ANDREAS VESALIUS
BRUXELLENSIS.
REKTORATSREDE
GEHALTEN BEI DER GEMEINSAMEN FEIER
DER UNIVERSITÄT UND DER AKADEMISCHEN GESELLSCHAFT ZU BASEL
AM 26. NOVEMBER 1885
VON
M. ROTH,
PROFESSOR DER PATHOLOGISCHEN ANATOMIE.
MIT DEM BILDNISSE VESALS.
BASEL.
BENNO SCHWABE, VERLAGSBUCHHANDLUNG. 1886.
ZUM BILDNISSE VESALS.
Das dem Vortrage beigegebene Bild ist eine von F. Knaus in Basel
ausgeführte Photoxylographie. Sie reproducirt den Originalholzschnitt in
zwei Drittel Grösse. (Zu Grunde liegt ein der öffentl. Bibl. Basel gehörendes
Exemplar der Epitome von 1543.) Vgl. S. 28. Auf dem Tischrand steht:
Anno aetatis 28. 1542, darunter der Wahlspruch: Ocyus, jucunde et tuto.
Auf dem Tisch liegt der zum anatomischen Präparate gehörende Text
aufgeschlagen: De musculis digitos moventibus. Ca. 30. Quum superiori
libro quinque digitorum ossium constructionem prosequerer,... aliam
quam... Man vergleiche hiezu den Anfang von Fabrica II, 43, besonders
in der Ausgabe von 1555.
Der heutige Tag, welchen unsre Universität und
die zu ihrer Beförderung gestiftete Akademische Gesellschaft
in gemeinsamer Feier begehen, bietet vollauf
Anlass zu dankbarer Erinnerung. Dürfen wir doch auf
fünfundzwanzig Jahre blicken, welche unsre oberste
Schule seit der vierten Säkularfeier in friedlicher Entwicklung
zurückgelegt, auf fünfzig Jahre, seitdem der
grosse Rath in schweren Zeiten den Bestand der Universität
gesichert hat, auf eine ebenso lange Periode
endlich, welche seit Gründung der zur Erhaltung und
Hebung der Universität so mächtig beitragenden Akademischen
Gesellschaft vergangen ist.
An einem solchen Gedenktage gewinnt eine historische
Betrachtung ihre besondre Berechtigung. Gestatten
Sie desshalb einem Vertreter der Medicin, dem Sie den
ehrenvollen Auftrag ertheilt haben die heutige Feier
einzuleiten, ein diessmal nahe gelegtes Thema aus der
Geschichte seiner Wissenschaft zu behandeln, nämlich
den Anatomen Andreas Vesalius, dem zu Ehren die
unter wesentlicher Mitwirkung der Akademischen Gesellschaft
entstandene Anstalt für Anatomie und Physiologie,
das Vesalianum, benannt worden ist und der einem
weitern Kreise dadurch näher tritt, dass er einen
Theil seines Lebens in unsrer Stadt Basel verbracht hat.
Die Erforschung der Lebensgeschichte des grossen
Anatomen wird erschwert, indem die Biographieen zahlreiche,
besonders chronologische Widersprüche enthalten
und viele derselben wenig mehr als unzusammenhängende
Anekdoten berichten. Keine Vita propria,
keine Oratio de vita et obitu gibt über den unerwartet
und fern von der Heimath Gestorbenen Auskunft. Von
seinem ausgedehnten Briefwechsel sind nur geringfügige
Reste, von dem wissenschaftlichen Nachlasse ist gar
Nichts auf uns gekommen. So sieht man sich auf spärliche
archivalische Dokumente, auf Notizen von Zeitgenossen
und Vesals gedruckte Werke angewiesen.
Versuchen wir aus diesem fragmentarischen Material
ein gedrängtes Lebensbild zu entwerfen.
Andreas Vesalius ist Ende 1514 oder Anfang 1515
zu Brüssel geboren; meist wird als Geburtstag der 31.
Dezember 1514 genannt. Die Familie hiess ursprünglich
Witing und war zu Wesel im Cleveschen ansässig,
hatte indess vor geraumer Zeit ihren Wohnsitz nach
Nymwegen verlegt und den Geschlechtsnamen in Wesalius
umgeändert. Die vier letzten Vorfahren des Andreas
sind Aerzte und Naturkundige gewesen; der Urgrossvater
und der Grossvater haben (nach Vesals Angabe) als
Leibärzte bei Maria von Burgund, Gemahlin des Kaisers
Maximilian I. functionirt; Vesals Vater Andreas wird
zuerst im Jahre 1536 als Leibapotheker Karls V. erwähnt.
Aus einigen Andeutungen geht hervor, dass er
den Kaiser auf Feldzügen und Reisen begleitet und
seinem Sohne den Weg zum Hofe geebnet hat. Dessen
Gattin, Isabella Crabbe, scheint grossen Einfluss auf die
geistige Entwicklung des Andreas geübt zu haben: aus
einem unbedeutenden Vorfall bei der Geburt schloss sie
nach dem Aberglauben jener Zeit, dass das Söhnchen
zu hohen Dingen bestimmt sei; ein lebhafter Familienstolz
liess sie die mathematischen und medicinischen
Werke der Vesalischen Ahnen aufbewahren und mag
von ihr bei den Söhnen Andreas und Franciscus geweckt
worden sein.
Wir begegnen dem jungen Andreas zuerst in Löwen,
wo er sich auf einem der vier Gymnasien, dem Paedagogium
castrense energisch mit philosophischen Studien
befasst. Löwen war in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts
neben Paris die besuchteste Universität. Erasmus
hatte die Zahl der Schüler auf 3000, später wurde
sie sogar auf 5000 geschätzt. Hier hat Vesalius seine
vorzüglichen Kenntnisse im Lateinischen und Griechischen
erworben, auch Hebräisch dürfte er hier im Collegium
Buslidianum getrieben haben.
Schon in Löwen machte sich Vesals Vorliebe für
sein spätres Fach, die Anatomie, geltend. Zwar bot
die Schule hiefür wenig, indem z. B. Aristoteles de
anima von einem Theologen vorgetragen und nach
scholastischer Weise der Bau des Gehirns durch die
phantastische Abbildung der Margarita philosophica erläutert
wurde. Desshalb suchte sich der junge Vesalius
Rath in den damals beliebten Werken des Albertus Magnus
und Michael Scotus und gerieth, ein unverkennbares
Zeichen des erwachenden Genius, von selbst auf den
richtigen Weg, indem er den thierischen Körper mit
eigener Hand zu untersuchen begann. Noch als Knabe,
berichtet Theodor Zwinger, war er darauf erpicht Mäuse,
Maulwürfe, Ratten, zuweilen auch Hunde und Katzen
zu zergliedern und ihr Inneres zu erforschen.
