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Menschen- und Minderheitenrechte in der modernen Demokratie

Rektoratsrede gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel

am 27. November 1992
Verlag Helbing &Lichtenhahn Basel 1992

Die Deutsche Bibliothek —CIP-Einheitsaufnahme Wildhaber, Luzius: Menschen- und Minderheitenrechte in der modernen Demokratie : Rektoratsrede, gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel am 27. November 1992 /Luzius Wildhaber. — Basel : Helbing und Lichtenhahn, 1992 (Basler Universitätsreden; H. 88) ISBN 3-7190-1253-0 NE: Universität <Basel>: Basler Universitätsreden

Das Werk einschliesslich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 3-7190-1253-0 Bestellnummer 2101253 © 1992 by Helbing &Lichtenhahn Verlag AG, Basel

1. Man hätte sich schwerlich ein würdigeres Jubiläum für die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und die amerikanische Bundesverfassung von 1789 vorstellen können als den Wegfall des Eisernen Vorhangs. Zweihundert Jahre später triumphierte das aufklärerische Gedankengut der Menschenrechte, der Freiheit, der Demokratie und der Selbstbestimmung in Mittel- und Osteuropa. Der Triumph dieser Ideen bedeutete freilich noch längst nicht, dass sie zugleich schon zu verbindlich griffigen Normen und durchwegs gelebter Wirklichkeit geworden wären. Im Gegenteil: Man ist immer wieder überrascht, wie schwierig die Umsetzung von Grundwerten in Rechtsnormen und von solchen Rechtsnormen in tatsächliche und alltägliche Realität ist. Diese Fragen der Verwirklichung von Menschen- und von Minderheitenrechten im Staats- und Völkerrecht werde ich im folgenden beleuchten. Ich beginne mit einem kurzen, mit sehr breitem Pinsel gemalten Rückblick in die Geschichte der Menschenrechte.

2. Der Begriff der Menschenrechte wird im Grunde erst in dem von aufklärerischen Staatsphilosophen und Naturrechtsdenkern eingeläuteten Aufbruch des 18. Jahrhunderts geläufig. Trotz erster Anstösse bei den Stoikern und im Frühchristentum kannte das Staatsdenken des Altertums keine Grundrechte des Individuums. Es ging davon aus, dass sich die menschliche Persönlichkeit am idealsten erfülle, wenn sie in das staatliche und gesellschaftliche Ganze eingefügt und ihm dienstbar gemacht werde.

Die mittelalterlichen, ständestaatlichen Vertragsgarantien waren in erster Linie bloss dem Monarchen abgerungene, korporative Rechte einzelner Untertanengruppen. Dies gilt von der Erklärung der Cortes von León von 1188 über die Brabanter Joyeuse Entrée von 1356 bis hin zur Magna Charta von 1215. Dort findet sich die berühmte Garantie, es dürfe kein freier Mann verhaftet, gefangen

gehalten, enteignet, geächtet, verbannt oder sonstwie verfolgt werden, ausser auf Grund eines rechtmässigen Urteils seiner Standesgenossen oder nach Massgabe des geltenden Rechts. Vier Jahrhunderte später hat Sir Edward Coke behauptet, diese Garantie schütze alle freien Engländer, nicht nur die Barone des 13. Jahrhunderts. Seine Deutung hat sich durchgesetzt und mächtig zum Mythos der Magna Charta beigetragen. Die Tatsache, dass eine ursprünglich enger konzipierte Garantie im Verlaufe der Geschichte und im Wandel der Verhältnisse expansiver ausgelegt wird, ist durchaus typisch für den dynamischen Charakter der Grundrechtsentfaltung. Symbolhafte Aussagen können sich zu justiziablen Normen verdichten, wenn die Zeit für sie reif geworden ist.

3. Wie vor allem das Beispiel Grossbritanniens dartut, ist die Entwicklung der Menschenrechte zwar eng verknüpft, aber keineswegs identisch mit derjenigen von Demokratie und Volkssouveränität. Die Zügelung und Mässigung der Herrschermacht, die Ausrichtung des Staates auf das Gemeinwohl und die Verwirklichung der Gerechtigkeit gehörten seit der Antike zu den Bestrebungen der europäischen politischen Theorien. Bracton formulierte schon um 1250 den Vorrang des Rechts, die Beschränkung der Staatsallmacht und die Gebundenheit des Königs in klassischer Weise. Sogar der König müsse Gott und dem Recht unterworfen sein, weil erst das Recht ihn zum König mache ("quia lex facit regem"). Denn es gebe keinen König, wo die Willkür und nicht das Recht herrsche 1). Die alte Tradition der Mässigung und der Beschränkung der Rechtsmacht des Monarchen trug Entscheidendes zum Aufbau des britischen parlamentarischen, demokratischen Systems bei. In diesem System gewährleistete dann das souveräne Parlament die Freiheitsrechte der Briten gewissermassen als Beiprodukt, ohne dass es — aus herkömmlicher und bisher in Grossbritannien immer noch geltender Sicht —dazu einer geschriebenen Verfassung, eines Grundrechtskatalogs oder eines spezialisierten Verfassungsgerichts bedurft hätte.

4. In der europäischen Geschichte blieb das Beispiel Grossbritanniens richtungsweisend bei der Entstehung der Demokratie und des Parlamentarismus. Allerdings blickten Staatsphilosophie und Dogmengeschichte die meiste Zeit gebannt bloss auf die Grossmächte. Dass Island schon um 930 eine Parlamentsversammlung namens Allthing begründete, dass die Schweizer Landsgemeinden auf der direkt-demokratischen Beteiligung der Stimmbürger beruhten, erschien ausserhalb dieser Kleinstaaten mehr als Störfaktor. Wie es ein deutscher Autor 1803 formulierte: "Demokratische Verfassungen findet man andauernd nur bey sehr kleinen Staaten, besonders bey geringen Haufen roher Bergbewohner"2). Anscheinend ist es der Schweiz schon früher nicht immer leicht gefallen, einer desinteressierten Umwelt ihren Sonderfall bekannt und beliebt zu machen. Auch zur Schweizer Geschichte ist freilich zu bemerken, dass die Verwirklichung kleinräumiger Modelle praktizierter Volkssouveränität nicht bedeutete, dass die Schweiz zugleich an der Herausbildung der Menschenrechte führend mitbeteiligt gewesen wäre.

