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Den Leuten aufs Maul sehen? Probleme der Bibelübersetzung

Zur Geschichte der beiden traditionsreichsten deutschsprachigen Bibelübersetzungen, der Lutherbibel und der Zürcher Bibel, gehört, dass deren Text alle zwei bis drei Generationen einer Revision unterzogen wird. Für die Zürcher Bibel ist eine solche Revision eben jetzt im Gang. Dies gibt mir die Gelegenheit, Ihnen Einblick zu geben in einige Probleme, die sich im Zusammenhang eines solchen Unternehmens stellen.

Anlass zu einer Revision geben vor allem drei Gründe: Zum ersten der Zuwachs an philologischen Kenntnissen bezüglich der Ursprachen, zum zweiten der Zuwachs an exegetischen und theologischen Einsichten, und zum dritten der Wandel der deutschen Sprache bzw. des Weltverständnisses, das sich in der Sprache ausspricht.

Speziell zuwenden möchte ich mich dem dritten Punkt, der seit etwa 25 Jahren besonders nachdrücklich diskutiert wird: Die traditionellen Bibelübersetzungen, wird gesagt, seien in ihrer Sprache hoffnungslos antiquiert. So spreche doch heute niemand mehr. Und wenn denn für die Bibel eine sachliche Relevanz auch für die heutige Zeit beansprucht werde, müsse ihr Text doch allgemeinverständlich wiedergegeben werden. Schliesslich habe schon Luther postuliert, der Übersetzer solle in seiner Arbeit den Leuten aufs Maul sehen, der Mutter im Haus, den Kindern auf der Gasse und dem gemeinen Mann auf dem Markt. Die Bibel «in heutigem Deutsch», in der «Alltagssprache» unserer Zeit, wurde zum breit vertretenen Postulat.

Das Postulat erscheint plausibel, und der Büchermarkt hat schnell darauf reagiert. Eine ganze Reihe «moderner» Bibelülbersetzungen wurde publiziert, die bekannteste von ihnen ist «Die Gute Nachricht». Doch, ist das Postulat wirklich so plausibel, wie es erscheint? Lassen Sie mich dieser Frage anhand eines Textbeispiels nachgehen.

Im 5. Kapitel des Matthäusevangeliums beginnt, mit einer kurzen, scheinbar völlig unprätentiösen Einleitung, die Bergpredigt.

«Wörtlich» übersetzt im Sinne einer Wort-für-Wort-Übertragung lautet der Text:

«Sehend aber die Volksmenge stieg er auf den Berg,
und er sich gesetzt habend traten seine Jünger zu ihm,
und öffnend seinen Mund lehrte er sie, sprechend: ...»

Dies ist zweifellos nicht Deutsch, das ist Griechisch in deutschen Worten. So reden, würde Martin Luther sagen, nur die Esel und Buchstabisten, nicht aber die, denen der Übersetzer aufs Maul sehen soll. In deutsche Syntax übertragen müsste die Passage etwa lauten:

«Als er aber die Volksmenge sah, stieg er auf den Berg;
und als er sich gesetzt hatte, traten seine Jünger zu ihm,
und indem er seinen Mund öffnete, lehrte er sie, indem er sprach:...»

So ungefähr formuliert die derzeitige Zürcher Bibel. Doch auch so bleibt der Text stilistisch holprig und bietet Anstösse, die neuere Übersetzer ausmerzen möchten. Die «Gute Nachricht» übersetzt:

«Als Jesus die Menschenmenge sah, stieg er auf einen Berg und setzte sich. Seine Jünger traten zu ihm. Dann entfaltete er ihnen seine Botschaft:...»

Der Text liest sich flüssig, er spricht heutiges Deutsch und ist unmittelbar verständlich. Doch um welchen Preis ist diese eingängige Übersetzung erkauft?

Dass die «Gute Nachricht» in der ersten Zeile Jesus als Subjekt einsetzt, das typisch biblisch wirkende nachgestellte «aber» weglässt und aus der «Volksmenge» eine «Menschenmenge» macht, wäre nach stilistischen Gesichtspunkten zu diskutieren. Darauf will ich hier nicht eingehen. Von sachlicher Relevanz ist eine andere, leicht zu übersehende Änderung: Jesus steigt nicht mehr auf den Berg, sondern auf einen Berg. Der Grund für diese Änderung ist leicht ersichtlich: Der Kontext lässt nirgends erkennen, welcher konkrete Berg gemeint ist. Darum steigt Jesus auf einen Berg. Doch selbst so bleibt die Formulierung anstössig. Denn im Gebiet nordwestlich des Sees Genezareth, wo die Szene spielt, finden sich überhaupt keine Berge, sondern nur Hügel; entsprechend unpassend ist auch die sich aus dem Nebeneinander von «Berg» und «steigen» möglicherweise ergebende Assoziation des «Bergsteigens». So formuliert ein anderer Übersetzer ebenso gut umgangssprachlich wie geographisch korrekt: «Er ging auf eine Anhöhe hinauf.»

