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Das Ich und sein Traum

Vor mehr als 40 Jahren beobachteten die amerikanischen Schlafforscher Aserinsky und Kleitman, dass während des Schlafs im Abstand von 90 Minuten Phasen von schnellen Augenbewegungen auftreten und dass Schläfer, die sie zu diesen Zeitpunkten weckten, sich an lebhafte Träume erinnern konnten.

Die Traum forschung. die bis dahin eher ein Schattendasein gefristet hatte, erhielt von dieser Entdeckung starke Impulse. Man hoffte, weitere physiologische Signale des Träumens aufzuspüren und die Funktion der Traumaktivität genauer zu bestimmen. Der Zusammenhang des Träumens mit den zyklisch auftretenden REM-Phasen (Rapid Eye Movements) schien besonders eng zu sein: Als der Schlafforscher William Dement den REM-Schlaf entzog, indem er Schläfer jedesmal aufweckte, wenn die ersten Augenbewegungen einsetzten, fand er, dass vermehrte Weckungen notwendig waren, um diese Schlafphase zu unterbinden, dass das Befinden am nächsten Tag beeinträchtigt war und dass in den nachfolgenden Erholungsnächten der verlorene REM-Schlaf nachgeholt wurde. Dement meinte damals noch, mit dem REM-Schlaf-Entzug habe er gleichzeitig das Träumen verhindert und damit das psychische Gleichgewicht gestört.

Diese ersten eindrucksvollen Ergebnisse erwiesen sich allerdings in den nachfolgenden Jahren als wenig haltbar. Schon 1962 wies der bekannte Traumforscher David Foulkes nach, dass Träume keineswegs auf den REM-Schlaf eingegrenzt sind, da auch nach dem Aufwecken aus anderen Schlafphasen Gedanken und Vorstellungen berichtet wurden. Zwar wurden solche Träume nicht so oft erinnert und sie waren auch nicht so detailliert, sinnenhaft und lebendig wie die REM-Schlaf-Träume, aber sie liessen

den eigentlich wohl auch nahe liegenderen Schluss zu, dass der gesamte Schlaf von Träumen begleitet ist. Auch die psychischen Folgen eines REM-Schlaf-Entzugs konnten nicht eindeutig repliziert werden, d. h. die ersten spektakulären Ergebnisse zum Traum mussten relativiert werden.

Dennoch ist das Wissen über die Grundlagen des Träumens in den letzten Jahrzehnten erweitert worden. Der grösste Fortschritt ist darin zu sehen, dass man heute Träume systematisch in verschiedenen Schlafstadien erheben kann. Wir sind zwar in Bezug auf die Trauminhalte weiterhin auf die Erinnerung des Träumers angewiesen, wir bekommen aber einen umfassenderen und «traumnäheren» Einblick in das Schlaferleben und aufgrund der begleitenden Messungen können physiologische Merkmale, die dem Aufwecken vorausgingen, zu den Traumberichten in Beziehung gesetzt werden.

Im Schlaflabor des Psychologischen Instituts untersucht unser Mitarbeiterteam zusammen mit Studierenden seit vielen Jahren die Grundlagen und die Phänomenologie des Träumens. Wir interessieren uns für den Traum-Alltag und gehen der Frage nach, aus welchen Elementen Träume zusammengesetzt werden und welche Rolle der Träumer im Traumgeschehen übernimmt. Ganz besonders beschäftigt uns die Frage, ob und wie sich Träume im Laufe des Lebens verändern und in welcher Weise sie sich vom Wachdenken abheben.

Im Folgenden möchte ich Ihnen einen Einblick darin geben, in welchem Zusammenhang Träume mit dem Denken und den Interessen des wachen Lebens stehen und wie sie sich parallel zu der Entwicklung der Persönlichkeit und der Erweiterung des Erfahrungshorizonts verändern.

