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DIE ERWARTUNGEN DER HOCHSCHULE AN DIE MITTELSCHULEN REDE DES REKTORS, PROFESSOR DR. ROLF DUBS, AM HOCHSCHULTAG 1991

1. ZUR FRAGE DER NOTWENDIGKEIT EINER MITTELSCHULREFORM

Schulen sollte man dann reformieren, wenn sie nicht mehr genügen. Deshalb drängte sich eine Reform der schweizerischen Mittelschule insbesondere dann auf, wenn die Hochschulen feststellten, dass ihre Studienanfänger schlechter geworden wären. Leider fehlen in der Schweiz verlässliche Daten zur Beurteilung dieser Problematik. Auch eine sehr differenzierte deutsche Sammeluntersuchung 1), in der alle sorgfältig durchgeführten Studien analysiert wurden, muss die Frage offen lassen: Es ist bislang wissenschaftlich nicht beweisbar, ob die Mittelschülerinnen und -schüler im Vergleich zu früher besser oder schlechter geworden sind. Wahrscheinlich dürfte eine Beurteilung generell schwierig sein, weil alle Aussagen durch einen «Verklärungseffekt» geprägt sind. Die jungen Studierenden sind zweifellos in Lernbereichen, die für die ältere Generation von Bedeutung waren wie Kopfrechnen, Gewandtheit im schriftlichen Ausdruck usw. deutlich schwächer, weil diese Bereiche heute weniger geübt werden. Sie sind ihr aber in vielen modernen Gebieten wie Mathematik, Informatik usw. weit überlegen. Da die ältere die jüngere Generation oft an den eigenen Erfahrungen misst, kommt es leicht zu einem verklärenden Effekt, weil nur das Herkömmliche, nicht aber die modernen Lerngebiete in den Vergleich einbezogen werden.

Mangels Daten bleibt deshalb nur die persönliche Beurteilung — in vollem Bewusstsein der Gefahren des «Verklärungseffektes» — übrig. Für die Hochschule St. Gallen wagen wir folgende Aussagen: Die Studierenden sind gegenüber früher nicht generell schlechter geworden. Hingegen hat sich die Streuung zwischen guten und weniger guten Studierenden stark vergrössert, wobei — und dies lässt sich mit der zunehmenden Zahl von Absolventinnen und Absolventen mit schlechteren Noten wenigstens andeutungsweise belegen — die Zahl der schwächeren Studierenden deutlich zugenommen hat. Offenbleiben muss allerdings, ob dies auf die schlechtere Vorbereitung der Studierenden oder auf die viel höheren Anforderungen der Hochschule zurückzuführen ist. Verbreitete Schwächen sind zu erkennen im sprachlichen Ausdrucksvermögen, in der Fähigkeit, Probleme und Streitfragen selbständig zu reflektieren und einer eigenen Lösung zuzuführen (Kreativität), sowie in der persönlichen

Lern- und Arbeitstechnik. Dabei muss die Hochschule allerdings zugeben, dass sie diese Probleme auch nicht richtig zu lösen vermag, wobei sie sich wenigstens mit dem Hinweis auf den Massenbetrieb etwas entschuldigen darf.

Betrachtet man diese Schwachstellen, so genügte eine innere Reform der Mittelschule, d.h. der Unterricht müsste in verschiedenen Bereichen verändert werden ohne äussere Organisationsveränderungen des ganzen Mittelschulsystems. Dazu wurden von der Kommission Gymnasium-Universität hervorragende Thesen entwickelt 2), die es zu verwirklichen gälte, was allerdings einer eigentlichen Weiterbildungsoffensive für alle Mittelschullehrer bedürfte. Neuerdings sind es aber zwei weitere Problemkreise, die in Richtung einer äusseren Schulreform drängen, d.h. nach einer organisatorischen Neugestaltung des Schulsystems rufen. Einerseits sind es die Befürchtungen, das schweizerische Schulsystem sei nicht EG-konform, ein Sachverhalt, den wir im Gegensatz zu vielen anderen Beobachtern allerdings nicht zu stark gewichten. Angesichts der Unsicherheiten in der EG-Bildungspolitik erachten wir die aufkommende Hektik als verfehlt. Andererseits sind es politische Unsicherheiten über die künftige Ausgestaltung des Sekundarbereiches II im schweizerischen Bildungssystem. Dabei geht es insbesondere um Fragen der weiteren Öffnung der Mittelschulen, mit der die Chancengleichheit — was immer das auch heissen mag —verbessert werden sollte, um den Stellenwert des dualen Berufsbildungssystems und um die Ausgestaltung der Weiterbildungsmöglichkeiten.