Doch warum heisst es im Urtext «Er stieg auf den Berg?» Dieser ominöse, nicht näher identifizierte Berg kommt im Matthäus-Evangelium mehrfach vor. Er ist nicht nur der Ort der Jüngerbelehrung wie hier, sondern auch der Ort des Gebetes (14, 23), der Heilungen (15, 29) und der letzten Worte des Auferstandenen (28, 39). Offensichtlich geht es um einen Ort, an dem eine besondere Nähe zum Göttlichen besteht. Zu Recht erinnern die Ausleger an den in vielen Religionen belegten Topos vom Gottesberg, als eben dem Ort, wo Göttliches und Menschliches besonders eng in Kontakt kommen.

Doch es lässt sich noch Konkreteres sagen. Wer die Bibel kennt, den erinnert dieser kleine Satz «Er stieg auf den Berg» an das Alte Testament. Mehr als einmal heisst es dort an theologisch besonders hervorgehobener Stelle (und in der griechischen Übersetzung wörtlich gleich wie hier): «Er stieg auf den Berg» —nämlich Mose auf den Sinai (Ex 19, 3; 24, 18; ähnlich mehrfach). Und Mose stieg auf einen ganz bestimmten Berg: auf den Berg, auf dem die Mitteilung der göttlichen Gebote an das alte Israel erfolgte.

Diese Anspielung lässt erkennen, dass das Matthäus-Evangelium mit seiner auffälligen Formulierung nicht einfach eine geographische Ortsangabe macht, sondern dem Leser indirekt eine eminent theologische Interpretation des Vorgangs mitgibt: Jesus tat, was einst Mose tat. Wie Mose hat Jesus das göttliche Wort zu verkündigen, allerdings nun das des Neuen Bundes. Jesus wird in eine Linie mit Mose gestellt. Die Bezugnahme auf Mose wird nur wenig später expliziert, wo —unter der Formel «Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist..., ich aber sage euch...» — das Wort Jesu an die Stelle des mosaischen Gebotes tritt. Ähnliche Beziehungen zwischen Jesus und Mose deutet das Matthäus-Evangelium auch an anderen Stellen an, z. B. mit den Geschichten vom Kindermord oder der Flucht der Familie Jesu nach Ägypten.

Nicht von Geographie handelt so das Motiv vom Berg, sondern von Theologie: Die Bedeutung Jesu ist in Relation zu der des Mose zu sehen. Soll, darf eine Übersetzung die Möglichkeit, diese Anspielung zu entdecken, einer sogenannt besseren Lesbarkeit des Textes opfern? Aus Zeile 2 löst die «Gute Nachricht» das Sich-Setzen Jesu heraus und zieht es als zweites Motiv der Bewegung Jesu zu Zeile 1. Damit ergibt sich auf der Erzählebene ein plausibler Zusammenhang. Doch warum setzt sich Jesus? Weil er vom Aufstieg müde war?

Im Originaltext ist das Sich-Setzen Jesu mit dem Herantreten der Jünger verbunden: Jesus setzt sich, und die Jünger treten herzu. Im Hintergrund dieser Schilderung steht ein generell antiker, auch jüdischer Brauch, wonach ein Lehrer sitzend lehrt. Die Szenerie ist nicht einer Feldpredigt nachgebildet — welcher Feldprediger würde sich für seine Predigt setzen? — sondern dem Lehren eines Rabbi in der Synagoge. Auch diese kleine Notiz weist indirekt darauf hin, dass die Verkündigung Jesu in eine Relation zur mosaischen Gesetzeslehre gesetzt wird. Soll

diese implizite Sachaussage einer «leichteren Lesbarkeit» geopfert werden?

Ein anderer Übersetzer ersetzt die «Jünger» — ein veraltetes Wort — scheinbar zeitgemäss durch «Schüler». Ist das dem Gemeinten adäquat? Wer sind denn diese «Jünger», die nicht nur in der Bergpredigt, sondern auch in vier anderen grossen Reden Jesu im Matthäus-Evangelium die ersten Adressaten sind? Die Antwort scheint selbstverständlich zu sein: natürlich die Zwölf. Doch im Ablauf des Matthäus-Evangeliums sind bis zu dieser Stelle erst vier von ihnen berufen. Richtet sich die Bergpredigt nur an diese vier?

