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Wiederkehr der Religion?

Stellt man sich die Frage nach der Geltung von Religion in der Gegenwart, so ergibt sich eine vieldeutige Antwort.

Die Schweizer Statistiken beweisen ein anhaltendes Zurückgehen der Mitgliedschaft in den beiden grossen christlichen Kirchen. Gehörten 1980 noch über 90% der Schweizer Wohnbevölkerung der katholischen oder der reformierten Kirche an, so sind es heute noch 75%. In gut 20 Jahren nahm die Mitgliedschaft in den grossen Kirchen um 15% ab. Dafür stieg mittlerweile der Anteil der Konfessionslosen auf über 10%. Ein ähnliches Bild zeigt sich in anderen europäischen Ländern. Nur noch eine Minderheit von deutschen Jugendlichen misst Religiosität in ihrem Leben eine Bedeutung zu, gerade 14%der ostdeutschen Jugendlichen glauben an Gott. 1 Andererseits pflegen 90% der Schweizer Bevölkerung das regelmässige Gebet. 2 Und als vor wenigen Jahren in Basel eine «Nacht des Heilens» stattfand, kamen zur Überraschung der Veranstalter 200 Personen allein in die Elisabethenkirche, um sich dort die Hände auflegen zu lassen. 3

Die Verknüpfung von Religion und Institutionen lockerte sich, wogegen Religion im Persönlichen und Individuellen nach wie vor über Bedeutung verfügt. Ihre Geltung überschreitet indes den privaten Raum. Papst Johannes Paul II. bespielte mit solcher Virtuosität die mediale Öffentlichkeit, dass sich ihr nicht einmal der amerikanische Präsident zu entziehen vermochte.

Vor dem toten Pontifex beugte der Protestant George Bush mit seiner Entourage die Knie. Ein solcher Kniefall eines amerikanischen Präsidenten wäre im 19. Jahrhundert undenkbar gewesen. Ohne Zweifel lässt sich diese Ehrenbezeugung als Konzession an ein katholisches Fernsehpublikum deuten. Sie beweist ein weiteres Mal, von welch hoher Bedeutung «Religion» für die politische Karriere eines amerikanischen Präsidenten ist. Bush selbst bezeichnet sich als wiedergeborenen Christen, und zu seinem Wahlsieg für eine zweite Amtsperiode verhalf ihm die evangelikale amerikanische Mittelschicht. Diese Evangelikalen finden trotz anhaltender wirtschaftlicher und sozialer Misere in der Gefolgschaft Jesu Lebenssinn und Zukunftshoffnung.

Von ebensolcher eminent politischer Bedeutung erweist sich der Evangelikalismus in Mittel- und Südamerika. Er stellt sich dort dem alles beherrschenden Machismo entgegen, fördert ohne revolutionäres Gepolter gesellschaftliche Emanzipation, gibt Frauen ein neues Selbstbewusstsein. Was für Mittel- und Südamerika gilt, lässt sich in ähnlicher Weise von anderen Ländern sagen, beispielsweise von Afrika.

Am greifbarsten wird die Geltung von Religion in der Öffentlichkeit, wenn sie sich mit Gewalt verknüpft. Der Nordirlandkonflikt kennt seine religiösen Trennlinien ebenso wie der Bürgerkrieg im Sudan; Jugoslawien zerbrach an ethnischen und religiösen Gegensätzen. Vor allem aber: Ein sich religiös rechtfertigender Terrorismus steht zuoberst auf der Agenda heutiger globalisierter Gesellschaften. Die Anschläge von New York; Madrid oder London sind keine Taten fanatischer religiöser Einzelgänger. Gewaltbereitschaft verknüpft sich in zunehmendem Masse mit Religion — und diese Verbindung ist nicht einfach ein fremdes, importiertes Gewächs, wohl aber hat sie in unseren westlichen Gesellschaften ihren Ursprung.

