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«Der Universitätsreform zweiter Teil»

Rede des Rektors,
gehalten von
Prof. Dr. Hans Heinrich Schmid
anlässlich der 166. Stiftungsfeier
der Universität Zürich
am 29. April 1999
(Bild: Lucia Degonda)

Der Universitätsreform zweiter Teil

Am 1. Oktober letzten Jahres ist das neue Zürcher Universitätsgesetz in Kraft getreten. Dies setzt einen Meilenstein in der Geschichte der Zürcher Universität. Nach 139 Jahren wurde das Unterrichtsgesetz des Jahres 1859 abgelöst. Ein grosser Schritt: vom 19. Jahrhundert an die Schwelle des 21. Jahrhunderts.

Dass dieser Schritt gerade jetzt (und spät genug) erfolgte, ist kein Zufall: Alle Schweizer Hochschulen haben in diesen 90er-Jahren ihre Rechtsgrundlagen und Strukturen neu gestaltet, und in unseren Nachbarländern vollzieht sich Ähnliches.

Der Grund dafür ist allen gemeinsam: Wir leben in der Zeit eines Umbruchs, regional, national und global, in allen Lebensbereichen, auch in Wissenschaft und Bildung. Die Entwicklung der Lebenswelt stellt viele der überkommenen Strukturen und Werte in Frage. Und die Verhältnisse ändern sich schneller und umfassender als früher und —angesichts der Möglichkeiten heutiger Wissenschaft und Technologie —tiefergreifend und folgenreicher.

In diesem Kontext steht die Zürcher Universitätsreform und das neue Universitätsgesetz.

Das neue Gesetz

Das neue Gesetz ist in dreifacher Weise in diesen Wandel der Verhältnisse verwoben:

1. Das Gesetz ist nötig geworden durch diesen Wandel —nicht, weil die Universität Zürich hoffnungslos veraltet gewesen wäre, im Gegenteil: Es war gerade die Dynamik der Universität, die den bisherigen rechtlichen Rahmen definitiv gesprengt hatte.

2. Das Gesetz ist selbst Teil dieses Wandels, indem es die Universität restrukturiert und ihr einen neuen Status im Rahmen von Staat und Gesellschaft verleiht.

3. Das Gesetz legt die Basis dafür, dass die Universität diese Umbruchs-Situation bestehen und ihre Aufgabe auch in Zukunft erfolgreich erfüllen kann.

Eine Institution der Art und Grösse unserer Universität kann nicht mehr zentralistisch, von aussen und von politischen Instanzen geleitet werden. Sie muss sich vielmehr, angesichts der sich immer schneller wandelnden Verhältnisse, selbst organisieren und auch leiten können.

So wird mit dem Gesetz die bisherige enge Einbindung der Universität in die staatlichen Strukturen und Abläufe aufgelöst. Die Leitungsfunktionen, die bisher in der Hand der Regierung, des Erziehungsrates und der Erziehungsdirektion lagen, werden an die Universität übertragen. Mehr noch: Die einzelnen Kompetenzen werden stufenspezifisch den verschiedenen Organen der Universität zugewiesen, dem Universitätsrat, der Universitätsleitung, den Fakultäten und den Instituten.

Diese neue Kompetenzverteilung hat keineswegs nur organisatorischen Charakter. Sie impliziert vielmehr ein neues Verständnis der Universität: Verantwortlich für die Arbeit und die Qualität der Universität ist nicht mehr die Regierung, sondern die Universität selbst.

Dem entspricht der Charakter des neuen Gesetzes: Es ist ein liberales Gesetz, das der Universität nicht im Einzelnen vorschreibt, was sie zu tun hat, sondern ihr Raum gibt, ihren Auftrag im Dienst der Wissenschaft, des Staates und der Gesellschaft selbstverantwortlich zu erfüllen.

Die Einrichtung eines Universitätsrats mit Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur, Wirtschaft und Politik dokumentiert, dass das primäre Gegenüber der Universität nicht mehr nur der Staat ist, sondern die Gesellschaft insgesamt.

