Zeiten des Endes — Ende der Zeiten?

Basler Universitätsreden 100. Heft

Rektoratsrede gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel

am 29. November 2002
Schwabe &Co. AG . Verlag . Basel

Reihe Basler Universitätsreden, herausgegeben von der Stelle für Öffentlichkeitsarbeit der Universität Basel im Auftrag des Rektorats

© 2002 by Schwabe &Co. AG . Verlag . Basel
Gestaltung: Lukas Zürcher, Riehen
ISBN 3-7965-1488-X

Das Wort vom Ende geht um. Die einen meinen, dass die politischen Erschütterungen der jüngsten Zeit das Ende der weltweiten Verständigung zwischen Staaten und Gesellschaften einläuten. Andere sprechen wegen der biotechnologischen Entwicklungen gar von einem «Ende des Menschen» 1. Zeiten des Endes seien angebrochen.

Doch die Rede vom Ende greift noch tiefer. Anlass geben die Ereignisse des 11. September 2001. Um das Unfassbare verständlich zu machen, mussten Begriffe aus dem traditionellen Endzeitvokabular herhalten. Angriffe gegen Amerika von apokalyptischem Ausmass 2 seien es gewesen. Keineswegs zufällig formiert sich die offizielle Reaktion der Vereinigten Staaten unter dem Slogan eines «Kampfes gegen das Böse» —eine unübersehbare Erinnerung an die christliche Identifizierung des Bösen mit der Person des Satans und dessen Vernichtung in einer endzeitlichen Entscheidungsschlacht. Nicht bloss von Zeiten des Endes wird gesprochen, sondern gar vom Ende der Zeiten.

Es läge nahe, einzelne Motive der sich säkular gebenden Redeweise vom Ende auf ihre religiösen Wurzeln hin zu untersuchen. Doch will ich dieser Versuchung widerstehen. Noch faszinierender nämlich als solches Aufspüren verborgener Traditionsströme ist es, der Frage nachzugehen, warum überhaupt vom «Ende» geredet werden kann. Warum die Geschichte überhaupt an ein Ende zu kommen vermag. Warum sie anfängt und eben auch aufhört. In religiösen Vorstellungen nehmen solche Erwägungen zur Geschichte breiten Raum ein.

Unzweifelhaft ist die Redeweise von Anfang und Ende konstitutiv für die jüdische Religion. Sie spricht pointiert von einem Anfang im Schöpfungswerk

des Herrn und ebenso von einem Ende, wenn der Retter kommt, der Messias, der alle Not und Unterdrückung zum Guten wendet. Dieser Vorstellung eines geradlinigen, auf ein Ziel hin ausgerichteten Geschichtsverlaufs steht das Schema einer kreisförmigen Bewegung gegenüber. Indisches Geschichtsdenken etwa rechnet bei den Geschichtsepochen mit einem «zyklischen Wandel, der sich in stets neuer Wiederholung vollzieht» 3.

Üblicherweise hat man auch griechisches und römisches Geschichtsdenken diesem zyklischen Typ zugeordnet. Doch scheint in jüngster Zeit die Auffassung Platz zu greifen, dass in der klassischen Antike lineare Geschichtsvorstellungen dominierten. Troja wurde für Griechen und Römer zum Beispiel für den Untergang einer Stadt, für das Ende eines Volkes. Schon das homerische Epos kennt Anfang, Entwicklung und unwiederbringliches Ende 4 und so wie Troja zum Paradigma des Untergangs wird, legt sich auf Rom die Verheissung ewiger Herrschaft. Rom hat die Geschichte —und ihr Ende —bereits hinter sich 5.

