Leitbild-Gedankensplitter
Rektoratsrede von
Prof. Dr. Christoph Schäublin
Verlag Paul Haupt Bern 1997
Die Deutsche Bibliothek —CIP-Einheitsaufnahme
Schäublin, Christoph:
Leitbild-Gedankensplitter: Rede / von Christoph Schäublin. —Bern; Stuttgart; Wien: Haupt, 1997
(Berner Rektoratsreden)
ISBN 3-258-05798-2
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 1997 by Paul Haupt Berne
Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlages ist unzulässig
Printed in Switzerland
Leitbild-Gedankensplitter
Rede von Prof. Dr. Christoph Schäublin, Rektor
Irgend einmal in der ersten Hälfte des
6. Jahrhunderts schuf sich der in Rom wirkende
Mönch Dionysius Exiguus einen
dauernden Namen (wenigstens bei einigen
Fachleuten), indem er einer (aus damaliger
Sicht) christlich gewordenen Menschheit
zu einer neuen Chronologie verhalf. Als
erster nämlich knüpfte er die Zählung der
Jahre an das (seit der Schöpfung) allein
relevante Epochendatum: an die Geburt
Christi. Infolgedessen befinden wir uns
jetzt nicht im unverdächtigen Jahr 2750 ab
urbe condita, 'nach der Gründung Roms',
sondern harren irgendwie gebannt dem
Anbruch eines neuen Jahrtausends entgegen.
Gewiss, angesichts der gewaltigen,
nur mit Mühe durchschaubaren Umwälzungen,
deren Auslöser, Zeugen und Opfer
zugleich wir gegenwärtig sind, bliebe uns
das Gefühl einer eigentümlichen Bedrängnis,
ja Beklemmung schwerlich erspart,
auch nicht bei einer andern Zeitrechnung.
So oder so wäre uns überdies klar, dass
vieles in vielen Bereichen an die Hand
genommen, von Grund auf geändert, jedenfalls
in geordnete Bahnen gelenkt werden
sollte — und zwar dringend, weil die
herrschenden Zustände keinen Aufschub
duldeten. Der Eindruck jedoch, es sei Eile
geboten, und dem, was so eilig getan werden
müsse, hafte erst noch eine erhöhte
Bedeutsamkeit an: dieser Eindruck scheint
zumindest verstärkt zu werden durch das
verbreitete, in irrationalen Tiefen wurzelnde
Bewusstsein, dass wir die letzten Jahre
eines Jahrtausends erlebten und also gehalten
seien, die Welt auf das nächste Millennium
vorzubereiten.
Unter diesem gleichsam 'chiliastischen'
Druck steht auch die ehrwürdige, scheinbar
so zeitbeständige europäische Universität
—ja, der Begriff 'chiliastisch' trifft auf
sie eigentlich in einem doppelten Sinne zu,
denn sie blickt ihrerseits auf eine annähernd
tausendjährige Geschichte zurück.
Ohne sich im geringsten der Überheblichkeit
schuldig zu machen, darf man wohl —
alles in allem —sogar von einer Erfolgsgeschichte
sprechen, und diese dauert im
Grunde bis auf den heutigen Tag an. Nach
wie vor sind die Universitäten Stätten innovativer
Forschung; alljährlich entlassen sie
eine Vielzahl hochqualifizierter Akademikerinnen
und Akademiker ins Berufsleben;
jeden Tag erbringen sie die von ihnen
geforderten Dienstleistungen, pflichtgetreu
und in der Regel zur vollen Zufriedenheit
ihrer Auftraggeber. Trotzdem macht
sich, gemessen an den öffentlichen Verlautbarungen,
zusehends ein Unbehagen
breit. Die Universität durchlaufe eine tiefe
Krise, verkünden sorgenschwer oder hämisch
ihr näher- und fernerstehende
'Fachleute'; sie sei sogar schwer krank
(möglicherweise bald unheilbar)—auf jeden
Fall bedürfe sie umfassender Reformen,
wenn sie nicht nur knapp überleben, sondern
wieder zu Kräften kommen und umfassend
gerüstet sein wolle, die Herausforderungen
des 3. Jahrtausends zu bestehen.
Hier ist nicht der Ort, die Ursachen des
genannten 'Unbehagens' einzeln zu analysieren.
