoffnung auf eine andere, nicht technisierte und kommerzialisierte, damit humanere Sprache und ein spielerisches Sprechen. Heute freilich sind wir uns dessen bewusst geworden, dass der unreflektierte Gebrauch des Dialekts, der auf "die bewusste beobachtung des sprachmaterials"(Gomringer) verzichtet, in manchen Situationen in der Gegenrichtung wirkt, weil er alle die ausschliesst, die ihn nicht verstehen können.

Es wird deutlich geworden sein, dass die Sprachkritik bei Celan und der "konkreten poesie" anders gerichtet ist als diejenige nach der Jahrhundertwende. Es geht ihr nicht mehr darum, die Sprache zu relativieren, um hinter ihr eine ganz andere Wirklichkeit ahnbar zu machen. Vielmehr geht es darum, mithilfe der Dichtung gegen

die kollektive Übermacht der Sprache anzugehen und dem Einzelnen Distanz dazu zu ermöglichen, aus der er eine eigene Sprache sprechen kann. Die andere oder neue Sprache, bei Celan und der "konkreten poesie", wäre eine individuell verantwortete Sprache. Kurz: diese Sprachkritik erfolgt nicht im Namen eines "unsäglichen" Aussen, sondern, wie in der älteren Sprachkritik, eines zur Sprache drängenden Innern der individuellen Person.

Um diese Thematik kreist auch das Werk von Peter Handke. Er erzählt davon in einer frühen autobiographischen Skizze 18. Es geht um den Aufsatzunterricht: "Weil ich meine Erfahrungen als Kind inzwischen vergessen hatte, teilte ich in den Aufsätzen die dazugelernten Erfahrungen mit eingelernten Wörtern mit. Sollte ich ein Erlebnis beschreiben, so schrieb ich nicht über das Erlebnis, wie ich es gehabt hatte, sondern das Erlebnis veränderte sich dadurch, dass ich darüber schrieb, oder es entstand oft erst beim Schreiben des Aufsatzes darüber, und zwar durch die Aufsatzform, die man mir eingelernt hatte: Sogar ein eigenes Erlebnis erschien mir anders, wenn ich darüber einen Aufsatz geschrieben hatte. In Aufsätzen über Treue und Gehorsam schrieb ich wie in Aufsätzen über T. und G., in Aufsätzen über einen schönen Sommertag schrieb ich wie in Aufsätzen über einen sch. St., in Aufsätzen etwa über das Sprichwort "Steter Tropfen höhlt den Stein"schrieb ich wie in Aufsätzen über das Sprichwort "St. Tr. h. d. Stn", bis ich schliesslich an einem schönen Sommertag nicht den schönen Sommertag, sondern den Aufsatz über den schönen Sommertag erlebte." Diese allmähliche Selbstentfremdung durch den Erwerb von Sprache und Textsorten, bis man schliesslich nicht mehr selber spricht, sondern gesprochen wird, ist, ins Unheimliche gesteigert, das Thema von Handkes Theaterstück "Kaspar" (1967)19, das den Kaspar Hauser-Stoff abwandelt. Auf Kaspar reden unentwegt verschiedenste Stimmen ein, und je besser er lernt, ihnen nachzusprechen, umso mehr kommt er sich selber abhanden. Von den Stimmen, die auf Kaspar einreden, heisst es in der Szenenanweisung, sie "sollten die Sprechweisen

von Stimmen sein, bei denen auch in der Wirklichkeit ein technisches Medium zwischengeschaltet ist: Telefonstimmen, Radio- und Fernsehansagerstimmen etc."Dass es Medienstimmen sind, ist deshalb verlangt, weil auch diese, nicht nur wegen der dazwischengeschalteten Technik, unpersönlich, gestellt sind. Das überträgt sich auf Kaspar.

Was durch solches Sprechenlernen abhanden kommt, heisst in der zitierten Stelle über den Schulaufsatz "Erlebnis". Erlebnis bezeichnet seit seinem Aufkommen im späten 19. Jahrhundert die herausragende, intensive, meist augenblickhafte Selbst- und Welterfahrung eines Individuums, etwas ganz Persönliches also. Der Persönlichkeitskern wird demnach von der Sprache tangiert.

