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Religion und Schweizerische Eidgenossenschaft

Basler Universitätsreden 95. Heft

Rektoratsrede gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel

am 27. November 1998
Schwabe &Co. AG Verlag Basel

Reihe Basler Universitätsreden, herausgegeben von der Stelle für Öffentlichkeitsarbeit der Universität Basel im Auftrag des Rektorats

© 1998 by Schwabe &Co. AG . Verlag . Basel
ISBN 3-7965-1329-8

In zunehmendem Masse beherrscht ein Thema die Beschäftigung mit der Schweizer Geschichte. Sowohl im akademischen Bereich wie in einer breiteren Öffentlichkeit verstärkt und vertieft sich die Besinnung auf das «Besondere» dieser Geschichte, auf die historische Dimension der nationalen schweizerischen Identität. 1 Zu dieser Entwicklung haben auch die Jubiläen der Jahre 1291, 1648, 1798 und 1848 beigetragen. Beim Überblicken der Resultate dieses Nachdenkens fällt ein Manko auf. Es hat den Anschein, dass Religion — oder vorsichtiger formuliert —das Religiöse weder in der Schweizer Geschichte noch bei der Ausbildung eines nationalen Bewusstseins eine wesentliche Rolle gespielt hat.

Das Fehlen des religiösen Elements bei der Besinnung auf die Schweizer Geschichte mag damit zusammenhängen, dass Religion heute wesentlich der Sphäre des Privaten und Individuellen zugewiesen wird. 2 Deshalb schwindet die Wahrnehmungsfähigkeit für die gesellschaftsgestaltende Kraft von Religion in der Vergangenheit. Tatsächlich stehen im Zentrum heutiger religions- und kirchengeschichtlicher Forschung Themen individueller Religiosität und Frömmigkeit. Aus dem Blick geraten kann dabei die frühere gesellschaftliche Reichweite von Religion.

In dieser Stunde möchte ich einen Beitrag zur Überwindung dieses Mankos leisten. Indem ich nach der gesellschaftlichen und politischen Rolle von Religion in der Schweizer Geschichte frage, berühre ich zugleich Elemente des Nationalbewusstseins. Denn schweizerisches Nationalbewusstsein richtet sich stets an historischen Daten aus. Das ist nichts Besonderes. Nationalbewusstsein in christlichem oder jüdischem Horizont kommt nie ohne geschichtliche Dimension aus.

Ich möchte das Thema «Religion und Schweizerische Eidgenossenschaft» 3 anhand von vier Entscheidungsjahren der Schweizer

Geschichte erörtern. Es sind dies die Jahre 1291, 1531, 1848 und 1939. Einige knappe Bemerkungen zum Abschluss sollen dann die zusammenfassende Anwort auf die Frage nach der Rolle von Religion in der Schweizer Geschichte geben.

1291

Im 12. und 13. Jahrhundert fügt sich das Gebiet der heutigen Schweiz in den gesamteuropäischen Prozess eines wirtschaftlichen Aufschwunges ein. Sowohl im Schweizer Mittelland wie in den voralpinen und alpinen Gebieten wurde neues Siedlungs- und Kulturland erschlossen. Daraus erwuchsen langfristige und weitreichende demographische und soziale Veränderungen. Zum einen entstanden «Städte» mit den charakteristischen Kennzeichen wie Handwerker- und Händlerstand, relative kommunale Selbstverwaltung, Geldwirtschaft oder Bildungseinrichtungen. Zu diesen neuen Städten gehört Zug ebenso wie Luzern oder Thun. 4 Zum anderen entwickelte sich vom 12. bis zum 14. Jahrhundert eine spezifisch alpine Gesellschaft. 5 Zwar unterschied sich diese Gesellschaft nicht vom allgemeinen Bild des europäischen Mittelalters, aber der alpine Raum wies einige Sondermerkmale auf, die für das Entstehen der Schweizerischen Eidgenossenschaft bedeutsam geworden sind. Im Gegensatz zum schweizerischen Mittelland siedelten im Alpenbereich «freie» Bauern, die nicht dem sonst üblichen Grundherrschaftssystem unterworfen waren. Sie organisierten sich politisch und wirtschaftlich selber. Kontinuierlich entwickelte sich ein reger Austausch zwischen der Alpenregion und den ihr vorgelagerten Städten. Harmonie und Konflikt zwischen Stadt und Land gehören zu den Konstanten schweizerischer Geschichte seit dem Hochmittelalter. Durchlässigkeit kennzeichnet beide Lebensräume.

