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Chemie —Bild oder Zerrbild einer Wissenschaft?

Akademische Rede von

Prof. Dr. Andreas Ludi
Rektor 1991/93

Mit der traditionellen Ansprache am Dies academicus übernimmt der eben sein Amt antretende Rektor eine mehrschichtige, verzwickte Aufgabe. Nach dem Willen des Gesetzes erfüllt die Universität ihren Auftrag in Forschung und Lehre im Dienste der Allgemeinheit. 1 Eben dieser Allgemeinheit gilt es, einen verständlichen Einblick in Stand und Perspektiven des vorn Rektor vertretenen Faches zu bieten. Dabei ist darauf zu achten, dass eine allgemein verständliche Darstellung einer Wissenschaft nicht zu einer Sammlung platter Unverbindlichkeiten entartet ein Punkt über den die Kollegenrunde mit Argusaugen wacht. Der Naturwissenschafter hat sich zudem der Polarität bewusst zu sein, die sich zwischen einem unkritischen Positivismus und einer ebenso unkritischen Technologie-Ablehnung aufspannt, einer Polarität, die einer Gratwanderung zwischen undifferenzierter Einseitigkeit und flauer Unbestimmtheit gleichkommt. Diese Bemerkungen seien als captatio benevolentiae an den Anfang gestellt.

Jede Beschäftigung mit der Wissenschaft Chemie vor der Öffentlichkeit vor einem

Formelbilder von Molekülen (Liganden als Verbindungspartner von Metallen)

nicht ausschliesslich aus Fachkollegen zusammengesetzten Publikum, muss sich heute zwangsläufig mit der im Titel formulierten Frage auseinandersetzen, selbst wenn die verfügbare Zeit eine umfassende Darstellung und vertiefte Analyse der angesprochenen Problematik verbietet. Um Entwicklung und Zukunft einiger fundamentaler Aspekte meines Faches zu umreissen, sind auch die Bereiche Technologie und Wirtschaft zu beachten, mithin Bedeutung und Ansehen der Chemie in der heutigen Gesellschaft. 2 Wir kommen dabei nicht umhin, ein recht pauschales Misstrauen gegenüber Technologie und Naturwissenschaften zu vermerken. Wie die drei miteinander hierarchisch verkoppelten Ansätze «Verstehen der Natur», «Lernen von der Natur», «Eingreifen in die Natur» gewichtet und beurteilt werden, ist eine Frage von Zeit und Ort. Es hängt vom politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umfeld ab, welcher Gesichtspunkt für das Verhalten gegenüber der Natur, weiter gefasst, gegenüber der Umwelt namentlich betont wird.

Die Fremdheit weiter Kreise gegenüber Chemie, dem Einsatz chemischer Produkte und Verfahren hat verschiedene Wurzeln, die ich nicht einzeln erörtern möchte. Fehlende oder schlechte Information Unfälle,

Prof. Dr. phil. Andreas Ludi Andreas Ludi, 1936 in Kerzers geboren, wuchs in Münchenbuchsee auf und immatrikulierte sich nach Durchlaufen des Städtischen Gymnasiums1954 an der Universität Bern in den Fächern Chemie, Physik und Kristallographie. Anschliessend an die Promotion 1962 verbrachte er die akademischen Lehr- und Wanderjahre in den Vereinigten Staaten und in Deutschland und wurde 1965 als Lektor an das Berner Chemische Institut gewählt. Die nun aufgegriffenen Arbeiten im Grenzbereich zwischen Komplexchemie und Strukturchemie wurden 1969 zu einer Habilitationsschrift zusammengefasst, die mit dem Werner-Preis der Schweizerischen Chemischen Gesellschaft ausgezeichnet wurde. 1970 erfolgte die Beförderung zum Extraordinarius, 1975 zum Ordinarius für Anorganische Chemie. Neben seiner Tätigkeit innerhalb des Faches, unter anderem in der Neugestaltung des Studienplanes, engagierte sich Andreas Ludi in verschiedenen fakultäten und gesamtuniversitären Aufgaben. Seit 1975 war er Mitglied, dann Präsident der Finanzkommission, 1986/87 amtierte er als Dekan der Philosophisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät; seit 1989 war er Vizerektor in der Universitätsleitung. Seine Forschung konzentriert sich als Grundlagenforschung auf die Chemie der Platinmetalle, auf Untersuchungen von Struktur und Reaktivität von Verbindungen dieser seltenen, aber für das Gebiet der Katalyse ausserordentlich wichtigen Elemente. Kontakte mit ausländischen Arbeitsgruppen führten zu Aufenthalten als Gastforscher an den Universitäten Stanford, USA, und Canberra, Australien.