Der Universitätsrat übt die unmittelbare Aufsicht über die Universität aus und verfügt über gewichtige Kompetenzen, vor allem im Bereich der Planung und Entwicklung. Von besonderer Bedeutung ist, dass der Universitätsrat gemäss Gesetz der Universität nicht als externe Instanz gegenübersteht, sondern selbst Teil der Universität ist. Diese Struktur

erfordert, dass Universitätsrat und Universität in engem Kontakt stehen und auf der Basis einer unité de doctrine zusammenwirken.

Die Universität in einer Zeit des Wandels —und selber im Wandel: Wir stellen uns dieser Herausforderung.

Die Universität im Aufbruch

Es ist allerdings nicht erst das Gesetz, das die Universität zu einem neuen Aufbruch führt. Dieser ist schon längst im Gange. Es war ja gerade die Dynamik der Universität in den letzten Jahrzehnten, welche zu einer Neuordnung der Strukturen zwang. Dass die Universität Zürich einer Reform bedurfte, wusste man schon in den 60er- und 70er-Jahren; entsprechende Vorstösse scheiterten jedoch. Die Entwicklung der Universität und ihres Umfeldes aber ging weiter, und der äussere Rahmen wurde immer enger. Die Zeit war überreif. Ein Aufbruch war unausweichlich, es musste gehandelt werden.

Den Anstoss dazu gab das vom Rektorat im Jahre 1993 vorgelegte Konzeptpapier für eine Universitätsreform, dem sich der Senat praktisch einstimmig anschloss. Die Universität war sich einig: Es muss etwas geschehen, und sie war bereit, die Sache selbst an die Hand zu nehmen. Eine Stimmung von «Wir sind die Universität» kam auf. Am Ende jener Senatssitzung formulierte es einer unserer Professoren so: «Mir ist klar geworden, worüber wir heute abgestimmt haben: wir wollen erwachsen werden.» So wurde nur schon das Vorhaben einer Reform zu einem ersten Stück der Reform.

Die breite Projektarbeit, die dann ihren Anfang nahm, brachte in einem Mass wie kaum zuvor Lehrende und Lernende und Mitarbeiter der Verwaltung zusammen. Man lernte neue Menschen kennen, neue Bereiche, andere Fakultäten und vor allem auch die Gesamtuniversität. Es begann sich ein gemeinsames Bewusstsein für die Universität als ganze zu bilden.

Es ist kein Zufall, dass sich gerade in dieser Zeit des Aufbruchs eine ganze Reihe von fakultäts- und hochschulübergreifenden Kompetenzzentren bildeten —ich denke an die Altersforschung, die Gender Studies, die Swiss Studies on Global Information Society, an den Forschungsbereich Öffentlichkeitssoziologie und -geschichte, das Kommunikationsnetz Universität-Wirtschaft oder, zusammen mit der ETH, an die beiden Kompetenzzentren für Neurowissenschaft und Pflanzenwissenschaften, das Center for International Studies oder das Forum für Gesellschaftsfragen beider Zürcher Hochschulen. Die Arbeit an der Strukturreform

und der Reformgeist, der die Universität erfasst hatte, wirkten sich unmittelbar auch auf den wissenschaftlichen Bereich aus.

Mit dem Amtsantritt von Professor Buschor als Erziehungsdirektor bekam unser Reformprojekt die politische Rückendeckung: Die Schlussfassung des Gesetzes wurde einvernehmlich zwischen der Universität, dem Erziehungsdirektor, der Regierung und dem Kantonsrat ausgehandelt —nahezu eine Musterreform. Unser Mühen hatte sich gelohnt.

So ist das neue Gesetz genau genommen weder Ausgangspunkt noch Anlass unserer Universitätsreform, sondern selbst ein Teil der Reform, gewiss: ein sehr markanter Teil. Das Gesetz wurzelt in einem doppelten Aufbruch: im inneren Aufbruch der Universität, und ebensosehr in einem Aufbruch seitens der politischen Instanzen, welche die Zeichen der Zeit nicht nur, aber auch für die Universität erkannten.

