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Hochschulmedizin wohin? Die Medizinische Fakultät in der Universität

Basler Universitätsreden 102. Heft

Rektoratsrede gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel

am 26. November 2004
Schwabe Verlag Basel

Reihe Basler Universitätsreden, herausgegeben von der Stelle für Öffentlichkeitsarbeit der Universität Basel im Auftrag des Rektorats

©2004 by Schwabe AG, Verlag, Basel www.schwabe.ch
Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Basel/Muttenz
Gestaltung: Lukas Zürcher, Riehen
ISBN 3-7965-1490-1

Die Medizinische Fakultät in der Universität

Bei einem Blick auf die heutigen hochschulpolitischen Debatten in der Schweiz lässt sich rasch feststellen, dass ein Wissenschaftsgebiet im Zentrum steht: die Medizin. Vielfältig sind die Vorschläge zu Finanzierung, Organisation oder «Gesamtsteuerung» der Hochschulmedizin. Über Einrichtung von Forschung, Lehre und Dienstleistung an den fünf Medizinischen Fakultäten des Landes wird auf verschiedenen Niveaus diskutiert, beraten, rapportiert, in den Medien verkündet. Selbst für den unmittelbar Beteiligten ist es schwierig geworden, sich in dem Gestrüpp von Stellungnahmen, Vernehmlassungen und Kommissionsrapporten zurechtzufinden, Mitspielende und Beteiligte in ihren Interessenlagen zu identifizieren, Wichtiges von Unwichtigem zu scheiden. Bei aller Unübersichtlichkeit fällt ein Manko auf. Der besondere akademische Charakter von Medizin wird kaum erörtert, eine spezifisch universitäre Sicht auf die Medizin nicht entfaltet.

In dieser Stunde möchte ich die Debatte um die Medizin vertiefen, indem ich der Frage nach ihrem akademischen Charakter nachgehe, mit anderen Worten: Ich spreche über die Aufgaben der Medizinischen Fakultät im Gesamtgefüge der Universität.

Wie es meiner akademischen Herkunft entspricht, schlage ich bei der Antwort auf diese Frage den geschichtlichen Weg ein. Zuerst stelle ich einige historische Überlegungen an, komme danach auf besondere Entwicklungen der heutigen Medizin zu sprechen und ziehe abschliessend thesenartig fünf Schlussfolgerungen.

Die antike wie mittelalterliche Wissenschaftsklassifikation stellt eine grundlegende Unterscheidung von artes liberales und artes mechanicae an.1 Artes liberales sind Fähigkeiten und Fertigkeiten, die eines freien Mannes würdig sind. Zu ihnen zählen Mathematik, Grammatik, Musik, Rhetorik. 2

Die grosse Zahl der abhängigen oder verdingten Männer führte dagegen «mechanische» Tätigkeiten aus: Ackerbau, Jagd, Bergbau, Holzbearbeitung. Grob gesagt, beschäftigten sich also die artes liberales mit geistigen Gegenständen und die artes mechanicae mit materiell-leiblichen Angelegenheiten. Die mittelalterliche Universität schloss die artes mechanicae, also die auf das Materiell-Leibliche bezogenen Wissenschaften, aus ihrem Fächerkanon aus. Die artes liberales dominierten die Akademie. Allerdings gab es eine einzige Ausnahme, eben die Medizin. Sie fand Aufnahme unter die an der Universität gelehrten Fächer und wurde zu einem ihrer integrierenden Teile. So haftet seit den Anfängen der europäischen Universität der Medizin ein Doppelcharakter an. Sie ist eine aufs Praktische gerichtete Disziplin und doch zugleich auch theoretische Wissenschaft, denn bei ihr geht es ebenso um die Vermittlung theoretischer Kenntnisse wie bei den anderen an der Universität vertretenen Wissenschaften. Auf der Theorie lag der Schwerpunkt des medizinischen Unterrichts.3

In der Unterrichtsmethode entsprach die medizinische Lehre dem üblichen scholastischen Schulbetrieb. Im Zentrum standen autoritative medizinische