Fehlgriffe mit ihren Spätfolgen haben Unsicherheit und Angst ausgelöst bis hin zu einer Haltung, die als eigentliche Chemophobie bezeichnet werden muss. Einen anderen, mir wichtig erscheinenden Gesichtspunkt möchte ich noch herausgreifen: Die Sprache der Chemie, die chemische Symbolik gehört nicht —noch nicht? — zum Allgemeingut des heutigen Wissens. Wenn auch den Formelbildern eine Eleganz des Ornamentes und Ästhetik der Symmetrie durchaus zugebilligt wird, fehlt doch ein direkter Zugang zum Aussagegehalt dieser, dem Chemiker wohl vertrauten Muster. Nach wie vor besteht ein alchemistischer Bezug, ein Anklang an die Schwarze Magie. Die gemeinhin unverstandene Symbolik mag wie ein fremder und geheimbündlerischer, unheimlicher und sogar feindseliger Code wirken.

Abriss der Entwicklung der Chemie im 20. Jahrhundert

Dass die Wissenschaft Chemie am Berner Dies academicus im Zentrum steht, ist ein eher seltenes Ereignis, in diesem Jahrhundert das dritte Mal. Damit sind Orientierungshilfen, Marksteine gesetzt, um die Entwicklung meines Faches kurz aufzuzeigen. Es versteht sich dabei von selbst, dass die mit einigen Stichworten skizzierte summarische Darstellung nicht nur unvollständig ist, sondern auch einer persönlich gefärbten Auswahl entspricht.

Die zwanziger Jahre —1927/28 war Volkmar Kohlschütter Rektor 3 —gehören zur grossen Zeit revolutionärer Neuerungen in der Physik mit nachhaltiger Ausstrahlung in die Chemie. Das Gerüst der Quantenmechanik ist eben errichtet worden. Die ersten Ansätze zur quantenmechanischen Behandlung der chemischen Bindung, des Zusammenhalts der atomaren Bausteine der unbelebten und belebten Materie, Ansätze auch zum Verständnis der Dynamik chemischer Reaktionen vermitteln der Chemie entscheidende, nicht mehr wegzudenkende Impulse. Die weitläufige Vielfalt chemischer Phänomene findet damit eine rationale Abstützung auf einem theoretischen Formalismus, wenn auch dieses Programm noch nicht unmittelbar auf den Alltag des Chemikers einwirkt. Chemische Tätigkeit ist nach wie vor wesentlich geprägt durch experimentelles Arbeiten im präparativen und analytischen Laboratorium. Eine weit verbreitete Assoziation des chemischen Laboratoriums mit Knall und Gestank entstammt dieser und einer noch früheren Zeit und hat sich den nachfolgenden Entwicklungen zum Trotz erhalten. Im Grundlagenbereich der Chemie werden die letzten noch fehlenden Elemente nachgewiesen und isoliert. Das Periodische System der Elemente, das chemische Alphabet, ist damit lückenlos aufgefüllt. Die Strukturaufklärung von Hämin, dem Blutfarbstoff, Isolierung und Synthese von Vitamin C sowie erste Ansätze in der Polymerchemie, der wissenschaftlichen Grundlage der Kunststoffe, sind herausragende Forschungsergebnisse der späten zwanziger Jahre. In der chemischen Industrieproduktion etablieren sich die ersten Chemotherapeutika neben den klassischen Düngemitteln und dem grossen Farbstoffsortiment. 4 Werfen wir noch einen Blick auf die chemische Reaktion und ihre Dynamik. Mit der um 1927 erreichten Experimentierkunst und dem üblicherweise zugänglichen Instrumentarium können Prozesse verfolgt und exakt beschrieben werden, welche im Zeitraum Sekunden bis Minuten ablaufen.