5. Doch kehren wir zurück zur Geschichte der Menschenrechte. Im 16. und 17. Jahrhundert wurde die Forderung nach naturrechtlichen und vorstaatlichen Rechten —etwa bei Hugo Grotius, Johannes Althusius, John Milton und John Locke —stärker auf das Wesen und die Autonomie des mit Vernunft ausgestatteten Menschen gestützt als auf religiöse Begründungen. Dem Staat wurde die Aufgabe zugedacht, Glück und Selbstentfaltung des Individuums zu fördern.

Die politische Theorie der Aufklärung verband dann erstmals die Idee der in eine Verfassung eingebundenen Demokratie mit derjenigen von individuellen vor- oder überstaatlichen Freiheitsrechten. Die Schroffheit und Unbedingtheit der grossartigen Menschenrechts-Erklärungen von 1789 lassen sich so erklären, dass es sich letztlich um Ergebnisse der Revolutionsgeschichte handelte, in taktisch-propagandistischer Absicht als Mittel des Kampfes formuliert, in den USA als Rechtfertigung der Loslösung von England

und als sittliche Ziele des neuen Bundesstaates verfasst, in Frankreich als Frontalangriff gegen die auf korporativen Privilegien beruhende Staats- und Gesellschaftsordnung konzipiert. Die Absolutheit der Formulierungen liess es so aussehen, als ob die Befreiung des Individuums schon zur Tatsache geworden wäre. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 verkündete: "We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their creator with certain inalienable rights". Und nicht minder deutlich die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789: "Le but de toute association politique est la conservation des droits naturels et imprescriptibles de l'homme". "Toute société dans laquelle la garantie des droits n'est pas assurée, ni la séparation des pouvoirs déterminée, n'a point de constitution".

6. Rückblickend muss man sagen, dass Menschenrechte, einmal proklamiert, langfristig als Symbol, als Programm oder als Utopie wirken. Ob sie auch als Norm und als gelebte Wirklichkeit gelten können, hängt von einer Vielzahl nicht nur rechtlicher, sondern auch politischer, soziologischer oder ökonomischer Voraussetzungen ab. Ideelle Grundrechte entfalten sich am besten in einer pluralistisch-demokratischen Gesellschaft. Die für die angelsächsische Rechtstradition typischen prozeduralen Garantien bedürfen zu ihrer Durchsetzung unabhängiger Gerichte. Die Berechtigung zur Ausübung politischer Rechte (der Wahl- und gemäss schweizerischer Tradition auch der Abstimmungsrechte) ist in den letzten zweihundert Jahren Schritt für Schritt ausgebaut worden. Obwohl die amerikanische Unabhängigkeitserklärung die Rechtsfähigkeit aller Menschen als selbstverständlich und unentziehbar bezeichnete, blieb die Sklaverei bis zum Bürgerkrieg der 1860er Jahre bestehen. Man schätzt, dass Ende des 18. Jahrhunderts ungefähr sechs Prozent der Gesamtbevölkerung der Vereinigten Staaten stimmberechtigt war, und dass auch in Frankreich und den Schweizer Aristokratien der Prozentsatz nicht höher lag 3).

Olympe de Gouges forderte zwar schon 1791 in ihrer "Erklärung der Rechte der Frau und der Bürgerin", die Frauengleichberechtigung in der Verfassung zu verankern 4). Der erste Artikel ihrer Proklamation hiess: "La femme naît libre et demeure égale à l'homme en droits". Aber während man die Juden in Frankreich 1791 emanzipierte und die Sklaverei der Schwarzen 1794 beendete, blieb die Forderung von Olympe de Gouges toter Buchstabe. Sie selbst wurde 1793 als Gegnerin Robespierres hingerichtet. Das Frauenstimmrecht wurde erstmals 80 Jahre später, nämlich 1869, im amerikanischen Territorium Wyoming eingeführt und verbreitete sich von dort aus sukzessive über den nordamerikanischen Kontinent und Europa, vor allem anfangs des 20. Jahrhunderts, bis das Bundesgericht es Ende 1990 im Falle Rohner auch Appenzell-Innerrhoden auferlegte und damit dem dort überdauernden Männerregime (einer eigenartigen Form ostschweizerischer Heimatschutz- und Tourismus-Werbung) ein Ende setzte.

7. Eine entscheidende Etappe stellte das Übergreifen des Menschenrechtsgedankens auf die völkerrechtliche Ebene nach dem Zweiten Weltkrieg —und als Reaktion auf dessen Schreckenstaten und Unmenschlichkeiten — dar. Vorher beruhte das Völkerrecht auf einer Welt, die in souveräne, unabhängige und gebietsmässig definierte Staaten aufgeteilt war. Ihnen — und nur ihnen — war es überlassen, wieweit sie die Menschenrechte in ihrem Landesrecht schützen wollten. Souveräne Staaten konnten sich zudem in Form von internationalen Verträgen verpflichten, und sie unterwarfen sich internationalem Gewohnheitsrecht als Ausdruck einer allgemeinen, als Recht anerkannten Übung. Indessen entschieden sie allein über diejenigen Angelegenheiten (wie die Menschenrechte), die ihrem Wesen nach der inneren Zuständigkeit der Staaten zuzurechnen waren. Heute ist diese Sicht der Dinge überholt. Menschenrechte

gehören heute zu dem vom Völkerrecht erfassten Bereich. Ihre Erörterung stellt keinen Übergriff in den "domaine réservé" der Souveränität dar, gleichgültig ob man hier an die Souveränität eines Tyrannen, einer Regierung oder der Mehrheit eines Volkes denkt.