Nachdem bis 1993 die Eidgenössische Maturitätsanerkennungs-Verordnung, die gestaltenden Einfluss auf die Mittelschulen als Zubringer der Hochschulen hat, revidiert werden soll 3), erscheint es uns als notwendig, einige Erwartungen aus der Sicht eines Hochschulrektors zu formulieren. Die vertretenen Ansichten bleiben zu einem guten Teil subjektiv, denn Schulsysteme sind stark normativ geprägt und lassen sich daher nicht wissenschaftlich objektiv und abschliessend rechtfertigen. Deshalb ist auch zu vermeiden, Aussagen ohne Offenlegung der bildungsphilosophischen Basis zu machen und Entscheidungen ohne Konsens über die normativen und politischen Voraussetzungen zu treffen, weil sonst die Gefahr zu gross ist, dass man sich der Tragweite der Entschlüsse gar nicht bewusst ist.

2. POLITISCHE UND NORMATIVE VORAUSSETZUNGEN

Heute sehen sich die Hochschulen mit folgendem Problem konfrontiert: In den letzten zwanzig Jahren hat man die — billigeren — Mittelschulen stärker ausgebaut als die — teureren — Hochschulen. Die Folge davon ist ein immer schlechter werdendes Betreuungsverhältnis (Anzahl Studenten je Dozent). Neuerdings scheinen die Mittelschülerzahlen wieder zu steigen, während sich der Budgetrahmen für die Hochschulen infolge der allseitigen Überforderung des Staates eher einengt. Dadurch entwickeln sich die Hochschulen noch stärker zu Massenbetrieben mit einem schlechten Betreuungsverhältnis, die nicht nur der Lehre, sondern insbesondere der Forschung abträglich sind. Deshalb müsste man endlich konsequent entscheiden: Entweder mehr Mittelschüler und mehr Mittel für die Hochschulen oder der von vielen Politikern angestrebte engere Budgetrahmen und weniger Mittelschüler. Damit diese Aussage differenziert bleibt, sei indessen nicht verschwiegen, dass die Hochschulen zur Effizienzsteigerung noch einiges leisten könnten.

Nun dürfen aber solche finanziellen Überlegungen allein die Ausgestaltung des Schulsystems nicht prägen. Vielmehr ist zu fragen, welchem Ziel die einzelnen Schultypen dienen sollen. Für die Mittelschule ist die Frage auf den ersten Blick kaum umstritten. Sie soll zur Hochschulreife führen und damit den freien Zugang zur Hochschule sicherstellen. Weniger eindeutig werden jedoch die Aussagen, wenn zu entscheiden ist, was Hochschulreife bedeutet und welcher Anteil der Jugendlichen die Hochschulreife erlangen soll. Diese Frage ist politisch brisant, aber von entscheidender Bedeutung für die Ausgestaltung des ganzen Schulsystems. Selbst trete ich für eine Mittelschule ein, die auf intellektuell leistungsfähige Schülerinnen und Schüler ausgerichtet ist und somit hohe Anforderungen stellt. Begründen lässt sich diese Auffassung mit drei Argumenten:

(1) Die Lösung aller unserer gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme, die wir uns zu einem guten Teil selbst geschaffen haben, wird in den nächsten Jahren dermassen anspruchsvoll, dass wir bestausgebildete und höchst leistungsfähige Menschen brauchen. Deshalb können wir uns keine Niveausenkung im höheren Bildungswesen leisten.