Mit dem Rektorat von Walter Feitknecht stehen wir zu Beginn der sechziger Jahre. 5

Es ist die Epoche der fast explosionsartigen Entwicklung instrumenteller Methoden, aufs engste verknüpft mit den gewaltigen apparativen Neuerungen der Elektronik. Das bislang vorwiegend synthetisch orientierte Laboratorium wird ergänzt, dominiert von Experimentierräumen mit raffinierten Apparaten, deren Leistung und Auflösungsvermögen der Chemie neue Dimensionen erschliessen. Die Chemie-Ausbildung wird gewissermassen physikalischer, Kenntnis und Beherrschung der reichen Palette spektroskopischer und chromatographischer Methoden gehören jetzt zum Rüstzeug des Chemikers in der Praxis. So paradox es klingen mag, mit dem Einzug hochspezialisierter instrumenteller Techniken werden die traditionellen Abgrenzungen der verschiedenen Chemie-Teildisziplinen verwischt, das Gemeinsame, Verbindende erhält vermehrtes Gewicht. Als Illustration: Die herkömmliche Zweiteilung der einführenden Grundvorlesung in einen anorganischen und einen organischen Teil wird — vorerst in den USA —abgelöst von einer Lehrveranstaltung «Allgemeine Chemie».

Mehr und mehr treten theoretisch fundierte Konzepte neben und an die Stelle von Faustregeln, die aus dem reichen Fundus empirischer Fakten abgeleitet wurden. Die räumliche Anordnung von Atomverbänden hoher Komplexität der unbelebten und belebten Welt wird erforscht. Höhepunkte bilden etwa die Aufklärung von Eiweiss-Strukturen und die theoretische Erfassung der Zusammenhänge zwischen elektronischer Struktur und Farbe chemischer Verbindungen. Mit der erfolgreichen Strukturbestimmung der Doppelhelix der Nukleinsäuren gelingt die Entschlüsselung des genetischen Codes. Die sprunghafte apparative Entwicklung ermöglicht eine gewaltige Verfeinerung des der Forschung zugänglichen Zeitfensters chemischer Reaktionen. Dynamische Prozesse bis in die Zeitskala von Millionstel Sekunden können aufgelöst und vermessen werden.

Das Register der industriellen Chemieprodukte wird in der Epoche des zweiten Weltkrieges und der unmittelbaren Nachkriegsjahre gewaltig erweitert. Die Stichworte Antibiotika, Kunststoffe, Pestizide mögen genügen, um nur andeutungsweise auf einen äusserst regen und weit verzweigten Markt hinzuweisen. Die Zeit um 1960 markiert aber zugleich eine Wende, den Anbruch einer kritischen und skeptischen Wertung. Rückstände, gestörte Kreisläufe, Schäden in der Umwelt werden erstmals manifest, bewirkt durch oft unsachgemässen und überdimensionierten Einsatz stabiler, kaum abbaubarer chemischer Produkte. Entsprechende Reaktionen und Berichte in den Medien zeichnen sich häufig durch Pauschalurteile und unausgewogene Darstellungen aus und lassen eine sorgfältige Analyse und Beurteilung vermissen, wie sie in exemplarischer Weise an der Fallstudie DDT-Malaria durchgeführt wurde. 6

Wenden wir uns der Gegenwart zu. Die soeben skizzierte Entwicklung in der Forschung hat sich in den vergangenen dreissig Jahren verstärkt und ausgeweitet. Das für Forschung und Lehre in der Chemie unentbehrliche Instrumentarium ist durch den Einbezug von Laser und Computer qualitativ und quantitativ verwandelt und bereichert worden. Dabei sind die Wechselbeziehungen zwischen Chemie und Informatik nicht nur auf die Steuerung höchst empfindlicher Messgeräte und auf die Auswertung des dabei gewonnenen umfangreichen Datenmaterials begrenzt. Immer wie kompliziertere Moleküle und Prozesse hoher Komplexität sind einer theoretischen Erfassung zugänglich geworden.

Auch nicht mehr wegzudenken sind die vielfältigen, weltweiten Einsatzmöglichkeiten von Kommunikation und wissenschaftlicher Zusammenarbeit.