Hatte sich Handke zunächst darauf beschränkt, die Übermacht der Sprache und Textgattungen darzustellen, ohne etwas dagegenzusetzen, so fasste er später zunehmend auch die Erlebnis-Seite in den Blick. So erzählt der Roman "Die Stunde der wahren Empfindung", wie der Held, bezeichnenderweise ein Pressereferent, auf einem Kinderspielplatz beim Anblick dreier liegengebliebener Dinge einen sprachlosen Moment erlebt. Eindringlicher noch evoziert das Buch über den Tod von Handkes Mutter "Das wunschlose Unglück"solche Augenblicke: "Da waren eben kurze Momente der äussersten Sprachlosigkeit und das Bedürfnis, sie zu formulieren, die gleichen Anlässe zum Schreiben wie seit jeher." Solches Schreiben aufgrund sprachloser Erlebnisse ergibt für Handke die neue Sprache. Ihre erzählerischen Mittel sind jenen verwandt, die Musil und Thomas Mann verwenden, vor allem ein Erzählen, das sich selber reflektiert und damit anzeigt, dass es nicht blind vorgegebenen Mustern folgt. Und wie hier die Dichtung beansprucht, authentisches, individuelles Sprechen zu sein, so berichtet Handke auch immer wieder davon, wie Kunstwerke ihm zu authentischen Erlebnissen verholfen haben, zu sprachlosen Erfahrungen.

Nicht nur Handke verwendet sprachliche Mittel, die in der ersten Phase der Sprachkritik entwickelt wurden. Es liegt nahe, in der "konkreten poesie"Verwandtes mit dem Dadaismus etwa Hans Arps zu entdecken. Dass Paul Celan von Rilkes Lyrik herkommt, ist offensichtlich. Aber eben, das scheinbar Ähnliche tritt nun in den Dienst der veränderten Grundintention der zweiten Phase der Sprachkritik, die auf ein von der entindividualisierenden Übermacht der Sprache befreites, selbstverantwortetes, persönliches Sprechen zielt, bei Autor und Lesenden. Grundvoraussetzung ist dabei, was man "die Unhintergehbarkeit von Individualität" (Frank) genannt hat. Damit ist gemeint, dass jeder Mensch einen individuellen Kern besitzt, ein Selbst, dem er wohl entfremdet werden kann, das aber unabdingbar zu ihm gehört. Diese Voraussetzung ist nicht unbestritten. Dagegen steht die Auffassung, noch dieses Selbst sei, mit Handke gesprochen, eingeredet, eine nur sprachlich vermittelte Gegebenheit, anders gesagt, an den "Diskurs" gebunden, der seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert von unabdingbarer Individualität redet. Wäre dem so, dann wäre dem Einzelnen das Refugium genommen, von dem her oder auf das hin die Kollektivsprache kritisiert werden kann. Auch sein Selbst verdankte der Mensch der Sprache, sein Ich liesse sich letztlich auf die 1. Person Singular der Grammatik reduzieren. Das Problem lässt sich zuspitzen bis zur unheimlichen Frage, ob tatsächlich ich selbst es bin, der hier und jetzt spricht, oder ob ich nur von verschiedenen Diskursen gesprochen werde, als ihr Mundstück sozusagen. Sie verstehen, dass ich hier abbreche und, mit zwei allgemeinen Überlegungen, zum Schluss kommen möchte.