Im 13. Jahrhundert gewannen zugleich mit dem demographischen und ökonomischen Wachstum Städte und Talschaften zusehends an politischem Gewicht. Selbständig handelten sie sowohl bei der Regelung innerer Angelegenheiten wie bei der Rechtspflege.

Verlierer bei diesem Prozess von Autonomisierung und Kommunalisierung waren lokale Adelige und die territorialen Grossmächte Savoyen und Habsburg. Das augenfälligste Element bei diesem Vorgang ist der Bund von 1291 zwischen Uri, Schwyz und Unterwalden. Allerdings bekam der Bund erst nach dem Sieg am Morgarten von 1315 seine eigentliche politische Zielsetzung. Jetzt verpflichteten sich die Eidgenossen zu einer gemeinsamen Schutzpolitik gegenüber allen fremden Herren. Der Beitritt Luzerns zum Bund veränderte den Charakter der Eidgenossenschaft, da sie jetzt über den alpinen Bereich auszugreifen begann und zu den drei Länderorten ein eigentlicher Stadtstaat stiess. Stadt und Land waren damit vertraglich aneinander gebunden. Bekanntermassen war der Gründungsakt der Eidgenossenschaft 1291 kein Sonderfall. 6 Es gab damals andere, ähnliche Bündnisse sowohl im Alpenbereich wie im übrigen Europa. Sie hatten keinen Bestand. Gerade deshalb ist die Frage um so drängender, welche Bedingungen die Schweizerische Eidgenossenschaft langfristig sichern halfen. Präziser gefragt, haben vielleicht religiöse Elemente Werden und Wachstum der Eidgenossenschaft gefördert? Hat Religion, zum Beispiel in ihrer institutionellen Form, etwa als kirchliche Organisation oder in gemeinsamer religiöser Praxis, Einheit und Zusammengehörigkeit unter den Eidgenossen verstärkt? Die Antwort scheint mir eindeutig.

Die frühesten Gebiete der Eidgenossenschaft lagen alle am Rande des Bistums Konstanz —einem der grössten Bistümer im deutschen Sprachgebiet. Irgendeine Vorgabe eines besonderen Bistums oder eines Dekanatssprengels fehlte für die Eidgenossenschaft. Die diözesane Organisation war in dieser Randlage erst ganz schwach entwickelt. Jedenfalls fiel die Bistumsorganisation in der Schweiz weder 1291 noch später als förderndes Element für den gesamtstaatlichen Bereich ins Gewicht. Charakteristischerweise fehlt ja in der Schweiz bis heute ein Erzbistum. Ebensowenig wie eine kirchlich-institutionelle Verknüpfung gab es gemeinschaftsfördernde Formen der Frömmigkeit. Spezifisch alpine Eigenheiten religiöser Praxis lassen

sich nicht nachweisen. Das ist keineswegs überraschend, denn ebensowenig kann von einer besonderen alpinen Kultur 7 oder von besonderen Elementen der Kunst 8 die Rede sein. Eine gewisse integrierende Rolle dürfte wohl der Schwyzer Wallfahrtsort Maria-Einsiedeln gespielt haben, aber nie hatte er eine wirkliche kirchliche Zentrumsfunktion inne.