Nicht ohne Einfluss ist die Lehre Luthers auf den
jugendlichen Sinn Vesals geblieben. Denn auch in Löwen
und gerade in Vesals Umgebung hatte die ketzerische
Lehre Boden gefasst trotz der rücksichtslosen Strenge,
welche die Theologen von Anfang an der religiösen
Bewegung entgegengesetzt hatten. Sein angeblicher
Lehrer im Griechischen, Johannes Guinterius Andernacus,
war wenn nicht schon in Löwen so doch kurz darauf
in Paris eifriger Protestant geworden; Johannes Sturm,
der spätre Strassburger Schulmann, der Historiker Sleidanus,
Rudgerus Rescius, Justus Velsius, die obwohl
älter als Vesal zu seinen Freunden zählten, waren theils
Protestanten, theils standen sie der neuen Lehre nahe.
Auch später treffen wir unsern Vesal in freundschaftlichem
Verkehre mit Protestanten wie Oporinus in Basel,
Leonhard Fuchs in Tübingen, Achilles Gasser in Augsburg.
Um das Jahr 1533 wandte er sich nach Paris um
dort das Studium der Medicin zu beginnen. Die medicinische
Wissenschaft war damals aus einer grossen
Umwälzung in ein ruhigeres Stadium übergetreten. Jene
Umwälzung, ein Ausfluss des Humanismus des 15. Jahrhunderts,
hatte Reinigung und Vervollständigung der
klassischen Tradition und Verdrängung der die Medicin
beherrschenden arabischen und arabistischen Schriften
bezweckt, welche als unvollkommene, verstümmelte und
bis zur Unkenntlichkeit entstellte Wiederholungen der
klassischen Werke sich auswiesen. Bis zu welchem
Masse die Kenntniss der ursprünglichen Quellen abhanden
gekommen war, ergiebt sich daraus, dass noch
im Beginn des 16. Jahrhunderts die Wittenberger Studenten
den Hippocrates und Galenus nur unter den
mittelalterlichen Namen Hippocras und Galienus kannten.
— Die allmähliche Besserung der Schulung und des
Geschmackes lässt sich an den Erscheinungen des Buchdruckes
verfolgen: im 15. Jahrhundert überwiegen die
Ausgaben arabischer Schriftsteller, unter den Lateinern
trifft man hauptsächlich Plinius, nur wenige griechische
Werke in lateinischer Uebersetzung; der älteste griechische
Druck, ein Dioscorides, fällt auf 1499. Am
Schlusse des ersten Viertels des 16. Jahrhunderts kommt
bereits der ganze Galenus und 1526 der ganze Hippocrates
in griechischer Sprache heraus. Während bis
jetzt Italien den Buchhandel beherrscht hatte, treten
immer mehr Frankreich und Deutschland hervor und
bis 1550 ist ihr Uebergewicht entschieden. Immer genauer
werden hüben wie drüben die Uebersetzungen,
immer sorgfältiger und vollständiger die Originalausgaben
der Klassiker und 1562 schätzt C. Gesner die
Exemplare guter lateinischer Uebersetzungen des Galenus
auf mehr als zehntausend.
Welchen Eindruck durch Sprache, Reichthum an
Beobachtungen und Gedanken die alten Schriftsteller
auf die an arabische Armuth gewöhnten Aerzte machten,
ersehen wir aus der unaufhaltsam sich vollziehenden
Unterordnung unter das klassische Alterthum. Der
Stand der Dinge wird für Italien und das Jahr 1507
durch den Professor Rusticus Placentinus folgendermassen
gekennzeichnet: Siehe was wir dem Alterthum und was
das Alterthum uns verdankt. Jenes hat durch seine
Schriften und Bände bewirkt, dass uns zu schreiben
Nichts mehr übrig bleibt. So hat es die Geheimnisse der
Natur klargelegt. Wir aber sind zufrieden (satis habemus),
wenn wir die Aussprüche des Alterthums von der
durch die Abschreiber herbeigeführten Verderbniss reinigen
und dadurch unserm Zeitalter so viel als möglich
zu nützen suchen. — Vor Allem imponirte Galenus,
der übrigens unter arabischer Maske bereits das spätere
Mittelalter beherrscht hatte, durch Vollständigkeit, Geschlossenheit,
Sicherheit; und die Grundlage seines Systems,
seine Anatomie, galt bald als absolut fehlerfrei.
Neben dem Humanismus, zunächst scheinbar unabhängig
davon, in Wirklichkeit aber mit demselben verbunden,
hatte sich eine neue Richtung angebahnt, die
Beobachtung der Natur. Die Anfänge dieser Richtung
lassen sich bis gegen das Jahr 1200 zurückverfolgen
und wurzeln wie der Humanismus auf italienischem
Boden. Die erste bis jetzt nachgewiesene Zergliederung
einer menschlichen Leiche fällt auf Bologna und das
Jahr 1302 1; ebendaselbst und um die gleiche Zeit lehrte
Mundinus, dessen Lehrbuch zweier von ihm abgehaltener
Anatomieen erwähnt. Im Jahr 1368 erhielt das Collegium
medicorum in Venedig Erlaubniss alljährlich eine Sektion
vorzunehmen. Während des fünfzehnten Jahrhunderts
werden in Italien, speciell in Bologna und Padua, regelmässiger
Anatomieen verrichtet, ja um die Wende des
15. Jahrhunderts wird in Padua hiezu ein besonderes
Theater, d. h. eine Bretterbude aufgeschlagen. Von
Italien aus bürgerte sich das Zergliedern menschlicher
Körper über Montpellier in Frankreich, über Wien
in Deutschland ein, doch so langsam, dass für ganz
Deutschland, abgesehen von Wien, aus dem 15. Jahrhundert
nicht Eine Sektion bekannt ist. Erst im 16. Jahrhundert,
im Zusammenhang mit der humanistischen und
religiösen Bewegung, stellte sich ein gewisses Bedürfniss
nach dieser Erfahrungsquelle ein: Strassburg hielt seine
erste Anatomie 1517, Löwen 1518, Wittenberg 1526,
Basel 1531. Freilich blieb es zunächst bei vereinzelten
Schaustellungen, welche fur die Forschung nur geringen
Nutzen bringen konnten. Alle Anatomieen in Deutschland
vor Vesals Auftreten besitzen den Charakter blosser
Kuriositäten.
