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Kopf, Herz und Hand

Prof. Dr. Peter Gomez
Rektor der Universität St. Gallen

Das hier vorliegende Referat hielt Professor Dr. Peter Gomez, Rektor der Universität St. Gallen, als Festrede zu seinem Amtsantritt am Dies academicus vom 5. Juni 1999.

Herausgeber: Universität St. Gallen — Hochschule St. Gallen für Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften (HSG)

Redaktion: Roger Tinner

Auflage: 2500

Copyright: Universität St. Gallen, 1999

Die Broschüren der Reihe «Aulavorträge» werden finanziert mit Unterstützung des St. Galler Hochschulvereins und des Dr. Rudolf Reinacher-Fonds. Sie gelangen nicht in den freien Verkauf.

Kopf, Herz und Hand

Ein Chirurg will das Geheimnis des Sehens lüften. Er trennt das Auge eines Menschen sorgfältig heraus und untersucht es sodann isoliert vom Körper nach allen Regeln der Kunst auf seine Eigenschaften. Wird er dabei Erfolg haben? Wohl kaum, werden Sie sagen, denn Sehen ist das Resultat des vielfältigen Zusammenwirkens von Auge und Gehirn im lebenden Organismus und kann nicht auf die Funktionsweise der einzelnen Teile zurückgeführt werden. Man könnte hier auch anführen, dass wohl kein Chirurg seine Forschung auf solch naiven Annahmen gründen würde. Was ist dann aber von den über 70 Jahre währenden Forschungsbemühungen in der damaligen Sowjetunion zu halten, die Genialität von Lenin nach dessen Ableben festzustellen, indem sein in 31'000 Scheiben geschnittenes Gehirn minutiös untersucht wurde? Man fand kaum Bemerkenswertes, so dass Oleg Adrianov, Direktor des verantwortlichen Instituts, lapidar bemerken konnte, nur Stalins Schädel habe ihn noch mehr enttäuscht. 1

Szenenwechsel. In seinem aussergewöhnlichen Buch: «Mind and Nature — A Necessary Unity» beschreibt Gregory Bateson 2 die Reaktionsweise von Fröschen, die einmal in heisses Wasser geworfen oder ein anderes Mal in einem Behälter mit kaltem Wasser langsam aufgeheizt werden. Während die Ersteren mit aller Kraft versuchen werden, ihrem Unheil zu entgehen, werden sich die anderen nicht bewegen, bis das immer heisser werdende Wasser sie verbrüht hat. Erinnert dies nicht an uns Menschen, die wir vor Krisen und Naturkatastrophen flüchten, der schleichenden Klimaveränderung aber kaum Beachtung schenken?

Szenenwechsel. Am 12. Mai dieses Jahres löste Russlands Präsident Jelzin den erst seit acht Monaten im Amt befindlichen Ministerpräsidenten Primakow ab. Seine Begründung: Es sei ihm nicht gelungen, die Wirtschaft anzukurbeln.

Natürlich handelte es sich hier wieder einmal um Machtspiele im Kreml. Aber ist dies nicht auch Ausdruck dafür, dass bei den verantwortlichen Kreisen das Verständnis für die Dynamik einer Wirtschaft nicht sehr ausgeprägt ist. Diese reagiert nämlich auf Eingriffe meist nicht unmittelbar, sondern oft mit starker Verzögerung — dafür dann vielleicht umso intensiver. «Ankurbeln» ist der denkbar schlechteste Begriff für die subtilen Vorgänge bei der Beeinflussung einer Wirtschaft.