(2) Streben wir im höheren Bildungswesen ein intellektuell anspruchsvolles Niveau an, so eignen sich nicht mehr alle Schülerinnen und Schüler für eine höhere Schule, weil die Leistungsunterschiede mit zunehmender Schuldauer immer grösser werden. Dies ist einerseits auf grösser werdende Lücken im Wissen und Können aus dem früheren Unterricht und andererseits auf stärker werdende Unterschiede in der Motivation und in der Arbeitshaltung zurückzuführen. Zwar lassen sich solche Leistungsunterschiede mit individualisierendem Unterricht etwas mildern. Sie können aber mit zunehmender Schuldauer kaum mehr ausgeglichen werden. Deshalb müssen wir uns im höheren Schulalter mit kaum mehr korrigierbaren Leistungsunterschieden abfinden, so dass sich in der Ausgestaltung des höheren Schulwesens zwei Möglichkeiten ergeben: Entweder wird es auf die Leistungsfähigen ausgerichtet, oder es wird im Sinne der amerikanischen High School für möglichst viele Jugendliche geöffnet, was mit einer Niveausenkung einhergeht. Den zweiten Weg können wir uns angesichts der Probleme unserer Zeit meines Erachtens nicht leisten.

(3) Ausserdem ist dafür Sorge zu tragen, dass sich die unausgeglichene Erwerbsstruktur in unserem Land nicht noch weiter vergrössert, d.h. nicht immer mehr Überschuss- und Mangelberufe vorzufinden sind. Eine zu weite Öffnung der Mittel- und Hochschulen führt zu einem — in der Schweiz allmählich kritisch werdenden — Mangel an Berufsfachleuten und einem Überschuss an Akademikern in intellektuell anspruchsloseren Wissenschaften. Die damit verbundene Falsch- und Überqualifikation von Hochschulabsolventen fördert die in unserer Gesellschaft latent vorhandene Unzufriedenheit noch mehr: Überqualifizierte, leistungsmässig schwächere Akademiker erreichen ihre hohen Berufsziele nicht (z.B. Wirtschaftswissenschafter im Management oder Juristen mit ihren Mandaten). Weil sie sich in der Folge mit untergeordneten Stellungen und Tätigkeiten zufrieden geben müssen, versperren sie tüchtigen Berufsfachleuten den Aufstieg in höhere Berufspositionen. Als Folge davon werden beide Gruppen unzufrieden, was für die menschliche Gemeinschaft nicht von Vorteil ist.

Mit dieser Auffassung zugunsten einer Mittelschule für Leistungsfähige wird die Forderung nach Chancengleichheit im Sinne «Mittel- und Hochschulbildung für viele» in Frage gestellt, weil sie aufgrund der Erkenntnisse

über Schulleistungen nur mit einer unerwünschten Niveausenkung erkauft werden kann. Da die Lebenschancen zu einem guten Teil durch die Schule verteilt werden, tun viele Leute mit einem Verzicht auf Chancengleichheit im Sinne «Mittel- und Hochschulbildung für viele» zu Recht schwer, denn auf diese Weise wird eine gleichmässige soziale Integration aller Jugendlichen eher behindert. Dieser Zielkonflikt lässt sich aber unter zwei Voraussetzungen mildern. Einerseits muss Chancengleichheit im Sinne von «Gleichheit der Startchancen» verwirklicht werden, indem leistungsfähige Jugendliche aus allen Bevölkerungsschichten mit gleichen Chancen die Mittelschule besuchen können. Andererseits ist die Reform der Mittelschule mit einer Umgestaltung des Berufsschulsystems zu koppeln, mit der die Attraktivität der Berufsbildung gehoben und die Durchlässigkeit für Jugendliche, die falsch gewählt haben, vergrössert wird.

3. EIN DIFFERENZIERTES BILDUNGSSYSTEM FÜR DIE ZUKUNFT

Die Forderung nach einer Mittelschule für Leistungsfähige präjudiziert ein differenziertes Bildungssystem: Neben den Mittelschulen besteht ein duales Berufsbildungssystem. Leider zeigen Bildungspolitiker in den EG-Ländern dafür immer weniger Verständnis, weil sie der Auffassung sind, das duale System biete zu wenig Allgemeinbildung an. Deshalb ziehen sie die vollschulische Berufsbildung vor 4), was in der Schweiz nicht wenige Kritiker des dualen Systems dazu verleitet, im Hinblick auf die EG einen Systemwechsel zu fordern, obschon es bislang nicht gelungen ist, die Überlegenheit eines vollschulischen Berufsbildungssystems zu belegen. 5) Meines Erachtens ist die Gefahr gross, dass die Forderungen nach einem vollschulischen System leicht in Richtung der amerikanischen High School gehen, die nicht nur mit dem Leistungsniveau Mühe bekundet, sondern auch keine genügende berufliche Grundbildung zu vermitteln vermag. Nicht nur deshalb sollte nicht zu einem solchen System übergegangen werden. Es führt auch in eine intellektuelle Einseitigkeit hinein, die für viele Schülerinnen und Schüler ungeeignet ist. Im weiteren berücksichtigt es die Ansprüche der Wirtschaft auf eine praxisbezogene Berufsvorbereitung zu wenig, es dürfte viel zu kostspielig