Zum Teil lassen sie sich gewissermassen
'quantifizieren' —mehr Studierende,
zusätzliche Aufgaben, weniger Geld —,
wobei ehrlicherweise festgestellt werden
muss, dass die Einsicht der Behörden und
die relative Kleinheit der Verhältnisse uns
Eidgenossen bisher vor dem Schlimmsten
bewahrt haben. Für einmal sogar heilsam
mag sich diesbezüglich auch unsere notorische
Provinzverzögerung auswirken: Im
Gegensatz zu den Universitäten vergleichbarer
Länder sind wir nicht —noch nicht —
gezwungen, dreissig und mehr Prozent eines
Jahrgangs als Studierende eher widerwillig
zu schlucken als wirklich aufzunehmen,
zu bilden und zu betreuen. Trotzdem
ächzen auch in der Schweiz verschiedene
Disziplinen bereits jetzt unter erheblichen
Überlasten; und immer häufiger vernimmt
man die bange Frage, wie lange noch unser
Bildungssystem eine sinnvolle Selektion
gewährleisten werde —'sinnvoll' auch und
gerade im Interesse der jungen Menschen,
die doch eine ihren Fähigkeiten und Neigungen
entsprechende Förderung verdienen.
Kommt hinzu, dass universitäre Lehre
unabdingbar ein solides Fundament voraussetzt:
wie wird es in Zukunft um dessen
Tragfähigkeit bestellt sein? Solange eine
eidgenössisch anerkannte Maturität —daran
jedenfalls darf nicht gerüttelt werden —
den freien Zugang zu sämtlichen Studien
eröffnet, muss sie qualifizieren, d.h. eine
angemessene Studierfähigkeit wenn nicht
garantieren, so doch zumindest verlässlich
in Aussicht stellen.
Andere 'Krisensymptome' fügen sich
nicht so leicht in eine Gesamtdiagnose ein.
Sie haben einerseits wohl mit der Wissenschaft
selbst zu tun. Diese stösst, erkenntnisfreudig
und vom eigenen Erfolg wie
beflügelt, in scheinbar schrankenlose Weiten
und Tiefen vor. Als hemmend, ja bedenklich
erweisen sich demgegenüber die
zunehmende Aufsplitterung, die Isolation
eingegrenzter Disziplinen, und das Fehlen
einer verbindenden Sprache, letztlich wohl
einer gemeinsamen Schau —mit der Folge,
dass bisweilen der Eindruck entsteht, die
'raison d'être' jeder Universität —eben die
Wissenschaft —sei ihres Zusammenhangs
und einstigen Sinns überhaupt verlustig
gegangen, und sie lasse sich auch kaum
mehr in der herkömmlichen Weise institutionell
erfassen und einbetten.
Tiefgreifend gewandelt hat sich anderseits
das gesellschaftliche Umfeld: Politik und
Wirtschaft erheben Forderungen, entwickeln
Vorstellungen, die nicht durchweg
übereinstimmen mit dem gewohnten,
durch Konzepte wie 'Bildung durch Wissenschaft'
geprägten Selbstverständnis der
humboldtschen Universität; diese muss
sich ferner auch in der Schweiz darauf
einrichten, den tertiären Bildungsbereich
mit den Fachhochschulen zu teilen; und
schliesslich gibt es da gar noch die Studierenden,
deren Wünsche und Verhalten
einer erfolgsorientierten Reglementierung,
ja Uniformierung vielfach zuwiderlaufen
Wie dem auch sei: fast weltweit ertönt derzeit
der Ruf nach Erneuerung, und das
heisst zunächst einmal: nach neuen Gesetzen,
die der alten Universität dazu verhelfen
sollen, ihre tatsächlichen oder vermeintlichen
Schäden zu beheben und erfolgreich
(wieder) das zu leisten, was von
ihr erwartet wird. (Was freilich wird von
ihr erwartet?) Weitgehende Einigkeit
herrscht auch bezüglich der zu verordnenden
Therapie. Was die Universität braucht,
sagt man, ist mehr Eigenverantwortung, ist
die Freiheit, sich flexibel und gezielt auf
die andauernd wechselnden Anforderungen
einzustellen, denen sie von aussen wie
von innen ausgesetzt ist. Wo immer wir
hinhören, schallt uns der Begriff 'Autonomie'
entgegen; recht besehen meint er
wohl, dass Entscheidungskompetenzen,
wenn möglich, den für die Sache unmittelbar
Zuständigen und Verantwortlichen
übertragen werden sollten. Dass in der einschlägigen
Literatur nicht selten die Hoffnung
durchschimmert, eine 'autonome',
gleichsam sich selbst überlassene Universität
werde irgendwie auch kostengünstiger
sein oder dem Staat jedenfalls zusätzliche
Aufwendungen ersparen, sei nur
beiläufig und am Rande vermerkt.