Was illustrieren uns diese Beispiele? Die Vorgehensweise des Chirurgen steht für den heute in der Wissenschaft wie auch im Alltagsleben immer noch weit verbreiteten Ansatz des Reduktionismus. Der Untersuchungsgegenstand wird als eine Art Maschine verstanden, bei der man defekte Teile ausbauen, reparieren und wieder einsetzen kann, um die Funktionstüchtigkeit herzustellen. Lebewesen sind aber keine Maschinen, und dies gilt auch für soziale Systeme. Warum behandeln wir sie an der Schwelle des 21. Jahrhunderts aber immer noch als solche? Drehen wir das Rad der Zeit kurz zurück. Die Erfolge der Mechanik bei der Voraussage von Planetenbahnen und die Einfachheit und Klarheit der dabei angewandten Methoden liessen die Physik Newtons zum Vorbild für alle andern Wissenschaften werden. Deren Vorgehen bestand darin, unter Vernachlässigung einer Vielzahl möglicher Einflussfaktoren das Zusammenwirken einiger weniger Elemente zu erforschen. Die so gefundenen Naturgesetze ermunterten auch die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, diesen Weg zu beschreiten. In der Volkswirtschaftslehre fand dieses Denken in der ceteris paribus-Klausel seinen Niederschlag, während die Betriebswirtschaftslehre unter der Führung von Taylor die Unternehmung arbeitsteilig nach den Funktionen Forschung und Entwicklung, Produktion, Marketing, Finanz- und Rechnungswesen und Personal sezierte. An den meisten deutschsprachigen Universitäten werden die Lehrstühle immer noch nach diesen Funktionen abgegrenzt, obwohl die praktische Unternehmenswelt heute völlig anders funktioniert. Einen ähnlich reduktionistischen Geist verkörpert das zurzeit

aktuelle «Shareholder Value»-Denken in seiner reinsten Form. Ziel des Wirtschaftens ist die Schaffung von Aktionärsnutzen, alles andere wird ausgeblendet.

Während sich die Denkweise des Chirurgen durch den «Kult von Newton» erklären lässt, zeigt das Beispiel des «gesottenen» Frosches unsere evolutionsgeschichtlich bedingten Grenzen auf. Menschen reagieren schnell und meist auch erfolgreich auf Krisen und Katastrophen. Sie sind jedoch völlig hilflos angesichts kleiner, kaum wahrnehmbarer Veränderungen, die schliesslich doch zu einem «Kippen» des Systems führen. Erwähnt wurden die Klimaveränderungen; aber auch das Abseitsstehen der Schweiz in Europa wird von interessierten Kreisen immer damit begründet, dass in einem abgelaufenen Jahr kaum merkliche Nachteile entstanden seien. Die kumulierte Entwicklung seit Beginn der neunziger Jahre wird wohlweislich verschwiegen.

Unser zweiter evolutionsbedingter Nachteil zeigt sich am Beispiel der Eingriffe in eine Wirtschaft. Das Gehirn ermöglicht den Menschen eine ausgezeichnete räumliche Orientierung. Es kann aber nur schwer die zeitliche Dynamik von Vorgängen erfassen, die, sich überlagernd, mit unterschiedlicher Geschwindigkeit ablaufen. So unterschätzen wir oft Kettenreaktionen und exponentielle Entwicklungen des Wirtschaftsgeschehens, bekannt unter dem Bild des «Schmetterlingseffekts»: Der Flügelschlag eines Schmetterlings in Mexiko kann einen Tornado in Texas auslösen.

Man könnte nun diese selbst auferlegten und evolutionsgeschichtlich bedingten Grenzen hinnehmen, wenn nicht unser heutiges Umfeld eine radikale Neuorientierung erfordern würde. Dieses Umfeld lässt sich durch zwei Begriffe charakterisieren: Komplexität und Paradoxie. Lassen Sie mich diese zwei Phänomene kurz charakterisieren.

«Komplexität» ist heute zum Allerweltsbegriff geworden: Kaum ein Beitrag

der Wirtschaftspresse, kaum ein Referat eines Top-Managers oder Politikers, in denen er nicht gleich mehrfach vorkommt. Mit «Komplexität» soll zum Ausdruck gebracht werden, dass wir uns angesichts der über uns hereinbrechenden Wogen der Globalisierung, des technologischen Fortschritts und des gesellschaftlichen Wertewandels in die Ecke gedrängt, überfordert fühlen. Dazu kommt, dass wir uns nicht mehr wie früher in unsere eigene kleine Welt zurückziehen können, sondern diesen Entwicklungen weitestgehend ausgeliefert sind. Komplexität ist das Produkt von Vernetzung und Wandel. Wir haben es mit einer unüberschaubaren Vielzahl von Einflussfaktoren zu tun, die nicht nur stark aufeinander einwirken, sondern deren Interaktionsmuster sich auch vielfältig verändert. Also gibt es nicht nur ein Mehr an Vernetzung, sondern auch einen steten Wandel in der Art der Vernetzung. Wenn dies aber zutrifft, so bekommen wir mit unseren geschilderten Denkansätzen unweigerlich Probleme. Denn es gilt Ashby's Law 3: «Only variety can destroy variety» — um Komplexität zu bewältigen, muss Komplexität aufgebaut werden. Wir aber verfolgen eine Strategie der Vereinfachung, obwohl schon Einstein uns den Rat gab, dass man die Dinge immer so einfach wie möglich sehen sollte, aber nicht einfacher! Dann wird es nämlich schlicht falsch.