Gerade diese gewalttätigen Folgen von Religion verstärken die Einsicht, dass Religion für die moderne Welt individuell wie gesellschaftlich oder politisch von eminenter Bedeutung ist oder wieder geworden ist. Man spricht deshalb von einer «Rückkehr der Religionen» 4 oder von einer «Wiederkehr der Götter». 5 Diese Feststellung einer Wiederkehr von Religion verbindet sich mit dem Erstaunen der Zeitgenossen darüber, dass ein solches Aufleben von Religion möglich ist. Dieses Erstaunen teilt die wissenschaftliche Erforschung von Religion. Bisher vermochte man diese Wiederkehr der Religion nicht befriedigend zu erklären. Gerade wegen der offenkundigen gesellschaftlichen Bedeutung von Religion drängt sich auf, das heutige Phänomen Religion in seiner vielfältigen Ausgestaltung wissenschaftlich gründlicher zu erforschen. Ich möchte in dieser Stunde einige Fragen und Probleme benennen, die sich der Wissenschaft bei der Beschäftigung mit Religion stellen.

I

Das «Erstaunen» über die gegenwärtige Bedeutung von Religion hat seine Ursachen in einer weitverbreiteten Auffassung von der jüngsten Geschichte des Christentums. Unbestrittenerweise markiert die Zeit um das Jahr 1800 einen tiefen Einschnitt in der Religionsgeschichte europäischer Gesellschaften. In politischer Hinsicht brachte Napoleon das sogenannte Alte Reich an ein Ende, die Landkarte wurde neu geordnet. In den geistlichen Territorien verloren Äbte, Bischöfe und Erzbischöfe ihre politische Autorität — die Gebiete wurden säkularisiert. Der hohe Symbolgehalt dieses

kirchlichen Machtverlustes liess den Begriff Säkularisierung zu einem Schlüsselwort werden, nicht bloss für das Verhältnis von Kirche und Staat, sondern von Religion und Kultur überhaupt. Mit «Säkularisierung» in diesem weiteren Sinn ist ein Prozess gemeint, der seit der Kritik der Aufklärung an überkommenen, religiös bestimmten Denkmustern zur Reduktion der sozialen Reichweite oder gar zur faktischen Destruktion von Religion führt. So wie sich die Aufklärung selbst als stets fortschreitende Entwicklung versteht, so auch eine alle gesellschaftlichen Bereiche umfassende «Säkularisierung». Religion schwinde immer mehr dahin, sie bleibe auf individuelle Religiosität beschränkt und verliere langsam, stetig ihre gesellschafts- und kulturprägende Kraft. Diese Säkularisierungsthese konnte sich auf einen breiten wissenschaftlichen Konsens stützen. Die Sozialwissenschaften verteidigten sie ebenso wie die Geschichtswissenschaft oder die Theologie. Die These der fortschreitenden Verweltlichung von Denken, Handeln und gesellschaftlichen Institutionen verschaffte sich eine so umfassende Geltung, dass sie Bestandteil der Allgemeinbildung wurde und ihren Charakter als «These» verlor.

Unbestreitbar hat diese Säkularisierungsthese viel für sich, denn es liegt auf der Hand, dass «Kirchlichkeit», zumindest in Europa, abgenommen hat und stets weiter zurückgeht. In den Institutionen lässt sich tatsächlich von Religionsschwund sprechen. Ihnen, den Institutionen und Gemeinschaften, galt bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein die Aufmerksamkeit der politischen und sozialen Wissenschaften. 6 Nur dort sahen sie das «Religiöse» repräsentiert. Einen ähnlich verengten Blick auf das Religiöse wie die Sozialwissenschaften hatten die Geistesgeschichte

und die Theologie. Zwar wandten sich diese Wissenschaften dem Persönlichen und Individuellen zu, sie taten dies allerdings mit der Richtschnur überkommenen Denkens und Glaubens. Die Tradition gab ihnen nicht bloss vor, was rechter und falscher Glaube sei, sie wusste auch zu sagen, wie «religiös» von «nichtreligiös» —üblicherweise als «heidnisch» bezeichnet — zu unterscheiden sei. Dieser verengte wissenschaftliche Zugang verstellte den Blick für die Breite religiöser Lebensäusserungen und musste zur Auffassung eines steten Rückganges von Religion führen, genauer eines Rückgangs traditioneller Religion. Das Erstaunen über eine Wiederkehr von Religion gründet sich auf die stillschweigende Akzeptanz der Säkularisierungsthese. So wird dieses Erstaunen ohne weiteres verständlich. Allerdings, es beruht —wie gesagt —auf einer verengten Wahrnehmung.