Das früheste Christentum kümmerten solche Geschichtsspekulationen nicht. Jesus wie Paulus rechneten mit dem unmittelbar bevorstehenden Anbrechen des Reiches Gottes. Das Ende war schon da. Doch dieses Ende kam nicht, die Geschichte ging weiter und die Frage nach dem Ende wurde zu einer Daueraufgabe christlicher Theologie. Selbstverständlich liess sich eine Antwort auf die Frage nach dem Ende nicht isoliert geben, sie war vielmehr einzubetten in eine tiefergehende Erörterung von Geschichte. Zu identifizieren galt es neben dem Ende eben auch den Anfang, neben dem

Fortschritt auch den Rückschritt, neben dem Guten auch das Böse, neben den Gewinnern auch die Verlierer, neben den Trägern des Heils auch die Repräsentanten des Unheils. Unzählige solche Geschichtsentwürfe hat die christliche Tradition hervorgebracht. Zwei davon möchte ich Ihnen präsentieren, damit heutiges Reden von «Zeiten des Endes» oder vom «Ende der Zeiten» in grösserem Zusammenhang erscheint und damit vielleicht verständlicher wird. Meine Auswahl begründe ich nicht weiter, ich hoffe, sie erklärt sich von selbst.

Mein erstes Beispiel entnehme ich dem Hochmittelalter. Der aus dem süditalienischen Kalabrien stammende Joachim 6 durchlief eine wechselvolle klösterliche Laufbahn. Der Zisterziensermönch wurde Abt eines Benediktinerklosters und begründete als Mittvierziger im Jahre 1189 seine eigene mönchische Gemeinschaft. Joachim von Fiore legte als Abt bis zu seinem Tode 1202 seinen Mitbrüdern die Heilige Schrift aus, ermahnte sie zu einem asketischen Leben, schärfte ihnen die Regeln monastischer Ordnung ein. In seinen Ansprachen ist die spannungsvolle Welt des ausgehenden 12. Jahrhunderts gegenwärtig: Die Gegensätze zwischen den beiden Leitmächten des Christentums, Papsttum und Kaisertum, verschärften sich. Bald werden sie im anderen jeweils widergöttliche Züge ausmachen. Ferner wird die Kirche in ihrem Inneren zutiefst in Frage gestellt durch eine Ketzerbewegung, wie es sie in dieser Breite und Intensität noch nie gegeben hat. Die Katharer rüttelten an den Grundfesten von Klerus und Hierarchie. Sie hatten sich zu einer eigentlichen Gegenkirche entwickelt. Und weiter: Die traditionellen Mönchsorden, bisher Hort von Frömmigkeit und

Kontinuität, waren in eine Krise geraten, wie Joachims eigene monastische Wanderschaft zeigt. Und schliesslich: In unübersehbarer Deutlichkeit kulminierte in einem einzigen Ereignis der bedauernswerte Zustand der Christenheit. Nach bald hundertjähriger christlicher Herrschaft über Jerusalem eroberte Sultan Saladin 1187 die Stadt —und machte damit hochfliegenden, triumphalistischen Spekulationen, die sich an diesen heiligen Ort geknüpft hatten, ein abruptes Ende.

Die klassische christliche Antwort auf den Umgang mit derartigen Krisen hatte der Kirchenvater Augustin in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts gegeben. Als im Jahre 410 über Rom die Katastrophe barbarischer Eroberung hereinbrach, schien sich damit der glanzvolle Fortschritt der christlichen Kirche als trügerisch erwiesen zu haben. Doch Augustin widersprach in grundsätzlicher Weise. Von unumkehrbarer «Entwicklung» könne überhaupt nicht gesprochen werden, weder zum Guten noch zum Bösen. Es gäbe weder Fortschritt noch Niederlage in der Geschichte. Denn in Christus sei die Geschichte an ihr Ende gekommen. Die Fülle der Geschichte sei in ihm gegenwärtig. Im Gottessohn sei Vergangenes wie Zukünftiges aufgehoben. Die Geschichte sei mit ihm entschieden —und was nach Christus komme, seien nur Zeichen für das Hin- und Hergehen des Kampfes zwischen Gut und Böse, zwischen himmlischen und irdischen Mächten. Einen Fortschritt der gesamten Menschheit könne es gar nicht mehr geben — allein das einzelne Individuum vermöge eine Entwicklung zum Guten durchzumachen. Naturgemäss gewinnt Bischof Augustin seine Auffassung aus zwei Quellen. Er beobachtet seine eigene Zeit und er achtet auf das Zeugnis der Heiligen Schrift. Und ebenso wie für ihn die Geschichte in Christus aufgehoben ist, so sind auch die einzelnen biblischen Aussagen des Alten und Neuen Testaments über den Lauf