Immerhin lässt sich von einer Besonderheit auf lokaler Ebene sprechen. Ich habe den relativ hohen Grad der politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Selbstorganisation der örtlichen Gemeinschaften erwähnt. Dieser drückte sich auch im kirchlichen Bereich aus. Talschaften und andere bäuerliche Korporationen konstituierten sich nämlich ebenso als kirchliche Zweckverbände, die zum Beispiel für den Kirchenbau oder für den Priesterunterhalt sorgten. Diese Gemeinschaften übernahmen also im kirchlichen Bereich Pflichten, welche anderswo der Grundherrschaft zukamen. Insofern unterstützte und verstärkte Religion die auf lokaler Ebene gegebenen Möglichkeiten im politischen und ökonomischen Bereich. Diese Entwicklung der Kommunalisierung hat sich in den nächsten Jahrhunderten auf allen Ebenen verstärkt. Auch die Religion hat daran Anteil. Trotzdem, der zusammenfassende Blick auf das Jahr 1291 kommt um die nüchterne Feststellung nicht herum, dass Religion bei Entstehung und frühester Entwicklung der Eidgenossenschaft keinen bestimmenden Einfluss ausgeübt hat.

1531

Der Sommer 1531 führte die Eidgenossenschaft in eine Krise. Die religiösen Differenzen waren unüberbrückbar geworden, eine staatsrechtliche Pattstellung trat ein. Grundsätzlich hätte die Reformation nicht zum Konflikt zwischen den Gliedern der Eidgenossenschaft führen müssen, da jeder Stand seine inneren Angelegenheiten selbständig, ohne Rücksicht auf die übrigen Bundesglieder regeln konnte. Zum Zankapfel wurden indes die Gemeinen Herrschaften, also die von allen oder mehreren Ständen erworbenen Untertanengebiete,

wie zum Beispiel die Grafschaft Baden oder die Landgrafschaft Thurgau. Die regierenden Stände entschieden mit Mehrheitsbeschluss in diesen Gemeinen Herrschaften. Der Konflikt entzündete sich an der Kompetenz zur Einführung der Reformation. Die Katholiken gingen von der Rechtsmeinung aus, auch über die Religionsfrage hätten die regierenden Stände zu entscheiden. Dieser Standpunkt überrascht nicht, da die Katholiken bei allen grösseren Herrschaften die Mehrheit innehatten. Die Protestanten, also namentlich Zürich und Bern, bestanden auf dem Gemeindeprinzip. Jede Kirchgemeinde müsse selbst entscheiden, ob sie dem traditionellen Kirchenwesen treu bleiben wolle oder nicht. Über diese Rechtsfrage konnten sich die Parteien nicht einigen. Das Klima wurde durch Provokationen von beiden Seiten vergiftet. Die Katholiken hielten Ketzerprozesse ab und richteten Zwinglianhänger hin. Der Reformator seinerseits beharrte auf seiner Vision einer reformatorisch-evangelischen Eidgenossenschaft. Auch in den katholischen Gebieten müssten reformatorische Literatur und reformatorische Predigt zugelassen sein.

Die Lage spitzte sich im Sommer 1531 zu. Die Protestanten schnitten die Innerschweizer durch eine Proviantsperre von den lebensnotwendigen Getreideimporten ab. Ein Krieg schien unausweichlich. Hektische Vermittlungsbemühungen setzten ein. In dieser kritischen Situation schrieb Huldrych Zwingli Gedanken über Vergangenheit und Zukunft der Eidgenossenschaft, über ihren Charakter nieder. 9 Seinen Ausgangspunkt nimmt der Reformator bei der Feststellung, die Eidgenossenschaft sei ein einziges Regiment, also ein einheitliches Herrschaftsgebiet. 10 Deshalb könnten auf Dauer fundamentale Unterschiede nicht bestehen bleiben —und Zwingli konstatiert nicht bloss Unterschiede zwischen den Religionsparteien. Darüber hinaus nimmt er eine eindeutige Wertung vor. In den katholischen Gebieten lebe eine falsche und gotteslästerliche Religion fort. Zucht und Ordnung seien verschwunden, eigentlich herrsche dort Anarchie. Die Katholiken stürzten die ganze Eidgenossenschaft