Andere Formen der Präsenz des Religiösen in der Gegenwart entgingen der institutionen- und traditionenzentrierten Perspektive, denn Religion präsentiert sich in der Moderne in vielfältiger Gestalt. Zum einen entwickelten sich neue Formen individueller Religiosität, vom Selbsterlösungsglauben über psychedelische Übungen bis hin zu esoterischen Praktiken. Menschen basteln sich ihren Glauben selbst. 7 Zum anderen tragen politische oder kulturelle Bewegungen religiös motivierte Züge, obwohl sie sich selbst areligiös oder gar antireligiös geben. Zu denken ist dabei an Wissenschaftsgläubigkeit ebenso wie an die «politischen Religionen» 8 etwa des Nationalismus oder des Kommunismus. Eine religiöse Komponente spielt ferner eine Rolle beim Bewusstsein einzelner Völker, eine besondere

Aufgabe in der Welt zu haben. 9 Dies ist nichts anderes als ein sich säkular gebender Erwählungsglaube.

So lässt sich der Schluss ziehen, dass von einem allgemeinen fortschreitenden Religionsschwund in der Moderne keine Rede sein kann. Wohl haben sich die Äusserungen des Religiösen gewandelt. Mit dieser Feststellung ist zugleich eine Grundaussage über Religion selbst getroffen. Religion verwandelt sich, deshalb kann und muss Religion wie alle anderen Erscheinungen unserer Kultur historisch verstanden und geschichtlich begriffen werden. Die Gretchenfrage: «Wie hast du's mit der Religion?» ist obsolet geworden. «Die» Religion gibt es nicht. Heute heisst die Gretchenfrage deshalb: «Was ist deine Religion?»

Diese allgemeinen Feststellungen zur gegenwärtigen religiösen Lage möchte ich nun an zwei Stellen vertiefen. Zuerst gehe ich auf die Verhältnisse in den Vereinigten Staaten von Nordamerika ein, weil die dortige religiöse Präsenz, wie schon angedeutet, besonders lehrreich ist, und zum zweiten widme ich mich dem Problem des Fundamentalismus.

II

Bereits habe ich darauf hingewiesen, dass in der Schweiz wie im übrigen Europa die Religionsstatistik einen ständigen Rückgang der Mitgliedszahlen in den christlichen Kirchen belegt. 10

In den Vereinigten Staaten von Nordamerika zeigt sich genau die gegenläufige Entwicklung. Um das Jahr 1800 gehörten in den USA nicht mehr

als 10% der Bevölkerung zu den verschiedenen christlichen Kirchen und Gruppierungen. Heute ist es genau umgekehrt. Laut Umfragen fühlen sich etwa 80%der amerikanischen Bevölkerung einer der christlichen Richtungen zugehörig, gerade nur 8% vermerken, sie gehörten zu keiner Religion. 11 Selbstverständlich lassen sich aus diesen statistischen Angaben noch keine gültigen Schlüsse über die Bedeutung von Religion im individuellen Leben oder in der amerikanischen Öffentlichkeit ziehen.

Trotzdem, es liegt auf der Hand, Europa und die USA haben sich verschieden entwickelt, und dies verlangt nach einer Erklärung. Die ersten Erklärungsversuche stammen bereits aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie gehen naturgemäss von der verschiedenen Stellung der Kirchen im Staate aus. Während in Europa um 1850 das verordnete Staatskirchentum noch überall im Schwange war, kannten die USA vom ersten Tag ihres Bestehens an ein distanziertes Verhältnis von Kirche und Staat. In eine europäische Staatskirche wurde man hineingeboren, man gehörte sozusagen amtlich zur örtlichen Kirchgemeinde, und zwar in ähnlicher Weise, wie man zur Bürgergemeinde gehörte. Mitgliedschaft galt als Selbstverständlichkeit, mit oder ohne persönliches Engagement. Ein persönlicher Akt war nicht beim Eintritt in, sondern beim Austritt aus der Kirche erforderlich. Das europäische Kirchentum wurde —und wird — vom Territorialprinzip bestimmt.