der Welt und über das Geschick der Menschen von der Fülle in Christus her zu lesen. Deshalb haben sie keine konkrete historische Bedeutung mehr.

Joachim von Fiore gibt sich mit dieser von Christus her bestimmten Pauschalantwort Augustins nicht zufrieden und fügt den beiden Ordnungen von Altem Testament und Neuem Testament eine dritte Weltordnung hinzu, einen dritten Status oder ein Drittes Reich. Es ist die Zeit des Geistes, die Zeit der dritten Person der göttlichen Trinität. Diese Epoche löst das Zeitalter des Vaters und des Sohnes ab. In immer wiederkehrenden neuen Bildern beschreibt der kalabresische Abt das Verhältnis der drei Reiche zueinander. Figürliche Darstellungen in den mittelalterlichen Handschriften versuchen das Geheimnis der Reichsbesonderheiten zu lösen, doch ihr Verhältnis bleibt letztlich in der Schwebe. Es bleibt genauso in der Schwebe wie das Geheimnis des christlichen Zentraldogmas der Trinität selbst, in der Joachims Geschichtstheologie zutiefst verwurzelt ist.

Das Eigentümliche —und das Neue —der joachitischen Geschichtsauffassung liegt in der Herausarbeitung dieses dritten Zeitalters. Nur zögernd gebrauche ich den Begriff «Zeitalter». Denn Zeit ist für uns heute wesentlich «Zeitraum», gemessene Zeit, — doch die Signatur von Joachims «Reich» besteht gerade darin, dass weder ihr Anfang noch ihr Ende präzis bestimmbar ist. Beide sind verborgen. Das Besondere ist eben in der Art und Weise des Reiches zu suchen. Unstrittig für den Abt ist, dass er selbst noch unter der Ordnung des Zweiten Reiches lebt, das Dritte indes sich ankündigt, ja schon angebrochen ist und sich langsam durchsetzt. Es gibt keine klaren Abgrenzungen zwischen den beiden Reichen, keine scharfe Zäsur, kein singuläres Ereignis. Allerdings, das Dritte Reich kommt mehr und mehr hervor. Das heilvolle Ende der Geschichte kündigt sich an.

Der augustinischen Idee des Hin und Her von Gut und Böse hat Joachim den Abschied gegeben. Es gibt in der Zeit nach Christus einen realen irdischen Fortschritt, eine innergeschichtliche Entwicklung zum Besseren. Die Entfernung zur frühchristlichen Überzeugung eines unmittelbar hereinbrechenden Endes könnte nicht grösser sein. Kaum überraschend merkt Joachim an, dass dieses Dritte Reich die Spannungen der Gegenwart an ein Ende bringt. Die Autoritäten von Kaiser und Papst werden bedeutungslos sein, sie verschwinden. Denn in dieser Heilszeit gäbe es Freiheit für alle, Knechtschaft und Unterdrückung gehörten dem vergangenen Reich an. Die institutionellen Heilsmittel der Kirche wie Sakrament oder Priestertum spielen keine Rolle mehr, soziale Unterschiede sind aufgehoben. Ja noch mehr, in dieser Zeit des Geistes sind alle geistbegabt. Bücherweisheit taugt ebensowenig wie das Wissen von Lehrern und Bibelauslegern.