8. Die UNO-Charta von 1945 erklärte den Menschenrechtsschutz zum Ziel der Vereinten Nationen. Die Allgemeine Menschenrechtserklärung von 1948, heute von vielen Beobachtern als Völkergewohnheitsrecht angesehen, und die beiden UNO-Menschenrechtspakte von 1966 setzten die Zielsetzung der Charta in konkrete Garantien um. Dutzende von Verträgen und Resolutionen vervollständigen das sich herausbildende internationale Gewebe eines allgemeinen, menschenrechtlichen Mindeststandards. Mindestens so wichtig wie die Formulierung der materiellen Garantien ist dabei die Existenz verselbständigter Schutz- und Aufsichtsorgane, die in Berichts- und Gerichtsverfahren unterschiedlichster Intensität dafür sorgen, dass die Handhabung der Menschenrechte den ausschliesslich nationalen Kriterien entzogen und einer überparteilichen internationalen Kontrolle zugeführt wird.

9. Möglicherweise ist die Entwicklung an einem ähnlichen Punkt angelangt wie beim Umweltschutzrecht: Die einzelnen Staaten müssen zwar ihre nationalen Rechtsordnungen auf die Anliegen des Menschen- und des Umweltrechtsschutzes ausrichten und ihre jeweiligen Normen mit der gebotenen Ernsthaftigkeit durchsetzen. Aber die weltweite Interdependenz und das Gesamtinteresse des Raumschiffes Erde gebieten mehr und mehr die Herausbildung und Verfestigung allgemein gültiger Minimalnormen. Die Erhaltung abgekapselter Oasen innerhalb einzelner Staaten ist nicht nur zweitrangig und somit wenig wünschenswert; sie erscheint zudem als kaum mehr möglich, da eben alles vernetzt ist.

10. Diese Darlegungen lassen sich anhand des europäischen Menschenrechtsschutzes näher illustrieren. Heute haben alle westeuropäischen Länder und auch die Tschechoslowakei und Bulgarien

die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert, insgesamt 25 Staaten. Diese haben nicht nur alle die Konvention als solche akzeptiert, sondern sie haben sich seit 1989 ausnahmslos dem Individualbeschwerdeverfahren vor der Europäischen Kommission für Menschenrechte unterstellt, seit 1990 der obligatorischen Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Strassburg. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in Luxemburg hat seit 1969 begonnen, in seiner Rechtsprechung für die Wahrung von Grundrechten zu sorgen, indem er diese zu den ungeschriebenen allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung und zu den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten rechnete, oder indem er die Europäische Menschenrechtskonvention und die darauf aufgebaute Strassburger Rechtsprechung als Quelle der Inspiration bei seiner Grundrechtsfindung heranzog. Es gibt daher heute nicht nur einen Europäischen Wirtschaftsraum, sondern auch einen "Europäischen Menschenrechtsraum". Ihm anzugehören ist eine politische Solidaritätspflicht aller Bisherigen und aller neu Dazukommenden, liegt jedoch zugleich in ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse.

11. Am Ende des 2. Jahrtausends finden wir uns somit mit einem Menschenrechtsschutz, der zwar nicht auf einem festgefügten System oder Kanon beruht, aber doch auf einem Block unbestreitbarer Ideen und Werte. Er bildete sich weitgehend punktuell heraus, als stets neu zu überdenkende Reaktion auf neue soziale, ökonomische oder technologische Bedrohungen. Dementsprechend ist Rechtsprechung im Menschenrechtsbereich — wie es Jörg Paul Müller formuliert hat 5) — nicht bloss "Anwendung bestehenden Rechts, sondern auch ... Schöpfung elementarer Rechtspositionen zur Verteidigung des Menschen gegen einstürmende neue Verletzungspotentiale", "zunächst schlicht im sozialen Ganzen, sodann unter den Bedingungen demokratischer Regierung".

12. Welche Menschenrechtsbeschränkungen sind nun in einer demokratischen Gesellschaft notwendig? Die Antwort bemisst sich

zunächst am Wesen des heutigen Demokratieverständnisses. Charakteristisch dafür ist nicht einfach das Mehrheitsprinzip an sich, sondern das Prinzip mitsamt seinen immanenten Schranken. Weil Mehrheitsentscheide Oppositions- und Minderheitengruppen und Einzelpersonen unterdrücken können, muss das Mehrheitsprinzip in der modernen Demokratie durch den Gedanken des Minderheiten- und Menschenrechtsschutzes gemässigt und gebremst werden. Ohne Pluralismus und Toleranz, ohne Kritikempfänglichkeit und Innovationsbereitschaft kann eine freie und offene Gesellschaft nicht bestehen 6). Und die Grundhaltung des Pluralismus und der Toleranz bedingt, dass nicht nur der Blick nach innen über die Essentialien von Menschenrechten und Demokratie entscheidet, sondern dass Entscheide darüber unter vergleichender Berücksichtigung verwandter Rechtsordnungen und europäischer oder gar universeller Standards getroffen werden.

Man hat der geschilderten Doktrin der Menschenrechte vorgeworfen, sie sei zu einseitig westlich-individualistisch konzipiert, sei zu anthropozentrisch ausgerichtet, und sie vernachlässige das Bedürfnis nach gewissen kollektiven Gruppenrechten. Auf diese drei Kritiken will ich kurz eingehen.