ins Verderben, denn Bibel und Geschichte lehrten, dass ein Teil das Ganze gefährde und Gott frevelhaftes Treiben nicht ungestraft lasse. Um die ganze Eidgenossenschaft vor diesem Gottesgericht zu bewahren, müssten, so Zwinglis Vorschlag, Zürich und Bern die Initiative ergreifen. Rasch hätten sie militärisch zu intervenieren, um der Gerechtigkeit Nachachtung zu verschaffen. Das eidgenössische Bündnissystem sei neu zu ordnen, dann würden Bern und Zürich «in der Eidgenossenschaft sein genauso wie zwei Ochsen vor dem Wagen, die an einem Joch ziehen» 11. So Huldrych Zwingli im August 1531: Zürich und Bern als Ochsen der Eidgenossenschaft. An dieser Haltung ist zweierlei bemerkenswert. Zwingli nimmt seinen Ausgangspunkt konsequent bei der Eidgenossenschaft als ganzer. Sie ist Adressat seines religionspolitischen Wirkens, sie steht unter Gottes Aufsicht. Diese Fürsorge Gottes, und das ist das zweite, hat in der Einhaltung gewisser ethisch-moralischer Normen durch die Eidgenossen ihre Entsprechung. Naturgemäss interpretiert der Reformator diese Normen im protestantischen Sinne. Zu ihrer Durchsetzung geht Zwingli soweit, die traditionelle Rechtsordnung, also das eidgenössische Bündnissystem mit seiner prinzipiellen Gleichstellung aller Partner, für überholt zu erklären. Denn Zürich und Bern sollen ja die Ochsen, das heisst die führenden Kräfte, sein.

Drei Monate nach der Formulierung dieser Sommergedanken war Zwingli tot. Er fiel in der Schlacht von Kappe!, die den Protestanten eine vernichtende Niederlage brachte. Die Katholiken erwiesen sich als massvolle Sieger, doch schrieben sie im Friedensvertrag, dem sogenannten Kappeler Landfrieden, 12 ihre Auffassung von der Eidgenossenschaft und vom Verhältnis von Religion und Politik fest. Obwohl das Dokument keinen Zweifel daran lässt, dass der Katholizismus der «wahre christliche Glaube» ist, wird doch den Protestanten mit ihrem «neuen Glauben» —wie es heisst —die freie Religionsausübung im vollständigen bisherigen territorialen Umfang garantiert. Sogar in den Gemeinen Herrschaften wird der Fortbestand der evangelischen Gemeinden zugesichert. Weiteres Wachstum

zugunsten des Protestantismus ist allerdings ausgeschlossen. Zürich musste seiner expansiven, eidgenössisch ausgerichteten Religionspolitik absagen. Das traditionelle Bündnissystem, die komplizierte eidgenössische Rechtsordnung mit ihren gegenseitigen Abhängigkeiten und Verpflichtungen blieb unangetastet. Die protestantischen Stände Zürich, Bern, Schaffhausen und Basel waren nach wie vor völlig gleichberechtigte Glieder der Eidgenossenschaft. Aufs Ganze gesehen schrieb der Zweite Kappeler Landfrieden den konfessionellen Besitzstand fest und fixierte die Verteilung von Katholiken und Protestanten in der Schweiz.

Eine weitreichende Konsequenz des Friedensvertrages ist unübersehbar: Wegen der konfessionellen Zweiteilung des Landes schied in Hinkunft das religiöse Element zur Entwicklung eines gesamtschweizerischen Nationalbewusstseins aus. Weder konnte sich ein spezifischer Nationalkatholizismus entwickeln —wie etwa in Frankreich oder in Italien —noch eine gesamtstaatliche protestantische Landeskirche —wie etwa in Schweden oder in den Niederlanden. Auf die Sieger von Kappel ist es zurückzuführen, dass die Eidgenossenschaft auch hinfort aus der Perspektive ihrer Glieder und nicht aus der Sicht des «Gesamtregiments» konzipiert wurde. Insofern spielt das religiöse Element 1531 im Gegensatz zu 1291 wohl eine Rolle, doch diente es nicht zur Stärkung eines gesamteidgenössischen Bewusstseins, wohl aber zur Sicherung und langfristigen Festschreibung des Regionalismus.