1. Methoden der Erhebung und Datenbasis

Ich stütze meine Aussagen auf eine vom Schweizerischen Nationalfonds geförderte Längsschnittstudie über die Traumaktivität im zweiten Lebensjahrzehnt, die wir von 1990 bis 1996 durchgeführt haben. 1 Sie wurde angeregt durch die Arbeiten von David Foulkes, der in den siebziger Jahren in einer Langzeituntersuchung die Träume von Kindern und Jugendlichen im Labor erhoben hat.

An unserer Studie nahmen 12 Knaben und 12 Mädchen teil, die im Alter von 9 bis 11 Jahren zum ersten Mal im Schlaflabor ihre Träume berichteten. Sie kamen in der Regel zu zweit und wurden in jeweils drei

Versuchsnächten von zwei Personen betreut. Mit der kontinuierlichen Aufzeichnung des Elektroenzephalogramms, der Augenbewegungen und des Muskeltonus wurde der Schlaf der Kinder beobachtet, um sie aus ihren REM-Phasen nach dem in Abbildung 1 dargestellten Schema aufzuwecken:

Abb. 1: Die Weckungen aus dem REM-Schlaf bei einem idealtypischen Schlafverlauf.

Die erste Weckung erfolgte erst in der zweiten REM-Phase, 5 Minuten nach ihrem Einsetzen, damit die Kinder zu Beginn der Nacht 3 bis 4 Stunden ununterbrochen schlafen konnten. Anschliessend wurden sie aus jeder nachfolgenden REM-Phase erneut geweckt, und zwar nach jeweils 10, 15 und 20 Minuten, wobei die längere Wartezeit die zunehmende Dauer dieser Phasen berücksichtigt. Die Kinder wurden ausschliesslich aus dem REM-Schlaf aufgeweckt, weil hier das Aufwachen und die Traumerinnerung am leichtesten fallen. Die Weckungen erfolgten über eine Gegensprechanlage, wobei das Kind mit dem Namen angesprochen wurde. Die Versuchsleiterin stellte die Frage: «Was hast Du gerade geträumt, bevor ich Dich geweckt habe?» Wenn das Kind seinen Traum erzählt hatte, ging sie in den Schlafraum, stellte einige klärende Fragen zu den Inhalten und zu den Gefühlen im Traum. Um die Phantasie im Wachen zu erfassen, erhoben wir jeweils vor dem Einschlafen eine Phantasie, indem wir ein bestimmtes Thema stellten, z. B. «Stell' Dir vor, es hat über Nacht zwei Meter hoch geschneit. Erfinde eine Geschichte dazu.»

Wir haben die Untersuchung mit denselben Kindern noch zweimal im Abstand von jeweils zwei Jahren wiederholt, so dass die Wachgeschichten und Träume von der späten Kindheit bis zum Beginn der Adoleszenz reichen. In den drei Erhebungen wurden in 214 Labornächten 767 Weckungen durchgeführt. Insgesamt liegen von den Kindern 551 Laborträume und 286 Wachgeschichten vor, die sich recht gleichmässig auf die drei Altersstufen verteilen. Alle Träume und Phantasien wurden einschliesslich der Befragungen wortgetreu, mit einem Umfang von rund 1500 Seiten, im Computer gespeichert.

Zusätzlich habe ich aus unserer Traumdatenbank eine Vergleichsstichprobe von Träumen Erwachsener ausgewählt, die unter denselben Bedingungen erhoben wurden. Es sind 207 Träume von 12 Männern und 12 Frauen, die individuell genau so viele Träume zu vergleichbaren Zeitpunkten berichtet haben wie die 13-bis 15-jährigen Kinder.

2. Häufigkeit der Traumerinnerung

Abbildung 2 zeigt die Häufigkeit der Traumerinnerung nach Weckungen aus dem REM-Schlaf. Während sich Erwachsene im Labor nach 9 von 10 Weckungen an einen Traum erinnerten, fielen den Kindern die Träume nicht so leicht ein.

Abb.2: Traum - nach REM-Schlaf-Weckungen

Insbesondere hatten die Knaben mit der Erinnerung Mühe, im Alter von 10 Jahren waren nur 58 Prozent der Weckungen erfolgreich, doch verbesserte sich ihre Traumerinnerung in den beiden nachfolgenden Untersuchungen und erreichte mit 14 Jahren 74 Prozent. Die Mädchen dagegen hatten von Anfang an eine bessere Traumerinnerung, auch wenn sie noch nicht die Werte der Erwachsenen erreichten.

