«Steht die Wissenschaft mit dem Leben im Widerspruch, hat stets das Leben recht»
Wissenschaft und Naturgesetze
«Steht die Wissenschaft mit dem Leben im Widerspruch, hat stets das Leben recht!» Justus von Liebig, der deutsche Professor der Chemie, im Jahre 1803 in Darmstadt geboren und 1873 in München verstorben, hat diesen Satz vor rund 125 Jahren geschrieben, in einem seiner Werke, die sich mit Forschungen auf dem Gebiete der organischen Chemie befassten.
Es ist nicht mehr zu eruieren, ob besondere Erfahrungen, über seine engere wissenschaftliche Tätigkeit hinaus, zu diesem auf uns sehr absolut wirkenden Postulat geführt haben. Vielleicht die Erfahrung schlechthin, dass sich «eherne», d. h. sogenannt unveränderliche Naturgesetze, mühsam entwickelt und möglicherweise auch gegen Widerstand verteidigt, immer wieder auch als falsch erwiesen haben.
Wir wissen doch: Die Sonne dreht sich nicht um die Erde, das Molekül ist keineswegs das kleinste Teilchen der Materie, die Regenerationsfähigkeit der Gewässer ist alles andere als unbegrenzt. Menschen haben zu allen Zeiten die Natur beobachtet, die Berge, die Gletscher, die Gesteine, den Sternenhimmel, haben nach Gesetzmässigkeiten, nach der Wahrheit gesucht und sich trotz allem Bemühen um Objektivität im Urteil immer wieder getäuscht und immer wieder getreu der neuen Erkenntnisse besser, präziser zu erklären gesucht.
In Johann Peter Eckermanns «Gesprächen mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens» meint der Dichterfürst: «Die Natur versteht gar keinen Spass, sie ist immer wahr, immer ernst, immer strenge; sie hat immer recht, und die Fehler und Irrtümer sind immer die des Menschen.» Welche Parallelität in den Überlegungen! «Die Natur hat immer recht», sagt Goethe. «... hat stets das Leben recht», meint Justus von Liebig. «Die Fehler und Irrtümer sind immer die des Menschen», lässt Goethe seinen Gesprächspartner wissen. Menschen also, die irren, Menschen aber auch, welche die Wissenschaft tragen, lehren, fortentwickeln, unter Einsatz erheblicher physischer Kräfte und sachlicher Mittel, Menschen, welche die Wissenschaft zu fördern versuchen, oft unter Übernahme grosser persönlicher Opfer. Da ist weder von 36-Stunden- noch von 3-Tage-Woche die Rede, in den Laboratorien und Instituten nicht und nicht in den Spitälern. Und doch sind Fehlerpotentiale immer gegeben. Deshalb regt die These von Justus von Liebig zum Nachdenken an und eröffnet Möglichkeiten zu spekulativen Überlegungen, gerade auch in Kreisen der Sozial- und Geisteswissenschaftler, zu deren Arbeitswelt Justus von Liebig aufgrund seines eigenen Wirkens möglicherweise weniger Bezug hatte und mit seiner These wohl eher seine eigenen Fachkollegen ansprechen wollte.
Der Wissenschaftler und sein Leben
Von Liebig, ursprünglich Apothekerlehrling und dann Student in Bonn, Erlangen und Paris, war von Anbeginn dem Praktischen sehr zugewandt. Mit Förderung durch Alexander Freiherr von Humboldt, der durch eigene Forschungsbeiträge zur Meeres-, Wetter-, Klima- und Landschaftskunde fast alle Naturwissenschaften der damaligen Zeit anregte, wurde er schon mit 21 Jahren Professor der Chemie in Giessen. Durch mustergültigen Ausbau seines Laboratoriums machte er Giessen zu einem Mittelpunkt des chemischen Studiums. 1852 folgte er einem Ruf nach München, wo er dann vorwiegend schriftstellerisch tätig war. Neben seinem tiefgreifenden Einfluss auf die Form des chemischen Studiums förderte er die organische Chemie durch Untersuchungen über Radikale wie Benzoe- und Harnsäure und die Entwicklung neuer Stoffe wie Chloroform und Chloral. Später beschäftigte er sich besonders mit Fragen der Ernährung von Pflanze und Tier. Seine nachdrückliche und —wie heute bekannt ist — etwas einseitige Befürwortung der Mineraldüngung schuf neue Grundlagen der Agrochemie und brachte eine ungeahnte Ausweitung der Ernährungsbasis. Zur Verbesserung der menschlichen Ernährung regte er die Gewinnung von Fleischextrakt an, lange bevor man von Maggi- oder
Knorr-Produkten sprach. Auf deutschen Märkten werden heute Liebig-Produkte nach wie vor geführt.