Was bisher geschehen ist, ist allerdings erst der Zürcher Universitätsreform erster Teil. Vor uns steht deren zweiter Teil: die Konsolidierung und Entfaltung des Aufbruchs. Die neuen Strukturen sind zu implementieren und mit Leben zu füllen. Die neuen Perspektiven der Wissenschaft sind weiter zu entfalten. Das Ziel ist eine erfolgreiche, zeitgemässe Weiterentwicklung der Universität in einem Umfeld, das ebenso im Wandel begriffen ist wie die Universität.

Die mentale Reform

Eines wird für diesen zweiten Teil der Reform besonders wichtig sein: Der Wandel der Strukturen erfordert einen mentalen Wandel derer, die die neuen Strukturen gestalten und in ihnen leben. Mehr Freiheit erfordert mehr Verantwortung, und daran müssen wir uns erst gewöhnen.

Ein Beispiel: Zur Zeit sitzen wir an der Erarbeitung neuer Reglemente. Dabei machten wir eine interessante Erfahrung: Angetreten war unsere Reform unter dem damals dominanten Stichwort der Deregulierung und mit dem Ziel höherer Freiheit und Selbstverantwortung. Faktisch aber fielen die Entwürfe unserer Reglemente umfangreicher und detaillierter aus, als es die bisher geltenden waren. Es schien fast, als hätten wir Angst davor, die uns übertragenen Kompetenzen auch tatsächlich wahrzunehmen, und dass wir es vorzögen, die Verantwortung lieber an festgeschriebene Regelungen zu delegieren.

Doch wir haben das Problem erkannt —den heutigen, problematischen Trend zur Verreglementierung kennen wir ja auch aus anderen Bereichen. Nun beschränken wir die Reglemente auf das Nötige und beginnen, im Einzelnen die neuen Verantwortlichkeiten persönlich wahrzunehmen.

Der Satz «Mehr Freiheit erfordert mehr Verantwortung» gilt jedoch nicht nur individuell und im eigenen Bereich. Will die Universität selbständiger werden, ist unabdingbar, dass wir bereit sind, auch Verantwortung für das Geschick der Universität insgesamt zu übernehmen. Das setzt eine gemeinsame Basis voraus, eine gemeinsame «Idee» der Universität, ein gegenseitiges Grundvertrauen und eine gegenseitige Anerkennung persönlicher Autorität, Kompetenz und Verantwortlichkeit.

Auch hierzu ein Beispiel: Wenn neu die Mitglieder der Universitätsleitung, ein Dekan oder eine Institutsdirektorin nicht mehr nur primi inter pares sind, sondern neu auch über eigene Leitungskompetenzen verfügen, dann ist das nach dem Geist unserer Reform nicht als eine neue Hierarchie gemeint. Es ist vielmehr Kennzeichen einer Universität, die nicht mehr von aussen gesteuert werden will, sondern sich selbst organisiert, strukturiert und auch leitet —in gemeinsamer Verantwortung für die Gesamtuniversität.

Ich weiss: Das sind hohe Ansprüche, doch billiger geht es nicht, wenn wir die Ziele unserer Reform erreichen wollen.

Ginge dieser Aspekt der universitas der Universität verloren, gereichte dies allen zum Schaden, der Universität als ganzer und ihren Einzelbereichen.

Die Gegenreform

Wo reformiert wird, ist auch gleich die Gegenreform zur Stelle. Wir spüren das hier und dort, inner- und ausserhalb der Universität. Doch gewichtiger ist eine andere, eine strukturierte Gegenreform. Diese geht nicht von Zürich, sondern von Bern aus, aus dem Umkreis der für die gesamtschweizerische Hochschulpolitik zuständigen Instanzen.

Es ist eigentlich paradox: Zur gleichen Zeit, in der bei den Universitäten vor Ort die je eigene Selbständigkeit gestärkt wird, zeichnet sich im «Bundes-Bern» die gegenläufige Tendenz einer zunehmenden zentralen Steuerung des Universitätswesens ab.