13. Der erste Vorwurf ist derjenige einer westlich-individualistischen Voreingenommenheit des Menschenrechtsdenkens. Als Reaktion darauf wurde die These der drei "Generationen" von Menschenrechten aufgestellt 7). Im Gegensatz zur ersten Generation der klassischen, staatsabwehrenden "civil and political rights" stünden die zweite Generation der leistungsbegründenden wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte und die nochmals neuere dritte Generation der Drittwelt-orientierten, dynamischen Solidaritätsrechte. Zu dieser dritten Generation werden vorab ein Recht auf Entwicklung, ein Recht auf Frieden, ein Recht auf eine

lebenswerte Umwelt und ein Recht auf Teilhabe am gemeinsamen Erbe der Menschheit gezählt.

Die dargestellte scharfe Aufteilung in drei Kategorien von Menschenrechten stellt sicher eine Übervereinfachung dar. Während indes die erste Generation sich ohne weiteres zur direkten Durchsetzung durch Verwaltung und Gerichte eignet, ist speziell bei der behaupteten dritten Generation von Menschenrechten die Gefahr einer Trivialisierung und Vernebelung real weiterbestehender Dissense offensichtlich. Dennoch bleibt es durchaus denkbar, dass die wirtschaftlich-sozialen und die dynamisch-solidarischen Gewährleistungen an Rechtsqualität gewinnen könnten. Auch wenn sie vorerst keinen direkt justiziablen Gehalt besitzen, kann sich doch — wie bei Menschenrechten der ersten Generation — Konsens über ihre programmatische Funktion herausbilden.

14. Der zweite Vorwurf liegt darin, dass die herkömmliche Sichtweise der Menschenrechte anthropozentrisch sei. Dies ist kaum zu bestreiten. Unsere Sichtweise beruht auf dem mechanistischen Weltbild eines Dualismus von Geist und Materie, von Mensch und Natur. Die Natur erscheint nur durch die Brille des Menschen. Dieser hat sich die Natur untertan gemacht und hat als Rechtssubjekt seine Rechte an rechtlosen Objekten ausgeübt, bis er nun des Schutzes vor sich selbst bedarf und deshalb ein "Recht auf Umwelt" fordert, nicht etwa weil er der Würde oder den Eigenrechten der Tiere, Pflanzen und Landschaften zuwidergehandelt hätte, sondern weil er seine Nutzung der als öffentliches Gut verstandenen Umwelt beeinträchtigt sieht.

Diese Sicht ist zu eng geworden. Neben die anthropozentrische Menschenwürde hat das allgemeinere Prinzip einer Würde der Schöpfung oder des Lebens zu treten. Nicht nur der Mensch, auch die Natur und die Lebewesen haben Ansprüche, in Ruhe gelassen zu werden und sich zu entfalten 8). Auf der Ebene des internationalen Rechts muss die unbegrenzte Souveränität des Staates, auf seinem Gebiet Umwelt und Biodiversität zu beeinträchtigen,

ein Ende finden. Sie muss ersetzt werden durch die Erkenntnis des allen gemeinsamen Interesses, den Artenverlust, die Zerstörung des kulturellen Erbes, die Verschwendung natürlicher Ressourcen, die Überbevölkerung und die globale Erwärmung zu bremsen und zu verhindern. Natur und Umwelt gehören untrennbar zum gemeinsamen Erbe der Menschheit, das es zu erhalten gilt 9).

15. Der dritte Vorwurf lautet, das heutige Menschenrechtsverständnis sei zu individualistisch und zu wenig kollektiv. Dieses Argument ist nur zum Teil stichhaltig. Die Einzelperson, welche um ihre Menschenrechte kämpft, dient ganzen Gruppen von Gleichgesinnten und dient damit indirekt der Offenhaltung des gesamten politischen Prozesses. Lassen Sie mich dies anhand der ideellen Grundrechte illustrieren.

16. Ideelle Grundrechte wie die Meinungs-, Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit sind Voraussetzungen zur Erkenntnis der Wahrheit, Mittel der Erziehung zur geistigen Toleranz und Hilfe gegen die Neigung zur Unterdrückung unbequemer, unbeliebter oder unorthodoxer Meinungen. Sie sind sodann als Informations- und Kontrollrechte die Grundlagen eines freien und demokratischen Entscheidungsprozesses. Das Volk kann nicht mündig und der Selbstregierung fähig sein, wenn der Staat oder die an der Macht befindlichen Parteien oder Cliquen darüber befinden, welche Meinung genügend ungefährlich ist, um dem Volk vorgelegt werden zu können. Das Volk kann ferner seine Organe und Behörden nicht kontrollieren und frei wählen, wenn es sie nicht kritisieren und in Frage stellen darf. Ideelle Grundrechte sind schliesslich auch Mittel des Minderheitenschutzes, Begrenzungen des Mehrheitswillens zugunsten der Ideen unpopulärer Minderheiten. Unter allen diesen Gesichtspunkten sind ideelle Grundrechte eine funktionelle Voraussetzung für eine lebendige und reale Demokratie.

Der freie Marktplatz der Ideen und die kommunikative Offenheit, die ich hiermit geschildert und gefordert habe, dient freilich nicht allen Individuen und Gruppen im selben Masse. Es gibt Gruppen und Minderheiten, deren Chance, zur Mehrheit zu werden, zu gering ist, und deren —entweder selbst gewollte oder ihnen aufoktroyierte —Andersartigkeit nach anderen, zusätzlichen Formen des Gruppen- oder Minderheitenschutzes ruft. Und damit soll unser Blick beginnen, von den Menschen- zu den Minderheitenrechten hinüberzuwandern.

17. Die Wünschbarkeit eines spezifischen Minderheitenschutzes möchte ich zunächst am Beispiel der Schweiz erörtern. Wir leben in einem Land, das sich der Probleme der Minderheiten in besonderem Mass bewusst ist. Man verweist bei uns oft darauf, dass das auf Konsens und Mitbestimmung hin angelegte Konkordanzsystem (namentlich die direktdemokratischen Instrumente des Referendums und der Initiative, sowie die föderalistische Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen) einen ausgebauten institutionellen Minderheitenschutz darbieten würden. Über weite Strecken ist dies —jedenfalls im schweizerischen Umfeld —zutreffend. Nehmen wir als Beispiele die Volksinitiative und die Sprachensituation im Bundesstaat.