Texte. Die Professoren erläuterten sie den Studierenden nach den gängigen Auslegungsverfahren von Analyse, Vergleich und Harmonisierung. Zunehmend spielten arabische Autoren neben den klassischen antiken Medizinern Hippokrates und Galen eine massgebliche Rolle. Inhaltlich konzentrierte sich der Unterricht auf die rechte Mischung der Elementareigenschaften des Körpers und auf den Einfluss der Gestirne auf Gesundheit und Krankheit, also auf medizinische Astrologie. Medizinprofessoren waren hervorragend geschulte Universalwissenschaftler mit einem Schwerpunkt in der Naturphilosophie. Eine praktische Arztausbildung im heutigen Sinne lieferte die mittelalterliche Universität nicht. Unbekannt sind chirurgische Demonstrationen. Als ars mechanica galt die Medizin eben deshalb, weil sie mit handwerklichen Fertigkeiten wie chirurgischen Eingriffen, Arzneimittelherstellung und Aderlass verknüpft war, ohne dass indessen diese Fertigkeiten im akademischen Unterricht selbst vermittelt wurden. Wohl war an einigen Universitäten eine Schulungszeit bei einem praktischen Arzt vorgesehen. 4

Dieser generelle Verzicht auf die Vermittlung praktisch-ärztlicher Fertigkeiten war nur deshalb möglich, weil die überwiegende Mehrheit der ärztlich Tätigen, namentlich die Chirurgen oder Wundärzte, ohnehin keine akademische Ausbildung durchlief. Diese Ärzte organisierten sich ähnlich wie Handwerker in Gilden. Dort hatte die Weitergabe praktisch-medizinischer Kenntnisse ihre soziale Verankerung. Unschwer lässt sich das hier aufbrechende Spannungsfeld erkennen. Auf der einen Seite standen die akademisch-philosophisch gebildeten Ärzte und Medizinprofessoren mit reichen Kenntnissen der medizinisch-wissenschaftlichen Tradition und auf der anderen Seite die grosse Zahl von Praktikern, die ihr medizinisches Handeln

auf Überlieferung und Erfahrung gründeten. Verschärft wurde dieser Gegensatz noch durch die ökonomische Konkurrenz. Die medizinischen Universitätsprofessoren waren auf zusätzliches Einkommen angewiesen und dieses bezogen sie aus der Praxis. Eigentliche Bezahlungen empfingen die Professoren für ihr ärztliches Handeln zwar nicht, aber es gab immerhin Ehrengelder, sogenannte Honorare. Nicht immer widerstanden sie der Versuchung, die universitären Aufgaben der einträglicheren medizinischen Praxis hintanzustellen. So bekannte einer der berühmtesten Ärzte der Universität Bologna, Taddeo Alderotti (gestorben 1295), er habe das Schreiben wissenschaftlicher Werke vernachlässigt zugunsten von lukrativen Behandlungen. 5

Um das Jahr 1500 lässt sich deutlich der lang andauernde Trend zu Professionalisierung und Akademisierung der Heilkunde erkennen. Ein instruktives Beispiel bietet unsere eigene Universität. Wie in allen Universitätsstädten üblich, räumte auch in Basel die städtische Obrigkeit der Universität besondere Privilegien ein, um deren Attraktivität zu sichern. Die Stadt Basel garantierte der Universität diese Rechte noch vor der Eröffnung im Mai 1460. Die Medizinische Fakultät und ihre Dozierenden erhielten die Oberaufsicht über das gesamte Medizinalwesen Basels. Alle praktizierenden Ärzte mussten durch die Medizinische Fakultät anerkannt werden. Nicht akademisch geschulte Ärzte durften nur eingeschränkt heilkundlich tätig sein. Bei komplizierten Wunden etwa hatten sie akademisch ausgebildete Ärzte beizuziehen. 6 Basel hat also 1460 die Medizinische Fakultät als heilkundliches Kompetenzzentrum etabliert.