1848

Die Bundesverfassung von 1848 beendete eine konfliktreiche Zeit. Den Höhepunkt der Auseinandersetzungen markierte der Sonderbundskrieg von 1847. Bei diesem Religionskrieg zwischen konfessionsverschiedenen Kantonen ging es vordergründig um den Fortbestand von Klöstern und um die Wiederzulassung des Jesuitenordens. Hellsichtige Zeitgenossen hatten allerdings schon bemerkt, dass mehr auf dem Spiel stand. Seit dem Untergang des Ancien Régime

1798 mit dem darauffolgenden kurzen, aber nachhaltig wirkenden helvetischen Intermezzo riss die Diskussion über Charakter und Gestaltung der Eidgenossenschaft nicht mehr ab. Insbesondere strittig blieb die Balance zwischen der gesamtstaatlichen Kompetenz der Eidgenossenschaft und den kantonalen Souveränitäten. Diese Balance war um so schwieriger zu finden, als in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Schweiz gesellschaftliche Disparitäten, ja Spannungen kontinuierlich zunahmen. Die langsame Frühindustrialisierung erfasste die Schweiz ebenso wie ihre Nachbarländer. Die in ihrem Gefolge entstehenden sozialen Probleme, als die «Soziale Frage» bezeichnet, präsentierten in der Schweiz kein anderes Gesicht als in den vergleichbaren Gesellschaften Europas. Allerdings, in einer Hinsicht entwickelte sich die Schweiz zu einem Spezialfall, wie es ihn so in Europa sonst nicht mehr gab. Der in Neuenburg wirkende katholische Priester Joseph Aebischer konstatierte 1836 ein deutliches Wohlstandsgefälle zwischen katholischen und protestantischen Gebieten. 13 Seine Feststellung ist zutreffend. Das politische und ökonomische Gewicht des Landes lag bei den protestantisch geprägten Kantonen Basel, Zürich, Bern und Genf. Von diesen Zentren gingen die wirtschaftlichen Impulse aus, hier befanden sich alle höheren Bildungseinrichtungen. Die Mehrheit des katholischen Bevölkerungsteiles lebte ausserhalb dieser fortschrittlichen Gebiete in den voralpinen oder alpinen Regionen. Aufs Ganze gesehen verschärfte sich durch das Heraufziehen der Industrialisierung die konfliktgeladene Situation zwischen Städten und Landschaften zwischen Peripherie und Zentren —und eben zwischen Katholiken und Protestanten. Das Ausmass dieser mehrfachen Überlappungen ist das Besondere der schweizerischen Situation.

Der Sonderbundskrieg von 1847 liesse sich nun als Religionskrieg zwischen modern gesinnten, fortschrittlich und protestantisch geprägten Kantonen einerseits und rückwärtsgewandten, konservativen Ständen andererseits interpretieren. Doch diese Deutung greift zu kurz. Die Konfliktlinie verlief nämlich nicht präzis entlang der

Konfessionsgrenze. Obwohl das konfessionelle Bewusstsein im Laufe des 19. Jahrhunderts in der Schweiz wie überall in Europa zunahm, lassen sich doch religiöse Einstellungen oder Sinndeutungen feststellen, die quer zu den Konfessionen stehen. Insofern sind die Konfessionsgrenzen durchlässiger geworden. Eine dieser überkonfessionellen Gemeinsamkeiten findet sich bei der Interpretation der gesellschaftlichen Veränderungen und damit zugleich bei der Interpretation der Zukunft der Eidgenossenschaft. Zwei fundamentale Deutungen stehen sich gegenüber. Sie sind unter den Namen «Liberalismus» und «Konservativismus» in unser Alltagsvokabular eingegangen. Der Aufklärung verbunden will der Liberalismus in eigener Kompetenz die Lebenswirklichkeit gestalten, frei von traditionellen Autoritäten, verpflichtet allein dem unabhängigen Denken. Sinn stiftet das Gestalten selber, sofern es Fortschritt erzeugt. Demgegenüber fühlte sich die konservative Position überkommener gesellschaftlicher Ordnung und Autorität verantwortlich. Diese beiden Deutungsmuster individueller wie sozialer Realität verknüpften sich mit religiösen Motiven. Der Konservativismus band sich im Katholizismus an das erstarkende Papsttum, das sowohl breite wie letztgültige Autorität beanspruchen konnte. Im Protestantismus hielten sich die Konservativen an das autoritative Wort der Bibel; nicht zufällig entstand in diesen Jahren der moderne christliche Fundamentalismus. Liberale Katholiken suchten eine Kirche mit demokratisierendem und nationalkirchlichem Gefälle. Die protestantischen Liberalen setzten sich für eine reformierte schweizerische Nationalkirche 14 ein und sahen den heraufziehenden Fortschritt im Horizont des sich verwirklichenden Gottesgeistes. Allerdings, im Vorfeld von 1848 ist weder der katholische Liberalismus noch der protestantische Konservativismus politisch wirkmächtig geworden. Ein effektiver Zusammenschluss der Liberalen oder der Konservativen über die Konfessionsgrenzen hinweg fand nicht statt. Vielmehr gaben entweder protestantische Liberale oder katholische Konservative den Ton an. Trotzdem, das Jahr 1848 entschied nicht bloss