Hand in Hand mit der Belebung der Naturbeobachtung
geht das Erwachen der Malerei und Skulptur.
Und da der Künstler mit dem Arzte bis zu einem gewissen
Grade das Interesse am Bau des menschlichen
Körpers theilt, so begreift man, dass Aerzte sowohl als
Künstler ihre Beobachtungen durch Zeichnung festzuhalten
und durch den Druck zu verbreiten suchten. Das
älteste bis jetzt bekannte nach der Natur gezeichnete
Blatt, ein Holzschnitt aus dem Jahre 1493, stellt das
menschliche Skelett in einer noch vorwiegend schematischen
Weise dar; richtiger und künstlerisch vollendeter
sind zwei Strassburger Blätter von 1517. Nicht vergessen
wollen wir der anatomischen Studien Leonardos,
welche leider einer wissenschaftlichen Verwerthung nicht
theilhaft geworden sind.
So finden wir durch Reinigung der Quellen, Wiederaufnahme
der Naturbeobachtung und Nachbildung
der Natur den Boden vorbereitet, auf welchem das Genie
seine ungewöhnlichen Leistungen vollbringen konnte.
Die medicinische Schule. von Paris vertrat in den
dreissiger Jahren des 16. Jahrhunderts den modernsten
Standpunkt und hatte die Führung in der Medicin übernommen.
Alles athmete dort Klassicität: Jacob Sylvius,
unermüdlich im Ediren, Vertiren, Commentiren der Alten,
berühmt durch seinen methodischen Gang im Dociren;
die gesammte Medicin pflegte er in 2-3jährigen Kursen
auf Grundlage Galenischer Werke vorzutragen. Aus
seiner Schule, heisst es von ihm, giengen wie aus dem
Trojanischen Pferde unzählige gelehrte Aerzte hervor.
In gleichem Sinne wirkten Johannes Fernelius und der
schon erwähnte Johannes Guinterius Andernacus. Vesal
fühlte sich besonders von letzterm und Sylvius angezogen,
da beide Anatomie lehrten. — Allein beide waren vorwiegend
Theoretiker: wie Vesal erzählt, hat Guinterius
überhaupt nie das Messer gehandhabt als beim Essen.
Zergliederungen menschlicher Körper wurden in Paris
selten vorgenommen und zwar geschah diess durch
ungebildete Barbiere auf ganz oberflächliche Weise.
Hätte ich nicht selbst Hand angelegt, äusserte sich
Vesalius später, so wäre ich in Paris nicht vorwärts
gekommen. Er suchte Beobachtungsmaterial auf dem
Richtplatz und den Friedhöfen der Grossstadt. Sein
Eifer riss die Studiengenossen mit, und bald hatten sie
es dahin gebracht, dass sie mit verbundenen Augen
durch das blosse Gefühl die Knochen zu bestimmen
wussten. War nach der Vorlesung eine Thierleiche
zurückgeblieben, so prüften die jungen Leute die Angaben
des Lehrers und wiesen unter Umständen Theile
nach, welche dieser vergeblich gesucht hatte. Schon
die dritte öffentliche Sektion, bei welcher Vesal zugegen
war, musste er selbst auf Wunsch der Studenten und
Professoren ausführen. — .Eine Zeitlang versah er die
Assistentenstelle bei Guinterius, und dieser nennt ihn
1536 in den Institutiones anatomicae einen hoffnungsvollen
Jüngling, ausgezeichnet in der Medicin und in
beiden Sprachen (nämlich Lateinisch und Griechisch)
und einen sehr geschickten Anatomen. Daselbst wird
ihm ausdrücklich die Entdeckung des Ursprungs der
Arteria spermatica interna zugeschrieben 2. Die erste
sicher constatirte Entdeckung in der Anatomie seit
dem Alterthum hat Vesal noch als Student gemacht.
Nachdem der junge Mann durch die Unruhen des
dritten französischen Krieges aus Paris vertrieben worden
war und kurze Zeit in seiner Heimath, in Löwen und
Brüssel zugebracht hatte, begab er sich 1537 nach
Venedig. — Schon seit geraumer Zeit zogen die deutschen
Medicinstudirenden nach den Italienischen Universitäten,
und mit Vorliebe nach Bologna, wo die Anatomie
blühte. Anders Vesalius: er wandte sich nach Venedig,
wo bloss ein Collegium für Philosophie und Medicin
bestand. Zwei Gründe mögen ihn zu dieser Wahl bestimmt
haben: einmal der Zusammenfluss bedeutender
Künstler. Hier wird es ihm geglückt sein den berühmten
Johann Stephan von Kalkar, seinen Landsmann,
als Zeichner anatomischer Präparate zu gewinnen.
Sodann der hohe Stand der Krankenpflege: in Venedig
bestand damals klinischer Unterricht, in welchem die
Lehrer ihre Schüler zur Beobachtung am Krankenbette
anleiteten und die Therapie vor ihnen erörterten. Gerade
hier entwickelte der neu gegründete Orden der Theatiner
seine wesentlich den Kranken gewidmete Thätigkeit.
Und mit den Theatinern war dazumal verbunden
Ignatius Loyola, der Gründer des Jesuitenordens. So
erklärt sich ein sonderbares Zusammentreffen: im gleichen
Jahre verkehren auf gemeinsamem Arbeitsfelde, in den
Krankenhäusern Venedigs zwei hochbegabte Männer,
Loyola und Vesalius, sonst aber völlige Gegensätze:
der Spanier phantastisch, von glühender Frömmigkeit,
dem Dogma bedingungslos unterworfen, der Niederländer
skeptisch, nach Erkenntniss dürstend, sich waffnend zum
rücksichtslosen Sturze des Hergebrachten. — In jeder
Weise suchte sich Vesal hier praktisch auszubilden:
mit Interesse folgt er den therapeutischen Massnahmen
seiner Lehrer, unterwirft die Gestorbenen der Sektion,
um sich über den Sitz des Uebels klar zu werden, treibt
Chirurgie, welche dazumal wie die Anatomie den Scherern
überlassen war.
Wie es zugieng ist unermittelt, doch die Thatsache
steht fest, dass der noch nicht dreiundzwanzig Jahre
zählende Jüngling im gleichen Jahre 1537 die Professur
der chirurgischen Medicin in Padua antrat. — Hiemit
beginnt der ruhmvollste Abschnitt seines Lebens,
die sechs bis sieben Jahre umfassende Zeit akademischer
Thätigkeit. Mit der Professur der Chirurgie
war die Verpflichtung Anatomie zu lehren verknüpft.