Überblickt man das Ganze der Universitätsmedizin um das Jahr 1500, so ist offenkundig, dass die Medizin ihre akademische Berechtigung aus der dem scholastischen Schulbetrieb verpflichteten Beschäftigung mit der einschlägigen heilkundlichen schriftlichen Überlieferung bezog. Medizinische Praxis wurde nicht vermittelt, wie überhaupt eine auf individuelle Beobachtung und Empirie beruhende Wissenschaft dem Mittelalter fremd war. Trotzdem, man wird nicht unterschätzen dürfen, was es heisst, wenn Medizinprofessoren eben auch praktizierende Ärzte waren und sich ihre Praxis als «Technik» und «Handwerk» grundlegend von juristischer oder theologischer Praxis unterschied. Die Universitätsmedizin war von Anfang an Wissenschaft und Handwerk, eine Doppelheit, die sie mit keiner anderen akademischen Disziplin teilte.

Bald zeigte sich, dass die Medizinische Fakultät mehr als andere Fakultäten besonderer Investitionen bedurfte, um eine angemessene Ausbildung garantieren zu können. Zum einen setzte sich im 16. Jahrhundert die öffentliche Anatomie durch. An unserer Universität führte Oswald Bär im Januar 1531 die erste öffentliche Zergliederung einer Leiche durch. 7 Um den Teilnehmenden die genaue Beobachtung zu ermöglichen, waren besondere bauliche Massnahmen vonnöten. Basel errichtete deshalb 1588 im Universitätsgebäude am Rheinsprung ein anatomisches Theater mit der dazugehörigen Professur. 8

Der neugeschaffene Lehrstuhl für Anatomie war zugleich der Botanik gewidmet —das hiess, der Professor war für Heilpflanzenkunde verantwortlich. Hierfür wurde im selben Jahr 1588 ebenfalls am Rheinsprung ein botanisch-medizinischer Garten eingerichtet. Einer der ältesten nördlich der

Alpen. 9 Die Stadt sagte zu, für den Unterhalt des Gartens zu sorgen, doch «sie hielt ihr Versprechen nicht», wie der Universitätshistoriograph Andreas Staehelin trocken feststellt. 10 Medizinprofessoren kamen jahrzehntelang aus eigener Tasche für den Unterhalt dieser wichtigen Einrichtung auf. Die Zeit um 1800 bildete den tiefsten Einschnitt in der europäischen Geschichte der Universitäten. Zwischen 1789 und 1815 verschwand fast die Hälfte von ihnen. In Frankreich wurden die 24 Universitäten aufgelöst, durch Spezialhochschulen oder durch selbständige Fakultäten ersetzt. Die Medizin verfügte über drei Fakultäten: Paris, Strassburg und Montpellier. Ebenso revolutionär wie diese organisatorische Neuordnung war die grundlegende Reform der französischen Arztausbildung.

Zum zentralen Begriff wurde die Beobachtung, der «Blick als wichtigstes Instrument zur Gewinnung medizinischer Kenntnisse». 11 Das scholastische Bücherwissen, welches noch im 18. Jahrhundert gepflegt worden war, hatte ausgedient. Ohne vorgefasste Lehrmeinung sollte der Arzt Patientinnen und Patienten betrachten und so zur Gewissheit seines Urteils kommen. Damit wurde der ärztlichen Erfahrung eine zentrale Rolle eingeräumt. Das Medizinstudium zielte auf die Schärfung des Blickes und auf die Gewinnung von Erfahrung. Die daraus folgende institutionelle Veränderung liegt auf der Hand: Das Spital wurde zum Mittelpunkt der Ausbildung; an der Praxis hatten sich die theoretischen Kenntnisse, etwa in Anatomie, Physik und Chemie, zu bewähren. Neue Methoden der Körperuntersuchung, wie

Klopfen und Horchen, setzten sich durch. Die Devise der französischen Ärzteausbildung hiess: «viel sehen, viel handeln, wenig lesen». 12

Die französischen medizinischen Fakultäten waren also praktisch ausgerichtet und stellten insofern eine offenkundige Parallele zu den anderen neu gegründeten und auf Berufsausbildung gerichteten französischen Hochschulen dar. Allerdings gab es in Frankreich neben den Medizinischen Fakultäten weitere nichtuniversitäre Medizinalschulen. Sie brachten gegenüber den promovierten Ärzten der Fakultäten zweitklassige Medizinalbeamte hervor. Deren Ausbildung war naturgemäss noch stärker von der Praxis bestimmt und auf die Praxis hin ausgerichtet.