In den USA hingegen gibt es — so die einschlägige Terminologie — die Systeme von Voluntarismus und Denominationalismus. Die Mitgliedschaft in einer religiösen Gemeinschaft geht formal auf den bewussten Akt eines freiwilligen Beitritts zurück. Die Motivation zum Beitritt ist in aller

Regel mit einer besonderen religiösen Erfahrung und Entscheidung verknüpft. Diese Erfahrung erhält im Deutschen mit dem Begriff «Bekehrung» eine viel zu dramatische Note. Nicht eine «Bekehrung» ist das entscheidende Element, wohl aber die Gewissheit, «Gott» im eigenen Leben erfahren zu haben. Solche Gotteserfahrung bleibt kein einmaliges Ereignis, sie kann sich wiederholen. Sie vergewissert und stärkt die Zugehörigkeit zur religiösen Gemeinschaft. Die Mitgliedschaft bringt einschneidende finanzielle und soziale Konsequenzen mit sich. Wegen dieses Prinzips der Freiwilligkeit bilden sich in den USA die. Kirchen von den einzelnen Gemeinden aus. Die grosse, mächtige Konfessionskirche wie in Europa gibt es nicht mehr, deshalb spricht man zur Präzisierung von Denomination. Damit ist eine weitere Eigenart der amerikanischen Situation angesprochen. Obgleich die USA die Trennung von Kirche und Staat kennen, ist der Staat doch keineswegs antireligiös oder auch nur laizistisch ausgerichtet, wie etwa in Frankreich. Im Gegenteil, der Staat erhofft sich von der Religiosität seiner Bürger und Bürgerinnen Moralität, was im Interesse des Staates läge. Deshalb befürwortet er religiöses Engagement, ohne allerdings irgendeine Denomination, religiöse Gruppe oder Gruppierung zu bevorzugen. Auf diese Weise sicherte und sichert der Staat in den USA die Entstehung eines freien religiösen Marktes, auf dem sich Individuen wie Gruppierungen frei entfalten können. Und wie jeder andere Markt wird auch dieser von Konkurrenz und Vielfalt beherrscht. Prinzipiell besteht zwischen diesem Markt religiöser Signatur und anderen Märkten kein Unterschied. Es gelten dieselben Mechanismen von Konkurrenz, Angebot und Nachfrage. 12 Der Mechanismus von Angebot und Nachfrage verlangt

von den religiösen Gruppierungen, sich immer wieder aufs neue auf ihre soziale, kulturelle und wirtschaftliche Umwelt einzurichten. Das heisst nichts anderes, als dass selbst die glaubens- oder lehrmässige Identität zur Disposition steht, um neue Einstellungen und Wertsysteme entwickeln zu können. Der Ethik kommt bei der ständigen Erneuerung besondere Bedeutung zu.

Diese Marktsituation bringt deshalb einschneidende Konsequenzen mit sich. Zum einen muss das religiöse Profil flexibel und variabel sein, zum anderen erhöht gerade eine unverwechselbar religiöse Eigenart die Chance auf Mitgliederrekrutierung und Gruppenkohärenz. «Je mehr Anbieter auf religiösen Märkten agieren, desto intensiver muss jeder von ihnen seine Corporate Identity pflegen, will er gegen seine Konkurrenten Marktanteile gewinnen, sichern oder ausbauen». 13 Für die wissenschaftliche Erforschung von Religion heisst dies, dass ökonomische Modelle dazu dienen können, die religiöse Situation in den USA zu erfassen, ja noch mehr, sie helfen dabei, Wandel und Veränderung der religiösen Szene zu verstehen. Begriffe wie «Economics of Piety» oder «God selling» oder schlicht «Religious Economics» sind in den USA mittlerweile gängig geworden, wogegen in Europa die wissenschaftliche Religionsökonomie noch in den Kinderschuhen steckt.

