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Das Strafrecht in der Krise der Industriegesellschaft

Rektoratsrede gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel

am 26. November 1993
Verlag Helbing &Lichtenhahn Basel 1993

Die Deutsche Bibliothek —CIP-Einheitsaufnahme
Stratenwerth, Günter:
Das Strafrecht in der Krise der Industriegesellschaft: Rektoratsrede, gehalten an der
Jahresfeier der Universität Basel am 26. November 1993 /Günter Stratenwerth. —
Basel: Helbing &Lichtenhahn, 1993
(Basler Universitätsreden; 89)
ISBN 3-7190-1230-0
NE: Universität <Basel>: Basler Universitätsreden

Das Werk einschliesslich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 3-7190-1320-0
Bestellnummer 2101320
© 1993 by Helbing &Lichtenhahn Verlag AG, Basel

Die Brandkatastrophe auf dem Gelände der Sandoz AG in Schweizerhalle liegt heute fast genau sieben Jahre zurück. Viele der Anwesenden werden sich jener Nacht erinnern, daran, wie sie aus dem Schlaf geschreckt worden sind, durch den Heulton der Sirenen oder durch besorgte Anrufe von Verwandten oder Freunden, an den Feuerschein am Himmel und den alles durchdringenden beizenden Brandgeruch, an die stundenlange Ungewissheit über Art und Ausmass der bestehenden Bedrohung, und an den kollektiven Schock, den alles dies und das erst allmählich deutlicher werdende Bild der eingetretenen und der möglichen Folgen des Grossfeuers in unserer Region ausgelöst hat. Diese Erinnerung ist keine angenehme, und sie ist es umso weniger, als unsere bevorzugte Strategie, negative Erfahrungen zu verarbeiten, offenkundig versagt hat: Es hat sich kein Schuldiger finden lassen, dem das Geschehene hätte zur Last gelegt werden können, mit der erwünschten Konsequenz, dass es, als menschliches Versagen, hinreichend erklärt und künftig als vermeidbar erschienen wäre. In den Maschen der Strafjustiz sind, mit symbolischen Bussen, bekanntlich nur zwei leitende Mitarbeiter der Sandoz hängengeblieben, die am Tage nach der Brandnacht das Abspritzen des Areals veranlasst hatten, ohne zu bedenken, dass auch die Einleitung von 50'000 Litern kontaminierten Wassers in einen bereits mit 6 Millionen Litern Löschwasser verseuchten Fluss 1) noch verboten ist, und selbst dieses Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Damit bin ich bei meinem Thema, bei der Rolle des Strafrechts in der Krise der modernen Industriegesellschaft. Natürlich ist hier nicht der Ort, den Fall Schweizerhalle als solchen zu diskutieren. Aber wenn man sich nicht mit allzu schlichten Deutungen begnügen will, für die von vornherein feststand, dass sich die Strafjustiz, wie immer, an die Kleinen halten und die Grossen laufen lassen würde, dann muss man sich offenbar fragen, ob es andere, in der Sache selbst liegende Gründe gibt, die das eklatante Missverhältnis zwischen der Anhäufung eines Gefährdungspotentials

solcher Grössenordnung einerseits und ihren juristischen Konsequenzen andererseits verständlich machen könnten. Bleibt von einer "der schlimmsten Umweltkatastrophen", wie der Bericht des Regierungsrates Basel-Land sie genannt hat 2), von einer Katastrophe, die das Leben im Rhein flussabwärts auf lange Distanzen fast völlig vernichtet 3) und die Bevölkerung ganzer Landstriche in Angst und Schrecken versetzt hat, strafrechtlich nicht mehr übrig als der Vorwurf unsachgemässen Vorgehens bei den nachfolgenden Aufräumungsarbeiten? Und lässt sich, um der Tragödie auch noch die Groteske anzufügen, zwar nicht das qualvolle Verenden ganzer Fischbestände vor Gericht bringen, wohl aber der Tod jener einen unglücklichen Aesche, an der jemand in hilfloser Betroffenheit öffentlich hat demonstrieren wollen, was in jener Nacht zigtausendfach geschehen war? Ich will in dieser kurzen Stunde versuchen, einige allgemeinere Zusammenhänge zu verdeutlichen, in denen eine Antwort gefunden werden könnte, und möchte dies in drei Schritten tun, wobei zunächst von den gewissermassen "strafrechtstechnischen" Schwierigkeiten bei der Erfassung industrieller Risiken die Rede sein soll, sodann von den rechtlichen Grundprinzipien, die damit ins Spiel kommen, und schliesslich von den geistesgeschichtlichen Perspektiven, die unser Bild vom Strafrecht bis heute massgeblich bestimmen.

I.

Zunächst also einige Bemerkungen zu den ganz praktischen Hindernissen, mit denen es das Strafrecht in einem Fall wie Schweizerhalle zu tun bekommt. Sie liegen in der Eigenart des gefahrenträchtigen Geschehens ebenso wie in den traditionellen Regeln der strafrechtlichen Haftung.