Der egalitäre Impuls dieser Vision lässt sich kaum überschätzen. Zum einen verlegt Joachim den Empfang von bleibenden Heilsgütern, der traditionellerweise exklusiv mit einer himmlischen Existenz verknüpft war, in die real anbrechende, ja schon angebrochene Geschichte. Gerade die Katastrophensymptome sind Zeichen dafür, dass unter Schmerzen die neue Zeit beginnt. Zum anderen ist diese innergeschichtliche Vision naturgemäss eine radikale Kritik bestehender Zustände. Kritik an einem durch die Auseinandersetzung mit dem Ketzertum gestärkten Klerus, Kritik an sich verschärfenden Gegensätzen zwischen den gesellschaftlichen Schichten, Kritik am entstehenden neuen Wissenschaftsbetrieb von Scholastik und Universität. Das Egalitäre und Antiintellektuelle seiner Position ist unübersehbar.

Markant sind die Unterschiede zwischen dem Zweiten und dem Dritten Reich. Grosse Veränderungen vollziehen sich, doch gibt es eine Klammer,

die beide miteinander verbindet, einen Garanten, der Kontinuität sicherstellt. Niemand anderer als die Mönche weisen aus dem Zweiten Reich in das Dritte Reich hinüber. Die geisterleuchteten Männer, die viri spirituales, wissen um das Dritte Reich und sie sagen es im Namen Gottes dem Volke 7 an. Die Mönche sind die Träger des Fortschritts.

Bei einer Würdigung von Joachims Konzept von Geschichte und Endzeit sind die wesentlichen Punkte rasch genannt. Die theologische Leistung Joachims liegt darin, dass er sein Verständnis von Geschichte mit Hilfe eines trinitarischen Schemas gewinnt. Die dem Geist zugeordnete Heilszeit verlegt er in die Geschichte der Menschheit selbst. Dadurch überwindet Joachim von Fiore die bisher vorherrschende augustinische Tradition. Er entwickelt eine Theorie des Fortschritts.

Die soziale und historische Einbettung dieses Denkens liegt auf der Hand. In einer Zeit beschleunigten gesellschaftlichen Wandels muss der Abt die Legitimität des Mönchtums begründen. Er entdeckt sie in dessen zukünftiger Funktion. Anspruch auf Anerkennung findet das Mönchtum in einer Zeit von Veränderung und Wettbewerb in seiner Rolle als Träger innerweltlichen Fortschritts 8.

Die Mönche haben als viri spirituales beides: Als vom Geist Gelehrte verfügen sie über einen vertieften Einblick in die Geschichte. Sie kennen Vergangenes, wissen Gegenwärtiges zu deuten und sagen zukünftige Entwicklung voraus — und als Wissende sind sie zugleich Garanten dafür, dass diese Entwicklung auch eintritt. Joachim von Fiores innerweltliche Vision vom Dritten Reich wäre wohl eine Fussnote abendländischer Ideengeschichte geblieben, wäre sein Gedankengut

nicht Jahrzehnte nach seinem Tode aufgegriffen und radikalisiert worden. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts hatte Franz von Assisi den nach ihm benannten Franziskaner- oder Barfüsserorden begründet. Wie er selbst schwankten auch seine Jünger und Nachfolger zwischen Rechtgläubigkeit und Ketzerei. Franz wurde schon zwei Jahre nach seinem Tod 1228 heilig gesprochen. Um sein Erbe entbrannte der Streit. Eine Fraktion von Franziskanern sah im heiligen Franz eine Figur der Endzeit und identifizierte sich selbst mit den viri spirituales, den Trägern des Dritten Reiches. Was bei Joachim an Kirchenkritik und Heilszusage noch in der Zukunft lag, sahen die Spiritualen in ihrer eigenen Gegenwart verwirklicht. Der egalitäre und antiintellektuelle Impuls bekam soziale Gestalt. Die Spiritualen forderten dreifachen Kommunismus.