Bei seinen Reflexionen zum Spannungsverhältnis zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und den Realitäten des Lebens hat er sich zweifellos von seinen naturwissenschaftlichen Experimenten leiten lassen und von der Erfahrung, dass die Natur nicht als Phänomen betrachtet werden darf, welches auf gottgegebene Regeln verpflichtet worden wäre. Deshalb gibt es die Naturgesetze nur aus der Sicht des Menschen, so, wie er sie aus seinen Beobachtungen und wissenschaftlichen Experimenten ableitet, in all seiner ihm eigenen Unvollkommenheit mit seinen begrenzten intellektuellen und methodischen Möglichkeiten. Entsprechend mangel- und fehlerhaft sind folglich die Ergebnisse, von denen die Wissenschaft für uns ständig neue zutage fördert und am Ziel ist sie wohl nie. Und wenn wir fragen, ob denn die Wissenschaft unser Leben beeinflussen und sich unterordnen kann, dann ist doch festzustellen, dass wir wissenschaftliche Erkenntnisse —sofern wir sie überhaupt registrieren — nur dann als wahrscheinlich richtig akzeptieren, wenn sie sich mit unserer Erfahrung und Vorstellung decken.
Die Sozialwissenschaften und das Leben
Natürlich muss es jetzt für einen Vertreter der Sozialwissenschaften verlockend sein, von einer ganz anderen Erfahrungswelt herkommend der Frage nachzugehen, ob Justus von Liebig mit seiner These auch all jenen etwas zu sagen hat, die den Naturwissenschaften nicht in gleichem Masse verbunden sind, wie dies bei ihm der Fall war.
Da ist zunächst einmal die banale Feststellung, dass die beiden Kernbegriffe «Wissenschaft» und «Leben» in ihrer Vieldeutigkeit natürlich auch zum alltäglichen Vokabular aller Repräsentanten der Geisteswissenschaften gehören. Für den Ökonomen bedeutet «Leben» soviel wie Wahrnehmung in der Realität, im wirtschaftspraktischen Alltag. Die «Wissenschaft» ist konfrontiert mit den Zuständen und Vorgängen in der gelebten, gesellschaftlichen Wirklichkeit. Er begegnet dieser Realität bei seiner empirischen Arbeit. Er analysiert seine Wahrnehmungen bei Menschen, bei sozialen Gruppen, bei den verschiedensten organisierten Gesamtheiten in Gesellschaft und Staat. Seine Erkenntnisse wird er speichern und als «Erfahrung» ins Spiel bringen. «Erfahrung» gibt es nur dort, wo «Leben» ist, aber «Erfahrung» kann nie gleichen Umfangs und gleicher Dauer sein wie «Leben». Empirische Erfahrung ist immer auch Erinnerung. Wir besitzen Erfahrung in allem, woran wir uns erinnern. Und dort, wo die Erinnerungen schwinden, können sie als Gewohnheiten
weiterbestehen. Da beginnen nun aber die Probleme: weil die Realität, das Leben, in stetem Wandel begriffen ist, ändern die Wahrnehmungen laufend. Die Erfahrung und erst recht die daraus abgeleiteten Gewohnheiten veralten, werden laufend überholt, sofern die Wissenschaft den Anschluss an die Wirklichkeit nicht verliert. Zwar gibt es auch da «Konstante» zu beobachten, vor «ehernen» ökonomischen Gesetzen ist aber mit Vorteil zu warnen.