Durch eine verstärkte Koordination und Harmonisierung der Universitäten soll ein kohärentes Schweizer Hochschulsystem errichtet werden. Zu realisieren hätte das eine gesamtschweizerische Universitätskonferenz. Die Kompetenzen, die diese dazu benötigt, müssten allerdings zuvor von den Universitäten an diese neue Instanz abgetreten werden. Dafür wurde eine eigene juristische Konstruktion erfunden, die selbst Eingriffe in unsere Universitätsgesetze erlaubte.

Arbeiteten bisher, in der alten Hochschulkonferenz, Erziehungsdirektoren und Universitätsrektoren einvernehmlich zusammen, ist die neue

Universitätskonferenz als rein politisches Gremium konzipiert. Neben Vertretern des Bundes sässen darin auffälligerweise gerade die Erziehungsdirektoren jener Kantone, die ihren Universitäten kurz zuvor eine höhere Autonomie zugestanden haben. Die Rektoren würden in die Rektorenkonferenz verwiesen, von welcher aus sie Vorschläge an die politische Zentrale richten und Aufträge von ihr entgegennehmen dürften.

Unter eine verstärkte politische Kontrolle soll auch der Bereich der Finanzen fallen. Die zur Förderung der Universitäten bestimmten Bundesmittel sollen zwar, der Zeit gemäss, von den Universitäten im Wettbewerb angeworben werden. Die Verteilung aber erfolgt letztinstanzlich durch politische Gremien, durch den Bundesrat und die neue Universitätskonferenz —und nicht nur nach Kriterien von Qualität und Leistung. So sollen z. B. bei den Grundbeiträgen rund 23 Mio. Franken dem Wettbewerb entzogen werden, um wettbewerbsschwächeren Universitäten unter die Arme greifen zu können. Dieser Wille zum Ausgleich, zum équilibre mag zwar freundeidgenössisch verständlich sein, doch man sollte dies nicht so hochtrabend als «Wettbewerb» bezeichnen. Vor einiger Zeit hat die «Neue Zürcher Zeitung» den dafür passenden Begriff geprägt: flankierende Wettbewerbsverhinderung.

Diesem Gesamttrend entsprechend werden konsequenterweise im Entwurf des neuen Universitätsförderungsgesetzes die Bundesbeiträge nicht mehr als «Subventionen» bezeichnet, sondern neu als «Instrumente» — als Instrumente der politischen Steuerung des Universitätswesens durch Bund und Kantone.

Manche sprechen in diesem Zusammenhang vom Aufbau eines «integrierten» Hochschulwesens — was immer man darunter auch verstehen mag. Darin eingebunden sein sollen künftig auch die Fachhochschulen. Dann würde, nach den gegenwärtigen Plänen, der gesamte Hochschulbereich, Universitäten, ETHs und Fachhochschulen, durch ein gemeinsames Gremium politisch geleitet werden.

Zu diesen Entwicklungen erlaube ich mir zwei Bemerkungen.

Die erste: Ist dabei nicht vor allem eines vergessen gegangen? Sosehr die Universitäten regional und national arbeiten, sosehr sind sie auf Internationalität angewiesen und ausgerichtet. Wissen und Wissenschaft kennen keine Landesgrenzen, und ein System, das sich rein national organisiert, wird bald provinziell.

Das gilt besonders für die Schweiz mit ihren begrenzten Möglichkeiten. Die Wissenschaft braucht Kooperation, und sie braucht Konkurrenz. Doch sie sucht sich ihre Partner und ihre Herausforderer nicht nach nationalen oder politischen Kriterien, sondern dort, wo sich die besten Möglichkeiten der Leistungs- und Qualitätssteigerung bieten. Da spielt sich der eigentliche Wettbewerb ab, im Wettbewerb um Qualität, und nicht im innerschweizerischen Wettkampf um Geld. Davon profitiert auch die Region und die Nation am meisten. Auf diese Internationalität muss auch eine nationale Wissenschafts- und Bildungspolitik ausgerichtet

sein, und nicht nur am Rande, sondern in ihrem Kern. Wir wollen, wie man heute sagt, Global-Player sein —und in aller Bescheidenheit gesagt: in zahlreichen Bereichen sind wir das schon jetzt.