Eine Teilung von Macht, eine Teilung von Gütern und eine Teilung von Wissen. Diese Bewegung des Endes rüttelte damit an den Grundfesten der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung — und die franziskanische Bewegung war in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen. Sie wusste ihre Grösse sinnenfällig zum Ausdruck zu bringen. Auch ihre Heimstätte in unserer Stadt, die Barfüsserkirche, konkurrenziert in ihrer Ausdehnung die Kirche des Bischofs, das Münster. Trotzdem, die Spiritualen standen auf verlorenem Posten. Die traditionellen Kräfte siegten. Was blieb, war Joachim von Fiore als Kritiker kirchlicher Macht, als Kronzeuge menschlichen Fortschritts, als Künder einer bessern Welt.

Und so konnte ihn Dante unter die Bewohner des Paradieses zählen 9 und der marxistische Philosoph Ernst Bloch 10 in ihm einen Ahnherrn der Revolution erkennen.

Mein zweites Beispiel entstammt einem völlig anderen historischen Kontext. Ich entnehme es dem amerikanischen Puritanismus des 18. Jahrhunderts, und zwar skizziere ich das Geschichtsdenken des protestantischen Theologen Jonathan Edwards. Edwards lebte von 1703 bis 1758. Er stammte aus Connecticut, studierte in Yale und wurde Pfarrer in Massachusetts. Seine Gemeinde Northampton lag im Westen der Kolonie, am Rand des durch die Puritaner urbar gemachten Landes. Selbst fühlte sich Edwards auf der Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis. Allerdings, in ihm begegnet uns keineswegs ein hinterwäldlerischer Landgeistlicher. So hohes intellektuelles Ansehen genoss er nämlich, dass man ihn im Jahre 1757 zum Vorsitzenden des College von New Jersey wählte. Edwards wurde also Präsident der Institution, die heute «Universität Princeton» heisst. Doch noch bevor sich Edwards in Princeton eingerichtet hatte, starb er, nur 55 Jahre alt. Trotz dieses frühen Todes schuf er ein Werk, das noch heute zu den anspruchsvollen Zeugnissen des nordamerikanischen Geisteslebens gehört. Sein Einfluss reicht bis in unsere Gegenwart hinein und ist vielleicht am stärksten greifbar eben in seiner Auffassung von Geschichte, Gegenwart und Zukunft.

Im Frühjahr und Sommer 1739 hielt Edwards in seiner puritanisch-protestantischen Gemeinde Northampton eine Reihe von Predigten unter dem Titel «Geschichte des Erlösungswerkes»11. Ich erläutere die Grundgedanken von Edwards' heilsgeschichtlichem Konzept:

Die Heilsgeschichte unterteilte der puritanische Pfarrer in drei Perioden. Eine erste Epoche erstreckt sich vom Sündenfall bis zur Menschwerdung Christi; eine zweite umfasst die Lebensspanne des Herrn, also die Zeit

von der Menschwerdung über den Kreuzestod bis zur Auferstehung, und schliesslich folgt darauf die dritte Epoche, von der Auferstehung Christi bis zum Ende der Welt. In diese dritte Zeit fällt Edwards' eigene Gegenwart.

Bei der Beschreibung dieser dritten Epoche enthüllt sich eine Geschichtsauffassung, die, überraschend genug, an Joachim von Fiore denken lässt —doch ebenso deutlich sind charakteristische Unterschiede. Unerschütterlich steht für Edwards fest, dass das Heilswerk in diesen 1700 Jahren Fortschritte gemacht hat. Als Beweis dafür nennt er einzelne Ereignisse: Als erstes «Heilsereignis» für die christliche Kirche nimmt Edwards die Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahre 70. Die Juden hätten die junge christliche Kirche auf alle möglichen Arten verfolgt, zur Strafe seien die Juden an dem Gerichtstag des Jahres 70 schrecklich vernichtet worden 12. Nicht mehr länger könnten die Juden deshalb als Gottes sichtbares Volk gelten 13. An ihre Stelle sei das Christentum getreten. Ein zweites sogenanntes Heilszeichen sieht Edwards im Ende des heidnischen Charakters des Römischen Reiches. Durch die widergöttlichen Römer habe Satan seine Macht ausgeübt, doch am Anfang des 4. Jahrhunderts triumphierte das Reich Christi über das Reich des Satans. Allerdings, vollständig sei damit der Satan nicht besiegt, worden. Er habe etwas von seiner Macht retten können. Als Europa damals christlich wurde, entführte der Teufel nämlich ein Volk nach Amerika, um dort als Gott über Menschen herrschen zu können. Die nach Amerika verbrachten Satansverehrer seien niemand anderer als die Indianer. Ausserdem installierte Satan zwei weitere widergöttliche Mächte. In Rom selbst, dem früheren Zentrum des Heidentums,