Vor dem hier, notgedrungen rasch, skizzierten
Hintergrund ist auch das neue Berner
Universitätsgesetz zu sehen, das am
1. September dieses Jahres in Kraft getreten
ist. Es verwirklicht die entscheidenden
Postulate, die sich in der internationalen
Diskussion herauskristallisiert haben, und
braucht auch dort keinen Vergleich zu
scheuen, wo es seine eigenen Wege geht
und gewissermassen einen spezifisch 'bernischen
Charakter' aufweist. Insgesamt ist
die Universität dem Kanton Bern, seinem
Souverän und den Behörden, zu tiefem
Dank verpflichtet: für die Schaffung und
grosszügige Gewährung eines gesetzlichen
Rahmens, der ihrem Wesen und ihrem Auftrag
in zeitgemässer Art entspricht,
insbesondere aber für das ihr entgegengebrachte
Vertrauen. Obwohl grundsätzlich —
wie man heute sagt —'global' ausgerichtet,
sind Universitäten doch unbedingt auf eine
zuverlässige 'lokale' Verankerung angewiesen.
Auch deren Halt dürfte das neue
Gesetz gefestigt haben und künftig noch
festigen.
In den Bestimmungen des Gesetzes zeichnet
sich, bald umrisshaft, bald detaillierter,
das Bild einer Universität ab, wie sie idealerweise
sein, ihre Aufgaben erfüllen, sich
entwickeln sollte. Selbstverständlich ist
dieses Bild geprägt durch vielfältige Vorüberlegungen,
die ihrerseits in den Vortrag
des Regierungsrats eingeflossen sind. Dort
findet man die gewissermassen zugrunde
liegende Reflexion eingängig dokumentiert:
eine Reflexion, zu der —in intensiver
Mitarbeit —die Universität selbst durchaus
Ansehnliches beigetragen hat. Im eigenen
Namen freilich hat sie sich bisher noch
nicht dazu vernehmen lassen, wie sie die
neu geschenkten Möglichkeiten tatsächlich
zu nutzen gedenkt, um einerseits ihre
unveräusserliche Substanz zu bewahren
und anderseits den mannigfaltigen, bisweilen
fast widersprüchlichen Forderungen
des Tages auf hohem Niveau genügen
zu können.
Ganz anders vor bald fünfzig Jahren, als
man sich in Bern anschickte, das 'Gründungsgesetz'
von 1834 zu erneuern. Damals
erteilte der Akademische Senat dem
Geschichtsprofessor und ehemaligen Rektor
Werner Näf den Auftrag, eine Denkschrift
über «Wesen und Aufgabe der Universität»
auszuarbeiten. Auf diese Weise
wollte die Universität aktiv in die Diskussion
über Sinn und Geist des Reformwerks
eingreifen; ja, der um Grundsatzfragen
kreisende Hauptteil der Abhandlung mündet
am Ende gar in ganz konkrete «Folgerungen
für ein bernisches Universitätsgesetz»
(man beachte nur schon die Terminologie:
Die bescheiden-zurückhaltende
'Hochschule' sollte sich endlich als veritable
'Universität' zu erkennen geben!).