Warum eigentlich hat die Komplexität unseres Umfeldes in der letzten Zeit so stark zugenommen? Lassen Sie mich einen Aspekt herausgreifen: Die technologische Entwicklung. Hier bestimmen zwei Gesetze 4 den Fortschritt, und in ihrer Kombination lassen sie die Komplexität wuchern. Moore's Law besagt, dass sich im Computerbereich alle 18 Monate die Prozessorleistung bei gleichbleibenden Kosten verdoppelt. Metcalfe's Law hält fest, dass der Nutzen eines Netzwerks (beispielsweise des Internet) mit jedem neuen Knoten oder Teilnehmer im Quadrat wächst. Dies aber führt sowohl zu kürzeren Produkt-Lebens-Zyklen, als auch zu einer eigentlichen Hetzjagd auf den Konsumenten — mit den entsprechenden Wirkungen auf die Komplexität unserer technisierten Welt.

Charakteristisch für die heutige Zeit ist aber nicht nur Komplexität, sondern auch Paradoxie. Charles Handy 5 hat in seinem Buch «The Age of Paradox» unsere Situation treffend wiedergegeben. Als Beispiel aus dem täglichen Leben führt er Eltern an, die mit ihren Kindern gleichzeitig streng und bestimmt, aber auch zärtlich und verspielt sein müssen. Und er zitiert Percy Barnevik von ABB, dessen Unternehmen global und lokal, gross und klein, radikal dezentralisiert mit zentraler Kontrolle sein will. Wir müssen diese Paradoxien akzeptieren, denn sie lassen sich nicht auflösen. Sie verwirren uns, weil sich etwas nicht so verhält wie wir instinktiv erwarten — dass es nämlich eine klare Lösung geben müsste. Maschinen sind vorhersagbar, ihre Konstruktionslösung ist klar. Gesellschaft, Volkswirtschaft und Unternehmen haben ein Eigenleben, erzeugen Paradoxien, die eine Haltung des «sowohl... als auch» angezeigt erscheinen lassen. Dem sind aber unsere bisherigen Denkschemata nicht gewachsen. Stellt sich also die Frage: Was tun?

In der Managementliteratur findet eine eigentliche Renaissance der intuitiven Führung statt. Im Zeitalter der Komplexität und der Paradoxie brauche es charismatische Führer, die das Unternehmensschiff durch diese Klippen hindurchsteuern sollen. Management-Bestseller sind voll von Erfolgsstories solcher Persönlichkeiten. Dabei wird aber vergessen, dass die Zahl der charismatischen Führungspersönlichkeiten verschwindend gering ist. Und in komplexen Systemen kann die Intuition ein schlechter Ratgeber sein. Wie Jay Forrester 6 schon zu Beginn der sechziger Jahre zeigte, verhalten sich diese oft kontra-intuitiv, d.h. das menschliche Gehirn mit seinen linearen Denkmustern «liest» diese Systeme falsch.

Eine andere Möglichkeit würde darin bestehen, das heutige Umfeld einfach zu ignorieren und wie bisher weiterzumachen. Dies nach dem Grundsatz: «Wenn unsere Theorien und Denkansätze nicht passen — umso schlimmer für die Wirklichkeit!». Mich erinnert dies an eine Begebenheit mit einem

Teilnehmer einer Summer-School für Wirtschaftsjournalisten. Als ich ihm die Logik des «Shareholder Value»-Denkens klarzumachen versuchte, wehrte er mit der Bemerkung ab, nachdem seine Leser jetzt endlich den Unterschied zwischen Umsatz und Gewinn gelernt hätten, könne man sie jetzt nicht schon wieder mit etwas Neuem konfrontieren. Das Elfenbeinturm-Denken an manchen Universitäten treibt ähnliche Blüten.