Die Lösung des Rätsels ergibt sich aus dem Schluss des Matthäus-Evangeliums, nach Luther mit «Matthäi am letzten», wo die Jünger — übrigens wieder auf «dem Berg» —ihren Auftrag erhalten: «Geht hin und machet alle Völker zu Jüngern, indem ihr sie tauft und sie alles halten lehrt, was ich euch geboten habe.» Die Jünger sollen alle Völker zu Jüngern machen. «Jünger» sind für Matthäus nicht nur die Zwölf, auch nicht nur die vier, sondern alle, die —nach der Szenerie der Bergpredigt — «zu ihm treten»; es sind die, die ihm nachfolgen. So wird die Gestalt der Jünger transparent: Auf der Erzählebene repräsentiert durch die historischen Jünger steht eigentlich die gesamte Christenheit vor Jesus auf dem Berg.

«Jünger» in diesem Sinne ist in der Tat kein Wort unserer Alltagssprache mehr. Vielleicht, weil es nicht mehr so viele von ihnen gibt. «Schüler» ist zwar heutiges Deutsch, aber in der Sache inadäquat. Besonders schwerfällig wirkt die dritte Zeile unserer Rohübersetzung, vor allem mit dem Motiv vom Öffnen des Mundes, das leicht falsche Assoziationen wecken könnte. Die «Gute Nachricht» übersetzt relativ frei und, jedenfalls auf den ersten Blick gesehen, sachlich durchaus zutreffend. Andere Übersetzungen bleiben näher beim Text und sagen schlicht: «Er begann zu reden und sie zu lehren». Doch ist damit das Gemeinte zureichend wiedergegeben?

Die Wendung vom Öffnen des Mundes ist auch in der Sprache der Bibel alles andere als Alltagssprache. Sie kommt in der gesamten Bibel kaum zwei Dutzend mal vor, und immer mit einer besonderen Aussageintention. Vom Öffnen des Mundes ist in erster Linie da die Rede, wo ein besonderes, vollmächtiges Wort angekündigt wird. Ich erinnere als Beispiel an jene Szene in der Apostelgeschichte, wo Philippus auf einen Schatzmeister aus Äthiopien trifft (nach Luther: auf einen «Kämmerer aus dem Mohrenland»), der im Jesajabuch liest. Philippus fragt ihn: «Verstehst du auch, was du liesest?» Der Kämmerer muss die Frage verneinen, und dann heisst es: «Indem Philippus seinen Mund öffnete und mit dieser Schriftstelle begann, verkündete er ihm das Evangelium von Jesus» (Apg. 8,53).

Auch an unserer Stelle bezeichnet der Satz «Er öffnete seinen Mund» das Anheben zu einem vollmächtigen Wort: Was im Gesamten der

Bergpredigt folgt, ist nicht irgendein Reden, sondern vollmächtiges Reden, Reden im Namen Gottes. Das bestätigt denn auch die Schlussbemerkung der Bergpredigt, die lautet: «Und es geschah, als Jesus diese Worte vollendet hatte, da erschrak die Volksmenge über seine Lehre. Denn er lehrte sie wie mit Vollmacht und nicht wie die Schriftgelehrten.»

Die auch im Griechischen nicht alltägliche Redeweise verweist auf einen nicht alltäglichen Zusammenhang. Die etwas feierliche Diktion der «Guten Nachricht» lässt davon zumindest noch etwas ahnen. «Übersetzt» man diese Wendung aber in die Alltagssprache («Er begann zu reden»), verschwindet auch die letzte Spur der im Text liegenden interpretierenden Hintergründigkeit.

Mit ihrer freien Formulierung meidet die «Gute Nachricht» gleichzeitig das möglicherweise missverständliche «Lehren».

Doch auch das «Lehren» hat seinen Sachhintergrund. Auch hier wird implizit auf die Mose-Geschichte Bezug genommen. Im 5. Buch Mose (4, 1) leitet Mose an prominenter Stelle, auf dem Gottesberg, seine Gebotsverkündigung ein mit dem Satz: «Und nun höre, Israel, die Satzungen und Rechte, die ich euch lehre, dass ihr darnach tut.»

Die alttestamentliche Passage stammt aus jener Zeit der altisraelitischen Religion, in der das Halten der Gebote zum zentralen Inhalt des Gottesglaubens geworden war. In der Fluchtlinie dieser Tradition steht Matthäus, wenn er die Verkündigung Jesu als «Lehre» bezeichnet. Auch diese Hintergründigkeit der Beziehung zwischen Mose und Jesus sollte eine Übersetzung nicht ohne Not zum Verschwinden bringen.