Fundamentale chemische Reaktionen werden heute bis zu atomarer Auflösung verfolgt, während zugleich Prozesse hoher Komplexität bis zu globalen Dimensionen erforscht und modelliert werden. Die Analytik ist so weit verfeinert, dass die sprichwörtliche Nadel im Heustock gefunden wird. Für ein breites Einsatzspektrum, das Kommunikationstechnologie, Flugzeugbau, Pharmazeutika, chirurgische Werkstoffe, Kleidung und Nahrung, Aromastoffe und Kosmetika als wesentliche Pfeiler überspannt, werden Materialien entwickelt, die sich nicht mehr vorwiegend an Vorbildern der unbelebten und belebten Umwelt ausrichten, sondern auf dem Chemie-Reissbrett entworfen werden. Daneben basieren industrielle Produkte, vor allem im Bereich der Pharma- und Agrobranche, vermehrt auf Reaktionsmustern, die von der Natur übernommen werden. Die zeitliche Auflösung eines Prozesses, unser orientierendes Markenzeichen, ist nochmals um Grössenordnungen verfeinert worden. Einblicke in chemische Reaktionen und ihre Teilschritte sind möglich mit der unvorstellbaren Auflösung von nur 10 -12 Sekunden, in Spezialfällen wird auch dieser Zeitblitz noch unterboten.

Soviel zu unserem kurzen Streifzug durch die Chemie während der letzten rund 60 Jahre. Summarisch stellen wir fest, dass sich Berufsfeld und Anforderungsprofil, die Ansprüche der Gesellschaft grundlegend verändert und erweitert haben. Der Grübler und Tüftler der zwanziger Jahre hat sich zum mitgestaltenden Macher gewandelt.

Herausforderungen in Gegenwart und Zukunft

Besitzt die Chemie als Wissenschaft noch ein unausgeschöpftes intellektuelles Entwicklungspotential oder muss sie als reife, mithin absterbende Wissenschaft abgeschrieben werden? Dass ich den ersten Teil dieser Frage mit voller Überzeugung bejahe, wird Sie sicher nicht überraschen. Grundlegend neue Forschungsansätze erschliessen noch fremde, ungewohnte Horizonte, entdecken Struktur und Ordnung im Chaos, Gesetzmässigkeiten im Zufall.

Gerade das Ineinandergreifen und wechselseitige Auseinandersetzen von Grundlagenwissenschaft und praxisausgerichteter Technologie erzeugt ein anregendes und befruchtendes Spannungsfeld. Die damit angesprochenen Beziehungen zwischen Hochschule und Industrie sind zu intensivieren und zu optimieren, konnten doch die Basler Chemie-Firmen ihre offenen Chemikerstellen während der letzten Jahre nicht einmal zur Hälfte mit Nachwuchs aus den Schweizer Hochschulen besetzen. Vielseitige und innovative Problemstellungen in fliessenden Übergängen zwischen fundamentaler Forschung und angewandter Praxis sind jetzt und von künftigen Generationen anzupacken. Die bereits angesprochene analytische Forschung muss sich ganz neuer Aufgaben annehmen: An welcher Stelle ist die Nadel im Heustock, wie lässt sich verhindern, dass sie überhaupt in den Heustock gelangt? Zur Detektion gesellt sich somit die Protektion. In ähnlicher Weise stellen sich in der synthetischen Chemie neue Anreize und Herausforderungen, umschrieben mit dem Begriff «Produktionsintegrierter Umweltschutz». Sowohl Herstellungsverfahren und Rohmaterialien, als auch Endprodukte werden nicht nur nach ökonomischen,

sondern ebenso nach ökologischen Kriterien beurteilt und entwickelt.

In einer breit angelegten Studie hat der Nationale Forschungsrat der USA die neuen Dimensionen wissenschaftlicher Aktivität in der Chemie aufgezeigt. 7 Die für die Forschungsfront massgebende Thematik lässt sich mit den folgenden Stichworten umreissen, die —mit Nuancen —auch in den Zielsetzungen von Schweizerischem Wissenschaftsrat und Nationalfonds aufgeführt sind:

Chemische Dynamik; Erforschung von Reaktionen bis in kleinste Dimensionen von Raum und Zeit. Exemplarisch sei hier auf die Photosynthese, die Grundlage pflanzlichen und tierischen Lebens, hingewiesen. Nach der Aufklärung des Energie- und Stoffumsatzes sind die fundamentalen Teilschritte und ihre Bedeutung für die photochemische Praxis auszuloten.