Die Skepsis gegenüber diesen religionsökonomischen Modellen liegt darin begründet, dass diese Modelle grundsätzlich von der Rationalität von Entscheidungen ausgehen. Dies widerspreche dem Prinzip des Religiösen, wo die Irrationalität und göttliche Intervention konstitutiv seien. Allerdings zeigt nüchterne Betrachtung von Bekehrungen oder Gotteserfahrungen,

dass deren Konsequenzen durchaus nicht im Widerspruch zu Nützlichkeitserwägungen stehen müssen. Das Beispiel Bush als eines «reborn Christian» spricht eine eindeutige Sprache. Was für Individuen gilt, kann ebenso auf Gruppierungen angewandt werden. Die Entwicklungen auf dem religiösen Markt sind bestimmt von steigenden Mitgliederzahlen, Bekehrungen, Bildung charismatischer oder fundamentalistischer Gruppierungen, Kooperation zwischen Konfessionen und Religionen. Die Betroffenen deuten diese Vorgänge in religiöser Sprache, finden die Erklärung in göttlichen Interventionen. Der wissenschaftlichen Betrachtung stellen sich diese Vorgänge dar als Anpassung von Religion an Nachfrage und Marktdifferenzierung. 14 Ich komme auf diese Problematik am Beispiel des Fundamentalismus gleich noch zurück, fasse aber vorerst die Bemerkungen zu den USA kurz zusammen.

1. Die jüngste Geschichte der USA entzieht sich der Charakterisierung durch «Säkularisierung» oder Religionsschwund.

2. Die Mechanismen von Angebot und Nachfrage lassen sich auf Religion anwenden.

3. Religion verfügt über ein erhebliches Anpassungspotenzial, insbesondere in den Zeiten von Wandel und Krise.

Ohne Zweifel lassen sich diese an den USA gewonnenen Erkenntnisse verallgemeinern.

III

Der Begriff des Fundamentalismus hat sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingebürgert. Er geht auf eine populäre Schriftenreihe

konservativer Protestanten in den USA zurück, welche die Grundprinzipien des Christentums, seine «fundamentals», einschärfen wollten. Die in diesen fundamentalistischen Publikationen zum Ausdruck kommenden religiösen Einstellungen hatten allerdings schon eine längere Entwicklung hinter sich. Die Wurzeln des Fundamentalismus liegen im England des frühen 19. Jahrhunderts. Es ist die von mir schon erwähnte Zeit des tiefgreifenden sozialen, wirtschaftlichen und politischen Wandels. Dieser protestantische Fundamentalismus ist eine religiöse Antwort auf diesen Wandel. Namentlich in der englischsprachigen Welt hat er sich verbreitet. Einige Grundcharakteristika geben ihm sein unverwechselbares Gepräge. Wesentlich ist dem Fundamentalismus die Kritik der bestehenden gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse. Sie seien das Ergebnis einer Geschichte von Unheil und Verfall. Nur eine Erneuerung endzeitlichen Ausmasses könne Verbesserung und Abhilfe schaffen. Damit einher geht ein ethischer Rigorismus, der die Eigenart religiöser Moralität und Ethik radikalisiert. Zu Handlungen treibt nicht die Erwartung irdischen Lohnes oder irdischer Gerechtigkeit an, wohl aber die Aussicht auf Gotteslohn, wie er in der Bibel verheissen ist. Die Bibel als Heilige Schrift gilt im Fundamentalismus als wörtlich zu befolgendes Regelbuch. Blickt man auf die Sozialgestalt des Fundamentalismus, so lassen sich seit seinen Anfängen überraschende Konstanten feststellen. Der Fundamentalismus ist keiner besonderen gesellschaftlichen Gruppierung zuzuordnen, sein soziales Profil entspricht dem des Protestantismus insgesamt. 15 Intellektuelle vertreten ihn ebenso wie Arbeiter. Er hat seine Anhängerinnen und Anhänger in den Städten wie in ländlichen Gebieten. Gemeinsam ist allen das Gefühl von

Destabilisierung und Marginalisierung, von Verlust durch den Wandel der Verhältnisse. Das fundamentalistische Milieu schweisst zusammen, bringt ein starkes Gruppenbewusstsein hervor, bestimmt durch das Lebensgefühl «wir und die anderen». Die Kategorien des Innen und Aussen sind konstitutiv.