Blicken wir auf den Textabschnitt insgesamt, ergibt sich, dass der Text, wenn man ihn beim Wort nimmt, nicht lediglich einen Vorgang schildert, der äusserlich zur Bergpredigt führte. Er gibt vielmehr —in die knappe Erzählsequenz gekleidet — eine grundsätzliche theologische Interpretation des nun in der Bergpredigt Folgenden. Was Jesus zu verkünden hat, ist vor dem Hintergrund der mosaischen Tradition zu sehen, und Jesus verfügt über eine Vollmacht, die nur mit derjenigen des Mose vergleichbar ist. Die Formulierungen bergen eine Hintergründigkeit in sich, die über die Szenerie jenes Hügels beim See Genezareth weit hinausgeht. Eine Übersetzung, die sich zugunsten einer «leichteren Lesbarkeit» auf die blosse «Story» beschränkt, lässt einen wesentlichen Aspekt des Textes verlorengehen.

Auf diese Einleitung folgen die sogenannten Seligpreisungen. Dass sich hier die Probleme noch zuspitzen, ist zu erwarten. Ich beschränke mich auf einige Bemerkungen zur ersten in dieser Reihe.

«Selig die in bezug auf den Geist Armen,
denn ihrer ist das Reich der Himmel»

— so lautet die «wörtliche» Übersetzung der ersten Seligpreisung. «Selig». Kann man heute noch «selig» sagen? Viele Übersetzer haben

Alternativ-Formulierungen vorgeschlagen: «Wohl denen, die...», «Gut gehen soll es denen, die...», «Heil denen, die...», «Glücklich sind, die...», «Freuen dürfen sich, die...», oder «Aufrecht gehen sollen alle, die...» Restlos überzeugend ist keine dieser Formulierungen. Warum nicht?

Im klassischen Griechisch war makarios, «selig», ein Attribut der Götter. Die Götter sind selig, sie sind unsterblich, all den Mühen und Nöten der Welt und deren Sorgen enthoben; und das galt als «Leben» im wahrsten Sinne des Wortes. Übertragen wurde das Attribut auch auf die Verstorbenen. Bekannt ist die Vorstellung von der «Insel der Seligen». Die Verstorbenen sind «selig», weil sie — und erst sie — unmittelbaren Anteil an der Sphäre des Göttlichen haben. In der Formel vom «Grossvater selig» kannte das noch die Alltagssprache unserer Grosseltern.

Dieses Konnotationsfeld steht im Hintergrund der Seligpreisungen. Auch hier steht «selig» für «Leben» im Vollsinn des Wortes. In der Tat: Wer «selig» ist, der ist glücklich, der darf sich freuen, dem geht es gut, vielleicht kann man auch sagen, der könne aufrecht gehen. Das alles umfasst «selig» auch.

Doch allen diesen Begriffen und Übersetzungen fehlt das, was dem ursprünglichen «selig» am wichtigsten war: dass damit nicht ein innerweltlich begründetes Wohlergehen gemeint ist, sondern dass «selig» in erster Linie die Teilhabe am göttlichen Einflussbereich aussagt.

«Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen», verkündet Jesus, und nichts anderes als ebendiese Nähe Gottes wird mit der «Selig»-Preisung den Angeredeten, den Armen, Elenden, Trauernden, Verfolgten unmittelbar zugesprochen. Doch genau das und damit das für den Urtext Entscheidende — fällt bei den neueren Übersetzungsvorschlägen weg, weil sie mit ihrer innerweltlichen, alltäglichen Sprache die Perspektive auf die mitgemeinte Transzendenz nicht mehr offenhalten.

Daran zeigt sich ein weiteres Grundproblem der Bibelübersetzung: «Selig» ist in der Tat kaum mehr ein Begriff unserer Alltagssprache. Und warum nicht? Weil die damit ausgedrückte Sache unserer Alltagserfahrung fremd geworden ist. Unsere Alltagswahrnehmung sieht die Wirklichkeit in aller Regel ohne die göttliche Dimension; darum gibt es für «selig» in der Alltagssprache keinen adäquaten Begriff. Das Sprachdefizit ist letztlich Ausdruck eines Sachdefizits.

In seiner Konsequenz heisst das: Die Forderung, die Bibel in die heutige Alltagssprache zu übersetzen, ist letztlich der Sache nach unerfüllbar, eigentlich ein Widerspruch in sich selbst. Wer die Bibel konsequent in die Alltagssprache überträgt, der streicht aus ihr gerade das, worauf es ihr ankommt: die Öffnung der Wirklichkeitserfahrung und ihrer Sprache auf den Bereich der Wirklichkeit Gottes. Die Widerständigkeit der Formulierung ist nicht in erster Linie eine Widerständigkeit der Sprache, sondern eine Widerständigkeit der Sache.