Chemie der Lebensvorgänge; Analyse wichtiger Lebensvorgänge auf molekularer Stufe. Als Beispiel mögen hier aktuelle Arbeiten über Aufnahme, Speicherung und Abruf von Information im Nervensystem, Beziehungen zwischen Neurobiologie und Neurochemie dienen.

Chemie und Umwelt; Komplexe Prozesse globaler Dimension, wozu Phänomene wie «Smog» und «Treibhauseffekt» gehören. Die dabei notwendige Grundlagenarbeit zu Herkunft, Verweildauer und Reaktivität der verschiedenen beteiligten Gase unter Bedingungen, die vom Erdboden bis in die Stratosphäre reichen, ist Bestandteil chemischer Forschung.

Im zitierten Bericht wird diese zusammengeraffte Thematik der Grundlagenforschung auf akute Probleme und Ansprüche von Politik und Gesellschaft projiziert:

— Neue Materialien, effiziente und ökologisch sinnvolle Herstellungsprozesse.

— Bessernutzbare Energie, Gewinnung und Wiederverwertung von Rohstoffen, damit bessere Umwelt.

— Nahrung für eine immer noch wachsende Bevölkerung, Seuchen- und Krankheitsbekämpfung.

Dieser knapp zusammengefasste Aufgabenkatalog für Forschung und Entwicklung ist nicht nur ein Chemie-Programm. Ganz offensichtlich sind hier Grossprojekts angesprochen, die sich nur im Verbund von Chemie mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen anpacken lassen, die Paradebeispiele von Interdisziplinarität sind. 8 Zu diesem ausserordentlich vielschichtigen, bisweilen strapazierten Begriff sei immerhin angemerkt, dass sinnvolles und fruchtbares interdisziplinäres Arbeiten und Forschen die Beherrschung der Disziplin bei jedem Partner voraussetzt und Interdisziplinarität nicht als Vorwand für nicht vollwertige Leistung und Qualität missbraucht werden darf. Mit den skizzierten langfristigen Forschungsperspektiven und ihren gesellschaftlichen Implikationen ist die befürchtete strenge Abschottung einer Wissenschaft unvereinbar. In einem ständigen, oft von aussen nicht wahrgenommenen Erneuerungsprozess empfängt und verarbeitet jede Wissenschaft Impulse von anderen Disziplinen. Methoden und Fragestellungen, die vor einem halben Jahrhundert eindeutig der Physik zugeordnet wurden, sind heute fester Bestandteil der Chemie. Analog werden sich die bereits erwähnten Wechselbeziehungen von Chemie mit Biologie und Informatik im Verlaufe der nächsten Jahre noch vertiefen. Darüber hinaus darf die gegenwärtig verstärkte Verflechtung mit den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften nicht als utopische Vision stecken bleiben.

Mit dem Begriff der Abschottung ist ein weiterer Aspekt angesprochen, der für die Chemie im Verlauf der durch die Fixpunkte 1927, 1962, 1991 markierten Zeitspanne stetig an Bedeutung zugenommen hat: Internationale Kooperation und Vernetzung. Öffnung gegenüber Europa, Mobilität der Studierenden sind ja höchst aktuelle Themen. In der Forschung sind die Universitätsinstitute in sehr vielen Bereichen in den internationalen Wettbewerb eingespannt, eine 1927 noch vollständig unbekannte Konkurrenzsituation. Damals konnten chemische Forschungsarbeiten im Rahmen des Universitätshaushaltes durchaus kompetent durchgeführt werden. Der Zweite Weltkrieg mit den ersten Nachkriegsjahren markiert auch hier die Wende. Mit der internationalen Öffnung gelangen vermehrt und verschärft Qualitätskriterien zur Anwendung. Nur solche Projekte, solche Institute erhalten Unterstützung für die Forschung, die dem international gesetzten hohen Standard genügen.