Freilich galt die Stelle in jener Periode nicht sehr viel:
sie rangirte zu unterst in der medicinischen Fakultät,
brachte wenig ein; gewöhnlich lautete die Ernennung
auf zwei bis drei Jahre, und man übernahm sie nur um
bei erster Gelegenheit zur Medicina practica oder
theorica aufzurücken. Eigentlich bestanden zwei Professuren
für Chirurgie; indess blieb häufig aus Mangel an
genügend vorgebildeten Bewerbern die eine Stelle unbesetzt,
für die öffentliche Anatomie musste selbst zuweilen
ein Professor höhern Ranges beigezogen werden. Vesalius
erhielt als Professor primi et secundi loci 40
Gulden 3.
Mit dem anatomischen Unterrichte vollzog er sogleich
eine durchgreifende Reorganisation durch Beseitigung
des alten Schlendrians (ridiculo scholarum more
exploso), nach welchem dem Barbier die Hauptrolle
zugetheilt war: Vesal führte selbst das Messer und vereinigte
den Secanten, Demonstranten und Docenten in einer
Person. So gewöhnte er sein Auditorium an die Wichtigkeit
des Selbstprüfens, der Autopsie. Die vielfach
üblichen drei Tage der öffentlichen Anatomie wurden
auf mindestens drei Wochen ausgedehnt, zur Demonstration
des Knochenbaues setzte er ein Skelett zusammen.
Da menschliche Leichen im Allgemeinen schwierig zu
beschaffen waren, wurden Thiere, Hunde, Affen, zu
Hilfe genommen; hauptsächlich aber suchte Vesal die
Richter zu bestimmen billige Rücksichten walten zu
lassen; zuweilen halfen wissbegierige Studirende durch
Ausgraben einer Leiche aus. Jede öffentliche Anatomie
wurde mit Vorführung der wichtigsten physiologischen
Experimente beschlossen.
Wenn es gestattet ist aus Vesals Schriften auf
seinen Vortrag zu schliessen, so verfügte er über eine
treffende, plastische Sprache. Dem Verständniss kam
er durch Wandzeichnungen entgegen, welche allmählich
vor den Augen der Hörer heranwuchsen; das Interesse
wurde gesteigert durch Hinweise auf die Verwerthung der
anatomischen Verhältnisse in der Praxis. Varietäten
wurden möglichst übergangen um den Lernenden nicht
zu verwirren. Auch befolgte Vesal den Grundsatz, nur
da vom Lehrbuche abzuweichen, wo er sicher Besseres
zu bieten vermochte.
Als Forscher beschäftigte er sich einmal in angestrengtester
Weise mit anatomischen Untersuchungen,
— man erinnert sich des berühmten Gemäldes von
Hamman, welches Vesalius in seinem Arbeitszimmer
darstellt, — dann mit Anleitung und Beaufsichtigung
der Künstler, endlich mit dem Studium der klassischen
und arabischen Litteratur.
Den Künstlern hat Vesal kein gutes Andenken
bewahrt. Oft hätten ihn diese durch ihre Verdriesslichkeit
fast zur Verzweiflung gebracht und er hätte manches
Mal eher das Schicksal der vor ihm liegenden Cadaver
theilen, als sich noch länger mit jenen plagen mögen.
Nachweislich ist von 1538-1542 anatomisch gezeichnet
worden. Nur einen der Künstler nennt er ausdrücklich,
den schon erwähnten Joannes Stephanus Calcarensis,
von dem drei zierliche Darstellungen des Skelettes in
den Tabulae anatomicae des Jahres 1538 stammen,
während die drei andern, Gefässe und Eingeweide betreffenden
Blätter wenigstens grossentheils von dem
Anatomen selbst gezeichnet sind. Diese Holzschnitte,
Vorläufer der Bilder von 1543, haben für die Entwicklung
Vesals und für die Geschichte der Anatomie die
höchste Bedeutung. Es ist ihnen sonderbar ergangen.
In Deutschland waren sie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
völlig unbekannt, jetzt existiren überhaupt
nur noch zwei Exemplare, deren eines glücklicherweise
durch einen kunstsinnigen Engländer in vortrefflicher
Weise vervielfältigt worden ist 4. Aber die Buchhändler
hatten den Werth des Buches sogleich erkannt: bereits
nach vier Jahren waren sechs Nachdrucke und Nachbildungen
zu Augsburg, Köln, Paris, Strassburg, Marburg
und Frankfurt entstanden. Ja einer der Nachdrucke
ist durch Missbrauch einer Handzeichnung Vesals
gleichzeitig ein Vordruck geworden; die betreffende
Figur findet sich erst in dem Hauptwerk von 1543 5.
Die anatomischen Tafeln lassen Alles bisher auf diesem
Gebiete Geleistete in Bezug auf Grösse, Genauigkeit
und Schönheit weit hinter sich. Der Fortschritt springt
in die Augen, wenn man die drei Jahre zuvor und zwar
bei dem gleichen Verleger Bernardinus de Vitalibus in
Venedig erschienenen Holzschnitte der Anatomie Berengars
vergleicht.
Was die Bilder der spätem Werke betrifft, so
stammen mehrere sicher von Vesal, einige von Johann
Stephan; von den meisten kennt man den Zeichner
nicht Dass Tizian mitgearbeitet, ist eine erst im 17.
Jahrhundert auftauchende und durch Nichts zu begründende
Behauptung. Ebensowenig lässt sich die Angabe
erweisen, dass Jo. Stephan die Bilder auch geschnitten
habe: Vesal erwähnt vielmehr ausdrücklich pictores
und sculptores.
Im Studium arabischer Schriftsteller wurde unser
Anatom von dem Arzte Lazarus Hebraeus de Frigeis
unterstützt. Hauptsächlich aber beschäftigte er sich
mit: den Schriften Galens, des einzigen, den er als wirklichen
Lehrer anerkennt. Alle Neuem entlehnen dem
Letztem. Keiner von ihnen aber hat die wichtigste
Lehre Galens, dass die eigene Untersuchung dem Autoritätsglauben
vorzuziehen sei, so beherzigt wie Vesal.
Indem Vesal Galens Anatomie auf das Genaueste kennt
und deren Angaben mit der Natur sorgfältig vergleicht,
gelangt er nicht nur zu dem Schlusse, dass der für unfehlbar
gehaltene sehr viele Irrthümer berichte, sondern
er weist auch die Quellen derselben in jedem einzelnen
Fall nach: meist nämlich giebt Galenus, der menschliche
Leichen überhaupt nie untersucht hat, die Anatomie
der Thiere für die des Menschen aus.