Kritisieren ist einfach, wie können wir es aber besser machen? Mein Vorschlag zielt auf ein mehrstufiges Vorgehen ab. In einer ersten Stufe ist die Frage zu stellen, mit welcher Art von Problemen wir es überhaupt zu tun haben —mit einfachen, komplizierten oder komplexen. Für jeden Typ gibt es geeignete Vorgehensweisen, und so wird vermieden, unzulässig zu vereinfachen oder mit Kanonen auf Spatzen zu schiessen. Einfache Probleme zeichnen sich dadurch aus, dass nur wenige Einflussgrössen sie charakterisieren, die zudem wenig vernetzt sind. Hier reichen Alltagswissen und Berufserfahrung aus, um zu guten Lösungen zu kommen. Komplizierte Probleme hingegen weisen viele Einflussfaktoren und eine starke Vernetzung auf. Allerdings bleibt die Art der Vernetzung über längere Zeit stabil, komplizierte Probleme sind — im Gegensatz zu komplexen —wenig dynamisch. Hier können die vielfältigen, praktisch bewährten wissenschaftlichen Methoden und Techniken der Optimierung zum Einsatz kommen.

Komplexe Probleme mit ihrer inhärenten Dynamik erfordern aber eine andere Vorgehensweise. Wir können sie nur begrenzt vereinfachen und müssen —gemäss Ashbys Gesetz —versuchen, eigene Komplexität aufzubauen. Und damit kommen wir zu den nächsten Stufen. Auf intellektuellem Gebiet muss der Schritt vom reduktionistischen zum ganzheitlichen Denken gelingen. Gleichzeitig ist aber die einseitig intellektuelle Ausrichtung im Humboldt'schen Sinne abzulösen durch eine — und damit komme ich endlich zum Titel meines Referates —harmonische Kombination von Kopf, Herz und Hand.

Kopf, Herz und Hand — damit wollte der berühmte Schweizer Pädagoge Heinrich Pestalozzi 7 schon zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts andeuten, dass Lehren und Lernen nicht nur im Sinne der intellektuellen Bildung Sinneseindrücke mit Bedeutung füllen soll, sondern dass die sittliche Bildung der Förderung der Werthaltungen sowie die physische Bildung im Sinne des «Handanlegens» unerlässlich für eine ganzheitliche Entwicklung der Persönlichkeit sind. In die Sprache der heutigen Welt übersetzt könnte dies sinngemäss lauten: Ganzheitlich denken —Als Persönlichkeit überzeugen — Unternehmerisch handeln. 8 Was heisst dies nun konkret, und vor allem, was bedeutet es für die künftige Ausrichtung unserer Universität?

Ganzheitlich denken bedeutet, von einem Denken in wissenschaftlichen Disziplinen, in Funktionslehren und in Spezialgebieten wegzukommen und vermehrt übergreifende Themen oder «Issues» in den Mittelpunkt zu rücken. Ein solches Thema ist beispielsweise das Internet-Business oder «E-Commerce», das unsere Wirtschaftswelt in den nächsten Jahren entscheidend prägen wird. Betriebswirtschaftliche Funktionslehren wie Marketing, Personal, Organisation oder Finanz- und Rechnungswesen allein können diesem Phänomen nicht gerecht werden. Vielmehr müssen unterschiedliche «Scheinwerfer» auf diesen Problemkreis gerichtet werden. Ähnliches gilt für eine Thematik wie «Corporate Governance», die nur interdisziplinär erfasst werden kann. Ich möchte auch an eines der dominierenden Themen zu Beginn der neunziger Jahre erinnern, an das sogenannte Waldsterben. Man versuchte damals, dieses in die Kategorien herkömmlicher Disziplinen zu pressen, mit dem Resultat der Verteidigung wissenschaftlicher Positionen und entsprechender Handlungsunfähigkeit. Ganzheitlich denken heisst aber auch denken in Kreisläufen und in Zeitdimensionen. In den Schulen aller Stufen werden wir heute immer noch hauptsächlich in einfachem Kausaldenken ausgebildet, das nach der Ursache einer bestimmten Wirkung sucht. Dabei sind soziale und wirtschaftliche Systeme gekennzeichnet durch eine Vielzahl von Nebenwirkungen, die mit zeitlichen