habe sich seit dem Mittelalter das Papsttum als Antichrist eingerichtet. Das Papsttum stellte sich gegen den wahren Glauben, es förderte Aberglauben und Unkenntnis. Diesem widergöttlichen Reich im Westen entsprach nach Edwards ein zweites im Osten. Dort liess Satan das Reich des Mohammed entstehen. Türken und Sarazenen unterwarfen sich die Länder des Ostens, unterdrückten mit grosser Grausamkeit die Christen. Dieses Reich des Bösen überraschte Edwards nicht, denn er sah die islamischen Eroberungszüge im letzten Buch der Bibel vorhergesagt. In der Offenbarung des Johannes wird ja eine Entfesselung von Terror im Osten, am grossen Strome Euphrat, lokalisiert (Offenbarung 9, 15-21).

Edwards ist überzeugt, dass diese Widerstände den Fortschritt des Heils nicht aufhalten können. Vor allem die protestantische Reformation des 16. Jahrhunderts habe die Heilsgeschichte vorangebracht. Der Fortschritt bei Bildung und Wissenschaft sei unverkennbar, seither schreite die Welt mit dem Evangelium unaufhaltsam voran. Beispiele hat Edwards rasch zur Hand. In Russland habe Zar Peter zu Anfang des 18. Jahrhunderts die intellektuelle Rückständigkeit der orthodoxen Kirche bekämpft und landesweit Reformen durchgesetzt — mit dieser Modernisierung werde auch Russland ein Land des Lichts. Doch namentlich Amerika werde zum Garanten des Fortschritts. Die Bekehrung der Heiden Amerikas läute die definitive Christianisierung der ganzen Welt ein 14. In Amerika komme die Geschichte an ihr Ende. Langsam und stufenweise ziehe das Reich Gottes herauf, Papsttum und Islam würden besiegt, alle Heiden bekehrten sich zu Christus. Wenn diese für das Christentum gewonnen sind, wird das Reich des Bösen endgültig besiegt sein. Erst dann kommt Christus zum Gericht wieder auf die Erde zurück. So weit Edwards.

Die Parallele zwischen dem puritanischen Pfarrer der Aufklärungsepoche und dem mittelalterlichen Klosterabt liegt auf der Hand. Bei beiden steht im Zentrum die Idee des sich in der Geschichte durchsetzenden Heils. Damit eröffnen beide Zeit zum Handeln, irdische Zeit zur Verkündigung des Evangeliums und zur Gestaltung der Gesellschaft. Es ist die eingeräumte letzte Zeit, bevor sich das eigentliche apokalyptische Drama vollzieht. Doch ist es irdische, reale Zeit, die vom Ende her ihre besondere Dringlichkeit bekommt. Bei beiden spielt das Wissen um dieses Ende eine besondere Rolle.

Allerdings, die Unterschiede sind ebensowenig zu übersehen: Vor allem fällt bei Edwards ein pointiertes oder eben auch penetrantes Überlegenheitsgefühl auf. Der Katholizismus ist rückständig, das Papsttum der Antichrist, Juden und Muslime werden gar zu Gottesgegnern ohne Zukunft erklärt. Am Ende werde es weder Juden noch Muslime geben.