Hatte man sich in Frankreich —ähnlich wie in England —für eine pluriforme Medizinalausbildung entschieden, so konzentrierte sich in Deutschland oder in der Schweiz die Ausbildung allein auf die Universitäten. Für die Medizin wegleitend war ebenso wie für die anderen Universitätsstudien das Universitätsmodell Wilhelm von Humboldts. 13 Auch die Medizin habe die Einheit von Forschung und Lehre zu verwirklichen. Deshalb habe die Universität selbst für beides zu sorgen, für den theoretisch-wissenschaftlichen Unterricht und für die praktische Ausbildung zum Übergang in den ärztlichen Beruf. 14 Keinen Platz in diesem Konzept hatten Medizinalschulen wie in Frankreich oder in England, und ebenso wenig konnte es zu einem differenzierteren medizinischen Berufsbild kommen. Die humboldtsche Reform verstärkte die monopolisierende Stellung des Arztes in Medizin und Gesundheitswesen.

Die Basler Universitätsreform von 1818 war dem humboldtschen Modell verpflichtet. Trotz kritischer Stimmen, die für eine Abschaffung der Medizinischen Fakultät eintraten, bekannte sich der Grosse Rat zu ihrem Fortbestand. 15 Der 1822 frisch berufene, aus Preussen vertriebene Anatomieprofessor Carl Gustav Jung machte sich mit grosser Energie an die Erneuerung der daniederliegenden Fakultät. 16 Tatkräftig arbeitete er für einen voll ausgebauten medizinischen Studiengang.

Jung setzte sich gegen Widerstände durch. Die Basler Medizinische Fakultät blühte auf. Erst 1865 entstanden allerdings eigentliche medizinische und chirurgische Kliniken als integrierende Bestandteile der universitären Arztausbildung. 17 In beiden Kliniken hatten die leitenden Professoren das Recht, Gratisbetten zu vergeben, wenn an Patienten «wissenschaftlich-sachliches Interesse» bestand. Freibetten seien eine Lebensbedingung für die Klinik. 18 Bei der Aufnahme von Patientinnen und Patienten überwog also das Interesse der Wissenschaft gegenüber dem eines heilkundlichen Kompetenzzentrums.

Das humboldtsche Ideal einer Verknüpfung von Forschung und Ärzteausbildung setzte sich auch ausserhalb des deutschen Sprachgebietes durch. In Frankreich verschwanden gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Medizinalschulen 19 zugunsten der ausschliesslichen universitären Ausbildung, und langsam setzte sich in England und in den Vereinigten Staaten das deutsche Modell der Universitätskliniken als Lehr- und Forschungsanstalten durch. 20

Die Stärke des humboldtschen Ansatzes liegt in der forschungsgeleiteten ärztlichen Ausbildung. Mit dem Siegeszug der Naturwissenschaften in der Medizin, wie er für das 19. und 20. Jahrhundert kennzeichnend wurde, machten sich diese Vorzüge noch stärker geltend. Die wissenschaftliche, präziser, die naturwissenschaftliche Komponente der Medizin kam in der Ausbildung voll zum Tragen. Die Verwirklichung des humboldtschen Systems brachte allerdings zwei unerwünschte Entwicklungen mit sich.