Es ist offensichtlich, dass sich die Kritik an der Sprache, und zwar beider Richtungen, in unserer gegenwärtigen Kultur nicht mehr auf die Literatur, wo sie zunächst manifest wurde, beschränkt. Vielerorts beobachten wir die Tendenz, ins Sprachlose auszuweichen, ja es höher zu werten. Im Umgang miteinander hat das "sich spüren"Konjunktur, und gesucht werden andere als die sprachlichrationalen

Wege der Erkenntnis, Meditation, mystische Versenkung, Schweigen verschiedenster Provenienz und Ausrichtung, auch künstlich herbeigeführte Entrückungen. Auch die Faszination durch Bildlichkeit aller Grade gehört dazu, und nicht zuletzt das Bedürfnis, Musik zu hören, im Konzert, im Radio und im walkman. Das Zurückgehen der Sprach- und Sprechfähigkeit könnte die Kehrseite davon sein. Literatur und Dichtung unterscheiden sich grundsätzlich von allen diesen Versuchen, ohne Sprache auszukommen, und zwar darin, dass sie Sprachkritik und Festhalten an der Sprache zu vereinbaren streben, wissend, dass wir auf das Wort nicht verzichten können und dürfen. Das unterstellt die Literatur einer ähnlich unabschliessbaren Dynamik wie diejenige es ist, der sich Mauthner ausgesetzt sah, als er die Sprache mit der Sprache überwinden wollte.

Und wir Philologen? Im Lichte des zur Sprachkritik in unserem Jahrhundert Ausgeführten wird deutlich, dass unsere traditionellen Gegenstände, Sprache und Literatur, nicht nur die deutsche, aus der Peripherie antiquarischer und ästhetischer Interessen in das zentrale Problemfeld unserer Kultur gerückt sind. Das gibt den Philologien eine neue, tiefere Legitimation, daraus erwächst ihnen auch eine erhöhte gesellschaftliche Verantwortung. Wir meinen zu wissen, dass es mehr auf Sprache und Literatur ankommt, als man gemeinhin glaubt. Die Sprachwissenschaft differenziert, was hier immer sehr pauschal "die Sprache" genannt wurde, in viele verschiedene Einzelaspekte und erforscht deren Möglichkeiten und Grenzen mit einem ausserordentlich verfeinerten Begriffsinstrumentarium. Damit gewinnt sie die Grundlage für eine in jedem Sinne fundiertere Sprachkritik. Wir Literaturwissenschaftler haben es in erster Linie mit sprachlichen Werken zutun, die den Anspruch, anders, besser, wahrer zu sprechen, in sich tragen. Wir nehmen sie ernst, indem wir sie zur Gegenwart und zu uns selbst, historisierend und aktualisierend, in Beziehung setzen und davon reden, im Wissen, dass Bücher eines der Fundamente unserer Kultur bilden.

Etwas von dem, was die Philologie, diesen Dienst am weltlichen Wort jeder Art, so grundlegend und faszinierend macht, finde ich ausgesprochen in einem Reyen des Barockdichters Andreas Gryphius über die "Zunge"20, was, als Eindeutschung von lingua, Sprache und Sprechen bedeutet:

Die zung ist dieses schwerdt,
So schützet und verletzt;
Die flamme, so verzehrt
Und eben wol ergetzt,
Ein hammer, welcher baut und bricht,
Ein rosenzweig, der räucht und sticht,
Ein strom, der träncket und erträncket,
Die artzney, welch erquickt und kräncket,
Die bahn, auf der es offt gefehlet und gelungen.
Dein leben, mensch! und todt hält stets auf deiner zungen!

Anmerkungen

Elfenbeinturmes. Frankfurt 1972 (st 56), S. 13-14.

Weiterführende Literatur

Günter Sasse, Sprache und Kritik. Untersuchungen zur Sprachkritik der Moderne. Göttingen 1977 (Palästra Bd 267).

Christian L. Hart Nibbrig, Rhetorik des Schweigens. Versuch über den Schatten literarischer Rede. Frankfurt 1981 (st 693).

Michael Klein, Sigurd Paul Scheichl (Hrsg.), Thematisierung der Sprache in der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Innsbruck 1982.

Dirk Göttsche, Die Produktivität der Sprachkrise in der modernen Prosa. Frankfurt 1987 (Hochschulschriften Literaturwissenschaft, Bd 84).

Heidy M. Müller, Jaak de Vos (Hrsg.), Aporie und Euphorie der Sprache. Studien zu Georg Trakl und Peter Handke. Leuven 1989.

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