Die Überlegenheit des Protestantismus begründete Edwards historisch und geographisch. Die protestantische Reformation habe die Verwirrungen der Geschichte beseitigt, die Ursprünge des Christentums wiederbelebt, die einfache Wahrheit des Anfangs durchgesetzt. Zur historischen Begründung kommt die geographische Argumentation: Das Heil habe seinen Anfang in Palästina genommen, dann sei es vom Osten in den Westen gewandert, zuerst nach Rom und später im 16. Jahrhundert weiter westwärts, zu den Ländern der Reformation. Das westlichste Land Europas, England, sei zum Mutterland der Reformation geworden. Jetzt, im 18. Jahrhundert, sei Besonderes noch weiter westlich, eben in Amerika zu erwarten. Von Amerika gehe zukünftiges Heil aus. Durch diese historische und geographische Konstruktion definiert Edwards den Platz von Amerikas Protestanten in der Geschichte, genauer, er legitimiert damit ihren

Anspruch als Träger und Instrument der Heilsgeschichte. Russen und Heiden könnten am Fortschritt teilnehmen, wenn sie sich belehren und bekehren liessen.

Edwards nimmt auf diese Weise die gesamte Menschheit in den Blick. Seine globale Perspektive reichert er an mit dem Gedanken der heilstragenden Bedeutung des geographischen Raumes. Ost und West werden zu Leitbegriffen von religiöser Qualität. Im Osten lauert das Böse, vom Westen her kommt das Heil. Gleichwohl, Edwards gibt sich mit diesem ungleichen Zustand der Welt nicht ab, denn die Christianisierung der Welt steht ja noch bevor. Sich ihr zu widmen, ist unausgesprochene Pflicht. Die Christianisierung zielt allerdings in erster Linie nicht darauf, das Los der im Dunklen vegetierenden Völker zu bessern. Sie hat vielmehr ihren Platz in der grossen heilsgeschichtlichen Fortschrittsbewegung. Mit der Christianisierung wird das Kommen des Reiches beschleunigt und insofern kommt die Bekehrung der Heiden doch in erster Linie wiederum der transatlantischen protestantischen Gemeinschaft zugute.

Ich komme zum Schluss. Sie werden es gemerkt haben, ganz konnte ich der Versuchung doch nicht widerstehen, heutigen Motiven bei der Rede vom Ende durch historisches Vergleichen etwas von ihrer aggressiven Exklusivität zu nehmen. Zur traditionellen, religiös überhöhten Metaphorik gehört der Ost-West-Gegensatz ebenso wie das Bild vom personifizierten Bösen oder die Verknüpfung des Fortschritts mit Wissen und Erkenntnis oder schliesslich die Verheissung politischer Partizipation für alle.

Noch wichtiger als dieses Aufspüren religiöser Elemente bei einzelnen Motiven ist allerdings eine grundlegende Einsicht, die sich bei beiden historischen Beispielen aufdrängt. Die Rede vom Ende geht in ihren Absichten

weit über geschichtstheoretische Spekulationen hinaus. Ihr wohnen vielmehr politische oder soziale Interessen inne. Wer nämlich von Ende und Fortschritt spricht, macht zugleich offenbar, was Fortschritt bremst und was Fortschritt fördert, ja präziser, wer den Fortschritt trägt und wer vom Fortschritt ausgeschlossen bleibt. Eine eigentliche Scheidung der Geister wird anvisiert. Diese Schwarz-Weiss-Malerei schafft soziale Differenzierung. Angesichts des Endes weiss man, wer man ist.

Und wozu dient diese Identifikation? Die Rede vom Ende steht im Dienste der Legitimation in einer Zeit von Wandel und Veränderung. Von ihrer zukünftigen Funktion als endzeitliche Heilsbringer für die Welt begründen beide, kalabresische Mönche und amerikanische Puritaner, ihren Führungsanspruch. So verbirgt sich in der Rede vom Ende ein merkwürdiges Paradox. Das Ende sichert den Anspruch auf eigene Kontinuität.

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Rektorats Reden © Prof. Schwinges
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