Das von Näf vorgelegte Buch (es ist 1950
erschienen, also volle vier Jahre vor der
Verabschiedung des neuen Gesetzes) hat
wenig von seiner Aktualität eingebüsst. In
der Tat, wenn es denn wahr sein sollte, dass
wir heute gehalten sind, uns auf das 3. Jahrtausend
vorzubereiten, so scheint dieses
seine Schatten weit vorausgeworfen zu
haben. Im Kern trifft Näfs Beschreibung
der gleichsam zeitlosen Mission, die letztlich
das Wesen einer Universität bestimme,
wohl immer noch zu. Das ist anders auch
kaum denkbar — es sei denn, wir wollten
uns von der eigenen Geschichte (nochmals:
einer erfolgreichen Geschichte!)
endgültig verabschieden und seien der
Meinung, was not tue, sei nicht die Erneuerung
einer bestehenden, sondern die Erfindung
einer radikal neuen Institution.
Schon eher überraschend wirkt dagegen
der Umstand, dass die von Näf namhaft
gemachten Mängel und Schwierigkeiten,
welche die Universität bei der Erfüllung
ihrer Pflichten in geradezu beängstigendem
Masse behinderten, uns durchweg bekannt
anmuten. Freilich haben sie sich
während der verflossenen fünzig Jahre so
dramatisch verschärft, dass wir uns fragen,
wie man sie damals —unter scheinbar fast
idyllischen Bedingungen —überhaupt hat
empfinden und wahrnehmen können. Indes,
vielleicht gibt es so etwas wie eine
'Dauerkrise' der Universität —oder diese
neigt doch jedenfalls dazu, den von ihr
gehüteten Schatz einer 'Dauerbedrohung'
ausgesetzt zu sehen.
Näfs kenntnis- und gedankenreiche Schrift
widerstrebt jedem Versuch einer schnellen
Zusammenfassung. Hier sei lediglich noch
erwähnt, dass in ihr bereits auch «ein gewisses
Mass von Autonomie» gefordert
wird. Deren «innere Berechtigung» lasse
sich nicht aus «geschichtlicher Tradition»
herleiten (schon gar nicht in Betracht gezogen
werden betriebswirtschaftliche Erwägungen!);
vielmehr sei sie begründet in
«dem dauernden Wesen der Universität»
und in «der Art der ihr aufgetragenen Leistung»
(S. 11). Im Hinblick allerdings auf
die im Anhang tatsächlich vorgeschlagenen
Regelungen keimt beim heutigen Leser der Verdacht
auf, dass Näf sich nie hätte
träumen lassen, wieviel Eigenverantwortung
der Kanton Bern seiner Universität
anlässlich der nächsten Gesetzesrevision
zugestehen würde —ja, dass dem Staatsbürger
Näf eine so weitgehende 'Autonomie'
wohl nicht einmal als erstrebenswert erschienen
wäre. Trotzdem bleibt es dabei:
Sein Buch hat einen geistigen Boden bereitet,
aus dem wir den Baum der Universität
Bern nicht losreissen sollten —oder es geschähe
denn zu unserm eigenen Schaden.
Das heisst nun freilich nicht, dass wir der
Mühe eigenen Nachdenkens —und Formulierens!
— einfach enthoben wären. Verstände
sich dies nicht von selbst, so hätte
doch der Gesetzgeber die nötige Vorsorge
getroffen insofern, als er der Universität
die Erarbeitung eines 'Statuts' und eines
'Leitbilds' aufgetragen hat. Obwohl die
beiden Erlasse in enger Beziehung zueinander
stehen —das ergibt sich fast aus der
Natur der Sache —, soll im folgenden kurz
nur vom 'Leitbild' die Rede sein. Schliesslich
ist das 'Statut' ja auch bereits vom
Senat verabschiedet und den Oberen Behörden
zur Genehmigung zugeleitet worden.
Dass Universitäten sich, wie Betriebe und
Firmen, unter 'Leitbilder' zustellen haben,
ist einigermassen neu und darf wohl ebenfalls
als Ausfluss der jüngsten Diskussion
gelten. Wie auch immer: Die Universität
Bern teilt ihre Wehen (wenn man Wehen
denn teilen kann) mit den meisten Schwesterinstitutionen,
deren Gesetze während
der letzten Jahre einer tiefgreifenden Revision
unterzogen worden sind. Trotz dieser
auffallenden Übereinstimmung, die eigentlich
aus klaren Vorstellungen resultieren
müsste, erhebt sich vorweg die Frage,
welches Ergebnis nun eigentlich —in Basel,
Bern, Zürich oder anderswo — der
schwierige Prozess der Selbstreflexion ans
Licht bringen soll: Geht es darum, in einem
edlen Wettstreit die 'ideale' Universität zu
konzipieren, in deren Bild sich bestenfalls
sämtliche Universitäten zu erkennen vermöchten?