Der Sozialwissenschaftler soll sich also der Empirie bedienen, um die Wirklichkeit zu erforschen und zu erkennen. Zu diesem Zweckt definiert er sein Erkenntnisobjekt, zum Beispiel einen ganz bestimmten Markt, er legt für seine Arbeit die Zielsetzungen fest und benutzt in der Folge einen ganz klar umschriebenen methodischen Apparat. Nach Ausschöpfung aller verfügbaren Sekundärmaterialien spielen die Methoden der Befragung, der offenen oder verdeckten Beobachtung und des Experiments eine zentrale Rolle. Die Methoden sollen gründlich, zusammenhängend, objektiv, frei von Werturteilen, Gefühlen und Präferenzen sein. Wahrnehmungen werden zur Probe auf die Richtigkeit des Schlusses bei empirischen Dingen.
Von den Grenzen der Empirie
Damit steht der Wirtschaftswissenschaftler völlig im Gegensatz zu jener philosophischen Richtung, die das empirische Wissen als Erkenntnisquelle völlig ablehnt. Sehen und Hören seien als Zeugen unzuverlässig, der wahre Denker nehme vom Gesehenen und Gehörten keine Notiz. Man denke am besten, wenn der Geist in sich gekehrt und nicht durch Gehörtes und Gesehenes abgelenkt werde. Das meinte schon Sokrates, als es die Ablenkung durch die Informationsflut der Massenmedien noch nicht gab. Wer so denkt, schaltet die wissenschaftliche Beobachtung und das Experiment als Erkenntnisquelle aus.
Die Kritik an der Empirie ist aber ernst zu nehmen. Aus der Erfahrung ziehen wir Schlüsse, bilden Urteile. Urteile können bei einer nächstfolgenden Analyse zu Vorurteilen werden: weil es sich bei der Spar- und Leihkasse Thun so verhielt, muss es bei der Solothurner Kantonalbank analog geschehen sein. Die Erfahrung läuft Gefahr, zu einer durch die Zeit überholten Einrichtung zu werden, zum klassischen Anachronismus. Weil Erfahrung auf gespeicherten Eindrücken basiert, gibt es keine allgemein gültige Erfahrung, welche unabhängig von Alter, Geschlecht, Charakter oder seelischer Konstitution zustande käme. Bewahrtes und Bewährtes werden durch die Fortentwicklung in allen Lebensbereichen überholt. Hinter Erfahrungen und Wahrnehmungen sind immer auch Fragezeichen zu setzen.
So stellt man sich die Frage, was an die Stelle der Empirie, dem wahrnehmenden Bezug zum Leben, zu setzen wäre. Ökonomen haben phasenweise in der Tat andere Wege zu beschreiten versucht. Der Homo oeconomicus ist in der klassischen Nationalökonomie zu einer häufig verwendeten Fiktion geworden. Er repräsentiert den ausschliesslich ökonomisch-rational ausgerichteten Menschen. Von dieser Annahme ausgehend hat die Wissenschaft theoretische Gesetze geformt. Die Fundierung der Theorie liegt zwar in den menschlichen Handlungsweisen, aber diese wiederum sind nur Ausfluss der Vernunft, der uneingeschränkten Rationalität: Wenn ich den Preis für ein Produkt zurücknehme, sagen sie, erhöht sich die mengenmässige Nachfrage nach diesem Produkt und umgekehrt. Und dann stellt man beim Hinaushorchen in die Märkte anderes fest: Ein Hersteller kosmetischer Produkte verdoppelt seinen Angebotspreis und stellt, quasi als Kuriosum, fest, dass sich mit dieser Massnahme auch die Nachfrage erhöht. Besucherzahlen in Opern- und Konzerthäusern oder auf Tennis- und Golfplätzen steigen an, wenn der Zutritt kostspieliger wird. Mit Logik hat dies wenig zu tun. Menschen aber, oder eben «das Leben», haben mit scheinbar unerklärlichem Verhalten reagiert. Mit der empirischen Arbeit möchten wir erfahren, warum Menschen bestimmte Dinge tun und andere unterlassen, warum sie sich für diese oder jene Handlungsweise entscheiden, warum sie bei stets begrenzten finanziellen, materiellen und personellen Mitteln zu einer ganz bestimmten Ressourcen-Allokation gelangen. Weil die gleichen sozialen Gruppen mit ihren oft nur schwer ergründbaren Handlungsmotiven umgekehrt aber auch den Gesetzen von Produktivität, Wirtschaftlichkeit und Rentabilität folgen, ihre Ersparnisse beispielsweise nicht dort anlegen, wo nur 5 Prozent, sondern eben 70 Prozent Jahresrendite zu erwarten sind, wird jeder Versuch zur Theoriebildung so schwierig. Und noch schwieriger wird die Beantwortung der Frage, ob in diesem Chaos das Leben immer recht behalte.