Von diesem protestantischen Fundamentalismus spricht man heute kaum, um so mehr beherrschen die sogenannten islamischen Fundamentalisten das Feld. Tatsächlich sind die Parallelen zum christlichen Fundamentalismus frappierend. Wenn ich den Begriff «Fundamentalismus» sowohl auf christliche wie auf islamische Gruppen anwende, dann gebrauche ich ihn im streng religionswissenschaftlichen Sinn. Mir ist bewusst, dass dieses Vorgehen zu Missverständnissen führen kann, denn die heute gängige, inflationäre Verwendung der Bezeichnungen «Fundamentalist» oder «Fundamentalismus» hat alle inhaltliche Präzision verwischt.

Die Anfänge des islamischen Fundamentalismus 16 reichen in die sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurück. Sie werden mit den Moslembrüdern in Ägypten oder mit der Bewegung Khomeinis im Iran in Verbindung gebracht. Besonders instruktiv ist das Beispiel Ägyptens. Nach dem Scheitern der quasireligiösen Bewegungen von Kommunismus oder panarabischem Nationalismus setzte die Besinnung auf die eigene religiösislamische Tradition ein. Präzis wurden die gesellschaftlichen Umwälzungsprozesse beschrieben. Der Wandel traf namentlich das traditionalistisch eingestellte Milieu. Der Fundamentalismus gab eine Antwort auf die Bedrohung durch den westlich-säkularen Lebensstil ebenso wie auf die bedrängenden wirtschaftlichen Veränderungen durch die Internationalisierung

der Märkte oder durch das Vordringen der Geldwirtschaft. Seinen tiefsten Ausdruck fand dieses Lebensgefühl im Bewusstsein einer politischen Dominanz durch den Westen. Als Träger der fundamentalistischen Bewegung fungierten nicht etwa halbgebildete Fanatiker, wohl aber urbanisierte Studenten, namentlich technischer und naturwissenschaftlicher Fächer. Sie erwiesen sich für den religiösen Extremismus wesentlich anfälliger als Studenten der Kultur- oder Sozialwissenschaften. Offensichtlich verhelfen die Geisteswissenschaften dazu, den ideologiekritischen Blick zu schärfen und Extremismus im Zaum zu halten.

Die Parallelen zwischen christlichem und islamischem Fundamentalismus gehen noch weiter als Kulturkritik oder soziale Trägerschaft. In ihrem inneren, «theologischen» Kern sind sie verwandt. Beide berufen sich nämlich auf ein Heiliges Buch, hier die Bibel, dort der Koran, und bei beiden gilt der Text als göttlich eingegeben und deshalb wortwörtlich zu befolgen. Die äussere Autorität der Schrift steht zuoberst. Aus diesem Grunde scheint es auf der Hand zu liegen, bei der Auseinandersetzung mit dem islamischen Fundamentalismus die Frage nach der authentischen Interpretation des Korans zu stellen. Dasselbe gilt für den christlichen Fundamentalismus. Die zentrale Frage lautet bei beiden: Wie wird die Heilige Schrift «richtig» ausgelegt? Ohne hier auf die diffizilen Grundprobleme der Interpretation heiliger Texte näher eingehen zu wollen, lassen sich doch zwei Feststellungen treffen. Zum einen zeigt die Vielfalt von Einstellungen und sozialen Gruppen, welche sich auf den Heiligen Text berufen, sowohl im Christentum wie im Islam, dass es eine einzige gültige Interpretation nicht gibt und gar nicht geben kann. Jeder Versuch, «gültige» Auslegung mit unbedingtem Wahrheitsanspruch zu reklamieren, erweist sich als Selbstbehauptungsakt einer spezifischen religiösen Gruppierung und deshalb als Ideologie. Für die