—oder darum, dass jede Universität,
vermutlich unter Berücksichtigung
gewisser 'idealtypischer' Züge, sich ihr
eigenes Antlitz schafft (ihr eigenes 'Profil'
entwickelt)?
Von den Gesetzgebern intendiert ist mit
grosser Wahrscheinlichkeit die zweite
Möglichkeit; zieht man dagegen einige der
schon vorliegenden Leitbilder zu Rate, so
treten einem in der Tat eher die Umrisse der
Universität schlechthin entgegen: kein
Wunder freilich, denn Leitbilder zielen
wohl ihrem Wesen nach aufs Allgemeine,
aufs Grundsätzliche, während das Besondere
und das Einmalige sich in den vornehmen
und gewählten Formulierungen zumeist
sehr viel weniger deutlich abzeichnen
So entsteht am Ende beinahe der Eindruck,
universitäre Leitbilder seien bis zu einem
gewissen Grad austauschbar, und in dem
genannten 'Wettkampf' werde hauptsächlich
ermittelt, wer am schönsten und am
eindringlichsten zu sagen vermöge, was
für alle gelte: Freiheit der Wissenschaft,
Verantwortung der Wissenschaft und der
ihr Dienenden, hohe Qualität der zu erbringenden
Leistungen (auch im internationalen
Vergleich) und Qualitätssicherung,
Einheit von Forschung und Lehre, forschungsbasierte
Lehre im Dienste der Ausbildung
und der Bildung, Grundlagenforschung
und problemorientierte Forschung,
Interdisziplinarität in Forschung und Lehre,
Nachwuchsförderung, Weiterbildung,
Gleichberechtigung der Geschlechter,
Mitsprache und Mitbestimmung, Zusammenarbeit
mit andern Universitäten, mit
Fachhochschulen, mit der Wirtschaft —
welche Universität in der näheren und
weiteren Umgebung wüsste nicht zu allen
diesen Begriffen und Konzepten irgend etwas
zu sagen, und welche je etwas grundsätzlich
anderes?
So betrachtet würde sich die Erarbeitung
eines Leitbilds zu einem nicht geringen
Teil als 'Stilübung' erweisen. Ja, vielleicht
trifft sogar die Vermutung zu, dass eine
Universität ihre 'Individualität' fassbarer
im Statut zur Geltung bringt als im Leitbild
—einfach deswegen, weil das Statut ganz
unmittelbar auf die tatsächliche Aufgabenerfüllung,
gewissermassen auf die universitäre
'Wirklichkeit' bezogen ist und diese
so zu gestalten versucht, dass darin auch
'lokale' Eigenheiten ihren Platz finden.
Es bleibt der Wunsch, dass es trotzdem gelingen
möge, dem Leitbild der Universität
Bern eine gewisse prägende Verbindlichkeit
zu verleihen. Insbesondere müsste es
z.B. einige Aussagen über die in ihr Tätigen
enthalten. Was die Studierenden betrifft,
so lesen wir sie zwar nicht selbst aus,
doch lohnte es sich wohl, einen Augenblick
bei der Frage zu verweilen, was wir vorkehren
wollen, um für besonders interessierte
junge Leute unsererseits besonders
interessant zu sein. Dem Nachwuchs sollten
wir nicht nur pauschal versprechen, wir
würden ihn 'irgendwie' fördern, sondern
ihm konkrete Massnahmen in Aussicht
stellen
Überhaupt die 'Personalpolitik'! Seit es
Universitäten gibt, gilt der Satz, dass ihre
Güte fundamental bestimmt wird durch die
Güte der Professorinnen und Professoren,
die sie je für sich zu gewinnen vermögen.