Wilhelm von Humboldts Universitätsidee gründete auf Wissenschaft. Alle «praktischen» Aspekte des Studiums sind dieser Absicht untergeordnet. Völlig ausserhalb seines Horizonts lag eine spezialisierte heilkundliche Dienstleistung für die Bevölkerung. Genau in diesem Sinne waren ja auch 1865 die Basler Kliniken errichtet worden. Die heutige Situation unserer Medizinischen Fakultäten stellt sich anerkanntermassen völlig anders dar. Der vielzitierte «Sonderfall Medizin» setzt voraus, dass eine Universitätsklinik zugleich einen hoch spezialisierten Versorgungsauftrag hat, akademische Lehre und Forschung also gleichrangig der spitzenmedizinischen Dienstleistung gegenüberstehen. Es ist eine Ironie der Universitätsgeschichte, dass die nordamerikanischen Medical Schools dem humboldtschen Ideal näher stehen als die mitteleuropäischen Universitäten mit ihren Universitätskliniken. Was Humboldt gerade vermeiden wollte, ist im Laufe der Zeit eingetreten: Die Klinik dominiert die Akademie. Hochschulmedizin wird mit hoch spezialisierter Dienstleistung in eins gesetzt.

Direkt verknüpft mit dem humboldtschen Ansatz ist eine zweite Entwicklung, die sich je länger je mehr als problematisch herausstellte. Das humboldtsche Bildungsideal ist zutiefst im deutschen Idealismus verwurzelt. Ihm gilt als höchstes Bildungsziel das sich formende, moralisch hoch

stehende Individuum. 21 Der medizinische Fortschritt des 19. Jahrhunderts, verbunden mit grossen Arztpersönlichkeiten wie Semmelweis, Virchow oder Pasteur, verlieh den Ärzten eine «Aura des Heldentums». 22 Sie «kämpften» als Individuen gegen Krankheit und Tod, hatten eine eminent soziale Aufgabe und sie waren, wie der grosse Virchow sagte, «Anwalt der Armen». 23 Ärzte mussten idealistisch gesinnte, humanistische Wohltäter sein. Die Medizin, ihre Aufgaben, Ziele und Erwartungen schienen in der Person des Arztes verkörpert. Indem sich die mit der Medizin und dem Gesundheitswesen verknüpften Berufsaufgaben auf den Arzt konzentrierten, wurde dieser zugleich zum Experten für alle Aspekte der Medizin, und die Bildungsaufgabe der Medizinischen Fakultät erschöpfte sich in der Sicherstellung des Ärztenachwuchses. Noch heute werden an den Medizinischen Fakultäten Forschung und Ausbildung von diesem Arztzentrismus bestimmt.

Diese beiden Entwicklungsstränge, Dominanz der Dienstleistung und Arztzentrismus, hängen selbstverständlich zusammen. Nach meiner Überzeugung sind sie wesentlich dafür verantwortlich, dass die Medizin und die Medizinischen Fakultäten ins Gerede gekommen sind. Ihretwegen gerät die Medizinische Fakultät als wissenschaftliche akademische Einrichtung in Kritik. Und ich füge hinzu, diese Kritik ist nicht ohne Berechtigung. Die Medizin als Wissenschaft kann sich ebensowenig wie andere Wissenschaften aus «Bedürfnissen» begreifen und daraus eine monopolistische Berufsausbildung begründen. 24 Ein Blick auf die heutige Wirklichkeit der Medizin,

sei es in der Universität, sei es in der Gesellschaft, zeigt, dass unsere Medizinischen Fakultäten in ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit die heutige Wirklichkeit nur unvollständig abbilden.

Ich will dies erläutern: Meine These ist, dass die Medizinischen Fakultäten nur unvollständig auf fünf fundamentale Entwicklungen in «Medizin» und «Gesundheitswesen» 25 eingegangen sind.

Erstens. Die Zunahme der gesellschaftlichen Bedeutung der Medizin liegt auf der Hand. Das lässt sich schon allein an den steigenden Ausgaben für das Gesundheitswesen erkennen. Machten diese Ausgaben im Jahre 1970 5,5% des Schweizerischen Bruttoinlandproduktes aus, so verdoppelte sich dieser Prozentsatz im Laufe der nächsten 30 Jahre. Heute liegt er bei mehr als 10%. Über 40 Milliarden Franken pro Jahr werden in der Schweiz für das Gesundheitswesen ausgegeben. 26 In der Schweiz entfällt jeder achte Arbeitsplatz auf das Gesundheitswesen. 27 Der Staat trifft durch immer detailliertere Regeln Vorkehrungen für die Verbesserung der Volksgesundheit und zählt den Kampf gegen die medizinische Scharlatanerie und Kurpfuscherei zu seinen unbestrittenen Aufgaben —auch in Zeiten der Deregulierung. Seinen Bürgerinnen und Bürgern garantiert er die höchstmögliche Sicherheit bei der individuellen Behandlung durch Ärzte oder andere Medizinalpersonen. Die gegenwärtige Diskussion um ein neues Bundesgesetz zu den Medizinalberufen wirft ebenso ein Schlaglicht auf die politische