Das Modell einer «Hochschule Schweiz» ist überholt. Das wäre im 19. Jahrhundert vielleicht noch möglich gewesen. Doch schon damals kam es nicht zustande. In ihrer heutigen internationalen Vernetzung sind die Universitäten über das nationale Modell längst hinaus.

Und die zweite Bemerkung, in der Form einer Frage: Wird mit der intendierten politischen «Integration» des Schweizer Hochschulwesens der weiteren Entwicklung des tertiären Bildungssektors wirklich ein Dienst erwiesen? Ist das tatsächlich der richtige Weg zur dringend notwendigen, je eigenen Profilbildung sowohl der Universitäten und der ETHs als auch der Fachhochschulen? In den Umweltwissenschaften spricht man von Biodiversität. Wäre dieser Begriff nicht auch auf das Bildungswesen zu übertragen?

Wohin eine solche «Integration» führen kann, zeigt das Beispiel Deutschlands. Dort wird angesichts der Überlast der Universitäten zur Zeit über eine Neustrukturierung des Universitätsstudiums diskutiert. Der erste Studienabschnitt soll in drei Jahren zu einem berufsfähigen Abschluss führen, und wer weiter an der Universität bleiben will, dem wird anschliessend während zweier Jahre noch ein eigentlich wissenschaftliches Studium angeboten. Damit würden die ersten drei Jahre an der Universität faktisch zu einem Fachhochschulstudium; und es ist höchst fraglich, ob dann die zwei nachfolgenden Jahre für die eigentlich wissenschaftliche Bildung ausreichen würden. Realisierte man dieses System, wäre wohl keinem geholfen, weder der Fachhochschule noch der Universität.

Was ich mit diesem Beispiel sagen will, ist dies: Es ist nicht die Vermengung von Universität, ETH und Fachhochschule, die unser Bildungssystem bereichert, sondern das lebendige Neben- und Miteinander gerade unterschiedlicher Institutionen — auf der Basis ihres je eigenen Auftrags und Profils. Da liegt die Bereicherung, und erst auf dieser Basis wird die Zusammenarbeit und die Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Hochschultypen wirklich fruchtbar.

Vor diesem Hintergrund halte ich die Rede von einer «Integration» des gesamten Schweizer Hochschulwesens für höchst gefährlich. Koordination und Kooperation ist wichtig und richtig, wo dies im Blick auf die Steigerung der Qualität angezeigt ist. Doch eine generelle, auf Harmonisierung und Ausgleich angelegte Zwangskoordination führt zum Mittelmass, zur Mediokrität.

Das Fazit insgesamt: Wir müssen uns mit den Konzepten des Bundes kritisch auseinandersetzen. Es gibt nicht nur die Politik, es gibt auch eine Wissenschaft. Dies gehört mit in den zweiten Teil unserer Universitätsreform, es betrifft uns unmittelbar.

Das neue Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft

Die unterschiedlichen Ansätze im Diskurs zwischen den Universitäten und den politischen Instanzen deuten an, dass die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik bzw. von Wissenschaft und Gesellschaft ein ernstzunehmendes Thema ist.

Tatsächlich unterliegt das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft gerade heute einem Wandel, und dieser Wandel wird für die Arbeit der Universität an Bedeutung noch gewinnen. So gehört auch eine diesbezügliche Reflexion mit zum zweiten Teil unserer Reform, die nicht nur Strukturen verändert, sondern auch der Wissenschaft neue Impulse verleihen soll.

Um diesen Wandel zu verstehen, ist allerdings nicht bei der Politik, sondern bei der Wissenschaft anzusetzen.

Am Anfang der neueren Wissenschaftsgeschichte stand Humboldts Idee der Wissenschaft als Mittel zur Heranbildung gebildeter Menschen. Ziel dieser Wissenschaft war die Erkenntnis, das Verstehen von Wirklichkeit. Und die Wissenschaft war das Privileg einer begrenzten Schicht von Gebildeten.