18. Die Initiative erlaubt es, neue politische Impulse und Alternativen in den Entscheidungsprozess einzubringen, weitgehend an den etablierten Instanzen und am Parlament vorbei. Insofern dient sie Minderheitsgruppen als Mittel der Opposition. Wie das Referendum ist auch die Initiative in den letzten Jahrzehnten in gewissem Ausmass repräsentativ umgebildet worden. Damit ist gemeint, dass eine erhebliche Zahl von Initiativen indirekte Teilwirkungen zu erzielen vermag, weil die Behörden schon vor der Abstimmung auf Initiativen reagieren und dem Anliegen der Initiativen teilweise entgegenkommen, um den Einfluss der Aussenseitergruppen auf den regulären Entscheidungsprozess zu neutralisieren. Die Minderheits- und Oppositionsgruppen, welche sich der

Initiative bedienen, erlangen so die Möglichkeit, sich am Entscheidungsprozes s der etablierten Mehrheiten zu beteiligen.

19. Was den Föderalismus anbelangt, so gilt er als das Mittel par excellence, um der viersprachigen Willensnation das friedliche Nebeneinander- und vielleicht sogar Miteinanderleben zu ermöglichen. Weil die französisch- und italienischsprachigen Minderheiten der Schweiz in ihren Kantonen die Mehrheit bilden, wird dadurch ihre Minderheitensituation im Bund erträglicher gestaltet. Typischerweise besteht das heikelste Sprachenproblem dort, wo die Minderheitssprache über kein in gleicher Weise gesichertes Stammgebiet verfügt: beim Rätoromanischen.

Im grossen ganzen schützt der Föderalismus die sprachlichen Minderheiten pragmatisch und wirksam. Verfassungsrechtlich gibt es freilich ein Paradox: Weil Volk und Stände nämlich die Bundesverfassung frei und ohne materielle Schranken ändern können, könnte man an sich auch die Stellung der Minderheitensprachen in der Verfassung verschlechtern. Theoretisch gibt es daher (ganz in der Tradition von Jean-Jacques Rousseau) keinen rechtlich absolut gewährleisteten Minderheitenschutz. Praktisch allerdings kann man sich einen solchen Missbrauch des demokratischen Prozesses gegenüber den sprachlichen Minderheiten kaum vorstellen. Die Schweiz ist entweder mehrsprachig, oder sie verliert ihre innere Existenzberechtigung, ihre "raison d'être", und bricht auseinander.

20. Die Schweiz kennt somit in ihrem Landesrecht keinen speziellen Minderheitenschutz. Sie lässt, wie es sich in einer pluralistisch-freiheitlichen Demokratie gehört, die Mehrheit entscheiden. Nur soll der Wille der Mehrheit nicht absolut, schranken- und vorbehaltlos gelten. Er soll vielmehr die Grundrechte der Bundesverfassung, der Kantonsverfassungen, der Europäischen Menschenrechtskonvention, der UNO-Menschenrechtspakte und anderer völkerrechtlicher Verträge respektieren, soll die föderalistischen Kompetenzschranken beachten und soll die Mässigung und Toleranz aufweisen, die einzig der komplexen Wirklichkeit in einer komplexen

Gesellschaft Rechnung zu tragen vermag. Den Minderheiten stehen also gewissermassen indirekte, aus dem Föderalismus, der Demokratie oder den Grundrechten ableitbare Gruppenrechte zur Verfügung.

21. Rechtsvergleichend gesehen halten es die Vereinigten Staaten von Amerika und die Bundesrepublik Deutschland gleich wie die Schweiz. Die kanadische Bundesverfassung von 1982 kennt demgegenüber Klauseln sowohl zu den ethnischen Minderheiten (der Indianer und Eskimos) wie zu der französischsprachigen Minderheit. Der nach wie vor andauernde Konflikt um den "Meech Lake"-Verfassungszusatz von 1987, der nicht ratifiziert werden konnte, oder andere Formeln, welche unter anderem die Provinz Quebec als "société distincte" anerkennen wollten, dreht sich zu wesentlichen Teilen um eben diese Fragen.

22. Die Verfassungen der seinerzeitigen Sowjetunion 10) unterteilten das Reich in 15 Unionsrepubliken, 20 autonome Republiken, 8 autonome Gebiete und 10 autonome Bezirke, insgesamt also in 53 Territorialgebilde. Die 15 Unionsrepubliken, zahlreiche weitere autonome Republiken oder Gebiete, ebenso wie einige von der Verfassung nicht anerkannte Minderheiten erklärten sich in den Jahren 1988 bis 1990 souverän und teilweise auch unabhängig. Im Frühherbst 1991 brach die Sowjetunion dann endgültig auseinander, worauf sich die 15 Unionsrepubliken allesamt für unabhängig erklärten. Diese Vorgänge warfen eine Vielzahl völkerrechtlicher Fragen auf, insbesondere solche der Anerkennung, der Elemente und der Souveränität neuer Staaten, sowie der Staatennachfolge, auf die ich hier nicht eingehen werde.

Einen Punkt möchte ich aber aufgreifen: Gemäss traditionellem Völkerrecht wurden neue Staaten nicht daraufhin überprüft, ob ihre Regierungen sich mittels freier Wahlen legitimiert hatten,

oder ob sie internationale Mindeststandards von Menschen- und Minderheitenrechten respektierten. Vielmehr stand ein Ordnungsfaktor im Vordergrund, den man in der Ausdrucksweise von James Anaya als "pragmatische Stabilität"bezeichnen könnte 11): Diejenigen Regierungen, die effektiv und dauernd die Macht innehielten, galten als die völkerrechtlich autorisierten Staatenvertreter, auch wenn ihre demokratische oder menschenrechtliche Legitimation mangelhaft sein mochte.