Relevanz der Medizin wie die Reglementierung medizinischer Behandlung oder Forschung: von der sogenannten Sterbehilfe bis zum Umgang mit der Gentechnologie. Also: Medizin und Gesundheitswesen sind, anders als noch vor fünfzig Jahren, ein Politikum ersten Ranges.

Zweitens. Im Wissenschaftsbetrieb des 20. Jahrhunderts haben sich zunehmend neue Leitwissenschaften durchgesetzt. An die Stelle der traditionellen sogenannt humanistischen Fächer, wie zum Beispiel Altertumswissenschaften, Philologie, Philosophie, Geschichte, traten naturwissenschaftliche Fächer wie Biologie, Chemie, Mathematik, Physik. Ferner gewannen an Bedeutung Disziplinen sozialwissenschaftlicher Art, namentlich solche, die mit quantifizierenden empirischen Methoden arbeiten, zum Beispiel Soziologie oder Psychologie. Leitwissenschaften wurden die Fächer, die Messbarkeit und Genauigkeit versprachen und die Hoffnung nährten, die Gegenwart besser verstehbar und die Zukunft präziser planbar zu machen. 28 Der Fortschritt in den Naturwissenschaften hatte enorme Auswirkungen auf die Medizin, genauer, die Naturwissenschaften wurden bestimmender Teil der Medizin. Man erwartete «Genauigkeit» bei der Diagnose ebenso wie bei chirurgischer Behandlung oder bei medikamentöser Therapie. Die Arzneikunde bekam den Charakter einer experimentellen Wissenschaft. Die Entwicklung von der organischen zur zellulären Medizin hat sich in der jüngsten Vergangenheit noch weiter verfeinert bis zur molekularen Medizin mit den Möglichkeiten des Eingriffs in zelluläre und genetische Strukturen. 29 Medizinischer Fortschritt ist ohne naturwissenschaftliche Grundlagenforschung undenkbar geworden.

Drittens. Über der eigentlichen, naturwissenschaftlich bestimmten Entwicklung wird leicht der Fortschritt in der Medizinaltechnik übersehen. Mikroskop und Stethoskop sind Errungenschaften des 19. Jahrhunderts, der Röntgenapparat trat im 20. Jahrhundert seinen Siegeszug an. Die Firma Zeiss begründete ihre Weltgeltung durch medizinische optische Geräte, 30 das kriegerische letzte Jahrhundert förderte die Entwicklung von Prothesen. Heutigentags verdanken Millionen von Menschen in den Industrieländern ihr Leben Maschinen: Dialyseapparaten, Herz-Lungen-Maschinen bei Operationen, Herzschrittmachern, Instrumenten minimalinvasiver Chirurgie. 31 Speziallegierungen sichern die Dauerhaftigkeit und die Immunakzeptanz von Implantaten; sie werden bereits durch biotechnisch erzeugte organische Ersatzstoffe abgelöst. Biologische Grundlagenforschung verbindet sich mit biomechanischer Kompetenz und technologischer Expertise. Technologie ist in der Medizin unverzichtbar geworden.

Viertens. Obwohl die Medizin immer noch wesentlich als Handeln am Individuum verstanden und definiert wird, 32 kommt mehr und mehr die überindividuelle, soziale Verantwortung in den Blick. Das äussert sich zum Beispiel in der steigenden Bedeutung von Fächern wie Medizinstatistik, Medizinökonomie, Medizinethik, Medizinsoziologie, Versicherungsmedizin, Epidemiologie, 33 des gesamten Komplexes von Sozial- und Präventivmedizin bis hin zur Sportmedizin. Ebenso richtet die aufblühende Pflegewissenschaft ihren Blick über die Verbesserung der individuellen Betreuung hinaus auf das Umfeld der betreuten Person und bezieht die strukturelle

Verbesserung von Pflege mit ein. 34 Public Health ist ein Teil der Medizin geworden.