sein, und es trägt weniger zum Ausgleich der Erwerbsstruktur bei. Deshalb sollte am dualen (trialen) Berufsbildungssystem festgehalten werden. Zur Entlastung der Mittelschule hilft es aber nur, wenn es attraktiver ausgestaltet wird, indem einerseits die Allgemeinbildung verbreitert wird und andererseits gute Weiterbildungsmöglichkeiten bestehen sowie die Durchlässigkeit besser gewährleistet ist. Abbildung 1 zeigt ein mögliches künftiges System. Auf der einen Seite steht das Gymnasium, das zur Maturität und damit zur vollen Hochschulreife führt. Auf der anderen Seite befindet sich das duale Berufsbildungssystem, das mit der

1 Berufslehre mit berufsbegleitender
2 Gymnasium Diplommittelschule Berufsschule (3 oder 4 Jahre)
3
4 Maturität Fachmatura Lehrabschlussprüfung
5 Praxisjahr Berufsmittelschule Fachmatura
6 Universität Hochschulen Höhere Lehr- und Forschungsanstalten
(Fachhochschulen)
8
Abbildung 1: Mögliches Schulsystem

Lehrabschlussprüfung endet. Im Interesse einer sinnvollen Weiterbildung sollte für die motivierten jungen Berufsleute eine einjährige vollschulische Berufsmittelschule anschliessen, die eine auf die Eigenarten dieser Leute ausgerichtete Allgemeinbildung anbietet und mit einer neuzuschaffenden Fachmatura abschliesst. Diese Fachmatura berechtigt zum Studium an einer Höheren Wirtschafts- und Verwaltungsschule oder an einer Ingenieurschule HTL, die als Fachhochschulen oder Höhere Technische Lehr- und Forschungsanstalten 6) bezeichnet werden und — obschon sie kein Promotions- und Habilitationsrecht haben — dem Hochschulbereich zuzurechnen sind. Zwischen diesen beiden Schulen

liegt die Diplommittelschule, die ebenfalls zur Fachmatura führt und nach einem Praxisjahr zum Studium an einer Fachhochschule berechtigt. Sicherzustellen ist gleichzeitig die Durchlässigkeit zur Universität/Hochschule, indem die Fachmatura mit Ergänzungsprüfungen in fehlenden Lernbereichen zur Maturität führt.

Mit einer solchen Lösung liesse sich die Attraktivität anderer Ausbildungswege steigern, was generell zur Entlastung der Mittel- und Hochschulen führen würde. Zudem hätten akademisch weniger interessierte Schülerinnen und Schüler mit andern Fähigkeiten sinnvolle Alternativen, was die Mittel- und Hochschulen vor allem von wenig motivierten Schülerinnen und Schülern und von Verlegenheitsstudierenden entlasten würde. Schliesslich brächte diese Lösung ohne Preisgabe des dualen Systems eine Annäherung an die Schulsysteme der EG-Länder.

4. DER AUFTRAG DER MITTELSCHULE

Die Mittelschule muss zur allgemeinen Hochschulreife führen. Diese umfasst eine breite, moderne Allgemeinbildung sowie eine genügende Studierfähigkeit.