aussenstehende Betrachtung bleibt die subjektive religiöse Aufrichtigkeit dieses Anspruchs ausser Zweifel, doch in religionswissenschaftlicher Perspektive stellt sich ein solcher Auslegungsanspruch als plausible Strategie auf dem religiösen Markt dar. Dabei —und das ist meine zweite Feststellung —gehen Islam und Christentum grob gesprochen von verschiedenen Voraussetzungen aus. Im Islam übergibt die historische Figur Mohammed als Prophet den Text an die Welt, wogegen im Christentum die historische Gestalt Jesu selbst wesentlicher Inhalt des Heiligen Textes ist. Merkwürdigerweise —und der Religionsvergleich schärft dies ein —spielt im christlichen Fundamentalismus die Person Jesu Christi keine zentrale Rolle, am ehesten sind es noch die von ihm überlieferten Worte zur Gottesgeschichte und zur Ethik. Jesus Christus hat im Fundamentalismus die Rolle eines Deuters und Gesetzgebers und nähert sich deshalb an die Funktion eines Propheten wie die des Mohammed an. Übrigens liegt hier der Unterschied zwischen dem Fundamentalismus und dem von mir bereits genannten amerikanischen Evangelikalismus. Evangelikale Mentalität lebt, anders als der Fundamentalismus, aus der persönlich erfahrenen Bindung an Jesus Christus. Gefolgschaft von ihm zu sein ist religiöses Ziel.

Ich fasse zusammen. Im Christentum wie im Islam ist der Fundamentalismus als spezifische Ausdrucksform von Religion greifbar. Er lässt sich sowohl historisch wie soziologisch wie theologisch erklären und damit geschichtlich situieren. In beiden Religionen ist er mit weitreichenden Konsequenzen präsent, trotzdem ist es kurzsichtig, namentlich den Islam auf fundamentalistische Ausdrucksformen reduzieren zu wollen. Der Islam kennt reiche Auslegungstraditionen des Korans, denen alle fundamentalistischen Züge fremd sind. Zu denken ist dabei zum Beispiel an die grosse Welt islamischer Mystik.

Ein brennendes Problem habe ich bisher unberührt gelassen. Es ist das Problem der Gewalt, genauer der Gewaltbereitschaft und Gewaltanwendung islamischer, christlicher, jüdischer oder auch hinduistischer Fundamentalisten. Hier nun muss sich die Wissenschaft eingestehen, dass eine schlüssige Erklärung für die Verknüpfung von Religion und Gewalt noch nicht gefunden ist. Denn Fundamentalismus ist weder notwendigerweise mit Gewalt verbunden, noch lässt sich eine Linie von früheren «Glaubenskriegen» bis ins Heute ziehen. Vielmehr handelt es sich beim Fundamentalismus mit seiner gewalttätigen Minderheit um etwas Neues, um eine Erscheinung der Moderne. Ihre Enträtselung steht noch aus.

IV

Ich komme zum Schluss und versuche zwei weiterführende Bemerkungen anzubringen. Als erstes nehme ich nochmals meine Feststellung auf, wonach es «die» Religion nicht gibt. Religion ist wie alle anderen Erscheinungen unserer Kultur dem geschichtlichen Wandel unterworfen. Denkt man die resignierend erscheinende Konstatierung weiter, so führt sie zur Frage, wie sich denn Religion definiere. Wann kann überhaupt von Religion gesprochen werden? Durchmustert man die Literatur, um eine Antwort auf diese Frage zu finden, so ist das Resultat ernüchternd: Eine wissenschaftlich befriedigende Antwort auf die Frage nach dem Wesen von Religion gibt es nicht, eine wirklich überzeugende Trennlinle zwischen Religion und Nichtreligion lässt sich nicht ziehen. Diese Einsicht führte einen prominenten Religionswissenschaftler zur Schlussfolgerung, dass der Religionswissenschaft ihr Gegenstand abhanden gekommen sei. 17 Sofern sich