1. Jeder strafrechtliche Vorwurf setzt evidentermassen fehlerhaftes, gesetzwidriges Verhalten voraus. Infolgedessen ist zunächst

zu klären, worin der entscheidende Fehler in unserem Ausgangsbeispiel bestanden haben könnte. Legt man die niemals ganz erwiesene Hypothese zugrunde, dass die Brandursache im Schrumpfen von Berlinerblau mit einem offenen Gasbrenner bestanden hat 4), so käme als Fehler offenbar an erster Stelle eine Unvorsichtigkeit der beteiligten Arbeiter in Betracht. Aber diese Antwort wäre vergleichsweise uninteressant. Denn sie führte natürlich zu der weiteren Frage, ob man eine derart riskante Technik überhaupt oder doch unter den gegebenen Umständen hätte anwenden dürfen, und es waren zweifellos nicht die Ausführenden, die diese Entscheidung getroffen hatten. Damit müsste sich die Verantwortung bereits in der Betriebshierarchie nach oben verlagern. Nimmt man ausserdem hinzu, dass eine Entzündung der Chemikalien auch andere Ursachen gehabt haben könnte, die sich zwar im konkreten Falle mit grosser Wahrscheinlichkeit oder sogar sicher, nicht aber generell ausschliessen lassen, wie einen Kurzschluss in den elektrischen Installationen, Selbstentzündung durch eine chemische Reaktion, eine weggeworfene Zigarette oder auch Brandstiftung 5), so wird man die Kette der für die Feuersgefahr verantwortlichen Entscheidungen noch weiter zurückverfolgen müssen: War es überhaupt vertretbar, entflammbare Chemikalien in dieser Menge und Zusammensetzung in dieser Weise zu lagern, relativ nahe beieinander, ohne automatischen Brandschutz, ohne Rückhaltebecken für Löschwasser, usw.? Das heisst, es zeigt sich, dass der problematische Vorgang schon in der Schaffung des Risikopotentials als solchem gesehen werden kann oder muss, unabhängig von den mehr oder minder zufälligen Bedingungen, die nötig waren, um die Gefahr tatsächlich in Unheil umschlagen zu lassen.

Was dies für die rechtlichen Konsequenzen bedeutet, lässt sich allerdings erst dann einigermassen erahnen, wenn man sich bewusst macht, dass das Gefährdungspotential, wie es hier bestanden hat, natürlich nur ein völlig beliebiges Beispiel für die unzähligen gleich- oder andersartigen Gefahrenquellen gleichen oder

noch grösseren Ausmasses darstellt, die unsere Industriegesellschaft in wenigen Jahrhunderten geschaffen hat: mit der Produktion, dem Transport und der sogenannten Entsorgung von Megatonnen hochgiftiger, explosiver oder auch radioaktiver Substanzen, die das Leben noch in ferner Zukunft bedrohen werden; mit den katastrophenträchtigen Folgen der rücksichtslosen Ausbeutung oder gar Zerstörung unserer natürlichen Umwelt zu allen möglichen technischen oder kommerziellen Zwecken, von der Rohstoff- und Energiegewinnung über Intensivmethoden landwirtschaftlicher Produktion bis zur Unterhaltungsindustrie; mit der Veränderung des Klimahaushalts der Erde, als deren blosse Vorboten wir allem Anschein nach die auffällige Häufung verheerender Unwetter in vielen Teilen der Welt zu begreifen haben; mit den langfristigen Auswirkungen von Eingriffen in die genetischen Grundlagen des Lebens, über die vorerst nicht einmal Mutmassungen möglich sind, usw. Denn in allen diesen Beziehungen gilt ausnahmslos, dass es wenig oder gar keinen Sinn hätte, mit dem Vorwurf des Fehlverhaltens zuzuwarten, bis die dann zumeist ohnehin unumkehrbaren Schadensfolgen eintreten, dass es vielmehr schon die gefahrenträchtigen Verhaltensweisen als solche sein müssen, an die mit einer rechtlichen Haftung anzuknüpfen wäre. Und auch dies ist wohl von vornherein ersichtlich, dass es nicht oder nicht in erster Linie die spektakulären Untaten Einzelner sind, mit denen wir es hier zu tun haben, sondern Bedrohungen, die erst aus dem Zusammentreffen vieler, oft ganz alltäglicher und entsprechend unauffälliger Handlungsabläufe hervorgehen.

2. Schon von hier aus lässt sich ohne weiteres verständlich machen, weshalb das überkommene Strafrecht Mühe hat, Gefährdungsprozesse solcher Art angemessen zu erfassen. Die Regeln der strafrechtlichen Haftung folgen im Grunde seit jeher und immer noch dem Leitbild einer Tat wie der, dass Kam den Abel oder X den Y erschlägt. Die Schwierigkeit besteht nicht etwa darin, dass diese Regeln überholt wären; in ihrem spezifischen Anwendungsbereich

behalten sie auch künftig ihren guten Sinn. Wohl aber gilt, dass mit ihnen bei den Risiken der modernen Technik wenig anzufangen ist: Alles, was sie voraussetzen, ist hier kaum noch aufzufinden.