Dieser uns selbstverständlich scheinende Satz war
dazumal völlig neu und wurde, indem er die Mangelhaftigkeit
des ganzen Galenischen Systems in sich schloss,
die Ursache eines mehr als hundert Jahre dauernden
mit äusserster Heftigkeit geführten Streites; ja die letzten
Reste des Galenismus konnten erst in unserm Jahrhundert
völlig verdrängt werden. Obschon Vesal bereits
in den frühern Werken Zweifel laut werden lässt,
hat er doch drei volle Jahre zur Erledigung dieser
Frage gebraucht. Die ganze Klarheit scheint ihm fast
plötzlich gekommen zu sein und zwar in Bologna, wohin
er zur Abhaltung einer Anatomie war berufen
worden. Als er daselbst seinem Freunde Albius aus
Dankbarkeit für die gewährte Gastfreundschaft die
Skelette eines Menschen und eines Affen herrichtete,
traten ihm die Unterschiede im Bau und damit das
Wesen von Galens Anatomie besonders deutlich entgegen.
Bald darauf schritt er zur Ausarbeitung seines
anatomischen Hauptwerkes und vollendete dasselbe
1542, im 28. Lebensjahre. Die Epitome ist vierzehn
Tage später fertig geworden.
Neben dieser staunenerregenden Thätigkeit behielt
Vesalius immer noch Zeit übrig zu freundschaftlichem
Verkehre mit geistesverwandten Männern wie Joh. Bapt.
Montanus, dem grossen Kliniker, Marcus Antonius Genua,
dem Professor der Philosophie und vollendeten Musiker
in Padua, Albius, Buccaferreus, Matthaeus Curtius in Bologna,
bei welchen er freie Denkungsart und künstlerischen
Sinn traf, von denen ihm Anregung und Ermuthigung
zum Unternehmen und Durchführen seiner Arbeiten
zufloss. Nie hat er sich zu freudigem Schaffen
so aufgelegt gefühlt als damals, trotz Neid und Bosheit,
welche ihm allerlei Schwierigkeiten bereiteten. Er
wusste sich der Zustimmung der weitaus meisten Zuhörer
gewiss, worunter gereifte Männer der verschiedensten
Stände, Theologen, Juristen und Philosophen sich befanden.
Denn alle Wissenschaft war Gemeingut und die
Anatomie erfreute sich einer Theilnahme wie heutzutage
etwa der dunkle Welttheil. — Die Behörden blieben
mit Anerkennung nicht zurück, indem 1540 seine Besoldung
auf 70, 1543 sogar auf 200 Gulden erhöht
wurde 6. — Wir verstehen, dass ihn später in der Mühseligkeit
des Hofdienstes die Sehnsucht nach Italien ergreift,
welches er als ingeniorum vera altrix, die wahre
Amme der Geister, preist.
Text der Fabrica und der Epitome sammt Holzstöcken
und einem Musterabdruck der Holzschnitte
waren im August 1542 durch die Buchhändler Bomberg
in Venedig verpackt und zunächst an das Haus Danoni
in Mailand spedirt worden, welches die Sendung an unsern
Basler Drucker Joh. Oporinus beförderte. Der
Druck schritt so rasch vor, dass beide Werke im Juni
1543 erscheinen konnten. Vesal hatte damals einen
längern Urlaub genommen und wurde in der öffentlichen
Anatomie durch seinen Freund Realdus Columbus, Professor
der Sophistik, vertreten. Einen Theil jenes Urlaubes
verbrachte Vesal in Basel und zwar um den zum
Theil recht schwierigen Druck seiner Werke zu überwachen.
Hier fand er Männer, welche seine Bedeutung zu
würdigen verstanden, die Mediciner Osw. Berus, Sebastian
Sinkeler, den geschäftigen Uebersetzer Albanus Torinus,
wohl auch noch den gelehrten Herausgeber des
Hippocrates, Hieron. Gemusaeus. Intimen Umgang pflegte
er mit seinem Verleger Oporin, auch mit Thomas
Plater war er bekannt. Dessen Sohn Felix erzählt als
eine seiner frühsten Erinnerungen, dass er den Vesalium
bei seinem Vater gesehen habe. Wer will ermessen,
welchen Einfluss diese Begegnung auf das jugendliche
Gemüth geübt hat. Felix blieb sein Leben lang ein
grosser Bewunderer Vesals, er hat sich mit dessen Buch
iii der Hand abbilden lassen, seine Anatomie ist fast
genau die Vesals. Auf der Skelettinschrift nennt er ihn
seinen Lehrer: und wirklich haben wenige in jener
Zeit das Wesen Vesalischer Forschung so erfasst und
sich zu eigen gemacht wie Felix Plater.
Auf das Ende des Basler Aufenthaltes, 12. Mai
1543, fällt die oft besprochene Anatomie, aus welcher
das im Vesalianum aufbewahrte Skelett hervorgegangen
ist, eine Reliquie aus der Periode der Wiedergeburt der
Anatomie 7.
Dem Werke hatte man mit Spannung entgegengesehen,
da die ketzerischen Lehren des jungen Mannes
theilweise aus seinen Demonstrationen bereits bekannt
und durch geschäftige Zungen verbreitet worden waren;
sein alter Lehrer Sylvius hatte sich schon vor dem Erscheinen
der Bücher abschätzig über dieselben geäussert.
— Nie zuvor war der Bau des menschlichen
Körpers so ausführlich und glänzend zur Darstellung
gebracht worden. Vor Allem bewundern wir noch heute
viele von den Abbildungen, besonders die auf Knochen
und Muskeln bezüglichen, als unerreichte Meisterwerke,
sowohl was anatomische Genauigkeit als was Haltung,
Proportionen, Vertheilung von Licht und Schatten betrifft.
Der Text imponirt durch die gleichmässige,. auf
eingehenden Beobachtungen beruhende Behandlung des
ganzen Gebietes, durch die sorgfältige Erwägung der.
physiologischen Beziehungen, die Schärfe der Kritik und
wiederum die weise Zurückhaltung in zweifelhaften und
unwichtigen Dingen; das Ganze in trefflicher Anordnung,
knapp, plastisch, zuweilen schwungvoll geschrieben.