Fünftens. Die Anwendung medizinischen Wissens in Diagnose, Therapie und Technik weitet sich ständig aus —und die Medizin erreicht Gebiete, die traditionellerweise gar nicht als heilkundliche Arbeitsfelder gelten. Diese sogenannte Medikalisierung 35 beruht auf dem «Komfortbedürfnis» von Individuen, gekoppelt mit dem Wunsch einer «Optimierung des gesunden Körpers». 36 Wellnesswelle und Functional Food sind Ausdruck dieser Medikalisierung. Dabei sind eingestandenermassen die Grenzen zu krankhafter Abweichung fliessend, respektive zum Vorliegen von Krankheitspotenzialen. Jedenfalls wird sich die Medizin nicht auf eine restriktive Definition ihrer Ziele beschränken können. Sie wird die wissenschaftliche Verantwortung auch für diese Folgen medizinischen Wissens auf sich nehmen müssen, gerade wegen der enormen wirtschaftlichen Bedeutung dieser Entwicklung. Nur die medizinische Expertise kann klären, wo kurierendes oder präventives Handeln aufhört und Wellnesserlebnis anfängt. 37

Damit ist eine Zukunftsperspektive anvisiert, welche eine fundamentale Frage aufkommen lässt. Stehen Medizin und Gesundheitswesen zusammen mit der einschlägigen Industrie nicht vor einem eigentlichen Paradigmenwechsel? Die Stimmen, die das Ende der Dominanz einer kurativen, reparierenden, reaktiven Medizin ankündigen, lassen sich nicht überhören. Diese Heilkunde werde ersetzt durch eine Medizin, die sich in stärkerem Masse der Erkennung der Ursachen von krankhafter Abweichung im individuellen

wie im sozialen Horizont widmet und darauf eingehend die entsprechende Prävention ergreift.

III

Überblickt man diese knapp skizzierten Entwicklungen auf dem Gebiete von Medizin und Gesundheitswesen insgesamt, so lassen sich fünf Handlungsfelder ausmachen. Nämlich: ein kuratives oder heilkundliches, ein medizinaltechnisches, ein biomedizinisches, ein sozial- und präventivmedizinisches, ein gesundheitsoptimierendes. Von der Universität wird —ganz allgemein gesprochen — zu Recht erwartet, dass sie Grundlagenwissen entwickelt und für beruflichen Nachwuchs sorgt. Dies gilt auch für die genannten fünf Handlungsfelder. Eine medizinische Fakultät hat, will sie ihre universitären, akademischen Aufgaben wahrnehmen, auf allen diesen Gebieten sowohl zu forschen wie professionelle Aus-, Fort- und Weiterbildung sicherzustellen.

Es liegt auf der Hand, dass für diese weitgespannten Aufgaben das traditionelle Modell einer Medizinischen Fakultät mit Forschungsschwerpunkten im heilkundlichen und biomedizinischen Bereich, zudem geprägt durch ein arztkonzentriertes Konzept, nicht mehr genügt. Bei dieser Einsicht hat die Reform von Medizin und Gesundheitswesen einzusetzen. Was die Universität und damit die Hochschulmedizin angeht, könnte sich eine solche tief greifende Reform an folgenden fünf Eckpunkten orientieren.

Erstens. Eine Theorie der Medizin ist zu erarbeiten. Ebenso wie die Physik oder die Geschichtswissenschaft sich auf ihre Grundlagen besinnt, sollte dies zu den ehrenvollsten Aufgaben universitärer Medizin gehören. 38 Beispielsweise wäre es ein wesentliches Element einer Theoriediskussion, zu

untersuchen, wie sich die naturwissenschaftlich geprägte Medizin mit ihren kausalanalytischen Methoden zu den vielfältigen Formen der Paramedizin verhält.