Das betrifft zunächst den gewissermassen handgreiflichsten Ausgangspunkt jeder rechtlichen Haftung, die Verletzung oder Schädigung eines Menschen durch einen anderen, im Fachjargon der Juristen "Erfolg" genannt, obschon es sich gerade um nichts Positives handelt. Dieser Erfolg ist für das Strafrecht bisher von zentraler Bedeutung. Selbst wo er fehlen kann, wie beim misslungenen Versuch oder beim blossen Gefährdungsdelikt, gehört der Bezug auf ihn zur Definition des strafbaren Unrechts. Bei den Risikodelikten, wie ich sie der Kürze halber nennen möchte, gibt es nichts Vergleichbares. Bei ihnen kann es nach dem Gesagten nicht die endliche Schadensfolge sein, an die das Strafrecht anknüpft, sondern nur der relativ beliebige einzelne Beitrag zu dem Gefährdungspotential, aus dem sie in irgendeiner Zukunft möglicherweise hervorgehen wird, und dies zumeist auf so verschlungenen Wegen, dass der Zusammenhang nur von Experten herzustellen ist. Zu fragen, in welchem Masse jemand, der unnötig Auto fährt, zur Klimakatastrophe beiträgt, hat offenbar wenig Sinn. Der Beitrag des Einzelnen kann deshalb vielfach schon objektiv, nach einer jedem Juristen geläufigen Formel, hinweggedacht werden, ohne dass sich an der Gesamtgefahrenlage das mindeste ändern würde; insofern fehlt es an der haftungsbegründenden Kausalität. Und da das natürlich auch der Einzelne weiss, kann ihn der Gedanke an den möglichen Erfolg kaum motivieren, sich anders zu verhalten. Noch schwieriger wird es, wenn auch auf der Täterseite, insbesondere bei weitgetriebener Arbeitsteilung in einem Unternehmen, eine Mehrheit von Personen in Betracht kommt, deren koordiniertes oder auch zufälliges Zusammenwirken, etwa bei einer Gewässerverunreinigung, erst das Risiko begründet, das seinerseits zu den heutigen Grossgefahren beiträgt. Hier scheitert das Strafrecht

in seiner bisherigen Gestalt dann vielfach an der schlagwortartig so genannten "organisierten Unverantwortlichkeit"6).

Unter diesen Umständen kann es eigentlich nicht überraschen, wenn sich ein klassischer Straftatbestand wie der der (fahrlässigen) Verursachung einer Feuersbrunst in einem Falle wie Schweizerhalle, um auf dieses Beispiel noch einmal zurückzugreifen, als unanwendbar erweist, solange schon die Ursache des Brandes nicht zweifelsfrei feststeht, ganz abgesehen davon, dass das Gesetz natürlich auf die eigentliche Brandgefahr gemünzt ist und nicht auf eine durch brennende Chemikalien entstehende Giftwolke oder gar auf eine Gewässerverseuchung durch Löschwasser. Aber auch die neuere Spezialgesetzgebung, die auf solche Defizite des traditionellen Strafrechts zu reagieren versucht hat, erweist sich bei näherem Zusehen auf weite Strecken als wenig brauchbar. Da gibt es im Umweltschutzgesetz von 1983 zwar Bestimmungen, die bei umweltgefährdenden Stoffen Sicherheitsmassnahmen zur Verhinderung von Katastrophen und eine bestimmte Form der Lagerung gebieten (Art. 10 Abs. 1, 28 Abs. 1 USG). Zuwiderhandlungen sind jedoch bezeichnenderweise nur dann mit Strafe bedroht, wenn entsprechende Massnahmen oder Verbote ausdrücklich verfügt worden sind oder wenn das Verhalten wenigstens einer Gebrauchsanweisung widerspricht (Art. 60 Abs. 1 lit. a, e USG). Keine solche Einschränkung enthält dagegen das Gewässerschutzgesetz in seiner neuen Fassung von 1991, wenn es beispielsweise untersagt, "Stoffe ausserhalb eines Gewässers abzulagern..., sofern dadurch die konkrete Gefahr einer Verunreinigung des Wassers entsteht", und Widerhandlungen generell für strafbar erklärt (Art. 6 Abs. 2, 70 Abs. 1 lit. a GschG). Nur besteht hier die umgekehrte Schwierigkeit, dass die Grenzen des Tatbestandes völlig unbestimmt sind. Denn was eine "Verunreinigung" des Wassers ist, darüber lässt sich trefflich streiten, wenn man von der trivialen Feststellung absieht, dass es sich doch wohl um eine negative Veränderung seiner Beschaffenheit handeln muss 7). Ebenso unklar

ist, wann die Gefahr der Verunreinigung beginnt, eine "konkrete" zu sein. Kurz: Schon der Gesetzgeber hat offenbar die grösste Mühe, das Risikoverhalten, das uns hier beschäftigt, umfassend und genau genug zu umschreiben, und die Strafrechtspraxis steht ihm darin offenbar nicht nach: Ausser in bezug auf Bagatellfälle, die am ehesten dem vertrauten Deliktsmuster entsprechen, werden im Umweltstrafrecht auch der Nachbarländer allgemein massive "Vollzugsdefizite"beklagt.

II.

Auf diesen ernüchternden Befund muss die Strafrechtswissenschaft natürlich reagieren. Sie muss die Frage nach möglichen Abhilfen stellen und beispielsweise versuchen, Vorschläge für anders konzipierte, effizientere Strafgesetze zu machen. Dabei allerdings trifft nun auch sie, wie die bisherigen Erfahrungen zeigen, auf erhebliche Schwierigkeiten, die bei näherem Zusehen nicht allein in den zugegebenermassen sehr ausgeprägten Beharrungstendenzen des Juristenstandes begründet sind. Hier kommen vielmehr Grundprinzipien des Strafrechts ins Spiel, um deren Durchsetzung seit mehr als zwei Jahrhunderten gekämpft worden ist und die unverändert ernst genommen zu werden verdienen. Ich möchte das, wie angekündigt, in einem zweiten Schritt dieses Vortrages etwas näher ausführen.