Von Nöten ist ein neues Verständnis des Begriffes «Allgemeinbildung)>. Einerseits ist er aus der Humboldtschen Tradition der strengen Abgrenzung von Berufsbildung und berufsbezogenen Inhalten, die dem Allgemeinbildenden unterlegen sein sollen und deshalb nicht an die Mittelschule gehören, herauszulösen. In unserer modernen Welt wird diese Unterscheidung immer mehr zu einer Fiktion, weil viele Inhalte, die zum Weltverständnis und zur Lebensvorbereitung gehören, nicht mehr eindeutig zuzuordnen sind und die Pluralität der Weltanschauungen eine inhaltlich eindeutige Festlegung einer Allgemeinbildung vom Inhaltlichen her verunmöglicht. Andrerseits darf aber Allgemeinbildung nicht immer mehr auf die Verwertungsinteressen im Hinblick auf ein Hochschulstudium (beispielsweise disziplinenbezogene Wissenschaftspropädeutik) und im Hinblick auf die Alltagsbedürfnisse von Wirtschaft und Gesellschaft (es wird nur noch unterrichtet, was unmittelbar nützt) ausgerichtet werden. Die Mittelschule benötigt weiterhin ihren eigenen Allgemeinbildungsauftrag, der im Sinne einer Erziehung zur Vernunft durch vier Merkmale charakterisiert werden kann:

(1) Erkenntnisfähigkeit: Die Lernenden müssen befähigt werden, aus wissenschaftlichen Disziplinen gewonnenes Wissen zu ordnen und in grössere bedeutsame Zukunftsprobleme einzuordnen. Die Wissenschaftsorientierung der Mittelschule muss also erhalten bleiben. Aber es kann nicht darum gehen, sich mit den Denkstrukturen der spezialisierten Universitätsdisziplinen in didaktisch verdünnter Weise zu begnügen, sondern es gilt, diese disziplinären Denkstrukturen auf künftige Probleme auszurichten und interdisziplinäre Vernetzungen aufzubauen.

(2) Reflexionsfähigkeit: Zu oft werden Erkenntnisse passiv, oberflächlich und kritiklos aufgenommen (z.B. falsche Wissenschaftsgläubigkeit. ungenügender Einblick in die Gesamtzusammenhänge). Deshalb bedarf es der Reflexionsfähigkeit, welche Erkenntniskritik sowie Werterhellung und Werteklärung umfasst und zu Entscheidungen befähigt. Dazu genügt das passive Lernen nicht mehr, sondern der Unterricht ist auf eigenes Erfahren und Erleben auszurichten (handlungsorientiert zu gestalten), was neben kognitiven affektive, soziale und volutative Lernprozesse bedingt.

(3) Gestaltungsfähigkeit und Humanität: Oberstes Ziel der Allgemeinbildung muss es sein, die junge Generation so weit zu bringen, dass sie fähig wird, gestalterisch (agierend und nicht bloss reagierend) an künftigen Problemlösungen mitzuwirken, und ermutigt wird, es zu tun. Ein solches gestalterisches (agierendes) Tun führt aber nur dann nicht zu weiteren Fehlentwicklungen, wenn die Lernenden in der Lage sind, ihr Tun aus historischer Perspektive zu beurteilen und an Normen zu messen, um im freien Urteil zu einer eigenen Meinung und zu konsistentem Handeln zu gelangen.

(4) Sicherheit und emotionale Stabilität: Letztlich muss der Prozess der Allgemeinbildung den Schülerinnen und Schülern persönliche Sicherheit im Reflektieren, Urteilen und Handeln bringen, damit sich eine hohe emotionale Stabilität herausbildet, d.h. weder neue komplexe Berufs- und Lebensprobleme noch unerwartete Erscheinungen oder grosse Herausforderungen vermögen zu Verwirrung, Angst, Unsicherheit und unreflektiertem Handeln führen.

Eine an diesen Kriterien aufgebaute Allgemeinbildung, die Gestaltungsfähigkeit und Humanität zum obersten Ziel hat, und die Schülerinnen und Schüler in umfassendem Sinne auf eine zukunftsgerichtete, aktive

Lebensbewältigung und selbstbestimmte Lebensgestaltung vorbereiten will, darf sich weder mit einer sprachlich-kulturellen Ausrichtung der Maturität begnügen (wie es offenbar die Eidgenössische Maturitätskommission will 7), noch darf sie sich ausschliesslich an den Bedürfnissen der Gesellschaft, der Technik und der Wirtschaft orientieren. Sie muss alle Bereiche zu einem sinnvollen Ganzen integrieren, wozu sich Reformmassnahmen an den Mittelschulen aufdrängen.