Warum erinnern sich Kinder weniger häufig an ihre Träume? Zum einen kann in diesem Alter die Weckschwelle noch ziemlich hoch sein, was die Abrufbarkeit der Träume erschwert. Zum anderen sind Kinder weniger als Erwachsene darin geübt, auf ihre Träume zu achten, was wiederum damit in Zusammenhang steht, dass Träume für sie noch nicht mit einer persönlichen Bedeutung verbunden sind. Das Interesse am

Traum nimmt erst in späteren Jahren zu, wenn sie als sinnvoll angesehen werden. Man kann weiterhin davon ausgehen, dass Erwachsene an einem Traumexperiment teilnehmen, weil sie sich für ihr Innenleben besonders interessieren, wohingegen bei Kindern, insbesondere bei Knaben dieser Altersspanne, die Lust an einem Experiment teilzunehmen im Vordergrund steht.

Mit zunehmendem Alter stieg bei den Kindern nicht nur die Häufigkeit der Traumerinnerung an, sondern ihre Berichte wurden auch länger. Während der Traum der Erwachsenen durchschnittlich 94 Worte umfasst, enthalten die Träume der 10-jährigen im Mittel nur 68 Wörter. Allerdings gibt es hier Geschlechtsunterschiede in allen Altersgruppen: Frauen und Mädchen erinnerten sich an längere Träume als Männer und Knaben. Das liegt nicht daran, dass weibliche Träumer ihre Erlebnisse wortreicher oder gar redundanter beschreiben, da ihre Träume auch inhaltsreicher sind, wenn man die thematischen Einheiten auszählt. Offensichtlich ist bei Frauen und auch schon bei Mädchen die Fähigkeit der Rückbesinnung stärker ausgeprägt.

3. Die Traumbausteine

In der Inhaltsanalyse der Träume wurden nach genauen Regeln die Szenerien, die beteiligten Figuren, ihre Handlungen und Interaktionen von zwei unabhängigen Beurteilern kodiert. Aus den vielfältigen Ergebnissen wähle ich einige Beispiele aus, an denen ich veranschaulichen möchte, wie sich die Träume von Knaben und Mädchen von denen junger Erwachsener abheben, wie sie sich im Laufe der Entwicklung verändern und wie sie sich von ihren Wachgeschichten unterscheiden.

Den REM-Träumen der Kinder und Erwachsenen ist zunächst eine Vielfalt von Szenarien, Rollenbesetzungen und Handlungen gemeinsam: Nahezu jeder Traum findet in irgendeiner Umgebung statt, sei es im Freien oder in geschlossenen Räumen, wobei allerdings diese Umwelten häufiger fremd als vertraut sind. Der Träumer ist in der Regel mit mehreren anderen Personen zusammen. Hier handelt es sich meistens um männliche und weibliche Bekannte, doch auch fremde Charaktere schalten sich oft in den Traum ein. In Träumen finden vielerlei Aktivitäten statt, und zwar vorwiegend im Rahmen von Alltagssituationen, deren einzelne Elemente zwar aus dem Wachleben stammen, die aber anders kombiniert und in neue Erlebnisse umgesetzt werden.

Die Träume von Kindern und Erwachsenen unterscheiden sich vor allem in den Häufigkeiten einzelner Merkmale. Eine erste Abweichung betrifft die Traumfiguren: Kinder träumen etwa gleich verteilt von Kindern

und Erwachsenen, während Erwachsene von Personen ihres Alters und nur gelegentlich von Kindern träumen. Abbildung 3 zeigt, dass die unterschiedlichen Interessen von Knaben und Mädchen auch die Wahl ihrer Traumpartner bestimmen: Mädchen träumten in erster Linie von Mädchen, Knaben dagegen von Knaben.