Chemie und Gesellschaft — das Zerrbild

Gerade in der Schweiz besitzt die Chemie in der Wirtschaft seit langer Zeit einen sehr hohen Stellenwert. 9 Produkte der Basler Chemischen Industrie gehörten und gehören immer noch zu den Markenzeichen

Chemieausfuhr 1990 Pharmazeutika Kunststoffe Farbstoffe Pflanzenschutz/Schädlingsbekämpfung Riechstoffe, Kosmetika

Schweizerische Handelsbilanz 1990 (Mia. Franken)

Total Maschinen,
Elektronik Chemie Metallindustrie Uhrenindustrie
Textilindustrie Landwirtschaftsprodukte

(Mio. Fr.) 8062 3350 1866 1746 1097

schweizerischen Schaffens, der Chemie wurde eine wesentliche Verantwortung für den alltäglichen Wohlstand zuerkannt. Der Chemikerberuf genoss ein entsprechend hohes Ansehen.

Um die Jahrhundertwende wurde diese Erfinder- und Menschheitsbeglückerrolle überschwenglich gepriesen: «Wie geheimnisvoll und märchenhaft klingt schon der Name <Chemie>. Und in der Tat, sie ist märchenhaft: ein Dornröschen, durch das reine Streben geistvoller Männer aus dem Schlafe erweckt; ein Midas, der alles, was er anfasst, in Gold verwandelt; ein Heiliger, der Wasser aus dem Felsen schlägt; ein Herakles, der den Augiasstall reinigt; ein licht- und wärmebringender Prometheus; ein bergezertrümmernder Titan; ein heilender Äskulap; eine kunstfertige, schmuckliebende Athene —das alles ist die Chemie.» 10

Bezeichnenderweise heisst der Titel des Büchleins «Die Romantik der Chemie». Dass eine kritische Analyse und Interpretation der recht einseitigen Darstellung eine eigenständige Untersuchung beanspruchte, sei lediglich als Randbemerkung erwähnt. Sicher seit etwa 1960, unserem zweiten Fixpunkt, hat sich die Einstellung

gegenüber der Chemie als Wissenschaft und Technologie recht weit von diesem vorbehaltlosen — um nicht zu sagen naiven —Enthusiasmus entfernt. Das heutige Bild und Urteil ist —nicht in allen Ländern gleich deutlich ausgeprägt —vorwiegend von Negativeindrücken und abwehrenden Verhaltensmustern beeinflusst. Zweifellos haben Katastrophen wie Seveso, Bhopal, Schweizerhalle, Tschernobyl wesentlich dieses Malaise gegenüber der Chemie, gegenüber den Naturwissenschaften verursacht. Altlasten, wie Fahrlässigkeiten in der Entsorgung von Gift, haben zusätzlich zu Vertrauensschwund, Unsicherheit und Gefühl einer Bedrohung beigetragen. Es muss aber auch klar festgehalten werden, dass eine durch ungenügende Kenntnisse bedingte einseitige Risikobetrachtung und teilweise entstellte Darstellung in den Medien als Nährboden für diese Chemophobie wirken.

Ich schliesse damit den Kreis und kehre zu der am Anfang der Rede erwähnten Abwehrhaltung weiter Kreise unserer Bevölkerung zurück. Trotz dieser reservierten bis ablehnenden Haltung sind wir alle in unserem Alltagsleben auf einige tausend Chemieprodukte angewiesen. Wir zögern nicht, dieses für unser tägliches Wohlbefinden unentbehrliche Potential jederzeit zu beanspruchen und zu nutzen. Wir sagen zwar ja zu den Produkten wegen ihrer Annehmlichkeiten, stellen aber gleichzeitig ihre Herstellung in Frage oder verurteilen sie gar in pauschaler Weise. Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieses Verhaltens sind angebracht.

Greifen wir auch die eingangs angesprochene Fremdheit der chemischen Symbolik als Indiz für eine Ausgrenzung der Wissenschaft Chemie wieder auf. Bei unserem kurzen Streifzug durch die Entwicklung der Chemie haben wir eine gewaltige Zunahme der Komplexität festgestellt.