In wohlthuender Weise unterbrechen biographische Notizen
den Ernst des Inhaltes und köstlich gezeichnete
Initialen, welche die Handlungen des Anatomen parodiren,
liefern den nothwendigen Humor. Fast jedes Kapitel
enthält mehr oder minder bedeutende Fortschritte über
Galenus; als wesentlichste Errungenschaften sind zu
bezeichnen die Aufnahme von Abbildungen, deren Zulässigkeit
von Galen war bestritten worden, die gleichmässige
Behandlung des Stoffes an Stelle der spiessbürgerlichen
Anatomia utilis des Galen und endlich die
Verdrängung der Thieranatomie durch die des Menschen.
So hat der Verfasser seinen Vorsatz, die erstorbene
Wissenschaft mindestens auf gleiche Stufe mit ihrem
Zustande im klassischen Alterthume zu bringen, in vollstem
Masse erfüllt.
Bei Freund und Feind brachte die Fabrica den
tiefsten Eindruck hervor. Zustimmung fand Vesalius
vor Allem bei den deutschen Botanikern, welche Treue
in der Beobachtung der Natur und genaue Reproduktion
derselben wohl zu würdigen verstanden: C. Gesner, Joh.
Eccius, Joachim Roelants, Gerhard von Veltwyck, Karls
V. Geheimschreiber. Zumal Leonh. Fuchs, bisher einer
der eifrigsten Vorkämpfer Galens, war völlig in Bewunderung
aufgelöst: summus noster amicus heisst Vesal
bei ihm, der von Gott, divinitus, zur Reinigung der Anatomie
gesandt sei. In Frankreich und Italien machte
sich der Einfluss weniger durch Worte als durch Thaten
geltend, worauf wir noch kommen werden.
Andrerseits erhoben sich zahlreiche Gegner, welche
aus blindem Autoritätsglauben, aber auch aus Neid,
seltener aus sachlichem Interesse zum Kampf oder
Widerspruch veranlasst wurden. Obgleich Galen seit
dem frühsten Mittelalter hie und da Angriffe erfahren
hatte, den heftigsten vor Kurzem durch Paracelsus,
welcher aller Tradition den Krieg erklärte, hatten doch
diese Stimmen im Ganzen geringen Erfolg geerntet.
Die Schwächen der Widersacher lagen zu klar am Tage,
selbst Paracelsus fand fast nur in Deutschland und auch
hier meist wenig geachtete Anhänger. Diessmal lag die
Sache anders: auf das eigentlichste Fundament des Galenischen
Systems, die Anatomie, giengen Vesals Angriffe
und waren, was dazumal viel bedeutete, in fliessendem
Latein geschrieben. Es muss genügen hier die
wichtigsten Vertheidiger Galens und Gegner Vesals zu
nennen: Sylvius in Paris, Dryander in Marburg, J.
Caius in England, Columbus, Eustachius und Gabriel
Falloppia in Italien. In den meisten Punkten ist Vesal
Sieger geblieben, in andern wurde ihm ungenaue Beobachtung
und Verwendung von Thierpräparaten nachgewiesen;
auch die zu tiefe Beschattung gewisser Figuren
wurde mit Recht getadelt.
Unmittelbar nach Erscheinen der Anatomie war
Vesalius nach den Niederlanden geeilt; wie man annimmt,
fand damals seine Verheirathung mit Anna van
Hamme statt 8. Auf den Winter 1543 kehrte er nach
Padua zurück, um seine unterbrochene Lehrthätigkeit
aufzunehmen.
Mit Blitzesschnelle hatte sich der Ruhm seines
Werkes unter der studirenden Jugend verbreitet, und
aus allen Ländern strömten Wissbegierige zusammen,
welche ihn zu hören wünschten. In jenem Winter hat
Vesal über 500 Zuschauer gehabt, weit mehr als Sylvius
in Paris jemals vereinigt hatte. Um der neu erstandenen
Universität Pisa grösseres Ansehen zu verleihen,
hatte ihn Cosmus von Medicis um 800 Kronen
Gehalt berufen und auf der Durchreise musste Vesal
eine Anatomie in Bologna vornehmen. Aber auch
die Gegner sammelten sich: wie sich aus mehrern
Aussagen ergiebt, liefen die öffentlichen Anatomieen an
allen drei Universitäten nicht ohne stürmische Auftritte
ab, indem aus der Corona widersprochen wurde, oder
Vesal die Opponenten aufforderte, ihre Ansichten praesente
cadavere zu erhärten. Und weil Vesal vernommen,
dass ihn sein Freund Columbus während
seiner Abwesenheit vor den Zuhörern verhöhnt hatte,
so wurde auch dieser vorgerufen: umsonst, Columbus,
der so treu dem Vesal Methode und Gedanken abgelauscht
hatte, blieb an jenem Tage unsichtbar.
Diese und ähnliche Erfahrungen haben mitgewirkt,
dass Vesalius 1544 eine Stelle als Leibarzt bei Kaiser
Karl V. annahm. Dagegen wäre es unrichtig, wenn
man hierin das entscheidende Motiv zur Aenderung
seiner Laufbahn erblicken wollte. Vielmehr lässt Verschiedenes,
die Widmung seiner drei ersten Werke an
kaiserliche Aerzte, die Widmung der Fabrica an Karl
V., die der Epitome an den Kronprinzen Philipp nicht
zweifeln, dass etwas der Art schon lange geplant war.
Auch hat die praktische Thätigkeit Vesals ursprünglicher
Neigung entsprochen: er nennt in seiner Erstlingsschrift
die Heilkunst den vorzüglichsten Theil der medicinischen
Wissenschaft. Aber freilich versteht er darunter
nicht blosses Receptiren und Geldmachen, sondern er
meint die Heilkunst in der alten vollen Bedeutung, nach
welcher der Arzt zugleich Diätetiker und Chirurg ist.
Thatsächlich hat Vesalius bereits als akademischer
Lehrer praktizirt 9 und damit nur gethan, was die meisten
bedeutenden Naturforscher seines Jahrhunderts auch.
Familientradition, Ehrgeiz und Aussicht auf eine
gesicherte Existenz haben an dem folgenschweren Schritte
Antheil gehabt. Wie wenig er als Leibarzt eines kränklichen,
grossentheils auf Reisen befindlichen Kaisers über
seine Zeit werde verfügen können, muss ihm von vornherein
klar gewesen sein. Und gleich im Anfange
musste er eine bittere Erfahrung machen. Als er im
Begriffe war, Italien zu verlassen, vernahm er, wie andere
Leibärzte ihn bei Kaiser und Hof wegen seiner
Anatomie zu discreditiren suchten, und warf in einem
Anfall von Verzweiflung seine Arbeiten zu Galenus,
Rhazes und zu einer Arzneiverordnungslehre ins Feuer.