Abb.3: Identität von 879 Personen in 551 Kinderträumen.

Bei den Knaben ist die Bevorzugung gleichaltriger Knaben gegenüber Mädchen besonders markant, während die Mädchen schon häufiger Knaben ihres Alters in ihre Träume einbezogen haben. Über die drei Untersuchungen hinweg zeigten sich hier keine Veränderungen und auch in den Wachphantasien war die gleiche geschlechtsspezifische Verteilung der Traumfiguren zu beobachten.

Ein zweiter Unterschied betrifft die Häufigkeit von Traumtieren. Sie kommen in den Träumen der Erwachsenen nur sehr selten vor, wohingegen an jedem vierten Traum der 10-jährigen ein Tier beteiligt war. Bei den Knaben ging der Anteil der Tiere schon ab dem 12. Lebensjahr auf unter zehn Prozent zurück, bei den Mädchen jedoch zeigte sich keine Abnahme. Auch in den Wachgeschichten der Mädchen waren Tiere mit gleicher Häufigkeit einbezogen.

Obwohl die meisten Kinder Haustiere haben, träumten sie interessanterweise nur selten von ihren eigenen Tieren. Mädchen träumten in erster Linie von Haus- und Stalltieren, die mit Pflege und Nähe verbunden sind, während Knaben ungezähmte heimische Tiere bevorzugten, die sich als Rivalen oder Gefährten präsentierten. Vor allem bei den jüngeren Kindern hatten die Traumtiere nicht selten anthropomorphe Züge, so bat beispielsweise eine Schlange den Träumer, sie zu einem Skilift zu begleiten oder eine Katze erkundigte sich bei einer Träumerin, wo sich das Katzenbad befindet.

Die Auswahl der Traumbausteine veranschaulicht vor allem das aktuelle Interesse des Träumers: Kinder umgeben sich im Traum in erster Linie mit den Lebewesen, die auch im Wachen ihre Phantasie beschäftigen, wobei noch hinzuzufügen ist, dass die meisten Traumerlebnisse von einer positiven Stimmung begleitet waren.

4. Die Rolle des Träumers

Die Rolle, die das Ich im Traum übernimmt, zeigt, wie der Träumende sich selbst sieht. Junge Erwachsene sind als Träumer überwiegend interaktiv in das Geschehen eingebunden, nur in jedem fünften Traum ist das Ich Zuschauer oder allein unterwegs. Allerdings sind Frauen in ihren Träumen geselliger als Männer, die sich häufiger allein in der Traumwelt bewegen oder sich erst gar nicht einbeziehen.

Die Fähigkeit, das Traumgeschehen aktiv mitzugestalten, entwickelt sich erst mit zunehmendem Alter: 10-jährige Kinder kommen zwar in den meisten ihrer Träume selbst vor, am häufigsten unternehmen sie aber etwas gemeinsam mit anderen, ohne selbst Initiative zu ergreifen. Erst im Alter von 14 Jahren sind die Knaben in ihren Träumen überwiegend selbstbestimmend, die Mädchen allerdings bereits zwei Jahre früher. Hier handelt es sich um einen traumspezifischen Entwicklungsschritt, da die Kinder in ihren Wachphantasien von Anfang an eine führende Rolle übernahmen.

Wenn Träume immer wieder als Bilderwelt beschrieben werden, dann wird meist übersehen, dass Sprache im Traum eine wesentliche Rolle spielt. Das Traumgeschehen wird nicht nur durch visuelle Vorstellungen, sondern auch durch Sprechen bestimmt. In etwa zwei von drei Träumen der Erwachsenen wird etwas gesprochen und hier ergreift überwiegend der Träumer das Wort.

In unserer Längsschnittstudie zeigte sich, dass das Sprechen im Traum erst mit dem Alter zunimmt. Aus Abbildung 4 (Seite 12) ist zu ersehen, dass bei den 9- bis 11-jährigen die Mehrzahl der Träume noch ohne Sprachbeteiligung ist, im Alter von 13 bis 15 Jahren dagegen befinden sich solche «stummen» Träume in der Minderheit.