Doch bald stiess dieses Konzept an seine Grenzen. Die Wissenschaft lernte, die Welt nicht nur zu verstehen, sondern auch, sie zu verändern. Es war nicht zuletzt dieser Aufbruch der Wissenschaft und die aus ihr erwachsene Technik, welche die Welt in den letzten 150 Jahren einschneidend veränderten; ich denke an die industrielle Revolution, an Kernenergie, Molekular- und Gentechnologie oder Informatik und Kommunikation.

Die Wissenschaft wandelte sich. Sie blieb nicht mehr nur Bildungsgut, sondern wurde gleichzeitig zu einem gewichtigen ökonomischen und politischen Faktor der modernen Gesellschaft. Das spiegelt sich auch im rasanten Anstieg der Zahl der Studierenden während der letzten 40 Jahre; auch das Bildungsbewusstsein der Bevölkerung hatte sich gewandelt. Das Universitätsstudium ist attraktiv, weil es als beruflich und gesellschaftlich relevant angesehen wird.

Das hat seine innere Konsequenz: Die Wissenschaft ist zu einer unabdingbaren Grundlage der heutigen Lebenswelt geworden. Die Gesellschaft lebt von der Wissenschaft, und die Gesellschaft bedarf der Wissenschaft für ihre weitere Entwicklung. Doch das stellt die Wissenschaft vor neue Fragen. Die Gesellschaft will wissen, was die Wissenschaft tut und wohin die Reise geht. Sie weiss um die grossen Errungenschaften der Wissenschaft, fragt gleichzeitig aber auch nach deren Risiken — und deren Kosten. Und die Gesellschaft will nicht nur zuverlässiger informiert sein, sondern die weitere Entwicklung auch mitgestalten. Die Diskussion um die Genschutzinitiative war nur ein Anfang.

Dies fordert die Wissenschaften und die Universitäten heraus. Wir haben Wissenschaft nicht mehr nur zu betreiben, sondern sie auch öffentlich zu verantworten. Das wird uns noch einiges zu tun geben.

Neue Herausforderungen und Perspektiven für die Wissenschaft

Wie die Entwicklung der Wissenschaft die Gesellschaft verändert hat, verändert nun wiederum die Entwicklung der Gesellschaft die Wissenschaft. Ich greife nur einen Aspekt heraus:

Die Ansprüche der Gesellschaft veranlassen die Wissenschaft, praktischer zu werden. Das zeigt sich schon heute: Die Grenzen zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung werden immer durchlässiger. In den Bereichen der Neurologie, der Immunologie oder der Krebsforschung z. B. geht es unbestritten um Grundlagenforschung, deren Ziel aber ist sehr praktisch: über die Grundlagenforschung sollen neue Erkenntnisse für eine genauere medizinische Diagnose und dann auch Therapie gewonnen werden.

Oder ein anderes Beispiel, das mich persönlich fasziniert hat: Am Anfang meiner Rektoratszeit erlebte ich mit, wie sich fast alle Zweige der Naturwissenschaften auf die Molekularbiologie stürzten, weil sich da ganz neue Grundlagenbereiche eröffneten. Und heute, 11 Jahre später, sehe ich, z. B. in den Antrittsvorlesungen junger Forscherinnen und Forscher, wie sich die damals gewonnenen Grundlagenerkenntnisse als fruchtbar erweisen für das bessere Verständnis auch der Makrostrukturen der unmittelbar greifbaren Lebenswelt.

Der gleiche Prozess kann sich auch in gegenläufiger Richtung vollziehen. Oft verläuft der Weg der Wissenschaft nicht von den Grundlagen zur Anwendung, sondern umgekehrt: Er setzt bei konkreten Problemen ein und sieht sich gerade dabei gezwungen, auf die elementaren Grundlagen zurückzugreifen.

Das hat Folgen für die Wissenschaft: Lange Zeit vollzogen sich die Hauptstränge der Forschung als Weiterentwicklung der je eigenen Disziplin, und man griff auf Nachbarfächer aus, soweit sie für die eigene Forschung relevant waren. Das genügt nicht mehr. Mehr und mehr wird wahrgenommen, dass sich die Probleme der Lebenswelt nicht nach dem Fächerkanon der Universität richten, sondern eine sehr viel umfassendere Behandlung erfordern. Da reicht selbst eine interdisziplinäre Zusammenarbeit verschiedener Fachvertreter nicht mehr aus. Die Komplexität der Wirklichkeit lässt sich mit einer reinen Addition fachspezifischer Ansätze nicht erfassen. Gefragt sind neue, umfassendere Verstehensmuster

und neue Kommunikationsformen zwischen den einzelnen Fächern und Forschern. Transdisziplinarität nennt man das heute.