23. Diese herkömmliche Betrachtungsweise gilt es nun nach der Umwälzung in Mittel- und Osteuropa neu zu überprüfen. Zu fragen ist, ob es heute noch richtig sein kann, in der geschilderten Art Ordnung und Stabilität einerseits, Demokratie und Menschenrechte anderseits einander gegenüberzustellen und daraufhin einseitig zugunsten der Ordnung zu entscheiden. Bedeutet dies nicht, dass man, wie Michael Reisman gemeint hat, Souveränität als Herrschersouveränität im mittelalterlichen oder absolutistischen Sinn statt als Volkssouveränität im modernen Sinn deutet 12)? Dass man zulässt, dass Tyrannen und Räuberbanden nur infolge ihrer effektiven Machtausübung ihre Völker knechten, ohne Rücksicht auf Demokratie, Menschen- oder Minderheitenrechte? Tatsächlich lag darin stets eine strukturelle Schwäche der zwischenstaatlichen Beziehungen. Da die Regierungen mit ihrer Bevölkerung souverän und unter Abwehr jeder Einmischung von aussen umspringen durften, da es keine wirksamen inter- oder gar supranationalen Kontrollinstanzen gab, und da die gewaltsame, militärische Durchsetzung demokratischer oder menschenrechtlicher Standards im Zeitalter der Nuklearwaffen und des Ost-West-Gegensatzes aussichtslos erschien, überwogen die Gesichtspunkte der Ordnung und Stabilität.

24. Seit dem zweiten Weltkrieg sind die Fortschritte im internationalen Menschenrechtsschutz, die ich eingangs skizziert habe, unübersehbar. Weit weniger konkret und gesichert sind die in Herausbildung befindlichen völkerrechtlichen Standards des Minderheitenschutzes. Und erst seit 1989 wagt man zu fragen, ob es, wie

Thomas Franck formuliert, ein "emerging right to democratic governance"13), einen völkerrechtlichen Anspruch auf ein demokratisches Regierungssystem geben müsse. Auf diese beiden in Herausbildung begriffenen Standards möchte ich nun noch zu sprechen kommen.

25. Nehmen wir die Frage des internationalen Minderheitenschutzes zuerst. Hier ist zu unterscheiden zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und dem eigentlichen Schutz von Minderheitsgruppen. Die beiden Aspekte gehen ineinander über, wobei das Selbstbestimmungsrecht weitergehende Ansprüche begründet, der Gedanke des Minderheitenschutzes aber der eigentlich übergreifende ist.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde ein System des vertraglichen Minderheitenschutzes im Rahmen des Völkerbundes aufgebaut, welches aber nur einzelnen Staaten (vor allem Staaten des Balkans) Verpflichtungen auferlegte. Danach sollte den Angehörigen der Minderheiten dieselbe Rechtstellung eingeräumt werden wie der jeweiligen Mehrheit, ferner Sonderrechte für Schulen und Sprachengebrauch. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Minderheitenschutz gegenüber dem Ausbau des individuellen Menschenrechtsschutzes zurückgestellt. Die praktisch einzige vertragliche Garantie von allgemeiner Tragweite findet sich in Art. 27 des UNO-Paktes über bürgerliche und politische Rechte von 1966. Dieser spricht "ethnischen, religiösen oder sprachlichen"Minderheiten das Recht auf die Pflege der eigenen Kultur, Religion und Sprache zu. Er versteht unter Minderheiten separate, stabile, geschichtlich gewachsene und untereinander solidarische Gruppen. Nicht dazuzurechnen sind politische oder soziale Minderheiten innerhalb eines Staates (z.B. Randparteien) und Mehrheiten, die wie Minderheiten behandelt werden (z.B. die Schwarzen Südafrikas oder das unterdrückte Volk damals in der DDR).

26. 1983 schrieb Felix Ermacora, zum völkergewohnheitsrechtlichen Standard des Minderheitenschutzes gehöre ein Verbot des Völkermordes, ein Verbot der Zwangsassimilation, ein Recht auf Kulturpflege, Religionsausübung oder Sprachengebrauch, ein Diskriminierungsverbot, sowie die Verpflichtung der Staaten, positive Schutzmassnahmen zugunsten der Minderheiten und namentlich der Eingeborenen zu treffen 14). Zu diesem Programm würde man heute — unter dem Eindruck der jugoslawischen Greuel — sicher auch ein Verbot der Zwangsaussiedlung oder ein Recht, in der Heimat zu verbleiben, rechnen 15). Vor allem würde man aber heute kaum mehr wie noch vor zehn Jahren sagen, dass die Durchführung des Programms des völkerrechtlichen Minderheitenschutzes zu den inneren Angelegenheiten jedes Staates gehöre. Wohl ist es richtig, dass Minderheitenprobleme aus einem Kaleidoskop von Einzellagen bestehen, sodass generell-abstrakte Definitionsversuche stets heikel sind. Indessen kann man schon heute sagen, dass gewisse der genannten Garantien zum zwingenden Bestand des Völkerrechts gehören (etwa die Verbote des Völkermordes und der Deportation). Das Erfordernis der Rechtsgleichheit und der Nichtdiskriminierung erscheint als ein Mindeststandard des Minderheitenschutzes, welcher mehr und mehr als gewohnheitsrechtlich abgesichert gelten kann. Dass Minderheiten schliesslich der staatlichen Duldung und Förderung bei der Pflege und Erhaltung ihrer gruppenspezifischen Besonderheiten (ihrer Tradition, Kultur, Religion oder Sprache) bedürfen, dass sie also insoweit Ansprüche auf Absonderung und auf rechtsungleiche Behandlung im Verhältnis zur Mehrheit erheben, kann man heute schon zur programmatischen Ebene des Minderheitenschutzes zählen. Angesichts der raschen Zunahme völkerrechtlicher Bemühungen im Rahmen der UNO, des Europarates und der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE)16) dürfte es binnen kurzem gelingen, solchen Ansprüchen auch direkt justiziablen Gehalt und spezifische Verfahrens sicherungen zu verleihen.