Sprache wird im Traum zunächst mehr rezeptiv aufgenommen: Ehe das Traum-Ich zum Wortführer wird, sprechen häufiger die anderen Traumfiguren. In der ersten Altersstufe gab es noch mehr Träume, in denen nur andere sprachen, die Träumer hörten zu oder nahmen Anweisungen entgegen, wie z. B. im folgenden kurzen realistischen Traum, den ein 10-jähriger Knabe nach der zweiten Weckung berichtete:

Abb. 4: Sprache in REM-Träumen von Kindern und Erwachsenen.

«Ich war draussen und kam um die Hausecke und da hat meine Grossmutter gesagt, ich solle das Velo versorgen.»

In der dritten Altersstufe kann das Gespräch schon einen ganz zentralen Stellenwert haben, wie der 4. REM-Traum eines 14-jährigen Mädchens zeigt:

«Ich habe geträumt, dass ich mit einer Freundin und einem Cousin in so einem Haus bin und dass wir über so wichtige Personen aus der Geschichte reden, irgendwie Otto V. und auf der anderen Seite sitzen so Mädchen und die sind nachher gekommen und haben sich verabschiedet. Und nachher haben wir weitergeredet über Otto V., dass sein Vater irgendwie in ein Loch gefallen und da gestorben ist.»

Die Entwicklung der Sprachbeteiligung im Traum zeigt keine Parallele zu den Wachgeschichten. Von Anfang an tritt hier in gut jeder zweiten Wachgeschichte Sprache auf, und in 9 von 10 dieser Geschichten reden die Kinder selbst.

Aggressionen sind in den REM-Träumen von Erwachsenen und Kindern nicht so häufig, wie man den Träumen immer nachgesagt hat. Nur in gut jedem vierten Traum kommen unfreundliche Handlungen vor, die zudem weit mehr verbaler als physischer Natur sind.

Allerdings sieht man in Abbildung 5 einen bedeutsamen Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen: Kinder sind in ihren Träumen häufiger Zielscheibe als Initianten von Aggressionen. Das gilt für die Träume der Knaben und Mädchen in allen drei Altersstufen. Kinder werden in ihren Träumen überwiegend von Erwachsenen kritisiert, die Knaben von Männern und Frauen, die Mädchen dagegen vor allem von Männern. In den Wachgeschichten dagegen sind Aggressionen anders verteilt: Hier werden mehr unfreundliche Handlungen berichtet und es sind meist die Kinder selbst, die Kritik austeilen oder sich nachdrücklich durchsetzen.

Ausgesprochene Freundlichkeiten finden sich in jedem dritten Traum von Erwachsenen, aber nur in jedem fünften Kindertraum. Erwachsene Träumer teilen mehrheitlich selbst die Freundlichkeiten aus, bei den 10-jährigen Träumern ist ein ausgewogenes Verhältnis von Geben und Nehmen zu beobachten, im Alter von 14 Jahren dagegen stellen sich Knaben und Mädchen im Traum hauptsächlich als Empfänger von Zuwendungen und Hilfeleistungen dar. In den Wachgeschichten der Kinder ist es anders: Freundliche Handlungen sind häufiger und in allen Altersstufen ist es in erster Linie der Erzähler selbst, der sie ausführt.

Abb. 5: Die Rolle des Träumers bei aggressiven Handlungen.

Während Kinder für ihre Träume und Wachgeschichten dieselben Bausteine auswählen, die ihre geschlechtsspezifischen Interessen veranschaulichen, übernehmen sie im Traum andere Rollen als in der Wachphantasie. Der selbstbewussten Ich-Repräsentation in den Wachgeschichten steht ein Traum-Ich gegenüber, das sich noch in einer schwächeren Position sieht und dessen soziale Kompetenzen sich erst allmählich entwickeln. Die Interpretation liegt nahe, dass Kinder sich im Traum so darstellen, wie sie sich in Wirklichkeit sehen, während sie sich in den Wachgeschichten so portraitieren, wie sie gerne sein möchten. In diesem Sinn spiegelt der Traum die gegenwärtige Selbsteinschätzung, während die Wachphantasie die Zukunft vorwegnimmt.