Hier sei nicht im einzelnen erörtert, was
genau 'professorale Güte' ausmacht; unstreitig
steht immerhin fest, dass verschiedene
Faktoren ihren Beitrag dazu leisten:
Sachkompetenz, Kreativität, Initiative, didaktisches
Geschick, allgemein Kommunikationsfähigkeit,
die Bereitschaft, Verantwortung
zu tragen usw. Von Fall zu Fall
mögen unterschiedliche Gewichtungen
angebracht sein. Insgesamt jedoch erfordern
die Vorbereitung und die Durchführung
von Ernennungsgeschäften sehr viel
Sorgfalt, Augenmass, Weitsicht, denn es ist
schon so: Personalentscheide sind eminent
'strategische' Entscheide (wie man heute
sagt). Wenn es der Universität Bern weiterhin
gelingt, die 'richtigen Personen' zu finden
— zuvor freilich noch: wenn es ihr gelingt,
für gute Professorinnen und Professoren
attraktiv zu bleiben, braucht uns um
ihr 'Profil', generell um ihre Zukunft nicht
bange zu sein. Dass heisst aber auch ganz
konkret, dass jede Ausschreibung einer
Professur unter Bedingungen zu erfolgen
hat, die eine Wunschkandidatin oder einen
Wunschkandidaten in der Tat zur Hoffnung
berechtigen, sie könnten in Bern dereinst
ihr Bestes leisten
Damit geht der Blick von den Menschen zu
den Aufgaben und zu deren Erfüllung. Hier
wäre zu überlegen, ob nicht bereits das
Leitbild gewisse Unterscheidungen vornehmen
und also zum Ausdruck bringen
sollte, dass die verschiedenen Fakultäten,
Institute, Kliniken im Dienste der gemeinsamen
Sache je verschiedene 'Leistungsaufträge'
zu erfüllen haben. Nie und nirgends
freilich —dies sei im vornherein betont
—darf an die Einheit von Forschung
und Lehre oder an die Pflicht zur Nachwuchsförderung
gerührt werden, nie und
nirgends gar an die Forderung nach hoher
Qualität. Indes, die eingangs erwähnte,
bald von aussen, bald von innen wahrgenommene
'Krise' hat doch wesentlich damit
zu tun, dass die Universität sich inmitten
eines knisternden, eines schwierigen
'Spannungsfelds' befindet: eines Spannungsfelds,
das eben aus geradezu polaren
Ansprüchen gebildet wird. Über diese Tatsache
kann man klagen, man kann sie als
gefährdend, ja im äussersten Fall als zerstörerisch
empfinden: aus der Welt schaffen
kann man sie nicht, und deswegen sollte
man versuchen, auf differenzierte Weise
und fruchtbar darauf zu reagieren.
Nach ihrem traditionellen Selbstverständnis
ist die Universität zunächst für die
Grundlagenforschung zuständig (nicht
zuletzt darin sieht sie ihre 'Andersartigkeit'
gegenüber den Fachhochschulen begründet).
Grundlagenforschung dient der 'Erkenntnis'
und dem 'Verstehen'; nur sie
vermag ferner, sagt man, die Voraussetzungen
für gleichsam greifbare, für anwendungsbezogene
Entwicklungen zu schaffen.
Indes, die Grenzen erweisen sich immer
mehr als fliessend, und keine Universität
wird sich heutzutage der orientierten
Forschung versagen: aus Gründen des
sachlichen Zusammenhangs, oder weil
dort Geld zu holen ist —insbesondere aber
auch deswegen, weil Politik und Wirtschaft,
weil die Menschen von ihr die 'Produktion'
jenes Wissens erwarten, das die
moderne Gesellschaft im weitesten Sinn
zur Lösung ihrer vielfältigen Probleme
benötigt.
Nach ihrem traditionellen Selbstverständnis
ist die Universität eine Bildungsinstitution.
Zweifellos impliziert die von ihr gemeinte
'Bildung' die Vermittlung eines soliden
Sach- und Fachwissens, doch dürfte
sie sich darin nicht erschöpfen. Vielmehr
ist genuin universitärer Lehre als Ziel vorgegeben,
die jungen Menschen zu methodischem
Vorgehen anzuleiten, sie in spezifische
Denkweisen einzuführen, damit sie
befähigt würden, bestenfalls selbst sich
einmal wissenschaftlich zu betätigen oder
wissenschaftliche Entwicklungen zumindest
immer wieder nachzuvollziehen, auch
über die Grenzen des eigenen Faches hinaus:
auf jeden Fall aber als verantwortliche,
kritische und schöpferische Weltbürger
das Leben zu bestehen. Dieser Sicht
tritt unausweichlich die Forderung entgegen,
die Universität müsse energisch und
in möglichst kurzer Zeit angehende (akademische)
Berufsleute ausbilden und auf
den Arbeitsmarkt vorbereiten. Das Dilemma
wird dadurch noch verschärft, dass die
berufsbezogenen Ausbildungsgänge in der
Regel besonders viele Studierende anziehen.