Beratung zwischen Wissenschaft und Leben
Lassen Sie mich dieses Spannungsfeld zwischen praktischer Erfahrung und wissenschaftlicher Erkenntnis noch aus anderer Optik beleuchten, aus der Sicht des Beraters, der gleichsam zwischen Theorie und Praxis tritt. In einem Regierungsratsbeschluss, der meine Tätigkeit als Professor und Institutsdirektor regelt, ist zu lesen, ich hätte im Verbund bank- und finanzwirtschaftliche Forschung zu betreiben, die Lehre auf diesem Gebiet zu unterstützen und der Praxis, d. h. Firmen, Verbänden und staatlichen Organisationen beratend zur Verfügung zu stehen. Bekannter
Dreiklang also von Lehre, Forschung und Beratung, auch in anderen Fakultäten nicht unbekannt.
Der Berater wird in der Regel dann gerufen, wenn eine Art von Patientensituation gegeben ist. Therapien werden notwendig, um dem Kranken zu helfen. Eine Bank signalisiert, zur Diskussion stehe ihr Überleben. Die Diagnose ergibt, dass auf den verschiedensten Gebieten all das nicht getan wurde, was die Wissenschaft seit Jahren fordert: Die Bank kenne weder ihre wirklichen Kosten für die Leistungserstellung noch die Erfolgsbeiträge einzelner Geschäftsfelder. Eingegangene Risiken werden fast nur intuitiv gesteuert. Das Institut wird zum Konkursiten. Aufsichtsbehörden, Revisionsstellen, die Wirtschaft, das Leben haben den Patienten zu Fall gebracht. Weil von der Wissenschaft entwickelte Regeln verletzt wurden, hat das Leben reagiert. Eine klare Sache, wird man jetzt sagen: Da wird ein Plädoyer zugunsten der Wissenschaft abgegeben, und «ein Widerspruch mit dem Leben» hätte sich nicht eingestellt, wäre man den Gesetzen der Vernunft gefolgt. Die Wissenschaft also, welche recht behält und die im Leben Stehenden vor Unheil schützt.