«Selig die in bezug auf den Geist Armen.» Was heisst das eigentlich?

Einfacher zu erklären —und zu übersetzen —ist die Parallele im Lukas-Evangelium, wo es kürzer heisst: «Selig die Armen.» Dort sind zweifellos die materiell Armen gemeint, denen die Anteilhabe am Gottesreich zugesagt wird. Doch «die in bezug auf den Geist Armen»? Welcher «Geist» ist gemeint, ihr eigener Geist oder der Geist Gottes? Wahrscheinlich ist beides im Blick: die, die mit ihrem Geist und ihrer Weisheit am Ende sind und gleichzeitig vom Geist Gottes nichts verspüren. Beides zusammengenommen spricht von Menschen, die Gott gegenüber nichts vorzuweisen haben und nichts anderes als nur entgegennehmen können. Wie soll man dann übersetzen? Neuere Vorschläge sind:

Selig sind die Armen, die ohnmächtig sind ohne Gott und alles von
ihm erwarten
alle, die mit leeren Händen vor Gott stehen
die arm sind vor Gott
dië, wo mit irer Gschydi am Änd sind
die betteln nach dem lebendigen Geist, der heiligen Geistin

Dies alles sind (vielleicht) mögliche Formulierungen; aber es sind Umschreibungen, Paraphrasen. Für alle kann man Gründe anführen, für manche auch Gegengründe. Doch wie kann «übersetzt» werden, so dass die Offenheit des Urtextes, die den Leser zur eigenen Auseinandersetzung mit dem Text herausfordert, beibehalten wird?

Was für den Begriff «selig» galt, gilt hier noch viel mehr: Wir haben für die Befindlichkeit, die der Text anspricht, in unserer Sprache keinen entsprechenden Begriff — und die deutsche Sprache hielt wohl auch zu Luthers Zeiten keinen bereit. Die Wendung «geistlich arm» dürfte er selbst gebildet haben: als ungewohnten Begriff für eine ungewohnte Sache. Eine Übersetzung in die Alltagssprache ist unmöglich, sie kennt die Sache nicht.

Eine weitere Auffälligkeit: Der Satz «Selig, die in bezug auf den Geist Armen» hat kein Verb. Da das Deutsche solche Nominalsätze kaum kennt, wird meist eines hinzugefügt. Luther: Selig sind, die da geistlich arm sind», Zürcher Bibel: «Selig sind die geistlich Armen.» Das erscheint plausibel, und es korrespondiert mit der Formulierung des Nachsatzes:

«Selig sind die geistlich Armen,
denn ihrer ist das Reich der Himmel.»

Die Lukas-Parallele zeigt allerdings, dass die Dinge komplexer liegen. Der dortige Text lautet:

«Selig die Armen,
denn euer ist das Reich Gottes»

—wobei dann im Vordersatz zu übersetzen ist: «Selig seid ihr Armen.»

Die matthäische Fassung «Selig sind die geistlich Armen» klingt wie eine Beschreibung, wie ein Satz religiöser Weisheit: So ist es, dem kann man zustimmen —oder auch nicht.

Die lukanische Version «Selig seid ihr Armen» aber ist nicht Beschreibung, sondern Anrede — und mehr noch: Zuspruch. In der Vollmacht dessen, der da spricht, wird den Armen, die ein scheinbar unseliges Leben fristen, die Seligkeit unmittelbar zugesprochen. Sie können sich, hier und heute, selig, als unter der besonderen Zuwendung Gottes wissen. Durch den Vollzug der Zusage wird die Seligkeit der Angesprochenen realisiert. Die Sprachwissenschaft spricht in solchen Fällen von performativer Sprache.

Daran zeigt sich ein weiteres Charakteristikum der biblischen Sprache, die von den Übersetzern mitbedacht werden muss: Die biblische Sprache ist auf weite Strecken nicht einfach mitteilende, informierende Sprache, sondern anredende und zusprechende Sprache, die dem Angeredeten durch das Wort eine neue Wirklichkeit eröffnet und schafft. Insofern vermittelt die Bibel nicht einfach eine «Gute Nachricht», sondern —eben antiquiert ausgedrückt —eine «frohe Botschaft».

Wahrscheinlich erinnert auch bei Matthäus die knappe Formulierung im Vordersatz noch daran, dass es sich hier um unmittelbar wirksame Sprache handelt. Allerdings bringt die dritte Person im Nachsatz doch eine leichte Tendenz zum Feststellenden. Doch dies in einer Jüngerbelehrung, gerichtet an solche, die diesen Zuspruch bereits gehört haben. Dem, der diesen Zuspruch empfangen hat, wird er zur allgemeinen Wahrheit.