Vor vergleichbaren Herausforderungen stehen auch die Geisteswissenschaften. Vielerorts wird deren angeblich mangelnde Relevanz beklagt. Das ist zweifellos — so generell formuliert — eine Fehleinschätzung. Und doch regt die Klage an, den Sachverhalten nachzugehen.

Die Geisteswissenschaften sind in den letzten 30, 40 Jahren nicht nur nach der Zahl der Studierenden enorm gewachsen, sondern auch nach der Zahl ihrer Fächer. Neben der eigenständigen Etablierung der sozialwissenschaftlichen Institute führte auch insgesamt die immer weitergehende Spezialisierung zu immer mehr Disziplinen.

Auch hier stellen sich neue Aufgaben. Auch die geistige und gesellschaftliche Welt orientiert sich nicht am Fächerkanon der Universität.

Nicht zuletzt die bereits genannte Einrichtung fächer- und fakultätsübergreifender Kompetenzzentren auch in der Philosophischen Fakultät zeigt, dass das Problem erkannt ist. Weitere Pläne bestehen. Dringend angezeigt wären z.B. auch Area studies, regionalwissenschaftliche Studien, in denen sich Sprach- und Literaturfächer verbinden mit Geographie, Kultur, Kunst, Religion, Soziologie, Ethnologie, Ökonomie und Politik. Und als grösster Brocken steht uns noch immer bevor, die geistes- und naturwissenschaftlichen Denkweisen, Methoden und Verfahren sachgerecht in Beziehung zu bringen ein transdisziplinäres Thema par excellence. Hier bestehen Aufgaben von höchster Relevanz; ebenso relevant für die Wissenschaft wie für die Gesellschaft.

In einer besonderen Situation stehen die Sozialwissenschaften: Sie haben sich nicht nur organisatorisch von den Geisteswissenschaften abgesondert, sondern sich auch auf weite Strecken einem naturwissenschaftlichen Wissenschaftsverständnis angeschlossen. Sie verstehen sich als «empirische» Wissenschaften, die Daten erheben, Korrelationen berechnen, Wahrscheinlichkeiten bestimmen, Versuche durchführen und Verhaltens- und Wertvorstellungen analysieren. Und deren Arbeitsweise wirkt auch auf andere Fächer der Philosophischen Fakultät zurück.

Doch etwas droht unter diesen Verfahren verloren zu gehen: Die Antwort auf die Frage, an welchen Werten sich die Menschen und die Gesellschaft schliesslich orientieren sollen. Es wäre schädlich für unsere Gesellschaft, wenn unbesehen nur einfach das Faktische für normativ erklärt würde. Werte können zwar definiert und begründet werden, sind aber nicht empirisch ableitbar. Eine sogenannt «objektive» Wissenschaft bleibt in diesem Bereich stumm.

Nicht nur für ihre eigene Arbeit, sondern auch im Blick auf die Gesellschaft wird sich die Wissenschaft der Frage nach den Werten noch vermehrt stellen müssen. Dabei reicht es nicht aus, wissenschaftliche Verfahren und Ergebnisse im Nachhinein auch noch «ethisch» zu beurteilen. Die Frage nach den Werten stellt sich viel früher. Die Wissenschaft jedweder Fakultät hat sich schon von Anfang an bewusst zu machen, von welchen

Werten sie überhaupt ausgeht und welche Werte sie mit den Zielen ihrer Arbeit fördern will.

Mit einer Vertiefung ihrer Arbeit im skizzierten Sinne könnten die Geisteswissenschaften dem Vorwurf mangelnder Relevanz überzeugt gegenübertreten. Relevanz heisst in diesem Zusammenhang nicht einfach Nützlichkeit und Marktkonformität, sondern zuallererst geistige Orientierung —für die Wissenschaft selbst und für die Gesellschaft.