Eine solche Erkenntnis zu verallgemeinern, wäre aber verheerend. So einfach liegen die Dinge nicht. Die Wissenschaft kann nämlich bei ihrem Streben nach Rationalität auch zuschlagen, die gesellschaftlichen Realitäten in ihren Fundamenten erschüttern und mit dem Leben in krassesten Widerspruch geraten. Jüngste Beobachtungen mögen dies verdeutlichen:
Ökonomen, Juristen, Psychologen, Soziologen und auch Theologen gehen davon aus, Menschen seien für höhere Aufgaben auszubilden und zu diesem Zweck als Persönlichkeiten zu entwickeln. In Unternehmen und nicht erwerbswirtschaftlich orientierten Betrieben wie Spitälern, Alters- und Pflegeheimen, kulturellen Institutionen und nicht zuletzt auch in Schulen, wie zum Beispiel an der Universität, werden Menschen im Verlaufe ihrer Ausbildung angehalten, mit wissenschaftlichen Verfahren vereinbarte Ziele anzustreben. Führungsinstrumente in Kombination mit elektronischen Mitteln fördern die rationalen Prozesse. Durch die Delegation von Aufgaben wird auch ein Teil der Verantwortung auf die Mitarbeiter aller Stufen übertragen. Entscheidungen sollen im Team rational vorbereitet, getroffen und durchgesetzt werden. Man geht davon aus, dass alle Betroffenen die Übernahme von Verantwortung suchen, auf gute Qualifikation, auf Leistungslohn, Beförderung und Anerkennung warten. Erfolg winkt, wenn Budgetvorgaben zumindest eingehalten, wenn möglich aber unterboten werden. «Schlank» sollen die Organisationen sein, um die Kosten-Nutzen-Verhältnisse zu verbessern. Dies gelingt dann spürbar, wenn sich Löhne einsparen lassen. Zehn Mitarbeiter weniger in einem Betrieb, so rechnen wir im Sinne einer Faustregel, bringen Kostenersparnisse in der Höhe von 1 Mio. Franken, Arbeitsplatzkosten anteilmässig eingerechnet. Der harte Kurs wird wohltuend durch «weichere» Postulate abgeschwächt: Durch interne und externe Freistellungen am Arbeitsplatz sollen Mitarbeiter ihre Lebensqualität verbessern und ihre
Vorstellungen zur Selbstverwirklichung realisieren können. Menschlichkeit, basierend auf ethischen und moralischen Grundsätzen, soll das Verhältnis im Betrieb bestimmen. Soweit die wissenschaftlichen Thesen, in jedem Lehrbuch nachzulesen.
Wissenschaft als Gefahr für das Leben
Wenn man als Berater in Unternehmen wirkt, wird man mit einer etwas anderen realen Welt konfrontiert. Die Wirklichkeit, eben das Leben, lehrt uns in Zusammenhang mit Entlassungen, mit Kurzarbeit, mit vorzeitiger und erzwungener Freistellung, die insbesondere ältere Menschen und in starkem Masse auch Frauen hinzunehmen haben, was die wissenschaftliche Unternehmensführung bewirkt. Da hilft auch lauter Protest nur wenig. Unternehmen, denen es gelingt, schlanke Organisationen mit schlanken Führungs- und Leistungsstrukturen zu schaffen, die an einem Ort vielleicht hundert, am anderen möglicherweise zweitausend Entlassungen aussprechen, werden gelobt, gefeiert, das Management mit seinen Schlankmachern als mustergültig in der Finanz- und Boulevardpresse porträtiert. Unter stetem Leistungsdruck führen sie ja nur aus, was unsere wissenschaftlich fundierten Analysen vorschlagen, was die Wettbewerbskraft im Markte stärkt, was den Unternehmenswert als Ganzes und den inneren Wert einer Aktie anhebt. Wir feiern den Erfolg und fragen wenig nach der Verantwortung für die Konsequenzen. Als Berater zwischen Wissenschaft und Leben gerät man in eine schwierige Lage; denn man lehnt ja die Instrumente und Techniken, die all das bewirken, nicht ab, ja im Gegenteil: Man doziert sie selber als Lehrer im Hörsaal. Gerne vergisst man, dass es noch andere und zusätzliche Komponenten gibt, die zu beachten wären. Zum Beispiel ethische. Einer meiner theologischen Kollegen, Prof Hans Ruh, hat vor drei Jahren in einem gemeinsamen Seminar zum Thema «Ökonomische Grundsätze und religiöse Ethik» erklärt: «Dass wir uns mit diesen Fragen» —gemeint waren jene nach dem Sinn der wissenschaftlichen Rationalität —«in einem vitalen Bereich befinden, beweist das Dilemma, vor dem wir stehen: entweder zerstört die Ethik den Markt, oder der Markt zerstört die Welt.» Gefragt ist nach der Verantwortung und den Verantwortlichkeiten der Entscheidungsträger. Wie werden sie diese Konfliktsituation beurteilen? Wir leben zwar alle unter dem gleichen Himmel, haben aber nicht alle den gleichen Horizont. Die Wissenschaft kann offenbar nicht allein verantwortlich sein: Sie folgt den Marktgesetzen, den Gesetzen von Produktivität und Wirtschaftlichkeit. Schliessen wir uns diesen Gesetzen kompromisslos an, rein dem Markte verpflichtet, so werden bei wachsenden Bevölkerungszahlen grosse Teile