Verzögerungen auftreten. Wir kennen zwar die Kreisläufe der Natur und auch des Geldes in der Volkswirtschaft, aber der «Kult von Newton» ist in unserer analytischen Ausbildung immer noch allzu präsent. Erste Ansatzpunkte eines Wandels zeigen sich in der Betriebswirtschaftslehre in der Prozess-Sicht des Unternehmens. Weiter müssen wir die Illusion vom gesicherten Wissen aufgeben und die Paradoxien unserer Zeit akzeptieren. Es gibt keine richtigen oder falschen Lösungen mehr, die Argumentation des «sowohl ... als auch» wird zum Normalfall. Dies macht die Situation von Lehrenden und Lernenden gleichermassen schwieriger. Die Ersteren können sich nicht mehr auf ihre Autorität berufen, die Letzteren vermissen das gesicherte Wissen als Handlungsanleitung. Ganzheitliches Denken bedeutet schliesslich Einbezug der Interessen aller Anspruchsgruppen der menschlichen Gesellschaft. Ethisch verantwortungsvoll handeln heisst, deren verschiedene Standpunkte und legitime Interessen bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen. Das einseitige «Shareholder Value»-Denken verletzt dieses Prinzip genau so wie die Verdammung des Gewinnstrebens als menschenverachtendes Verhalten.

Was bedeutet dies alles nun für die Gestaltung der Zukunft unserer Universität? Was die Universität St. Gallen in Wissenschaft und Praxis bekannt gemacht hat, ist ihr in den sechziger Jahren eingeführter integrierter Forschungs- und Ausbildungsansatz. Mit dem Wachstum der Faculty und der Studierendenzahlen wich dieser in den letzten Jahren immer mehr einer Ausrichtung an einzelnen Disziplinen, Funktionsbereichen und Spezialitäten. Hier gilt es wieder, übergreifende Themen und Probleme von Gesellschaft, Unternehmens- und Rechtspraxis in den Mittelpunkt zu stellen und die Scheinwerfer der Spezialdisziplinen darauf zu bündeln. Ethische Fragen sollen von Forschung und Lehre prominent behandelt werden, die Berücksichtigung legitimer Interessen der Anspruchsgruppen soll sich wie ein roter Faden durch deren Inhalte ziehen. Und neben Optimierungs- und Prognosetechniken sollen vermehrt auch die Entwicklung und Interpretation

von Szenarien sowie die Früherkennung schwacher Signale treten. Dies alles erschwert natürlich die Aufgabe von Forschenden und Lehrenden. Aber wollen wir unsere Studierenden auf die komplexe und paradoxe Welt ihrer künftigen Tätigkeit vorbereiten, so müssen wir diese Herausforderung annehmen.

Ganzheitlich denken allein reicht aber nicht aus, um in der heutigen und künftigen Welt bestehen zu können. Neben dem Kopf ist das Herz gefordert, Integrität und überzeugende Persönlichkeit ergänzen die intellektuelle Leistung. Viele setzen dies mit Charisma gleich. Dies wäre aber eine zu eindimensionale Sicht. Treffender ist Sozialkompetenz oder — etwas modischer ausgedrückt —emotionale Intelligenz. Wahre Professionalität erschöpft sich heute nicht im umfassenden Fachwissen, sondern erfordert ein persönliches Engagement «wie in eigener Sache», ein tiefes Miterleben. Hier stellt sich natürlich sofort die Frage, ob dies auch gelehrt und gelernt werden könne. Muss man, wie in der Malerei und der Musik, dazu geboren sein, um wahre Kunst zu machen? Ich meine, Künstler in diesem Sinn zu werden ist schwierig, aber man kann sich doch eine hohe Kunstfertigkeit aneignen. Dies setzt aber eine profunde Reflexion über die eigenen Stärken und Schwächen sowie Vorlieben und Abneigungen voraus. Auch muss die eigene Rolle in Gesellschaft und Wirtschaft genau analysiert werden. Führungskräfte sind heute immer weniger die typischen «Macher», sondern erfüllen vielmehr die Rolle des Coaches in einem unsicheren Umfeld. Oder wie es eine deutsche Privatuniversität formuliert: «Wir wollen Chaos-Piloten ausbilden».

Was wollen wir hier an der Universität St. Gallen auf diesem Gebiet erreichen? Es wäre sicher der falsche Ansatz, neue Lehrstühle für Sozialkompetenz und emotionale Intelligenz zu schaffen. Aber die Führungsausbildung — wie man das Heranführen an die überzeugende Persönlichkeit auch nennen könnte — muss auf allen Stufen verstärkt werden. Die Studierenden sollen

sich selbst erleben lernen. Ganz entscheidend ist dabei ein konsequenter Feedback zum eigenen Verhalten. Workshops und Rollenspiele zur Kommunikation, zur Verhandlungsführung, zum Konfliktmanagement gehören ebenso dazu wie Seminarien zu Phänomenen der Macht, zur Machtausübung und zum Machtmissbrauch in Gesellschaft und Unternehmen. Dies muss vertieft werden in Diskussionen mit Persönlichkeiten aus Gesellschaft und Unternehmenspraxis, die persönliche Überzeugungskraft vorleben.