Zweitens. Selbstverständlich ist es der Medizinischen Fakultät allein nicht möglich, auf allen fünf der von mir genannten Gebiete selbständig in Forschung, Entwicklung und Lehre tätig zu sein. Kooperationen mit anderen Disziplinen der Universität sind unabdingbar, zum Beispiel mit den Sozial- und Geisteswissenschaften für den Bereich von Sozialmedizin, Ethik oder Medizinpolitik. Ebenso muss auf dem medizintechnischen Gebiet die Kooperation mit den Ingenieurwissenschaften der Fachhochschulen und der Eidgenössischen Technischen Hochschulen gesucht werden.

Drittens. Arztausbildung und Weiterbildung in den biomedizinischen Grundlagenwissenschaften und in der Klinik werden auch in Zukunft die Hauptaufgabe der universitären Medizin sein. Hinzukommen muss indes die Entwicklung weiterer stufengerechter medizinischer Berufsprofile, bei denen Klinik und Biomedizin nicht mehr die heutige dominierende Rolle spielen. Die Pflegewissenschaft und die Sportmedizin beginnen hier eine Pionierrolle einzunehmen. Weitere Berufsprofile könnten Medizinaltechnik, einzelne Sparten der biomedizinischen Grundlagenwissenschaften, Sozialmedizin oder der Wellness-/Fitnessbereich sein.

Nach meiner Überzeugung wird sich die Zukunft der Medizinischen Fakultäten als Teil der Universitäten daran entscheiden, ob sie in der Lage sind, diese Ausbildungsaufgaben komplementär zur ärztlichen Ausbildung wahrzunehmen. Für die Entwicklung dieser Ausbildungsgänge bietet das Bologna-System einen hervorragenden organisatorischen Raster. Auf einer dreijährigen medizinischen Bachelor-Grundausbildung —eventuell bereits mit Vertiefungsrichtungen —könnten diese Studiengänge aufgebaut werden. Zum Beispiel

eine Ausbildung zum Allgemeinarzt oder zur Zahnärztin oder in Public Health oder in Medizinaltechnik oder in der Biomedizin. Mir ist bewusst, dass diese Perspektive heutiges Selbstverständnis von Medizinischen Fakultäten und ärztlichen Fachgesellschaften im Kern trifft. An Universitäten, Medizinischen Fakultäten und Fachgesellschaften wird es liegen, mit Bescheidenheit und Kreativität Überzeugungsarbeit für eine Erneuerung zu leisten.

Viertens. Unabdingbar für eine neue Aufgabenteilung der Medizinischen Fakultät ist die Klärung des Verhältnisses zu den universitären Kliniken. Natürlich kann es nicht darum gehen, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und eine Universitätsklinik losgelöst von hoch spezialisierten Behandlungsbedürfnissen zu führen. Universitäre klinisch-heilkundliche Forschung muss auf ein gesamtschweizerisches Konzept spitzenmedizinischer Aufgabenteilung abgestimmt werden. Allerdings kann im Gegenzug die Medizinische Fakultät als universitäre Einrichtung ihr Bestandsrecht nicht durch ihren Beitrag an die hoch spezialisierte Medizin erklären. Ihr Aufgabenbereich ist wesentlich umfassender zu begründen.

Fünftens. Die Medizinischen Fakultäten der Schweiz leisten exzellente Arbeit, ihre Forschung ist anerkannt, die Qualität der Ausgebildeten hervorragend. Trotzdem: Die Schweiz wird ihre Innovationskraft auf dem Gebiet von Medizin und Gesundheitswesen steigern müssen, um international bestehen zu können. Der Blick auf die Medizin ist zu erweitern, das Verständnis für die Medizin zu vertiefen, ihr wissenschaftlicher Charakter stets aufs neue zu erweisen. Die Zeichen sind nicht zu übersehen, dass die Medizinischen Fakultäten der Schweiz bereit sind, sich auf diese Herausforderung einzulassen. Gehen sie diesen Weg, so werden sie für die gesamte Universität ihren unverzichtbaren Part spielen, wie es unsere Fakultät für die Alma Mater Basiliensis seit 1460 tut.