der Population durch das reale Leben geschädigt und bestraft. Die Verantwortung muss bei jenen liegen, welche Wissenschaft betreiben und zugleich auch am Leben als vollwertige Menschen teilnehmen. Und so stellt sich die Frage —sie kann abschliessend wohl nie beantwortet werden —, wie eine Volksgemeinschaft künftig funktionieren soll, wenn Menschen im Alter zwischen etwa 25 und 55 für all jene zu sorgen haben, die noch nicht oder nicht mehr im Erwerbsleben stehen. Im Jahresbericht 1994 des Schweizerischen Versicherungsverbandes ist zu lesen: «Es steht fest, dass das zahlenmässige Verhältnis der Erwerbstätigen zu den Rentnern, das 1948 noch rund 9,5 : 1 betrug, bis heute auf 2,9 : 1 gesunken ist und in den nächsten vier Jahrzehnten kontinuierlich auf nur noch 2 : 1 sinken wird. Ein Spitzenmann der Versicherungswirtschaft sieht in dieser Entwicklung eine Zeitbombe, die unsere gesamten sozialen Errungenschaften in Frage stellen wird, falls keine adäquaten Korrekturmassnahmen erfolgen.» Manches spricht dafür, dass betriebswirtschaftlich zu rechtfertigende Kostensenkungen, meist verbunden mit Stellenabbau , durch das Anwachsen sozialer Verpflichtungen mehr als kompensiert werden.
Wissenschaft im Dienste des Lebens
Natürlich wird man sich jetzt fragen, wie denn «adäquate Korrekturmassnahmen» zu gestalten wären. Die stellenvernichtende Wissenschaft sitzt also auf der Anklagebank. Sie ist offenbar schuldig geworden, weil sie aufzeigt, wie im Zuge der Leistungserstellung durch kostengünstigere Kombination der Produktionsfaktoren Wirtschaftlichkeitsverbesserungen erzielt und Arbeitsplätze eingespart werden können. Ist die Angeklagte deshalb zu verurteilen? Ich meine ja, wenn die Zahl der Beschäftigten dadurch immer kleiner und jene der Unbeschäftigten immer grösser würde und keine Lösungsansätze zur Überwindung dieser Problematik zu erkennen sind. Sie ist auch zu verurteilen, wenn das Ökonomische in zunehmender Mass- und Grenzenlosigkeit überbordet und die Spitzenmanager und insbesondere die Bankiers mit ihren professionellen Beratern zu reinen Technokraten entarten.
Wer aber nur von Auswegslosigkeit spricht, ist einseitig, vernachlässigt in seinen Überlegungen, dass die Wissenschaft zwar am konkreten Fall Ressourcen spart, gleichzeitig aber auch Ressourcen, welche bis anhin gebunden waren, für neu zu erfüllende Aufgaben frei gibt. Chancen zur Schaffung neuer und junger Unternehmen mit neuen Arbeitsplätzen sind gegeben. Parallel zur Freisetzung ökonomischer Ressourcen vollzieht sich ja auch wissenschaftlich-technische Kreativität. Innovationen aller Art sind ihr Ergebnis. Unternehmen werden über Forschung, Entwicklung
und Konstruktion neue Kräfte absorbieren und die Wissenschaft zur Verfolgung neuer Ziele anspornen. Banken sind zu bewegen, junge Unternehmen zu finanzieren und als Kreditdeckung nicht nur reale Dinge, sondern auch Ideen zu akzeptieren. So wie die Wissenschaft bei statischen Verhältnissen Leben zu zerstören vermag, in Widerspruch zum Leben gerät und Unmenschlichkeit fördert, wird sie in dynamischen und schöpferischen Prozessen eine neue Wirklichkeit kreieren, zu menschenwürdigem und sozial gesichertem Leben verhelfen. «Das wahre und rechtmässige Ziel der Wissenschaften ist kein anderes, als das menschliche Leben mit neuen Erfindungen und Mitteln zu bereichern», sagte Francis Bacon. Versagt die Wissenschaft bei der Erfüllung dieser Funktion, wird das Leben in dem Sinne recht behalten, als die Strasse, die Masse der Unzufriedenen und Enttäuschten die Szene beherrschen könnte, wobei es mit dem Eindrücken einiger Schaufenster an der Bahnhofstrasse nicht sein Bewenden haben dürfte. Wer in der Ökonomie die Empirie vernachlässigt, läuft — trotz der Bedenken eines Sokrates — am Leben vorbei und wird möglicherweise mit der Realität auf schmerzlichste Weise vertraut. Man tut gut, den Menschen in der Gesellschaft sorgfältig zu beobachten und ernst zu nehmen. Wie sagt doch Wilhelm Busch: «Das ist es eben, man denkt nicht nur, man will auch leben!»