1. Unser heutiges, modern genanntes Strafrecht ist seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in der Auseinandersetzung mit theokratisch-spätabsolutistischen Staatsauffassungen entstanden, die als selbstverständlich in Anspruch nahmen, die Lebensführung der Untertanen umfassend im Sinne vorgegebener Sittennormen zu reglementieren. Prominentestes und folglich umstrittenstes Beispiel für diesen Anspruch war die Bestrafung der Religions- und Sittlichkeitsdelikte, so wenn etwa allgemein die Gotteslästerung

oder, wie noch im Preussischen Allgemeinen Landrecht von 1794 (1069 II 20), "Sodomiterei und andere dergleichen unnatürliche Sünden, welche wegen ihrer Abscheulichkeit", wie es dezent heisst, "hier nicht genannt werden können", mit zum Teil drakonischen Zuchthausstrafen bedroht wurden. Dem setzt die aufgeklärt-liberale, auf John Lockes berühmten "Second Treatise of Government" von 1690 zurückgehende Staatslehre die These entgegen, dass das Gemeinwesen keine andere legitime Aufgabe habe, als die Sicherheit des Einzelnen zu gewährleisten, den Schutz seines Lebens, seiner Freiheit und seines Vermögens 8). Oder, wie es Wilhelm von Humboldt in seinen "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen", 1792 formuliert: Der Staat gehe keinen Schritt weiter, als zur Sicherstellung seiner Bürger "gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist; zu keinem andren Endzwecke beschränke er ihre Freiheit"9). Hier war infolgedessen für Religionsdelikte und sogenannte fleischliche Verbrechen, die Notzucht ausgenommen, kein Platz mehr. Sie sollten nach den Vorstellungen der Aufklärer zu blossen Polizeivergehen herabgestuft werden 10).

An diese Grundauffassung und enger noch an die erstmals 1797 erschienene Rechtslehre Kants hat wenig später Paul Johann Anselm von Feuerbach angeknüpft, der mit seiner zweibändigen "Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts" von 1799/1800 und seinem Strafrechtslehrbuch von 1802 als der Begründer der modernen Strafrechtswissenschaft gilt. Hier findet sich einerseits wieder die Frontstellung gegen den absolutistischen Polizeistaat. Das Recht hat es danach nur mit der äusseren Ordnung zu tun; es geht, wie Feuerbach sagt, "nur auf das Bestehn, die Erhaltung und Wiedererhaltung der äussern vollkommenen Rechte", wohingegen eine Beurteilung nach den "innern moralischen Gesetzen", "die Realisirung der sittlichen Ordnung ganz ausserhalb den Grenzen des Rechts"liegt 11). Das "höchste Princip" aber "für alles, was äusserlich recht ist", besteht zum

andern auch hier allein im Schutz des Einzelnen, darin, wie Feuerbach mit Kant präzisiert, "dass die Freiheit eines jeden mit der Freiheit aller bestehe, dass jeder die freye Ausübung seines Rechts habe, und keiner die Rechte des andern beeinträchtige"12). Von dieser Position aus war es dann auch für Feuerbach kaum mehr möglich, etwa den allgemein als strafwürdig geltenden Geschwisterinzest in dem von ihm verfassten Bayerischen Strafgesetzbuch von 1813, einem der Vorbilder für manche schweizerische Kodifikation des vergangenen Jahrhunderts, angemessen unterzubringen 13).

Solche Ausrichtung des Strafrechts auf den Schutz individueller Interessen ist bis heute einer seiner vorherrschenden Züge geblieben. Wir kennen zwar im geltenden Recht auch eine grössere Zahl von Straftaten gegen sogenannte Gemeininteressen. Aber hier handelt es sich doch, soweit es nicht um Angriffe auf den Staat und seine Einrichtungen geht, zumeist wieder um die Interessen von zunächst nur nicht näher bestimmten Einzelnen, wie bei einer gemeingefährlichen Brandstiftung oder wie bei fast allen Fälschungsdelikten. Und jedenfalls gilt der Bezug des Deliktes auf ein individualisierbares, auf individuelle Interessen rückführbares Rechtsgut ganz überwiegend als das eigentlich massgebende Kriterium für eine legitime Strafgesetzgebung. Von ihm war auch die jüngste Revision des schweizerischen Sexualstrafrechts noch geleitet, wenn sie, wie die bundesrätliche Botschaft von 1985 einleitend betont, dem Grundsatz folgt, "dass nach unserem Staatsverständnis der Bürger selber über sein Verhalten entscheiden soll, sofern er dadurch nicht einen anderen schädigt 14).

2. Kehren wir von hier aus zu unserer Problematik zurück, so wird, wie ich hoffe, zunächst verständlich, weshalb die Diskussion über die von der wirtschaftlich-technischen Entwicklung ausgehende Gefährdung des Ökosystems der Erde weithin als eine Diskussion über die Anerkennung neuer Rechtsgüter geführt wird: wie über die Rechte künftiger Generationen oder über die Rechte der Natur. Denn vieles von dem, was wir als Bedrohung erkennen