Wie die individuelle Entwicklung des Träumens vom passiven, unbefangenen Erleben zum aktiven, reflektierten Handeln verläuft, möchte ich an zwei Beispielen illustrieren.

Ein 11-jähriger Knabe erzählte in der ersten Labornacht folgenden Traum aus der 5. REM-Phase:

«Ich bin mit ein paar Kameraden zusammen gewesen. Und wir sind eine Strasse durchgelaufen, und dann hat einer zu einem anderen Buben

gesagt: <Renne voraus und klingle bei den Leuten und rufe ganz laut unsere Namen.> Lachend hat er das natürlich gesagt als Witz. Und dann schauen diese Frau und der Mann heraus, und der andere Bub geht hinter die Säule, und sie sieht mich. Und sie schaut mich an, dabei bin ich es gar nicht gewesen.»

Dieser Traum geht von einer gemeinschaftlichen Aktivität unter Gleichaltrigen aus, wobei der Streich von einem Anführer geplant und einem Gefolgsmann ausgeführt wird. Der Träumer ist nur Mitläufer, gerät dann unverschuldet in Verdacht und wird zum Mittelpunkt des Traumgeschehens, ohne darauf zu reagieren.

Vier Jahre später berichtete der nunmehr 15-jährige Knabe in der zweiten Nacht nach der zweiten Weckung:

«Ich, mein Bruder und der Mario sind miteinander an einen Wettbewerb spielen gegangen. Und das erste Lied macht der Mario allein, das zweite Lied der Bruder und ich und das dritte Mario, ich und mein Bruder. Und dann haben wir das gespielt. Und nachher sind wir nach Hause gefahren im Tram miteinander und wir sind total stolz gewesen, haben so gelacht und uns gratuliert, weil wir haben den 1., 2. und 3. Preis bekommen, also wir haben einfach alles gerade gewonnen. Und dann reden wir so über die einzelnen Stücke, was man noch könnte verbessern und kritisieren über das. Und nachher hat es so eine Spannung gegeben unter uns, wer hat da was gemacht, wir haben ja noch nicht schauen können auf der Kassette, auf der wir das aufgenommen haben.»

Das Traum-Ich ist inzwischen zu einem gleichberechtigten Partner der Traumkollegen avanciert. Der Träumer setzt sich aktiv mit ihnen auseinander, wobei jetzt die Motive Leistung und Rivalität im Mittelpunkt stehen.

Ein 9-jähriges Mädchen erinnerte sich in der dritten Nacht nach dem zweiten Aufwecken an folgendes Erlebnis:

«Also wir sind da auf einem Markt gewesen. Und dort gab es eine Frau, die hat Gurken verkauft. Und da hat die Mami eine gekauft. Dann sehe ich, dass in der Gurke drinnen kleine Viecher sind. Und dann ist sie an den Stand zurück das sagen. Und dann hat die Frau von der Polizei dort alle Gurken wieder einsammeln lassen, die sie verkauft hat. Und eine Frau hat von dieser Gurke schon gegessen und ich habe gesehen, wie sie auf eine Bahre gelegt wurde und ins Spital gefahren wurde.»

In Begleitung der Mutter entdeckt die Träumerin zwar die verseuchten Gurken, aber sie bleibt nur am Rande als Zuschauerin beteiligt, während die Mutter reklamiert und andere Personen den Schaden beheben.

Vier Jahre später berichtete die 13-jährige in der zweiten Nacht nach der dritten Weckung:

«Wir sind mit der Schule so auf eine ganz grüne Wiese gegangen und dann nachher dort haben wir so Spiele machen müssen. Und mussten, ja so gefälschte Goldmünzen suchen, einfach so Steine, die goldig angemalt waren. Und dann habe ich keine gefunden und habe gesagt: <Ich finde keins!> und nachher haben alle die Knaben gesagt <Da!> und haben angefangen

mir Steine nachzuwerfen. Und nachher bin ich hässig geworden und habe einfach mit Holzstückchen, die ich auf der Wiese gefunden habe, denen zurückgeschossen. Und nachher haben sie dann auch wieder aufgehört.»