über eine neue Verfassung für die Eidgenossenschaft, sondern auch über die Deutung der Zeit im liberalen oder konservativen, jeweils religiös gesicherten, Horizont. Deshalb hat der ansonsten nicht gerade durch besondere Geisteskraft hervortretende österreichische Gesandte in der Schweiz doch recht, wenn er in einem Brief an Metternich das konfessionelle Element als Ursache für die Konflikte in der Schweiz ausmacht. 15

Die Lösung durch die Bundesverfassung von 1848 ist bekannt. Der Geist des Liberalismus setzte sich durch. Zwar erreichte er nicht seine eigentlich anvisierten letzten Ziele, doch wurde das Ergebnis noch immer von den Katholiken als so negativ aufgefasst, dass Volksabstimmungen in allen Kantonen der Innerschweiz die neue Verfassung ablehnten. Tatsächlich ist diese negative Haltung weniger auf den eindeutig gegen die katholische Kirche gerichteten Jesuitenartikel zurückzuführen, als vielmehr auf die Sorge, ein liberaler gesamteidgenössischer zentralisierender Staat würde die kantonalen und regionalen, ja lokalen Eigenheiten und Eigenrechte gefährden. Strukturell wiederholte sich also die Situation von 1531. Wieder treten Protestanten für eine starke Gesamteidgenossenschaft ein, Katholiken halten Regionalismus und Eigentradition hoch. Allerdings, die Rollen von Siegern und Besiegten sind vertauscht. Aus den Siegern von 1531 sind die Besiegten geworden, und Protestanten empfanden 1848 durchaus, dass nun die Schmach von Kappel endgültig getilgt sei.

Sieht man das Jahr 1848 in der Perspektive der Jahre 1291 und 1531, so drängt sich eine Einsicht auf, die unserem gängigen Geschichtsbild widerspricht. Die Rolle der Religion ist wichtiger geworden. Blieben 1531 die eidgenössischen Bünde, also die politische Struktur, trotz der religiösen Divergenzen unangetastet, so setzte sich in der Bundesverfassung 1848 eine religiöse Deutungswelt für die gesamte Eidgenossenschaft wie für ihre Institutionen durch.

Die Bundesverfassung von 1848 schuf nur die Voraussetzungen für den Bundesstaat. Denn wirklich lebendig wurde er erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Kraftvoll präsentierte er sich in eidgenössischen Kasernenbauten ebenso wie in landesweiten Sängerfesten. Die 600-Jahr-Feier der Bundesschliessung führte 1891 das Land zusammen; es ist dasselbe Jahr, in dem erstmals ein katholischkonservativer Politiker Einsitz in den Bundesrat nahm. 16 In der westlichen Welt begann der Nationalismus aufzublühen. Die Schweiz machte darin keine Ausnahme. Allerdings, während sich der Nationalismus in den umliegenden Ländern an einheitlicher Sprache und «Rasse», gegebenenfalls an Religion festmachte, blieben diese einheitsstiftenden Faktoren der vielfältigen Eidgenossenschaft verwehrt. Statt dessen etablierte sich in der Schweiz, in bewusster Differenz zu den Nachbarländern, der «politische Wille» 17 zu Einheit und Zusammenhalt als Charakteristikum und Wesensmerkmal. Inhaltlich wurde der «politische Wille» durch Demokratie und Föderalismus bestimmt. Darin unterscheide sich die Schweiz von anderen Ländern —und gerade darin empfange sie ihre Mission in Europa und in der Welt.