Die Allgemeinbildung muss in Zukunft viel stärker mit der Vorbereitung der Studierfähigkeit gekoppelt sein, zumal die Massenhochschule leider kaum mehr in der Lage ist, wirksam und nachhaltig in das Lernen einzuführen. Diese Forderung beeinträchtigt den eigenständigen Bildungsauftrag der Mittelschule in keiner Weise, denn die Förderung der Reflexionsfähigkeit und der Gestaltungsfähigkeit setzt eigenständige Lern-, Studier- und Arbeitstechniken voraus.

5. KONKRETE POSTULATE AN DIE MITTELSCHULE

Aus diesen bisherigen Überlegungen lassen sich einige konkrete Postulate ableiten, die bei einer Mittelschulreform zu überdenken sind. 8)

a) Die Mittelschule ist auf die leistungsfähigen Schülerinnen und Schüler auszurichten, und klare Leistungsforderungen müssen den Unterricht prägen. Dabei ist nicht etwa an eine Verherrlichung der Leistungsgesellschaft gedacht, sondern es geht um die Forderung nach zukunftsgerichteten, sinnvollen Lernleistungen, die vielgestaltig (kognitiv, affektiv, musisch und sozial) sein und auf ganzheitliches, vernetztes Denken und Handeln ausgerichtet werden müssen.

b) Dies bedingt einerseits eine umfassende äussere Schulreform vor allem im berufsbildenden Bereich im oben beschriebenen Sinn, denn nur auf diese Weise gelingt es, die Mittelschule von schwächeren Schülern und Schülerinnen zu entlasten, diesen aber mit einer attraktiven weiterführenden Berufsbildung mit sinnvollen Möglichkeiten der Durchlässigkeit gute Lebenschancen zu verschaffen. Andrerseits sind einige Eckdaten für die Reform der Mittelschule zu setzen. Erstens sollte die Mittelschuldauer vier Jahre betragen, damit die umfassende Allgemeinbildung auch mit zeitaufwendigeren, modernen Lehrformen mit der

genügenden Breite und Tiefe vermittelt werden kann. Die von vielen Kantonen angestrebte dreijährige Mittelschulausbildung reicht für eine genügende Grundlegung guter Wissensstrukturen und eines vielseitigen Könnens nicht aus. Zweitens sollten die Zahl der Maturitätstypen auf drei reduziert und keine neuen Maturitätstypen geschaffen werden. Die neuen Maturitätstypen C und E waren eine Reaktion auf neue gesellschaftliche Entwicklungen und die mangelnde Anpassungsbereitschaft der bisherigen Gymnasien. Der Typus D sowie die anderen heute geforderten Typen dienen eher der weiteren Öffnung der Mittelschule für intellektuell weniger geeignete Schülerinnen und Schüler 9), was einer Öffnung der Mittelschule entspricht, die wenig Sinn hat. Eine Erweiterung der Maturitätstypen führt zudem —ungewollt — zu einer weiteren Spezialisierung der Mittelschule, was dem Ziel der allgemeinen Hochschulreife und damit der Möglichkeit eines späteren Studienentscheides widerspricht. Drittens muss die einseitig disziplinenorientierte Fächerung der Mittelschule aufgelockert werden. Andernfalls gelingt es nicht, die zunehmende Atomisierung des Unterrichtes zu überwinden. Deshalb sind diese Fächer, die zur Grundlegung des fachlichen Wissens und Könnens absolut nötig sind, durch Integrationsfächer zu ergänzen 10), in denen zukunftsgerichtete Problemstellungen integrativ und interdisziplinär bearbeitet werden. Zu denken ist dabei an drei Integrationsfächer: Kultur, Technik, Wirtschaft und Gesellschaft.