27. Beim Selbstbestimmungsrecht der Völker ging es zunächst weniger um Minderheitenschutz. Seine ersten Wurzeln reichten ebenfalls auf das Ende des 18. Jahrhunderts und damit das Gedankengut der Aufklärung zurück. Das Schwergewicht lag damals auf dem Erfordernis des "consent of the governed" und damit auf der demokratischen Volkssouveränität. Dazu trat die Forderung, dass Grenzveränderungen der Zustimmung der betroffenen Bevölkerung bedürften.

Das 19. Jahrhundert war geprägt von der Selbstbestimmungs-Ideologie des Nationalismus. Das Volk als ethnisch-kulturelle Einheit sollte sich in Nationalstaaten zusammenfinden. Johann Kaspar Bluntschli forderte, jede Nation solle einen Staat bilden, jeder Staat solle ein nationales Wesen darstellen 17). Wie diese Forderung in die Tat umgesetzt werden sollte, blieb freilich schleierhaft. Um 1900 gab es etwa 50 Staaten. Heute haben sich 179 Staaten in der Organisation der Vereinten Nationen zusammengefunden. Demgegenüber schätzt man, dass es auf der Welt ungefähr 3000 Sprachen gibt (die Dialekte nicht mitgerechnet) und etwa 5000 ethnische oder nationale Gruppen. Bluntschlis Forderung liess nicht nur die gesamte dritte Welt ausser acht, sie ignorierte auch die Vielzahl der in Europa bestehenden Minderheiten. Gegenüber solchen Mystifizierungen geniesst man die spöttische, in der Sache aber wesentlich treffendere Bemerkung von Karl W. Deutsch:

"Eine Nation ist eine Gruppe von Menschen, die durch einen gemeinsamen Irrtum hinsichtlich ihrer Abstammung und eine gemeinsame Abneigung gegen ihre Nachbarn geeint ist."

28. Die UNO-Charta von 1945 setzte sich die "Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker" zum Ziel 18). In den beiden UNO-Menschenrechtspakten von 1966 ist demgegenüber vom "Recht" aller Völker auf Selbstbestimmung die Rede. Die UNO-Praxis nutzte diese Formulierungen

zur umfassenden Dekolonisierung. Dies bedeutete die eindeutige und einseitige Befürwortung eines antikolonialistischen Selbstbestimmungsrechtes. Charakteristisch ist die Beschränkung des Anwendungsbereichs dieses Rechtes auf die westeuropäischen Kolonialbereiche (sowie die amerikanischen, australischen und neuseeländischen Inselbesitzungen) kraft der sogenannten Salzwassertheorie. Als "Volk" galt dabei einzig die Bevölkerung eines geographisch separaten, durch die Kolonialgrenzen umschriebenen und vom Mutterland durch das Salzwasser des Meers getrennten Gebiets. Aufgrund der UNO-Praxis bedeutete das Selbstbestimmungsrecht somit "den Anspruch kolonialer Gebiete auf Unabhängigkeit von der europäischen Kolonialmacht und Errichtung eines souveränen Staates im Rahmen der kolonialen Grenzen"19). Demgemäss behauptete man, dem Selbstbestimmungsrecht komme Rechtscharakter nur zu, soweit es das Dekolonisierungs-Programm der UNO erfülle, während es in allen anderen Bereichen ein blosses politisch-moralisches Postulat bleibe.

29. Nehmen wir diese UNO-Praxis als unseren Ausgangspunkt. Ihr lag der Gedanke zugrunde, dass das Selbstbestimmungsrecht in der Dekolonisierung Rechtscharakter gewinnen konnte und musste, weil die Fremdherrschaft über koloniale Völker als Bedrohung des internationalen Friedens und als unerträgliche Schmälerung von Menschenrechten erschien. Warum aber sollte eine totalitäre Diktatur über das Staatsvolk oder die flagrante, krasse Unterdrückung von Minderheiten nicht ebenfalls eine Fremdherrschaft, Friedensbedrohung und Menschenrechtsverletzung sein? Diese Fragen stellten sich schon vor 1989. Der Kollaps und das Auseinanderbrechen der Sowjetunion und die Abschüttelung der kommunistischen, niemals in freien Wahlen legitimierten Marionettenregierungen in Mittel- und Osteuropa führen uns nun zu einem Neuüberdenken des Begriffes des Selbstbestimmungsrechts. Man kann die Abschüttelung des sowjetischen Jochs als eine Dekolonisierung im weiteren Sinn deuten. In der Tat wurden beispielsweise die Krim 1783 und der Kaukasus in

den 1860er Jahren im genau gleichen Stil erobert und annektiert wie die britischen Kolonien in Indien und Afrika 20). Ich möchte mich damit aber nicht begnügen, sondern in den Geschehnissen der jüngsten Zeitgeschichte eine Neubelebung und Ausdehnung des Selbstbestimmungsrechts in verschiedene Richtungen sehen.

30. Wenn man versucht, zu analysieren, was der Inhalt des Selbstbestimmungsrechts ist, so kann man zahlreiche Anspruchstypen unterscheiden. Mir scheint es hilfreich, fünf Ansprüche auseinanderzuhalten. Zwei davon richten sich nach innen und betreffen somit die innere Selbstbestimmung eines Staates oder Volkes. Innere Selbstbestimmung bedeutet weitgehend dasselbe wie innere Souveränität, nämlich die freie Wahl der politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Ordnung durch ein Staatsvolk. Ob auch ein Minderheitsvolk (und nicht bloss die Mehrheit des Staatsvolks) seine Ordnung frei und autonom bestimmen kann, wird nach den schon vorher dargestellten Regeln des völkerrechtlichen Minderheitenschutzes beantwortet. Mit innerer Selbstbestimmung kann sodann zusätzlich gemeint sein, dass die Willensbildung im Staat rechtlich und faktisch auf der Zustimmung des Volkes beruhen und deshalb demokratisch sein muss.