Seit Ende des 19. Jahrhunderts schliffen sich soziale und politische Gegensätze weiter ab, doch erst die Bedrohungen der dreissiger Jahre unseres Jahrhunderts liessen sie ganz in den Hintergrund treten. Alle gesellschaftlichen Gruppierungen sahen sich jetzt herausgefordert, aufs neue über das Besondere der Schweiz nachzudenken. So stand auch der Dies academicus unserer Universität im Jahre 1939 im Zeichen dieser Neubesinnung, denn der damalige Rektor, der Ordinarius für Neuere Kirchengeschichte und Dogmengeschichte, Ernst Staehelin, behandelte in seiner Rede die christlichen Grundlagen der Eidgenossenschaft in historischer Sicht. 18

In offizielle und politisch brisante Bahnen lenkte der Bundesrat dieses Nachdenken mit seiner Botschaft über «Organisation und

1939

die Aufgaben der schweizerischen Kulturwahrung und Kulturwerbung», 19 die im April 1939 zum entsprechenden Bundesbeschluss führte. 20 Das gab die Basis für die sogenannte Geistige Landesverteidigung. Darin verklärt die Landesregierung die Eidgenossenschaft in einer Weise, wie es bisher noch nicht vorgekommen war. Religiös überhöht wurden Landschaft und Geschichte ebenso wie politischer Charakter und Stellung der Schweiz in der Völkerwelt. Ich gebe ein paar Beispiele aus der bundesrätlichen Botschaft:

An zentraler Stelle, wo es um «Sinn und Sendung» der Schweiz geht, bedient sich der Bundesrat des seit dem 18. Jahrhundert gepflegten Gotthardmythos. 21 Das Gotthardmassiv als Berg der Mitte verbinde drei abendländische Kulturen. Hier habe die Idee einer geistigen Gemeinschaft der Völker ihre Staatswerdung erfahren. Damit ist der Gotthard zu einem Berg des Heils, zum Berg Zion geworden, wo nach dem Zeugnis des Alten Testaments Gott nahe ist und die Völker das Heil erwarten. 22 Dass dies gerade dort geschah, so führt der Bundesrat aus, sei gleichermassen vorsehungshaft wie wahrhaft wunderbar, ja «der schweizerische Staatsgedanke ist nicht aus der Rasse, nicht aus dem Fleisch, er ist aus dem Geist geboren» 23. Nicht wenige werden in dieser bundesrätlichen Gegenüberstellung von Fleisch und Geist ein Jesuswort aus dem Johannesevangelium (Kapitel 3, Vers 6) wiedererkannt haben.

Diese vom Bundesrat vorgenommene religiöse Legitimierung der Schweiz spiegelt sich auf vielfältige Weise sowohl im öffentlichen Leben wie in Schriften einzelner.

Der Bundesbrief von 1291 bekam sakralen Charakter. 24 An einem eigenen Schutzort, dem Bundesbriefarchiv in Schwyz, wird er verwahrt, gleich wie die israelitische Bundeslade. 25 Dort, an geheiligter Stelle, nahm General Guisan das Truppendefilee anlässlich der 650-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft 1941 ab. 26 Die historischen Figuren Niklaus von der Flüe und Huldrych Zwingli gleichen sich in ihrem Charakter einander an. Sie werden gemeinsam zu Zeugen eidgenössischen Behauptungswillens. Ihrem Gottvertrauen entspricht