Die Wissenschaft und all jene, die denken, sind deshalb nicht zu verketzern, sondern im Hinblick auf ihre schöpferischen Möglichkeiten zu ermuntern und zu fördern. Die etablierten Kreise müssen Bereitschaft zeigen, wissenschaftliche Innovation zu akzeptieren und in der Praxis umzusetzen. Als Berater begegnet man zu vielen, welche dem Grundsatz huldigen: «Was ich verstehe ist Praxis, was ich nicht verstehe, ist graue Theorie.» Statt den scheinbaren Gegensatz von Theorie und Praxis hochzuspielen, wäre es der Sache dienlicher, sich einem Programm zur permanenten Aus- und Weiterbildung zu unterwerfen, auch während der zehn letzten Jahre des Berufslebens. Man würde sehr bald erkennen, dass die Praxis dann erfolgreich ist, wenn sie gute Theorie appliziert. Und eine Theorie ist dann gut. wenn sie praktische Erfahrungen und Gesetzmässigkeiten, auf das Wesentliche reduziert, abbildet.
Zu fördern sind mit besonderer Priorität die Begabten, soweit wir sie in den überfüllten Hörsälen zu entdecken vermögen. Sicher sagt die Zahl der Studierenden eines Landes einiges über den Grad der wissenschaftlichen Durchdringung im Staate. Wissenschaftlicher Fortschritt und Menschlichkeit sind jedoch nur zum Teil Resultat der Menge. Das qualitative Element muss schwergewichtig dominieren. Talente und Begabungen sind gefragt und zu fördern. Zu unterstützen sind die Einrichtungen der Universität, die bei engerer Kooperation mit anderen noch effizienter werden dürfte. Vielleicht bedürfen auch Universitäten gerade in der jetzigen Phase der Mittelknappheit einiger Schlankmacher, die human, aber im schöpferischen Sinne zu wirken hätten.
Gestatten Sie mir ein persönliches Schlusswort: Wir brauchen, über all dies hinaus, auch in Zukunft geistigen Freiraum und die Möglichkeit, zur Realisierung neuer Ideen anzusetzen. Persönlich habe ich diesen Freiraum über ein Vierteljahrhundert hinweg nutzen dürfen. Ich bin den Erziehungsbehörden dankbar, dass sie uns nur im Kampf um die immer knapper werdenden Ressourcen behelligen, in politisch schwierigen Zeiten aber die Freiheit in Lehre und Forschung stets gewährt haben. So jedenfalls habe ich es in den frühen siebziger Jahren als Dekan einer Fakultät hautnah erlebt. Und was ich fachlich oder wissenschaftlich nicht erreicht habe, ist allein meine Schuld. An der Stiftungsfeier der Universität sind die Erziehungsbehörden schon oft durch kompetente und weniger kompetente Redner gerügt worden, oft zu Recht und oft auch zu Unrecht. Heute, an diesem Tag, möchte ich einmal den Behörden und meinem langjährigen Vorgesetzten, Regierungsrat Alfred Gilgen, für diesen nicht nur mir, sondern der gesamten Universität eingeräumten Freiraum danke sagen.
Attische weissgrundige Lekythos Ausschnitte: Der Sieger und der Besiegte.(Archäologische Sammlung)