Es spricht einiges dafür, dass die lukanische Variante ursprünglicher ist und näher beim Wort des historischen Jesus steht. Das heisst: Es lässt sich eine Sprachdifferenz erkennen zwischen der Ebene Jesu, auf der die Seligpreisungen Zuspruch waren, und der Ebene des Evangelisten, auf der sie zu Glaubensgrundsätzen der «Jünger», der christlichen Gemeinde geworden sind —und in diesem Sinne zur «Lehre», wie es die Einleitung der Bergpredigt formuliert. Wie soll die Übersetzung mit diesem Phänomen umgehen? Sollte sie diese Hintergründigkeit nicht zumindest noch erkennbar lassen?

Die Seligpreisung endet mit dem Nachsatz: «denn ihrer ist das Reich der Himmel.» Es ist eine ungewöhnliche Formulierung; auch sie birgt eine lange Reihe von Einzelproblemen in sich, auf die ich hier nicht eingehen will. Inhaltlich sagt sie den Armen bzw. den geistlich Armen zu, dass sie am Bereich der göttlichen Wirksamkeit teilhaben.

Die «Gute Nachricht» übersetzt: «denn sie werden Gottes Volk sein, wenn er sein Werk vollendet.» Ein anderer Übersetzer formuliert: «denn sie werden mit Gott herrschen».

Beide Übersetzungen verwenden futurische Formulierungen. Damit wird die Seligpreisung zu einer Art Verheissung. Selig sind die Armen, weil sie dann einmal, im Zeitpunkt der Vollendung, am Reich Gottes teilhaben können.

In der Tat kennt die christliche Tradition die Erwartung einer kommenden Herrlichkeit. Doch hier steht im Urtext das Präsens: «ihrer ist

das Reich der Himmel». Dies ist von höchster theologischer Bedeutung; denn ein wesentlicher Grundtenor vieler Überlieferungen, die auf Jesus selbst zurückgehen, besteht darin, dass die von Jesus Angesprochenen gerade nicht auf jene Zeit zu warten haben, sondern schon in dieser Zeit in den Herrschaftsbereich Gottes eingeschlossen sind. Diese zentrale neutestamentliche Botschaft sollte eigentlich durch eine Übersetzung nicht verdeckt werden.

Ein weiteres Problem der Übersetzung der Seligpreisungen möchte ich wenigstens noch andeuten.

In der Auslegung der Seligpreisungen wird breit diskutiert, ob und, wenn ja, wieweit die Seligpreisungen als ethische Anweisung zu verstehen sind.

In V. 5 heisst es: «Selig sind die Sanftmütigen». Neuere Übersetzungen schlagen vor:

Selig sind, die geduldig sind und hoffen.
die nicht aufbegehren.
die auf Gewalt verzichten.
die keine Gewalt anwenden.
alle, die Gewalt ablehnen:

In dieser Reihung gelesen werden die Übersetzungsvorschläge einerseits immer konkreter, verändern sich andererseits aber auch in ihrer Sach-Aussage Schritt für Schritt. Werden bei den ersten Vorschlägen die seliggepriesen, die keine Macht haben und in der Situation der Machtlosigkeit stehen und nur noch entgegennehmen können, sind es bei den letzten die, die keine Gewalt anwenden bzw. die Gewalt ablehnen, d. h. etwas bestimmtes tun oder nicht tun. Setzte die Seligpreisung im letzteren Sinne eine Leistung des Menschen voraus, wäre die erste Seligpreisung, wie auch schon vorgeschlagen wurde, zu übersetzen mit «Selig sind, die mit willigem Geist arm sind».

Auch hier dürfte sich von der Ebene Jesu zur Ebene der Evangelisten eine Akzentverschiebung vollzogen haben. Es ist anzunehmen, dass jedenfalls auf der Ebene Jesu die Seligpreisung nicht auf der Voraussetzung bestimmter Handlungsweisen beruht. Bei Jesus geht es gerade nicht um den Aufruf, durch ein Tun arm, trauernd, sanftmütig zu werden; es geht gerade nicht darum, Leistungen zu erbringen, um seliggesprochen zu werden. Seliggesprochen werden vielmehr die, die in einer Welt des Handelns unter die Räder gekommen sind und nurmehr durch Gottes Zuwendung Rettung erfahren können. Dass daraus auch Handlungen erwachsen, ist wohl mitgemeint, doch nicht als Voraussetzung des Zuspruchs der Nähe Gottes, sondern als deren Konsequenz.