Unsere Orientierungsgrösse, die Zeitskala der Beobachtung chemischer Reaktionen, belegt dies sehr deutlich. Ein chemischer Prozess, der im Zeitmass Minuten oder Sekunden abläuft, ist auch für Nicht-Chemiker fassbar und als Experiment durchaus einleuchtend. Wenn sich jetzt aber dank raffiniertester Instrumentierung dieses Zeitfenster auf weniger als 10-12 Sekunden verengt, geht jeglicher Bezug zum Alltag schlagartig verloren. Diese Problematik wurde anlässlich des diesjährigen Berner Symposiums «Chemie — gestern, heute, morgen» vom Philosophen Hermann Lübbe allgemein formuliert: Je komplexer eine Wissenschaft wird, um so lebensfremder wird sie, um so kleiner wird ihre weltanschauliche Bedeutung. Paradoxerweise entfernt gerade der Erfolg eine Wissenschaft zunehmend weiter weg von der Alltagswelt. 11 Im Gegensatz dazu haben wir festgestellt, dass die technologische Chemie-Abhängigkeit unserer Gesellschaft dauernd zunimmt. Unser Wohlstand, wichtiger noch, Existenz und Lebensqualität künftiger Generationen, hängen entscheidend vom richtigen und überlegten Einsatz naturwissenschaftlicher, vornehmlich chemischer Verfahren und Produkte ab. Diesen anspruchsvollen Herausforderungen können wir nicht mit dogmatisch vorgezeichneten Antworten gerecht werden, nicht mit unkritischer Wachstumsgläubigkeit, aber noch weniger mit pauschal fixierter Technologieablehnung.

Chemie als Bildungskomponente

Ich komme zum letzten Abschnitt und stelle die einfache, pragmatische These auf, dass in unserem Bildungskonzept den Naturwissenschaften, einschliesslich Chemie, erheblich mehr Gewicht zukommen muss. Gerade am Beispiel Chemie habe ich versucht, mit einigen Streiflichtern auf die Kluft zwischen Anspruch und Akzeptanz hinzuweisen. Es ist zu billig, die angesprochenen, keineswegs zu beschönigenden Katastrophen und Probleme einfach den Naturwissenschaften, der Chemie anzulasten. Um es deutlich auszudrücken: Nicht «Die Chemie» überdüngt den Boden, verschmutzt, verseucht Luft und Wasser, plündert Ressourcen. Die Wurzeln für Exzesse, Fehler, Pannen sind vielmehr zu suchen in systembedingten Leitmotiven unseres individuellen und kollektiven Handelns, in einer ungenügenden naturwissenschaftlichen Kompetenz von Entscheidungsgremien.

Dies als Motivation zum Thema Chemie und Allgemeinbildung. Dem gängigen Begriff der Allgemeinbildung, verwurzelt im Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts, haftet der Geruch des Verstaubten, der Realitäts- und Lebensferne an. Der Bildungswert toter und lebender Sprachen, des ausführlichen geschichtlichen Rückblicks sei keinesfalls bestritten. Er genügt aber nicht mehr. Wenn wir von einer Allgemeinbildung fordern, dass sie der Jugend das notwendige Rüstzeug liefert, sich mit gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen und Problemkreisen aktiv und kritisch auseinanderzusetzen, dann ist dieses Ziel noch nicht erreicht. Dem auch hier vorliegenden Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit kann nur begegnet werden, wenn in unserem Bildungskonzept die Werkzeuge zur Problemerkennung, zu Lösungsansätzen für die Zukunftsbewältigung den angemessenen Platz einnehmen. Umweltbewusstsein, Umweltverantwortung bedürfen einer soliden naturwissenschaftlichen Basis. Dies gerade vor dem wirtschaftlichen und politischen Hintergrund, dass die Allgemeinheit in zunehmendem Masse direkt Einfluss nimmt auf Leitlinien und Normen in den Bereichen Industrieproduktion und Energie. Das dabei manifeste, einer Expertokratie gewaltig Vorschub leistende naturwissenschaftliche Bildungsmanko ist kein helvetischer Sonderfall. In einem Bericht aus den USA steht lapidar: «Mangelhaftes und falsches Verständnis der Naturwissenschaften ist weit verbreitet.» 12