Die hier insgesamt angesprochene Entwicklung transdisziplinärer Wissenschaft wird nicht einfach sein. Neben das traditionelle, analytische Modell der Wissenschaft, welches das Ganze aus seinen Teilen zu verstehen sucht, wird noch vermehrt ein umgekehrt orientiertes treten müssen, welches primär das Ganze zum Thema hat und erst dann auf Einzeldisziplinen zurückgreift.

Die dafür nötigen Methoden und Verfahrensweisen sind erst noch zu erarbeiten. Dies ist selbst ein Stück Grundlagenforschung, die sich allerdings die Aspekte der angewandten Forschung schon von Anfang an integriert hat.

Ein Aufbruch in diese Richtung zahlt sich mehrfach aus: Ein derart neuer Ansatz führt erstens zu sachgerechteren Ergebnissen, zweitens zu einem Mehrwert der Erkenntnis (das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile) und drittens ergeben sich aus einem solchen Neuansatz auch neue Impulse für die Wissenschaft selbst: Ich bin überzeugt, dass eine problembezogene, transdisziplinäre Forschung noch ein ganz erhebliches, bisher unentdecktes Erkenntnispotential in sich schliesst. Ziel einer problemorientierten Forschung ist damit bei weitem nicht nur die Entwicklung von Problemlösungsstrategien, sondern gleichzeitig auch ein Weg zu neuer Erkenntnis — im Ineinander von Grundlagen- und angewandter Forschung.

Das geht nicht von heute auf morgen, das braucht seine Zeit. Darum ist schon die heutige Generation von Studierenden darauf vorzubereiten.

So muss auch aus diesem Grund das oberste Ziel der spezifisch universitären Lehre bleiben, die Studierenden forschungsorientiert in das wissenschaftliche Denken einzuführen; forschungsorientiert nicht, weil sie alle Forscher werden wollen oder sollen, sondern weil die Forschung in exemplarischer Weise der Ort ist, wo die Fragestellungen, Methoden und Verfahren der Ersterkenntnis, der Intuition, der Innovation und der Interpretation eingeübt werden.

Und diese Aufgabe bedarf noch eines anderen: Noch mehr als die Interdisziplinarität bedarf die Transdisziplinarität als unabdingbare Basis einer universitas von Fächern. Es ist zwar richtig, dass heute keine einzelne Universität mehr alle Wissenschaftsgebiete erschöpfend bearbeiten kann. Doch die von einzelnen Bildungspolitikern verfolgte Linie, gewisse Fachgebiete noch vermehrt geographisch auf verschiedene Universitäten zu konzentrieren, läuft den heutigen Anforderungen an die Wissenschaft stracks zuwider. Konzentration allein ist noch kein Wert; es kommt darauf an, was damit erreicht werden soll oder was man damit verfehlt.

Damit komme ich zurück auf die spezifische Situation in Zürich. Ich gebe gerne zu: In Zürich sind wir in einer bevorzugten Lage. Im Miteinander von Universität und ETH bestehen für die Verfolgung solcher neuen Perspektiven hervorragende Voraussetzungen und Chancen. Wir sollten sie keinesfalls schmälern, sondern, im Gegenteil, so extensiv wie möglich nutzen.

Die Universität ist ein faszinierendes Unternehmen. Sie hat schon viel geleistet, und sie wird noch vieles leisten, für die Wissenschaft, die Bildung der Studierenden und für die Gesellschaft. Die Universität braucht nicht, wie einige meinen, neu erfunden zu werden. Sie ist in voller Fahrt und schon längst in Bewegung, und sie wird dies auch weiterhin bleiben.

Was wir dazu brauchen, sind unserem Auftrag angemessene Rahmenbedingungen, geistig und strukturell-organisatorisch (und auch finanziell). Dafür bitten wir die Politik und die Öffentlichkeit weiterhin um ihre Unterstützung —im Blick auf unsere gemeinsame Zukunft.