Zunächst treffen wir den noch nicht dreissigjährigen
Leibarzt vor St. Dizier und Vitry, Juli 1544, wo er den
Körper Renés, Prinzen von Oranien, und anderer Gefallener
einbalsamirt. Wir finden ihn 1546 dem schwer
erkrankten Venetianischen Gesandten Bernardo Navagero
beigeordnet, welchen er dann zum Reichstage nach Regensburg
begleitet. Im Schmalkaldischen Kriege besucht
er seinen Freund Fuchs zu Tübingen. Ende 1548 hält
er sich, immer im Gefolge Karls V., zu Brüssel auf.
Schon damals grenzte das Staunen des Publicums vor
dem grossen Diagnostiker ans Abergläubische, wie sich
aus der Anekdote vom Grafen Maximilian von Beuren
ergiebt, dem er Stunde und Moment des Todes vorausgesagt
haben soll. — Im Frühling 1552 begleitet Vesal
den Kaiser auf der Flucht von Innsbruck nach Villach.
— Nach dieser Zeit scheint es gewesen zu sein, dass
er sich zu Brüssel nach der Sitte behäbiger Aerzte ein
Haus bauen konnte; heutzutage stehen die Aedes Vesalianae
nicht mehr. 1555 wurde er nach Augsburg zu
Leonhard Weiser berufen, bei welchem er die Diagnose
auf Aortenaneurysma stellte. Als ihm zwei Jahre später
Ach. Gasser die Bestätigung derselben durch die Sektion
meldete, antwortete er bescheiden: Gerne erfahre ich
gewiss, was wir nur vermuthungsweise bei Kränken erschliessen
können. Als Karl V. 1556 nach Spanien
übersiedelte, wurde er unter Gewährung einer lebenslänglichen
Pension entlassen und trat in den Dienst
Philipps II. über 10. Von diesem ward er Juli 1559 mit
Extrapost nach Paris gesandt, um dem im Turnier schwer
verletzten König Heinrich II. Hilfe zu bringen. Nach
Thuanus kam Vesal zu spät; aber schon 1577 berichtet
Adam Henricpetri eine Fabel, aus welcher wieder der
Respekt vor der sichern Diagnose des Anatomen hervorleuchtet.
Gegen Ende desselben Jahres folgte er seinem
Herrn nach Spanien. Was ihn bewogen hat Heimat,
Verwandte und Haus zu verlassen und gegen das ihm
nicht sympathische Spanien zu vertauschen, wir wissen
es nicht. Kaum die Aussicht auf hohen Gewinn: denn
seine Besoldung betrug bloss 300 Gulden und 30 Stufen
(Sous) Taggeld; wohl eher die Treue gegen Philipp,
der von den spanischen Aerzten nicht viel hielt und
den Vesalius nicht missen wollte. Auf jene Periode fällt
die bekannte Erzählung von der Kopfverletzung des
Don Carlos. Unter den neun bis eilf den Prinzen umstehenden
Aerzten soll gerade Vesal den entscheidenden
Rath ertheilt haben.
Während dieser zwanzigjährigen, mehrfach als sehr
angestrengt bezeichneten Praxis behielt Vesal immer
noch Fühlung mit der Anatomie. Zwar fehlte jetzt die
Gelegenheit zu eingehender Untersuchung des menschlichen
Körpers, indess boten Privatsektionen und thierische
Präparate einigen Ersatz. Und es fehlt nicht
an Beweisen, dass er in einzelnen Fragen Fortschritte
gemacht und über schwierige physiologische Probleme
eingehend nachgedacht hat. Geschrieben hat er in
jener Periode zwei Streitschriften, eine gegen Sylvius
in Paris, die andere gegen Falloppia 11, seinen Nachfolger
auf dem Lehrstuhl in Padua, und als Hauptwerk
die zweite Auflage der Fabrica, welche 1555 in luxuriöser
Ausstattung bei Oporin erschien. Einige Bilder sind
neu hinzugekommen, mehrere alte ausgebessert worden;
der Text zeigt zahllose stilistische und sachliche Aenderungen,
überall ist der Charakter des Lehrbuches schärfer
hervorgehoben durch Weglassung oder Kürzung von
Angriffen auf Galenus, durch Tilgung von zeitgeschichtlichen
und persönlichen Bemerkungen. Das Buch ist
korrekter, glatter, logischer geworden, es entspricht dem
gereiften Manne, aber die jugendliche Ursprünglichkeit
der ersten Auflage hat es eingebüsst.
In Spanien war sich Vesal, vollends auf den Angriff
von Falloppia hin, bewusst geworden, dass wenn
er noch in der Wissenschaft mitsprechen wolle, er
zurück nach Italien und zur Anatomie müsse. Wirklich
tauchte er im Frühjahr 1564 zu Venedig auf, wo er
einige Freunde begrüsste, um sich dann nach Jerusalem
einzuschiffen 12. Von dieser Reise ist er nicht zurückgekehrt;
nach allgemeiner Angabe starb er auf der
Insel Zante im Oktober desselben Jahres, nachdem ihn
eben noch die Ernennung zum Professor in Padua
erreicht hatte. Ueber die Ursache dieser Reise und die
nähern Umstände seines Todes existiren verschiedene
Versionen. Clusius, ein bekannter Botaniker, welcher
bald nach Vesals Abreise am Hof zu Madrid eingetroffen
war, berichtet, dass Vesal aus Heimweh erkrankt sei,
dann ein Gelübde vorgeschützt und so seine Entlassung
bei Philipp erreicht habe. Da er aber sehr geizig
(impense avarus) gewesen sei, habe er in Jerusalem zu
wenig Proviant mitgenommen und desshalb Hungers
sterben müssen. Diese Erzählung scheint nicht über
jeden Zweifel erhaben: Clusius erweist sich auch in Anderm
als leichtgläubig; dass Vesal wenigstens in Padua nicht
geizig war und die Bilder unter enormen Kosten hat
anfertigen lassen, steht fest.
In Paris vernahm man Anderes: nach Hubertus
Languetus habe Vesal einen spanischen Grande aus
Irrthum lebendig secirt, sei desshalb von der Inquisition
zum Tode verurtheilt und nur auf Fürbitte Philipps II.
zu einer Reise nach Jerusalem begnadigt worden.
Aehnliches berichtet Ambrosius Paré. Dass eine Vivisection
in der Vesal angedichteten Art zu den physiologischen
Unmöglichkeiten gehört, wissen alle Anatomen
auch scheint mir, dass die Fabel aus missverstandenen
Stellen in Vesals eigenen Werken sich entwickelt hat.