c) Äussere Schulreformen allein genügen aber nicht; sie sind durch innere Schulreformen zu ergänzen. Dazu bieten die bereits erwähnten «zehn Thesen zum heutigen Zweckartikel der Maturitätsanerkennung» 11) hervorragende Reformideen an. Ihre Umsetzung, die allerdings eine umfassende Weiterbildungsoffensive für alle Lehrkräfte an Mittelschulen voraussetzte, führte die Mittelschule in die richtige Richtung mit dem Ziel einer allgemeinen Hochschulreife. In Ergänzung dazu sollten folgende Lernbereiche besser beachtet werden: Im muttersprachlichen Unterricht ist der mündlichen und schriftlichen Ausdrucksfähigkeit viel mehr Beachtung zu schenken, weil Studienanfänger grosse Defizite ausweisen. Der Tendenz, den muttersprachlichen Unterricht immer einseitiger in Richtung Literaturgeschichte und Literaturanalyse mit einseitiger Gesellschaftskritik sowie Kommunikationstheorie auszubauen, ist im Interesse der Sprachkompetenz ein Gegengewicht zu setzen. Im fremdsprachlichen

Unterricht sollte der Sprachförderung im Sinne des Textverstehens und der Ausdrucksfähigkeit zulasten grammatikalischer Spezialisierung mehr Gewicht beigemessen werden. Viel stärker zu betonen ist das mathematische Basiskönnen. Im weiteren sollte die Betrachtung der historischen Dimension nicht noch stärker vernachlässigt werden. Und schliesslich sind die Anforderungen an die Schülerinnen und Schüler in menschlich korrekter Weise so auszugestalten, dass die psychische Robustheit gestärkt und das Selbstkonzept gefestigt wird.

d) Entscheidend bleibt, dass die Mittelschule ihren eigenständigen Bildungsauftrag behält. Sie führt zur Hochschule zu, und die Hochschule holt die Lernenden ab. Es wäre für die Entwicklung der jungen Generation verhängnisvoll, wenn die Mittelschule zum Zubringer der Hochschule nach den ausschliesslichen Ansprüchen der Grundstudien würde. Dies führte zu einer verhängnisvoll spezialisierten Wissenschaftspropädeutik, die einer umfassenden Persönlichkeitsbildung nicht gerecht werden könnte.

Anmerkungen

1) K.H. Ingenkamp, Zur Diskussion über die Leistungen unserer Berufs- und Studienanfänger, in: Zeitschrift für Pädagogik, Heft 1, Weinheim 1986, S. 1 ff.

2) Kommission Gymnasium-Universität (KGU): Ein zeitgemässes Gymnasial- und Maturitätsziel: 10 Thesen zum heutigen Zweckartikel der Maturitätsanerkennungsverordnung (Artikel 7 der MAV), in: Gymnasium Helveticum, Nr. 2, Aarau 1985, S. 19 ff.

3) Notiz aus einem Kurzvortrag des Präsidenten der EMK (Professor I. Camartin) zum «Stand der Überlegungen bezüglich Totalrevision MAV/ORM» an der schweizerischen Hochschulrektorenkonferenz (Papier 91024) vom 30.1.1991

4) Dies wird beispielsweise deutlich im OECD-Bericht. Schweizerische Konferenz der Kantonalen Erziehungsdirektoren: Bildungspolitik in der Schweiz, Bericht der OECD, EDK Bern 1990

5) Vgl. S. Spirgi, Die Berufsbildung und die anschliessende Integration ins Erwerbsleben bei der Betriebslehre und bei der Lehre in einer öffentlichen Lehrwerkstatt. Diss. HSG, Bamberg 1986

6) Diese Bezeichnung geht zurück auf Heinrich Ursprung, Bildung und Forschung für die Zukunft des Aargaus, Festansprache zur Feier der 75 Jahre Aargauisches Elektrizitätswerk am 3. Mai 1991 (vervielfältigt)

7) Vgl. Anmerkung 3

8) Leider bleiben diese Postulate aus Zeitgründen wenig begründet. Hier drängte sich eine Vertiefung auf, die andernorts geschehen muss.

9) Franz Eberle, Unterschiede in leistungsrelevanten Merkmalen zwischen Wirtschaftsgymnasiasten und Gymnasiasten anderer Maturitätstypen, 2 Bände, Diss. HSG, Bamberg 1986

10) Roman Capaul, Das Wahlpflichtfach B («Wirtschaft/Recht/Gesellschaft und Informatik» im neuen Lehrplan für den kaufmännischen Angestellten als Beispiel einer Schulinnovation: Probleme bei der Einführung und Bestandesaufnahme, Diss. HSG, Bamberg 1991

11) Vgl. Anmerkung 2