Andererseits gibt es Anzeichen dafür, dass der Verfasser des Matthäus-Evangeliums, rund 40 Jahre nach Jesu Tod, die Seligpreisungen bereits anders, auch als ethischen Anspruch, verstanden hat — wie

insgesamt die Botschaft Jesu als «Lehre» ähnlich dem mosaischen Gebot. Welche Ebene soll der Übersetzer übersetzen? Oder soll er eine Übersetzung finden, die diese Mehrschichtigkeit noch erkennen lässt?

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss die gemachten Beobachtungen und Überlegungen noch in einem etwas grundsätzlicheren Zusammenhang bedenken.

Was ist zu übersetzen? Zu übersetzen ist ein Text, der eine Aussage vermitteln will, und eine Übersetzung hat ihr Ziel erst dann erreicht, wenn es ihr gelingt, diese Aussage zum Verstehen zu bringen.

Die Aussage eines Textes lässt sich aus der Lexikonbedeutung der Wörter allein nicht erheben, auch nicht allein aus deren Bedeutung im Kontext der jeweiligen Texteinheit. Wörter und Sätze sind immer nur Abbreviaturen für sehr viel weitere Assoziations- und Konnotationsbereiche — sowohl auf seiten des Textes bzw. dessen Autors als auch auf seiten des Lesers.

Die Frage, wie sich aus Wörtern und Sätzen Aussagen ergeben, rührt an die Grundfragen dessen, was Sprache überhaupt ist und was sie leisten muss —und kann. Und in der Arbeit eines Übersetzers spitzen sich diese in besonderer Weise zu.

Im alltäglichen Gebrauch ist die Sprache in erster Linie Transportmittel für Informationen. Sie vermag diese Aufgabe auch gut zu erfüllen, weil und solange sie sich auf ein zwischenmenschlich anerkanntes Inventar nicht nur von Wörtern und Sätzen, sondern auch von Sachen, Sachverhalten und Denkweisen beziehen und damit umgehen kann. Verantwortlich verwendet wird die Sprache in diesem Rahmen gut und schnell allgemeinverständlich sein, und darum bietet auch z. B. die Übersetzung eines Wetterberichtes, einer Bahnhofdurchsage oder einer Zeitungsnachricht keine besonderen Probleme. Wird diese Alltagssprache aber bewusst oder unbewusst zur ausschliesslichen Sprachnorm gemacht, sind Texte wie die der Bibel nicht mehr möglich, die von der ihr eigenen Aussage her darauf angelegt sind, ebendiesen Rahmen des Alltäglichen zu sprengen.

Die Alltagssprache stösst allerdings schon sehr viel früher an ihre Grenze: wenn der Text einem für den Leser fremden, nicht unmittelbar zugänglichen Konnotationsfeld entstammt, was z. B. bei alten Texten zwangsläufig der Fall ist. Die Wörter lassen sich zwar auch dann übersetzen, doch ob sie noch die gleiche Sachaussage vermitteln, kann zweifelhaft werden. «Lehre» bedeutet im Matthäus-Evangelium nicht dasselbe wie an der heutigen Universität oder in der Berufsausbildung. Hier ist die Übersetzung überfordert: Um zum Verstehen zu führen, bedarf sie zusätzlich der Interpretation, der Auslegung —wie ich auch zu unserem Textbeispiel einiges an Information liefern musste. Wollte eine Übersetzung die gesamte Interpretation verarbeiten, würde sie zur (zeitbedingten) Paraphrase —und wohl in kürzester Zeit veralten.

Die Botschaft der Bibel fordert die Sprache aber noch grundsätzlicher heraus. Sie bedarf einer Sprache, die grundsätzlich mehr leistet, als nur vorhandene Wirklichkeit zu benennen, zu ordnen und dadurch verfügbar zu machen. Es gibt Wirklichkeiten, die nur und erst durch die Sprache konstituiert werden. In unserem Textbeispiel: Eine theologische Linie von Mose zu Jesus liegt nicht «objektiv», ausserhalb der Sprache vor, sondern wird erst und nur durch die Sprache konstituiert. Generell gilt das für alle geistigen Wirklichkeiten, für Denkweisen, Vorstellungen, Weltanschauungen —und auch für religiöse Überzeugungen. Sie werden erst und nur durch die Sprache konstituiert. Gerade die biblische Sprache, die darauf zielt, die alltägliche Welt transparent zu machen auf einen noch weit umgreifenderen Wirklichkeitszusammenhang, kann auf diese Möglichkeit der Sprache nicht verzichten.