Brennende Probleme wie Bevölkerungsexplosion, Ernährung und Gesundheit, Energie, Umwelt und Rohstoffe sind nur mit dem stets propagierten ganzheitlichen Lösungsansatz zu bewältigen. In diesem Ansatz kommt den Naturwissenschaften, der Chemie eine entscheidende Funktion zu. Die oft zitierten Aktualitäten: Gefährdung des Ozon-Schirms, Treibhausgase in der Atmosphäre, Pestizidrückstände, radioaktive Bedrohungen sind ja unserer direkten Erfahrung nicht zugänglich, sondern nur mit physikalischen und chemischen Nachweismethoden erfassbar. Und mit diesem naturwissenschaftlichen Wissen lassen sich dann auch mit Modellansätzen Kausalketten erkennen, Szenarien von Langzeitwirkungen sowie deren Korrekturen, Szenarien für die Ausschaltung potentieller Störquellen aufstellen. Entsprechende Massnahmen einzuleiten und durchzusetzen ist aber ein Auftrag mit betont politischen Dimensionen. Nur solange wir indessen als Bürgerinnen und Bürger über eine minimale Sachkompetenz verfügen, können wir die notwendige

Unabhängigkeit, Rationalität und Selbstverantwortung des Urteils in den drängenden Zeitfragen bewahren.

Es ist somit eine gemeinsame Aufgabe für Politik und Schule, für Universität und Industrie, hier anzusetzen, um die Allgemeinbildung verstärkt auf zukünftige Problemfelder hin zu orientieren. Gerade die Chemie mit ihren vielfachen Verästelungen in andere Wissensbereiche verfügt über ein breites und effizientes Problemlösungsinventar. Es liegt an uns allen, dieses Instrument zu unserem Wohl sinnvoll einzusetzen und zu nutzen, um aktiv und mit einem gesunden Optimismus an die Zukunftsbewältigung heranzutreten. Lassen Sie mich mit einem von angelsächsischem nüchternem Common sense geprägten Zitat schliessen: «Die Chemie vereinigt das Verständnis für Moleküle und Reaktionen, die der Realität, wie wir sie täglich erfahren, zugrunde liegen —von lebloser Materie und Feuer bis zum Leben —, und sie liefert uns Werkzeuge, diese Realität zu verändern: Polymere, Brennstoffe, Medikamente. Sie vereinigt Neugierde und Nützlichkeitsdenken im direkten Dienst für die Menschheit.» 13

Referenzen 1

F. Gygi, Die Universität im Dienste der Allgemeinheit; Festrede «150 Jahre Universität Bern.» 2

A. Krauer, Chemie und Umwelt —ohne Kommunikation keine Akzeptanz; Chimia 1988, 42, No 1.

3 V. Kohlschütter, Universitätsgeist und Fachleben; Rektoratsrede 1927. 4

S. Neufeldt, Chronologie Chemie 1800-1980, Verlag Chemie VCH, 1987.

5 W. Feitknecht, Forschung und Lehre in der Chemie; Rektoratsrede 1962.

6 M. Spindler, DDT: Gesundheitsaspekte mit Bezug auf den Menschen und darauf basierende Nutzen/Risiko-Beurteilung, Basel, 1983; Residue Reviews, Vol. 90, 1-34 (1983).

7 G.C. Pimentel et al., Opportunities in Chemistry, National Academy Press, Washington, D.C. 1985.

8 Unipress 67, Dezember 1990; V. Mudroch, NZZ No 118, 1991.

9 Schweizerische Gesellschaft für Chemische Industrie, Jahresbericht 1990.

10 O. Nagel, Die Romantik der Chemie, Kosmos, Stuttgart, 1914.

H. Lübbe, Der Lebenssinn der Industriegesellschaft, Springer, 1990. 12

vgl. dazu Chemical and Engineering News, Vol. 68, No 24, 1990; Chemistry in Britain, Vol. 27, No 6, 1991. Zitiert in Referenz 7.

13 G. M. Whitesides, «Wohin geht die Chemie in den nächsten zwanzig Jahren?», Angewandte Chemie, Vol. 102, 1247-1257 (1990).