oder gar als kaum noch abwendbare Katastrophe voraussehen, lässt sich nicht mehr oder doch nur auf höchst verschlungenen Umwegen auf unmittelbare Interessen der jetzt lebenden Menschen beziehen. Das leuchtet etwa für die Verseuchung der Weltmeere, für den Treibhauseffekt, für Eingriffe in das Erbgut des Menschen, für die Vernichtung ungezählter Tier- und Pflanzenarten usw. auch ohne lange Erörterungen ein. Dass Straftaten Konflikte zwischen Beteiligten darstellen, Tätern und Opfern, die sich in unserer Zeit gegenüberstehen oder gegenübergestanden haben, trifft hier nicht mehr zu. Also scheint kein anderer Ausweg zu bleiben, als die rechtlichen Kategorien, in denen wir seit zwei Jahrhunderten denken, auf neue Rechtssubjekte auszuweiten oder neue Rechtsgüter zu proklamieren. So werden uns, in Verfassungs- oder Gesetzestexten oder in der einschlägigen juristischen Literatur, in bunter Vielfalt als sogenannte Universalrechtsgüter beispielsweise die Naturdenkmäler, die Gewässer, die Luft und sogar die Ruhe 15, die "genetische Vielfalt der Tier- und Pflanzenarten" (wie im neuen Art. 24novies der schweizerischen Bundesverfassung) oder auch die "natürliche Umwelt" des Menschen als solche (Art. 24septies BV) präsentiert.

Ich möchte mich mit diesen Bestrebungen hier nicht prinzipiell auseinandersetzen; das ginge über den Rahmen meines Themas hinaus. Zweierlei ist immerhin in unserem Zusammenhang, im Blick auf die Rolle des Strafrechts, anzumerken. Die neuen Schutzgüter, die nun vorgeschlagen werden, weisen, zum ersten, im Unterschied zu den zumeist klar konturierten Individualrechtsgütern der Tradition keinerlei scharfe Begrenzung auf. Was die Schädigung eines Menschen an Körper oder Gesundheit im Sinne von Art. 123 des schweizerischen Strafgesetzbuchs ist, dürfte jedermann einigermassen klar vor Augen stehen, was eine Gewässerverunreinigung oder gar eine Beeinträchtigung unserer natürlichen Umwelt ist, weiss dagegen, wie schon angedeutet, niemand genauer zu sagen. Der Grund ist leicht einzusehen. Um mit Jürgen

Mittelstrass zu reden: "Eine <unberührte> Natur hat es in der Umwelt des Menschen nie gegeben. Rodend, brennend, jagend, Furchen ziehend, Wasser umlenkend, die Erde nach Bodenschätzen durchwühlend, Müll produzierend", hat der Mensch stets in seine Umwelt eingegriffen, sie genutzt und verändert 16). Das heisst, dass die Benennung neuer Rechtsgüter, anthropozentrisch oder ökologisch oder wie immer begründet, so gut wie nichts zur Beschreibung des strafrechtlich bedeutsamen Unrechts beiträgt. Sie gegen jede Beeinträchtigung schützen zu wollen, wäre offenbar gar nicht möglich. Stattdessen kann es bei ihnen nur auf die Art und Weise oder auf das Ausmass der zulässigen oder unzulässigen Beeinträchtigung ankommen. Darüber aber muss unter ganz anderen Gesichtspunkten entschieden werden, wie beispielsweise danach, ob bestimmte Eingriffe die Regenerationsfähigkeit biologischer Systeme überfordern, ob sie voraussichtlich reversibel sein werden oder nicht und welche Fernwirkungen sie womöglich haben könnten.

Diese Perspektive bedroht das traditionelle Strafrecht in seiner Substanz. Während die Rechtsgutslehre immer auch als wichtige Interpretationshilfe und als kritisches Instrument gegenüber dem Gesetz dienen konnte, sind Strafrechtsdoktrin und -praxis bei der Frage, welche Umweltgüter in welcher Weise in Anspruch genommen oder welche Risiken eingegangen werden dürfen, nahezu vollständig auf Vorgaben aus anderen Quellen angewiesen, auf gesetzliche oder behördliche Entscheide oder auf nur durch den Stand von Naturwissenschaft und Technik fixierte Erfahrungswerte. Auch die differenzierten, rechtsstaatlich bedeutsamen Regeln der strafrechtlichen Zurechnung, die sich sämtlich auf gravierendes, für jedermann einsehbares Unrecht, eben auf eine klare Rechtsgutsverletzung, beziehen, scheinen ohne diesen Bezugspunkt, wie hier nicht näher ausgeführt werden kann, ihren Sinn zu verlieren. Grob gesagt, wäre es offenkundig deplaziert, bei einer Verletzung blosser Verwaltungsdekrete von Schuld und Sühne zu reden. Es kann

daher nicht überraschen, wenn gewichtige Stimmen innerhalb der Strafrechtswissenschaft nur noch mit Abwehr reagieren, das heisst für den Rückzug des Strafrechts auf seinen klassischen Anwendungsbereich eintreten und alles weitere, die Auseinandersetzung mit den Grossrisiken der technischen Zivilisation, die uns hier beschäftigen, auf andere Rechtsgebiete oder auf ökonomische Massnahmen abschieben wollen 17). Die Insuffizienz des Strafrechts, von der wir in dieser Stunde ausgegangen sind, wäre als unabänderlich hinzunehmen.

III.

Spätestens an dieser Stelle scheint mir nötig, wenigstens grundsätzlich zu sagen, worauf ich mit meinen Überlegungen hinauswill: nämlich auf die These, dass jene resignative Schlussfolgerung weder zwingend noch auch nur wünschbar ist. Dabei steht natürlich das Empfinden im Hintergrund, dass es ein Armutszeugnis sondergleichen wäre, auf die Strafe als die schärfste Waffe, über die das Gemeinwesen bei der Durchsetzung sozialer Normen verfügt, gerade dort zu verzichten, wo es um Bedrohungen einer völlig neuen Dimension geht, wo Lebensinteressen nicht mehr nur des Einzelnen, sondern buchstäblich der Gesamtheit als solcher auf dem Spiel stehen. Dieses Empfinden allein kann die These freilich nicht rechtfertigen. Mir scheint deshalb nötig, den Bogen der Erörterung in einem dritten und letzten Schritt noch etwas weiter zu spannen.