Das ganzheitliche Denken und das Überzeugen als Persönlichkeit müssen schliesslich untrennbar verbunden sein mit dem unternehmerischen Handeln. Was nützt ein begeistertes Team mit kreativen Ideen, das aber kein gesellschaftliches Problem einer Lösung näher bringt oder keinen Markt neu erschliesst? Unternehmerisch handeln heisst, etwas bewegen, und zwar zum Wohle verschiedenster Anspruchsgruppen. Es bedeutet Führen statt Verwalten, Innovation statt Kostenbewirtschaftung. Lange Zeit war unternehmerisches Handeln im gesellschaftlichen wie im Unternehmenskontext wenig gefragt. Wer seine Aufgabe in der Hierarchie zielstrebig und effizient erfüllte, entsprach den Erwartungen. Die heutige Zeit erfordert aber Unternehmergeist, wer längerfristig überleben will, muss Neues wagen. Für die Unternehmensorganisation lautet das Motto: Von Pyramiden zu Zelten! «Intrapreneurship» — Unternehmertum im Unternehmen —soll auf allen Stufen realisiert werden. Auch die Zahl der Neugründung von Unternehmen ist in starkem Ansteigen begriffen. Eigener Unternehmer sein, Unternehmertum im Unternehmen fördern — das sagt sich leicht, aber woher die entsprechenden Fähigkeiten nehmen? Das Erfolgsrezept heisst: «learning by doing». Unternehmertum kann man nur beschränkt theoretisch vermitteln und erfassen, man muss selbst Hand anlegen.

Für die Universität St. Gallen bedeutet dies, dass die Studierenden von Anfang an konsequent in unternehmerische Aktivitäten einbezogen werden. Dies darf sich nicht nur in praktischen Diplomarbeiten und Workshops bei

Unternehmen erschöpfen. Ganz entscheidend ist auch die Mitarbeit in studentischen Initiativen wie dem St. Galler Management Symposium (ISC), der umweltökonomischen Studenteninitiative (oikos) oder der Initiative für Unternehmensgründungen (Start), um nur einige zu nennen. Diese Mitarbeit muss in Zukunft auch als studentische Leistung mit Credits angerechnet werden. Die Studierenden sollen weiter zur selbständigen Wissensgewinnung über das Internet angeregt werden, dies als teilweiser Ersatz der heutigen Vorlesungen und Seminare. Und schliesslich sollte mindestens ein Auslandsemester zur Pflicht werden, damit sich die Studierenden in anderen Kulturen bewähren können.

Kopf, Herz und Hand —ganzheitlich denken, als Persönlichkeit überzeugen und unternehmerisch handeln, eine untrennbare Voraussetzung für das Bestehen in einer komplexen und paradoxen Welt. Obwohl die Universität St. Gallen anderen Ausbildungsstätten in mancher Hinsicht voraus ist, bleibt auf dem Weg zu einer ganzheitlichen Ausbildung noch viel zu tun. Die von uns eingeleitete Neukonzeption des Studiums soll die genannten Anliegen in den nächsten Jahren umsetzen. Unter meinem Vorgänger, Georges Fischer, wurden die Forschung und die Weiterbildung an der Universität St. Gallen konsequent gefördert und neu positioniert. Ich danke ihm ganz herzlich für seine grosse Leistung, aber auch für die kollegiale Atmosphäre im vormaligen Rektorat. Ich werde seine Arbeit zur Stärkung von Forschung und Weiterbildung konsequent weiterführen, das Hauptanliegen des neuen Rektorats wird aber die Neugestaltung der Lehre sein. Wir wollen innovative, teilweise auch ungewöhnliche Wege gehen. Dabei werden wir uns von Liebgewonnenem trennen und Grenzen neu ziehen müssen. Dabei ist mein Leitstern ein Zitat aus dem neuesten Buch von Salman Rushdie 9: «Die einzigen Menschen, die das gesamte Bild sehen... sind jene, die aus dem Rahmen treten.» Ich möchte Sie alle herzlich bitten, mich dabei zu begleiten.