Diese Sprache ist unabdingbar, wenn aus der Verständigung Verstehen erwachsen soll, Verstehen nicht nur von Sprache, sondern Verstehen durch Sprache. Dieser Möglichkeit der Sprache bedarf nicht nur die Bibel, sondern auch die Literatur und die Dichtung insgesamt. Und dass zwischen ihr und dem Alltagsdeutsch Welten liegen können, zeigt schon die hypothetische Frage, was wohl herauskäme, wenn jemand Goethes Faust oder Gedichte von Nelly Sachs in die Alltagssprache übersetzen sollte.

Sprache konstituiert aber nicht nur Sichtweisen und Vorstellungen, sondern auch Relationen. Die biblischen Texte wollen Glauben vermitteln. Sie wollen mit dem Leser in Beziehung treten. Nicht nur darin, dass er von den biblischen Texten angesprochen, getröstet, ermutigt oder vielleicht auch einmal zu etwas angewiesen werden soll, sondern auch und vor allem darin, dass er durch sie herausgefordert wird, sich ihrer Aussage auszusetzen und gegebenenfalls ein neues Verstehen zu gewinnen. Es ist nicht nur der Leser, der den Text auslegt, es ist ebenso der Text, der den Leser auslegt und ihn in einen neuen Wirklichkeitszusammenhang stellt. Dies wird sich nicht zuletzt dahingehend auswirken, dass der Leser eine neue Sprache zu lernen hat, die über seine Alltagssprache hinausgehen wird.

Auf die höchste Stufe gelangt die relationale Funktion der Sprache da, wo die Sprache als Zuspruch unmittelbar neue Wirklichkeit schafft. Wie in der Urteilsverkündigung eines Gerichtes durch den Urteilsspruch nicht lediglich mitgeteilt wird, was als Recht anzusehen sei, sondern die neue geltende Rechtswirklichkeit unmittelbar konstituiert wird, wird durch das «Selig seid ihr» die neu geltende, sagen wir: «Gnadenwirklichkeit» konstituiert. Davon müsste eigentlich selbst die Alltagssprache noch wissen. Der Satz «Ich liebe dich», im richtigen Augenblick gesprochen, ist nicht lediglich Mitteilung oder Information über Liebe, sondern unmittelbarer Ausdruck der Liebe selbst.

Eine heutige Relevanz der Bibel wird nicht dadurch gewährleistet, dass ihr Text der heutigen Duden-Grammatik entspricht. Notwendig ist

vielmehr, dass der Leser und die Hörerin die vielfältigen Sprachformen der Sprache kennen und sie wahrzunehmen verstehen.

Den Leuten aufs Maul sehen? Mit dieser Formulierung machte sich Luther zum Anwalt des Lesers gegenüber der Vorherrschaft des Latein und der damaligen latinisierenden Kanzleisprache. Gleichzeitig und vor allem hörte er aber auf das Wort und durch das Wort auf die Sache des Textes. So sah er nicht nur den Leuten aufs Maul, sondern er legte ihnen auch neue Worte, eine neue Sprache in den Mund. Er schuf seinerzeit eine deutsche Bibelsprache, die der Sprache der Bibel in der Sache zu entsprechen vermochte. Das eigentliche Problem einer heutigen Bibelrevision liegt nicht darin, dass sich die deutsche Sprache in ihrer Formenlehre, Syntax und Semantik seit der Reformationszeit verändert hat, sondern darin, dass die neuzeitliche Instrumentalisierung und Säkularisierung unseres Wirklichkeitsverständnisses und unseres Weltverhältnisses unsere Sprache und unsere Sprachkompetenz hat verarmen lassen. Und das verführt uns in einem circulus vitiosus dazu, auch unsererseits mit der Wirklichkeit weitgehend nur noch instrumental umzugehen. Nicht die Kanonisierung einer verarmten Sprache ist angesagt, sondern die Bemühung um einen Sprachgewinn.

Eine Bibelübersetzung allein kann dies nicht leisten. Aber sie sollte es auch nicht verhindern. Ich präsentiere Ihnen zum Schluss ohne weiteren Kommentar die Übersetzung unseres Beispieltextes, wie sie die neutestamentliche Sektion der Zürcher Bibelrevision vorschlägt: Die Übersetzung ist völlig unspektakulär, sie beantwortet die Fragen, die der Text selbst stellt, nicht, sondern lässt sie sichtbar bleiben. Sie gibt sie an die Leserinnen und Leser weiter und fordert sie zur eigenen Auseinandersetzung mit ihnen heraus.

«Als er aber die Leute sah, stieg er auf den Berg;
und als er sich gesetzt hatte, traten seine Jünger zu ihm.
Und er tat seinen Mund auf und lehrte sie:
Selig die Armen im Geist —
ihnen gehört das Himmelreich.»


I

Die Universität (und das Arbeitszimmer des Rektors) vom Turm der Predigerkirche aus gesehen. (upd)