Der Traum beginnt mit einem gemeinschaftlichen Spiel, aber die Träumerin ist jetzt sprechend und handelnd am Geschehen beteiligt. Gegen den Angriff der Knaben kann sie sich erfolgreich, wenn auch mit schwächeren Waffen, zur Wehr setzen.

5. Schlussüberlegungen

Die Untersuchung der Träume belegt, dass wir mit dem Einsetzen des Schlafs unsere Gedanken und Vorstellungen nicht abschalten, sondern psychisch ständig aktiv sind, indem wir in einer belebten Traumwelt immer wieder neue Erlebnisse schaffen. Die Bausteine der Träume stammen aus dem Gedächtnis, in dem das Wissen, die Erfahrungen sowie die Gedanken, die wir uns darüber machen, gespeichert sind. Der Träumer wählt aus diesem Repertoire die Elemente aus, die für ihn von aktuellem Interesse sind, fügt sie zu neuen Situationen zusammen, setzt sich selbst als Akteur ein und verhält sich so, wie er sich im Wachen einschätzt.

Der Strom des Bewusstseins wird mit dem Einsetzen des Schlafs nicht unterbrochen, er wird allenfalls verlangsamt, wenn die Wahrnehmung der Aussenwelt und die Motorik reduziert sind. Es gibt gelegentlich «Stromschnellen», das sind die gefühlsbesetzten dramatischen Träume, die zum Erwachen führen können und an die man sich besser erinnert. Es kann auch zu Staus kommen dann, wenn aufgrund traumatischer Erlebnisse ein und derselbe Angsttraum immer wiederkehrt. Aber die meisten Träume sind viel prosaischer: Im Rahmen ihrer breiten Gestaltungsmöglichkeiten können zwar Wünsche erfüllt und unerledigte Handlungen vollendet werden, aber eigentlich sind sie eine —wenngleich kreative —Fortsetzung des menschlichen Alltags.

Die Traumforscher haben viele Ergebnisse gesammelt, aber über die Funktion des Träumens haben sie sich noch nicht einigen können. Wir haben die 9- bis 11-jährigen Kinder gefragt, ob sie eine Idee hätten, warum man träumt. In ihren Antworten spiegeln sich die verschiedenen Hypothesen, die auch die Traumforscher aufgestellt haben:

Ein Knabe war der Meinung: «Also ich träume meistens, was ich gemacht habe und dann ist das Erinnerung.» Er hat die richtige Beobachtung gemacht, dass bei der Konstruktion des Traums Tagesreste eine bedeutsame Rolle spielen. Ein anderer Knabe stellte die Überlegung an: «Ja irgendwie, wenn man etwas denkt, das geht einem nicht aus dem Kopf und nachher stellt man sich das so vor und dann sieht man das irgendwie.»

In seiner Aussage wird die informationsverarbeitende Funktion des Traums angesprochen. Ein Mädchen antwortete: «Man träumt, weil man sich etwas erhofft.» Die hier formulierte Wunscherfüllung des Traums ist für die Psychoanalyse die wesentlichste Traumfunktion. Ein anderes Mädchen sagte: «Vielleicht ist es zum etwas Hinauslassen. Wenn ich mit meinem Bruder wütend bin, dann habe ich einen schlechten Traum, aber dafür bin ich dann am Morgen mit dem Bruder nicht mehr wütend, weil ich das ausgeträumt habe.» Sie hat die problemlösende und kathartische Funktion des Traums umschrieben. Und schliesslich meinte ein Mädchen: «Wir träumen, damit es uns in der Nacht nicht langweilig ist.» Diese Aussage trifft die Funktion des Traums im weitesten Sinn, denn sie verweist auf die niemals schlafende Fähigkeit des menschlichen Geistes, die Kontinuität des Erlebens herzustellen, wenn die Wahrnehmung der Aussenwelt in den Hintergrund tritt.