1. Die ausserordentliche Gefährdung des Ökosystems der Erde, um deren Abwehr es geht, ist ihrerseits, wie wir alle wissen, eine der Konsequenzen des gigantischen Wirtschaftswachstums der letzten zwei- bis dreihundert Jahre, besonders in den Industrienationen der westlichen Hemisphäre. Dessen Wurzeln wiederum liegen in zwei einander ergänzenden epochalen Prozessen. Es war das einerseits

der vor allem auf Descartes zurückweisende Aufstieg der wissenschaftlich-technischen oder, wie wir heute eher sagen würden, der instrumentellen Vernunft zur beherrschenden Form der abendländischen Rationalität. Es war zum anderen die schrittweise Durchsetzung individueller Freiheiten, wie sie zuerst Locke in seiner schon zitierten zweiten Abhandlung über die Regierung proklamiert hatte. Beidem entspricht, mit der cartesianischen Gegenüberstellung von res cogitans und res extensa, das Bild eines Menschen, der alles auf sich selbst bezieht, dem von Locke nicht nur die vollkommene Freiheit zugesprochen wird, über seine Person und seinen Besitz so zu verfügen, wie es ihm am besten scheint, sondern der auch die Erde und alles, was auf ihr ist, als für ihn, für seinen Unterhalt und für den Genuss seines Daseins, bestimmt sieht 18). Dieses Bild des Menschen als des Herrn seiner selbst und der Natur prägt unser Denken bis zur Gegenwart, und mit ihm die "klassische"Grundkonzeption des Strafrechts, die ich zuvor skizziert habe.

Wenn heute, ungeachtet aller Meinungsverschiedenheiten im einzelnen, kein vernünftiger Zweifel mehr daran bestehen kann, dass die auf solche Weise begründete technisch-ökonomische Entwicklung in eine radikale Krise geraten ist, dass wir, simpel gesagt, so wie bisher nicht weitermachen können, dann schliesst diese Einsicht die Aufforderung tiefgreifenden Umdenkens ein. Nicht nur, "dass das 21. Jahrhundert", um Ernst Ulrich von Weizsäcker zu zitieren, "von seinem Beginn an unter dem Eindruck einer von Menschenhand ausgeraubten, im Kern gefährdeten und teilweise zerstörten Natur stehen wird"19). Es wird auch davon Abschied nehmen müssen, diese Natur, wie es sogar im Begriff der Umwelt noch geschieht, immer und ausschliesslich auf den Menschen als ihren Mittelpunkt, auf seine Interessen und Bedürfnisse, zu beziehen. Dass instrumentelles Denken allein die Bedrohung abwenden könnte, die es heraufbeschworen hat, halte ich für einen fatalen Irrtum. Wir werden stattdessen lernen müssen, die

schroffe Gegenüberstellung von Mensch und Natur zu überwinden, den Menschen nicht mehr als das Andere der Natur zu sehen, die er bis ins Letzte begreifen und beherrschen könnte, sondern als Teil eines grösseren Lebenszusammenhanges, der sie beide umschliesst, dem also auch er mit Haut und Haaren angehört. Es wird darum gehen, mit einem weiteren Zitat gesagt, "der Natur eher die Rolle eines Bruders als die eines Ausgebeuteten zuzugestehen", wie es, als Jurist, Laurence Tribe schon vor fast zwanzig Jahren in einer klugen Abhandlung formuliert hat, die den reizvollen Titel trägt: "Was spricht gegen Plastikbäume?"20).

2. Man kann natürlich einwenden, dass dies alles noch relativ vage Vorstellungen sind. In der Tat ist es einfacher, die Vergangenheit auf den Begriff zu bringen als die Gegenwart oder gar eine mögliche Zukunft. Viele werden sich auch, statt den Gedanken an so weitreichende Konsequenzen zu akzeptieren, bis auf weiteres den Glauben bewahren wollen, dass es nur einiger Randkorrekturen am Programm des technisch-ökonomischen Fortschritts bedürfte, um die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Ich betrachte es nicht als meine Aufgabe, für die gegenteilige Überzeugung zu werben. Alles, worauf es im Zusammenhang meines Themas ankommt, ist die Feststellung, dass auch das Strafrecht den soeben angedeuteten grundlegenden Wandel unseres Bildes vom Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zu der ihn umgebenden Natur nachvollziehen muss, wenn es denn künftig im Blick auf die Risikodelikte eine andere, überzeugendere Rolle spielen will als bisher. Was das konkret bedeuten würde, folgt im Grunde schon, sozusagen per Umkehrschluss, aus den Defiziten des gegenwärtigen Rechtszustandes, die hier festzustellen waren. Ansätze zu einer Neuorientierung sind, obwohl weithin noch ohne klares Bewusstsein, auch durchaus schon vorhanden. Nötig wäre deshalb vor allem, sie konzeptionell zu legitimieren und zu verstärken. Ich nenne, unter Verzicht auf alle Einzelheiten, nur einige wichtige Punkte.