31. Externe Selbstbestimmung im Verhältnis nach aussen kann bedeuten, dass Abtrennungen oder Annexionen von Gebieten der Zustimmung der betroffenen Bevölkerung bedürfen sollten. Häufiger versteht man jedoch unter externer Selbstbestimmung ein Sezessionsrecht im Sinne der Schaffung eines neuen souveränen Staates oder des Anschlusses an andere Staaten, oder dann die Bildung eines besonderen Autonomie-, Minderheiten- oder sonstigen politischen Status. Die Dekolonisierung, das heisst die von der UNO-Praxis anerkannte Verselbständigung ehemaliger Kolonien durch Abkoppelung vom Mutterland ist im Grunde einfach eine besondere Art der Sezession.

32. Von den geschilderten drei Anspruchstypen der externen Selbstbestimmung kann die Dekolonisierung heute ohne weiteres

als gewohnheitsrechtlich anerkannt werden. Ein allgemeines Sezessionsrecht jenseits der Dekolonisationsfälle liess sich vor 1989 nur schwerlich behaupten. Die Furcht vor steter Unrast, vor Souveränitätseinbussen und Interventionen, vor Balkanisierung und Fragmentierung überwog in der "realen Welt"gegenüber den Grundsätzen der Selbstbestimmung und des Minderheitenschutzes. Etablierte Regierungen sahen das Selbstbestimmungsrecht als revolutionäres und somit verfassungswidriges Recht an, das offenbar — wie etwa die Beispiele von Katanga (1960-1963), Biafra (1967-1970) und Bangladesh (1971-1972) zeigten —Legalität und Anerkennung nur von seiner effektiven, gewaltsamen Durchsetzung und damit vom Erfolg herleiten konnte 21). Dass sich selbst in Fällen schwerwiegender Unterdrückung von "nicht-kolonisierten" Minderheitsvölkern oder gar von Mehrheiten ein wirkliches Selbstbestimmungsrecht kaum durchsetzen konnte, war nie befriedigend und setzte denn auch das Selbstbestimmungsrecht dem Vorwurf der Heuchelei und des doppelten Standards aus. Trotzdem hätten bis 1989 wohl die meisten völkerrechtlichen Betrachter gemeint, es lasse sich keine andauernde Übung und allgemeine Rechtsüberzeugung nachweisen dafür, dass es ein Sezessionsrecht zur "Erfüllung authentischer nationaler Forderungen"geben müsse 22).

33. Der Zusammenbruch des Sowjetimperiums gestattet nun die Aussage, dass der innerstaatlich-demokratische Aspekt des Selbstbestimmungsrechts ebenso daran ist, eine neue Blüte zu erleben, wie der Schutz von systematisch unterdrückten und diskriminierten Minderheiten. Auf längere Frist glaubwürdig kann nur ein Selbstbestimmungsrecht sein, das eine extreme Unterdrückung des Volkswillens und der Volkssouveränität untersagt, und das Minderheitsvölkern einen Anspruch gibt auf Abschüttelung einer offensichtlich menschenrechtswidrigen und extrem ungerechten Fremdherrschaft.

Der philippinische Senator Manuel Quezon bemerkte 1926, "we would prefer a government run like hell by Filipinos to one

run like heaven by Americans"23). Er äusserte damit das klassische Verlangen nach dekolonisierender Selbstherrschaft. Letztlich aber ist überhaupt keine höllische Selbstherrschaft zu rechtfertigen, sei sie nun kolonialer, rassischer, ideologischer oder anderer Art. Nur ein Regime, das eine genuine Volkssouveränität kraft demokratisch-freiheitlicher Selbstherrschaft verwirklicht hat, darf im Ernste ein Selbstbestimmungsrecht für sich beanspruchen. Die langfristige Zielvorstellung muss daher ein Selbstbestimmungsrecht nicht nur der Dekolonisierung, sondern auch der Demokratie und des Minderheitenschutzes sein.

34. Gerade der Aspekt des Demokratieschutzes hat übrigens in den letzten Jahren besonders rasche Fortschritte gemacht. Ende 1991 sahen mehr als 110 Staaten in ihren Rechtsordnungen freie und geheime Wahlen zwischen mehreren politischen Parteien vor. Die meisten hatten sich diesem Trend erst in den letzten fünf Jahren angeschlossen 24). Das Kopenhagener Treffen der Konferenz über die menschliche Dimension der KSZE vom Juni 1990 bekräftigte, "dass die Demokratie ein wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaates ist", anerkannte "die Bedeutung des Pluralismus für politische Organisationen" und bezeichnete freie und geheime Wahlen als unveräusserliches Menschenrecht 25). Die UNO entsandte Delegationen von Wahlbeobachtern zur Überwachung der Wahlen in Namibia, Nicaragua und Haiti. Zudem ist es in den letzten Jahren bei einer Vielzahl von Wahlen gebräuchlich geworden, internationale Beobachter-Missionen zur Kontrolle der Korrektheit der Wahlen zu entsenden 26).

35. Damit schliesst sich der Kreis der Betrachtungen. Wie wir gesehen haben, sollten Selbstbestimmungsrecht und Souveränität zugleich Demokratie, Menschenrechte und Minderheitenrechte bedeuten. Der Weg dorthin wird weder kurz noch geradlinig sein. Aber wir sind unterwegs, und wir sind seit 1989 sogar vorwärts gekommen.

Anmerkungen