ihr Vertrauen in die Stärke des eigenen Volkes. 27 Der sonst so kritische Karl Barth sah im «politischen Charakter» der Schweiz etwas «Heiliges». 28 Dieser politische Charakter sei «ein Wiederschein von dem ... Evangelium von Jesus Christus, eine Bestätigung seiner Auferstehung von den Toten» 29. Zwar spricht der Basler Theologieprofessor bloss von «Widerschein», aber der Gedanke ist naheliegend, die Eidgenossenschaft sei wegen ihrer politischen Institutionen selber zum Heilszeugnis geworden. Tatsächlich ist von anderen diese Schlussfolgerung explizit gezogen worden. Das Schweizervolk sei von Gott zum «Hüter an den Quellen der besten geistigen europäischen Überlieferung» gesetzt worden, es sei gar Hüter von Gottes eigenem heiligen Offenbarungswort. 30

Die Sakralisierung ist somit abgerundet. Das Schweizervolk wird zu Gottes eigenem Volk, zu seinem Offenbarungsträger. Die Schweizerische Eidgenossenschaft steht unter Gottes besonderem Schutz, ihr lässt er besondere Fürsorge angedeihen, sie hat eine vorsehungshafte Sendung an die Welt.

Ich habe ein grobes Bild der Sakralisierung gezeichnet, das selbstverständlich nuanciert werden müsste nach Konfession, politischer Partei oder Sprachraum. Allerdings, die Tendenz zur Sakralisierung scheint mir unstrittig, und auf die kommt es mir im Vergleich zu den Daten 1291, 1531 und 1848 an.

Damit habe ich die Besprechung der vier Beispiele abgeschlossen. In drei Punkten versuche ich nun, meine Antwort auf die Frage nach der Bedeutung von Religion in der Schweizer Geschichte zusammenzufassen:

Erstens. Wie die Beispiele zeigen, kann «Religion» in sehr unterschiedlichem Gewande daherkommen. Religion kann sich ausdrücken in der Sorge um einen Kirchenunterhalt oder in der Verteidigung ethischer Normen, Religion kann Fortschrittsglaube und Autoritätsanspruch begründen, Religion kann staatlichen Behauptungswillen und politischen Sonderweg legitimieren, Religion kann

nationales Überlegenheitsgefühl und globales Sendungsbewusstsein fördern. Allerdings, religiöse Vorstellungswelt und religiöser Anspruch können sich bis zur Unkenntlichkeit verhüllen.

Zweitens. Eine Schlussfolgerung, die sich beim chronologisch-genetischen Durchgang nahelegt, scheint mir unausweichlich. Die politische Bedeutung von Religion für das Ganze der Schweizerischen Eidgenossenschaft nimmt zu. Ich betone dabei den gesamteidgenössischen Aspekt, denn in den einzelnen Ständen oder Kantonen hat natürlich die gesellschaftsformende Kraft von Religion eine zentrale Rolle gespielt.

Drittens. Ebenso zunehmend fliessen in die Bildung des schweizerischen Nationalbewusstseins religiöse Elemente ein. Dieser Befund ist weniger überraschend, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Doch die Erklärung liegt auf der Hand. Bis in das 19. Jahrhundert hinein ist die Schweiz ein lockerer Verband souveräner Staaten. Das Heimatgefühl bindet sich an die Region und nicht an die Eidgenossenschaft. Visionäre wie Zwingli sind eine Ausnahme. Erst im Zeitalter des Bundesstaates beginnt sich ein eidgenössisches Nationalbewusstsein als politische Kraft zu etablieren. Die Suche nach dem Besonderen der Schweiz führte zu religiöser Deutung. Diese Suche hält an. Sie kennzeichnet auch unsere eigene Gegenwart. Dabei sind religiöse Motive noch stets lebendig, möglicherweise fast bis zur Unkenntlichkeit verborgen. Aber das zu erläutern gehört nicht mehr hierher.

3), 252. Vgl. noch den Tagesbefehl von General Guisan nach dem Zusammenbruch Frankreichs vom 3. Juni 1940, zitiert bei Marchal, Eidgenossen (wie Anm. 22), 396 f.