An allererster Stelle steht dabei zweifellos das Erfordernis, das Strafrecht aus der Fixierung auf individualisierbare, substanzhafte, statische Rechtsgüter zu lösen. Dass es uns im Blick auf die Gefährdungspotentiale der Zeit praktisch kaum weiterhilft, etwa die "natürliche Umwelt" als Rechtsgut zu deklarieren, habe ich schon zu zeigen versucht. Gleiches gilt für weitere Kreationen wie zum Beispiel das "Recht auf ein nichtmanipuliertes Erbgut", das in einer Empfehlung des Europarates proklamiert wird 21). Demgegenüber sollte der Schwerpunkt des strafrechtlichen Schutzes in diesem Bereich auf den Lebens- oder Funktionszusammenhängen als solchen liegen, das heisst auf der Frage nach der Art oder dem Mass einer Einwirkung, die das prekäre Geflecht der ökologischen oder biologischen Beziehungen auf dieser Erde nicht zu zerstören droht. Damit ist zugleich gesagt, dass es bei den Risikodelikten, anders als bei den klassischen Straftaten, nicht um generelle Eingriffsverbote mit Erlaubnisvorbehalt gehen kann, wie die Juristen das nennen würden — sonst erfüllte jedes Bad im Rhein zunächst den Tatbestand der Gewässerverunreinigung —, sondern gewissermassen um eine Regelung der Umgangsformen mit der Natur, Gebote der Schonung und Rücksichtnahme oder vielleicht sogar des Respekts vor einer unendlich reichen Schöpfung, die mehr als vier Milliarden Jahre der Evolution hervorgebracht haben. Und schliesslich muss das Strafrecht, auch das sollte ausser Zweifel stehen, schon bei der Schaffung der Risikopotentiale ansetzen, bei der Zuwiderhandlung gegen eben die genannten Regeln der vertretbaren Inanspruchnahme von Umweltgütern, unabhängig davon, ob sie im Einzelfalle nachweisbare Schadensfolgen haben oder nicht.

Vielleicht hilft bei alledem der Gedanke, dass das Strafrecht immer auch Normen enthalten hat, die sich mit dem liberalen Konzept eines ausschliesslich dem Individualinteresse dienenden Schutzes nicht vereinbaren liessen. Von den Religions- und Sittlichkeitsdelikten war hier bereits die Rede, die in ihrer früheren

Form natürlich nicht mehr als Muster dienen können. Näher liegt für uns das Beispiel des Straftatbestandes der Tierquälerei. Das vergangene Jahrhundert hat ein entsprechendes Verbot überwiegend noch auf menschliche Interessen zu beziehen versucht, in der Nachfolge von Kant, der Grausamkeit gegenüber Tieren missbilligt hatte, weil sie das Mitgefühl abstumpfe, wodurch, wie er sagt, eine "im Verhältnisse zu anderen Menschen, sehr diensame natürliche Anlage geschwächt und nach und nach ausgetilgt" werde 22). Demgegenüber wird heute allgemein anerkannt, dass es das Tier selbst ist, dem der Schutz gilt, obwohl die Begründung für solchen Schutz nach wie vor einige Verlegenheit bereitet. Von hier aus sollte prinzipiell nicht ausgeschlossen sein, mit dem Strafrecht auch an andere auf den pfleglichen Umgang mit der Natur, auf die Bewahrung natürlicher Lebenszusammenhänge gerichtete Verhaltensnormen anzuknüpfen, wie sie sich im öffentlichen Bewusstsein zunehmend deutlicher herausbilden. Wir empfinden Trauer und Betroffenheit, wenn ganze Tierarten ausgerottet werden, um angebliche Potenzmittel zu gewinnen. Ein Wald, der stirbt, ein Fluss, der zur Kloake wird, verändern unser Lebensgefühl. Das alles hat mit ihrem Nutzen für uns nicht mehr das geringste zu tun. Das heisst, dass sich das Strafrecht bei dem Versuch einer Neuorientierung auf einen Prozess des Umdenkens stützen könnte, der bereits begonnen hat, spätestens mit Rache! Carsons berühmtem Buch "The silent spring" von 1962, der vielleicht aber auch nur bedeutet, eine ursprünglichere Beziehung des Menschen zur Natur wieder stärker zur Geltung zu bringen, eine emotionale Beziehung, die durch die Verengung des Blickwinkels auf das ökonomisch-technische Interesse nie ganz verdrängt werden konnte.

IV.

Die Konsequenz aus allen diesen Überlegungen kann nur sein, auch in der Schweiz für ein Strafrecht einzutreten, das stärker als bisher zur Bewältigung der spezifischen Gefährdungspotentiale unserer Zivilisation beitragen könnte. Ein erster, von den Berner Kollegen Guido Jenny und Karl-Ludwig Kunz verfasster Vorentwurf für ein eigentliches Umweltstrafrecht, wie es Deutschland und Österreich schon seit 1980 beziehungsweise 1987 kennen, liegt denn auch inzwischen vor. Er wird zur Zeit allerdings noch politisch blockiert. Strafbestimmungen, die sich gegen einen Missbrauch der Gentechnologie richten, werden über kurz oder lang folgen. Auch das Thema einer strafrechtlichen Haftung von Unternehmen (und nicht nur von Einzelpersonen), das nunmehr diskutiert wird 23), gehört in diesen Zusammenhang. Gerade wenn man diese Entwicklung prinzipiell befürwortet, besteht jedoch aller Anlass, mit Nachdruck auf die Vorbedingungen hinzuweisen, an die das Strafrecht auch bei einer Öffnung für seine neuen Aufgaben unter allen Umständen gebunden bleiben muss. Ich möchte das abschliessend noch mit einigen Hinweisen verdeutlichen.