Die Folgen liegen auf der Hand: 'Verschulung'
und ungünstige Betreuungsverhältnisse,
die ihrerseits eine individuelle
Förderung im Sinne einer weitgefassten
wissenschaftlichen 'Bildung' (unter Beteiligung
gar an der Forschung) entschieden
erschweren — wenn nicht verunmöglichen
Auch über die universitären Dienstleistungen
liesse sich noch einiges sagen, insbesondere
darüber, dass sie in nicht wenigen
Fällen die beiden andern Kernaufgaben in
den Hintergrund zu drängen, ja fast zu
überwuchern scheinen (und zwar durchaus
im Rahmen der regulären Pflichten!).
Doch schon jetzt zeichnet sich deutlich ein
doppeltes Bild ab: dasjenige einer 'platonischen
Akademie', die ihre Erfüllung in der
Erkenntnis, im intellektuellen Wagnis, im
Zeitlosen sucht —und dasjenige eines effizienten
'Betriebs', dem es obliegt, hier und
jetzt ganz unmittelbaren, fast handfesten
Nutzen zu stiften, in Zukunft auch noch
unter Wettbewerbsbedingungen. Eine moderne
Universität muss offenkundig beiden
Bildern genügen wollen.
Das freilich vermag sie nicht überall im
gleichen Masse. Und deswegen sollte sie
sich im vornherein darüber klar werden,
was sie in jedem Bereich vordringlich zu
leisten gedenkt, und die Verhältnisse dementsprechend
ordnen. Jüngst hat der
Schweizerische Wissenschaftsrat den Universitäten
des Landes empfohlen, sie
möchten sich vermehrt als eigentliche
'Forschungsuniversitäten' einrichten. Der
Begriff stammt aus den Vereinigten Staaten;
dort kennt man aber auch andere wie
'Doktorats-' oder 'Magisteruniversität'.
Gemessen an der Vielfalt der Aufgaben
wird eine Universität wie die unsere nie in
der Lage sein, gesamthaft als 'Forschungs-Universität'
aufzutreten (mit den dafür vorausgesetzten
idealen Betreuungs- und Förderungsverhältnissen).
Zumindest partiell
jedoch wäre ein solches Ziel unbedingt anzustreben,
während andernorts unser Erfolg
in erster Linie davon abhängen wird,
ob wir uns als eine hochwertige 'Magisteruniversität'
bewähren. Nochmals allerdings:
Die Verbindung von Forschung und
Lehre bleibt unantastbar, ebenso die Verpflichtung,
dem Nachwuchs über Doktorate
und weitere Qualifikationen die Welt der
Wissenschaft zu eröffnen
Das 'Profil' der Universität Bern müsste
sich am Ende aus einer Zusammenfügung
der 'Profile' ergeben, welche für die einzelnen
Fakultäten, Departemente, Institute,
Kliniken gelten. Oder anders gedreht: Je
differenzierter das 'Leitbild' der Universität
Bern ausfällt, desto leichter wird es den
einzelnen Fakultäten, Departementen, Instituten,
Kliniken möglich sein, sich darin
wiederzuerkennen. Gelingt es ihnen aber,
sich in der Tat darin wiederzuerkennen, so
werden sie auch bereit sein, sich als Teile
eines übergeordneten Ganzen zu verstehen.
Dies wiederum würde vermutlich zu
der dringend erforderlichen Stärkung der
gesamtuniversitären 'Identität' beitragen,
überdies dem Gespräch zwischen den so
verschiedenartigen Disziplinen einen neuen
Schub verleihen Und schliesslich soll
sich unser Stolz doch nicht zuletzt aus dem
Bewusstsein nähren, dass wir Angehörige
nicht irgendeiner Institution, sondern eben
der Universität Bern sind