eine allseits akzeptable Definition von Religion als unmöglich erweist, gerät eine weitere, seit der Aufklärung als unumstösslich geltende Einsicht ins Wanken. Religion galt, wie Wirtschaft, Politik oder Kunst, als ein Segment von Kultur und Gesellschaft. Zweifellos trifft es zu, dass sich Religion in ihren Äusserungen mit Politik oder Kunst vergleichen lässt. Die Frage ist indes, ob sie darin aufgeht. Gerade die Differenzierung der Erscheinungsform von Religion, wie ich sie in dieser Stunde anzudeuten versuchte, legt den Schluss nahe, Religion auch so zu verstehen, dass sie Wirtschaft, Politik und Kunst innewohnen kann, ja dass sie diesen konstitutive Züge zu verleihen vermag. Es könnte sein, dass das schwerwiegendste Defizit der Säkularisierungsthese darin besteht, diese konstitutive Funktion von Religion unberücksichtigt gelassen zu haben. Es gibt religiöse Kunst. Doch auch Kunst, die sich als nichtreligiös deklariert, kann religiös bestimmt sein.

Und meine zweite Bemerkung. Was heisst das bisher Gesagte nun für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Religion? Konkreter: Was heisst das für die Universität? Die meisten Universitäten verfügen über das Fach Religionswissenschaft, auch unsere Universität ist dabei, eine entsprechende Professur einzurichten. Allerdings verbirgt sich hinter der Bezeichnung «Religionswissenschaft» keine fest umrissene Disziplin mit einem einschlägigen Kanon von Methoden und Inhalten. Es ist vielmehr ein Sammelbegriff dafür, dass sich eine Reihe von Wissenschaften mit Religion beschäftigt, nämlich von der schon genannten Religionsökonomik zur Religionsphilosophie, von der Religionsphänomenologie zur Religionssoziologie, von der Religionspsychologie zur Religionsgeschichte, von der Religionskomparatistik zur Religionsethnologie, von der Religionsgeographie zur Religionstypologie. Die Religionswissenschaft leidet an dieser

Vielfalt von Methoden und Zugängen, und immer wieder wurde versucht und wird versucht, durch eine universale Theorie von Religion diese Aufsplitterung zu überwinden. 18 Doch alle diese Versuche entpuppen sich als vergeblich, da sie dem pluralistischen Erscheinungsbild von Religion ebensowenig gerecht werden wie der schon genannten prinzipiellen Unmöglichkeit, Religion zu definieren. Die Religionswissenschaft muss sich die Unmöglichkeit eingestehen, Religion von aussen, sozusagen «vorurteilsfrei», beobachten zu können —insofern teilt sie das Schicksal der anderen Kultur- und Geisteswissenschaften.

Üblicherweise hat Religionswissenschaft ihre zur Schau gestellte «Vorurteilslosigkeit» gegenüber der Religion in Abgrenzung von der Theologie behauptet. Doch wird damit «Theologie» missverstanden. Theologie macht es sich nämlich zu ihrem ureigensten Anliegen, niemals der Chimäre einer vorurteilslosen, wertfreien Wissenschaft nachzulaufen. Im Gegenteil, sie will ständig die Voraussetzung ihres eigenen Treibens ans Tageslicht bringen, mitbedenken, in ihre wissenschaftlichen Ergebnisse einfliessen lassen. Theologie weiss um die Geltung und um die Macht von Religion. Gerade deshalb schärft sie den Blick für Instrumentalisierung und Funktionalisierung durch Religion, für den Umschlag in Ideologie, wie wir ihn tagtäglich erleben. Zugleich weiss Theologie aber auch von der befreienden Kraft der Religion, und ihr wichtigstes Amt ist es, diese Funktionen von Religion zu unterscheiden. Dazu gehört Mut —und Mut steht der Wissenschaft wohl an.