Die Strafe, so sagten wir, ist die schärfste Sanktion, über die das Gemeinwesen gegenüber dem Einzelnen verfügt. Das liegt weniger an der möglichen Schwere des strafweisen Eingriffs, als an seiner symbolischen Bedeutung: Was die Strafe von allen anderen Rechtsfolgen unterscheidet, ist das schroffe Unwerturteil, das sich mit ihr verbindet. Ein solches Unwerturteil aber setzt zum ersten unabdingbar voraus, dass dem Betroffenen sein Verhalten als ein Verstoss gegen klare und eindeutige rechtliche Normen vorgeworfen werden kann. Das ist eine der elementaren rechtsstaatlichen Anforderungen, die der Verfassungsrang beanspruchende Grundsatz "Keine Strafe ohne Gesetz" enthält. Daraus folgt, auf die Gefährdungspotentiale bezogen, von denen hier die Rede ist, dass sich gesetzestechnisch vor allem die schwierige Aufgabe stellt,

das Mass der zulässigen Belastung der Umwelt oder eben auch der erlaubten Risiken hinreichend präzis zu definieren. Es kann das offenbar nur, wie die bisherige Erfahrung lehrt, durch eine Kombination von generellen Verhaltensnormen mit Sorgfaltspflichten geschehen, die sich auf bestimmte Gefahrenquellen beziehen. Einzelheiten würden hier zu weit führen. Eine strafrechtliche Haftung kann jedenfalls erst dort in Betracht kommen, wo die so gezogenen Grenzen der zulässigen Belastung oder des erlaubten Risikos überschritten werden. Unsere Gesellschaft schafft die spezifischen Risiken der Gegenwart nicht nur, sie akzeptiert oder toleriert sie auch, um anderer Interessen willen, in gewissen Grenzen, wie das Beispiel der sogenannten Restrisiken etwa bei Atomkraftwerken deutlich genug zeigt, oder sie ignoriert sie einfach mehr oder minder bewusst, wo es uns bei näherer Kenntnis allzu unheimlich werden könnte. Unter diesen Umständen ist es widersprüchlich, um nicht zu sagen unredlich, immer dann Sündenböcke zu fordern, wenn aus einem dieser Risiken folgt, was in ihrer Natur liegt: nämlich der Eintritt eines womöglich katastrophalen Schadens. Das Strafverfahren in Sachen Schweizerhalle, um ein letztes Mal darauf zurückzukommen, ist notabene auch daran gescheitert, dass die Brandverhütungs- und Sicherheitsvorkehrungen am Unfallort dem damals geltenden Standard entsprochen haben.

Noch bedeutsamer ist eine zweite Einschränkung, die aus der besonderen Eigenart strafrechtlicher Sanktionen gefolgert werden muss: Das mit ihnen verbundene Verdikt lässt sich allein dort rechtfertigen, wo eine nicht nur klar definierte, sondern auch gewichtige, normativ stark besetzte Norm in Frage steht. Wir sind beispielsweise kaum geneigt, die Überschreitung einer Geschwindigkeitslimite im Strassenverkehr als einen wirklich kriminellen Akt anzusehen, solange sie nach Lage der Dinge niemanden gefährdet. Wenn die Überschreitung der Grenzwerte für die Einleitung von Schadstoffen in ein Gewässer anders, nämlich als ernste Straftat, behandelt werden soll, dann setzt das die Ausbildung

entsprechend strikter Verbote von grösserer Geltungskraft voraus. Das Strafrecht kann diesen Prozess unterstützen, ihn aber nicht ersetzen. Zu meinen, dass es genüge, eine Strafvorschrift zu erlassen, um ein beliebiges soziales Problem zu lösen, vom Schwangerschaftsabbruch über den Drogenmissbrauch bis zum Fremdenhass, ist nur eine weitere Variante jenes instrumentellen Denkens, mit dessen Folgen wir es hier zu tun haben. Strafbestimmungen sind sekundäre Normen, denen, wenn sie nicht nur eine Alibifunktion erfüllen sollen, konsensfähige Verhaltensregeln immer schon vorausgehen oder doch zugrundeliegen müssen. Das gilt auch im Blick auf die krisenhafte Entwicklung der heutigen Industriegesellschaft. Nur wenn wir als Gesellschaft bereit sind, überkommene Wertmassstäbe zu revidieren, individuelle Interessen wieder ein Stück weit dem Gesamtinteresse unterzuordnen, nicht mehr alles und jedes dem ökonomischen Kalkül zu unterwerfen, kann auch das Strafrecht in dieser Hinsicht eine überzeugendere Rolle spielen als bisher. Ich habe gesagt und bin überzeugt, dass dieser Prozess bereits begonnen hat, auch wenn er noch in den Anfängen steht. Für ihn bleibt aber, wenn nicht alles täuscht, nur noch wenig Zeit. Insofern liegt der eigentliche Schlüssel zu der Problematik, von der in dieser Stunde die Rede war, nicht im Strafrecht und nicht in den Bezirken der zugehörigen Wissenschaft, sondern bei uns allen als Gliedern der Gesellschaft, an die ich die ganze Last einer Lösung am Ende zurückgeben muss.

Anmerkungen