Sicher ist nur die Reise nach Jerusalem: aber das Vorschützen
eines religiösen Gelübdes widerspricht Vesals
innerstem Wesen. Von jeher hat er in seinen Werken
Alles, was Katholizismus betrifft, Votivbilder, Werkheiligkeit,
Priester, Inquisition mit Ironie behandelt oder
direkt angegriffen. Auch ein aufgeblasener protestantischer
Pfarrer aus der Schweiz kommt schlecht weg.
Ein Passus aber lautet so bedenklich, dass Vesal kaum
auf den Namen eines Christen Anspruch erheben
kann. »Ob er aus Religion oder Gewinnsucht reiste«,
sagt ein alter Gewährsmann, »habe ich nicht sicher
erfahren können. Aus Religion glaube ich nicht, denn
diese hat er nie geachtet.« Danach liegt meines Erachtens
der Contakt mit der spanischen Inquisition nicht
ausser aller Möglichkeit.
Diess als Vermuthung: thatsächlich ist Vesal im
fünfzigsten Lebensjahr gestorben, seine Grabstätte ist vergessen,
sein Geschlecht erloschen. Die einzige Tochter
verheirathete sich mit einem Hofbeamten Mol, seine
Frau gieng eine zweite Ehe ein mit einem jungen Edelmann,
van der Noot. Der litterarische Nachlass ist
spurlos verschwunden, nachdem unserm Felix Plater die
Holzstöcke der Fabrica zum Kauf angetragen und während
des 18. Jahrhunderts noch dreimal in Augsburg und
Ingolstadt zum Druck benutzt worden waren.
Vesal war einer der berühmtesten Gelehrten und ist
diess bis Ende des 18. Jahrhunderts geblieben: wir kennen
nicht weniger als zehn sogenannte Originalportraits, die
sich in Glasgow, London, Paris, Basel, München, Wien,
Padua und Florenz befinden und zum Theil bedeutenden
Malern, Tizian, Jo. Stephan von Kalkar, Tintoretto zugeschrieben
werden 13. Allein keines dieser Bilder ist genügend
beglaubigt, mehrere zeigen auch nicht entfernte
Aehnlichkeit mit Vesal. Wir besitzen bloss Ein authentisches
und vorzügliches Bild, den in mehrern Werken
des Autors vorkommenden Holzschnitt: ein energisches,
durch leicht eingebogene Nase und ein kleines Muttermal
an der Stirn scharf markirtes Gesicht. Das grosse
Auge fixirt den Beschauer, die Hände halten ein anatomisches
Präparat, auf dem Tisch liegt der entsprechende
Abschnitt der Fabrica aufgeschlagen. -
An Vesals Veranlagung fällt auf die seltene Kombination
von hohem künstlerischem Schwung mit wahrhaft
durchdringender Schärfe des Verstandes, die unglaubliche
Raschheit seiner Entwicklung, welche an die
eines Rafael oder Mozart erinnert, sowie die glückliche
Leichtigkeit der Produktion. Ocyus, jucunde et tuto
war sein Wahlspruch beim Seciren; Schriften von 60
bis 200 Seiten Umfang hat er in wenigen Tagen, die
Riesenarbeit der Anatomie in nur zwei Jahren vollendet.
Ueber seinen Charakter ist es schwer völlig ins
Reine zu kommen. Neben vortrefflichen Eigenschaften,
unter denen Wahrheitsliebe, Muth, ein edler Stolz gepaart
mit Bescheidenheit, Prunklosigkeit obenan stehen,
scheint immerhin ein gewisser Mangel an Gemüth bestanden
zu haben. Eigenthümlich wird man berührt,
wenn man unter den über Vesal aufbewahrten Anekdoten
nicht Eine findet, die sich auf Häuslichkeit, treue Freundschaft,
ärztliche Aufopferung bezieht. Stets hat man Vesals
wissenschaftliche Leistungen und ärztlichen Scharfblick
bewundert, für Vesal als Menschen scheint sich Niemand
recht erwärmt zu haben. Doch diess mit aller Reserve,
da die Quellen hier zufällige Lücken bieten können.
Vesals wissenschaftliche Individualität ist seinen
Zeitgenossen gegenüber durch drei Dinge, Ausflüsse
seines rastlosen Strebens nach Erkenntniss, charakterisirt:
durch die rücksichtslose Bekämpfung des Autoritätsglaubens
und Ersetzung desselben durch eigene Erfahrung;
durch die Verbannung alles Aberglaubens aus der
Wissenschaft, mag er sich äussern in Praesagien, Chiromantie,
oder im kritiklosen Glauben an ungeprüfte Heilmittel;
endlich durch Concentration auf ein einziges Fach,
wodurch es ihm möglich wurde in die Tiefe zu dringen,
in völligem Gegensatz zum Universalismus jener Epoche
— mit andern Worten ausgedrückt: Vesal besitzt drei
der wesentlichsten Attribute des modernen Naturforschers.
Zur Kennzeichnung des Einflusses, den Vesal auf
die Entwicklung der Medicin ausgeübt hat, beschränken
wir uns auf Hervorhebung einiger augenscheinlicher, fast
handgreiflicher Beziehungen zur Folgezeit: Vesals anatomische
Werke sind bis in das 18. Jahrhundert ungefähr
fünfzig Mal aufgelegt worden, ungerechnet die zahlreichen
Reproduktionen in den Schriften anderer Forscher.
Sämmtliche Spezialdisciplinen der Anatomie, ausser der
deskriptiven die vergleichende und die pathologische
Anatomie, sowie die Entwicklungsgeschichte finden sich
in Vesals Hauptwerk bereits angelegt und verdanken
ihre weitre Entfaltung einerseits der von Vesal inaugurirten,
bis auf Morgagni gehenden Anatomenschule
von Padua, andrerseits den Arbeiten von Rondelet in
Montpellier, der Vesals Werke genau gekannt und durch
den gemeinsamen Freund Pelissier sozusagen in persönlichem
Connex mit Vesal gestanden hat.
Die Belebung, welche Anatomie und Klinik in
Leyden durch Bernhard Siegfried Albinus und Boerhaave
erfahren haben, steht, obwohl zeitlich und räumlich
weit entfernt, doch durch die eifrigen litterarischen
Forschungen dieser Männer wieder mit Vesal in Beziehung.
Dieses Gelehrtenpaar hat nicht nur Vesals
Werke neu herausgegeben, sondern das Verständniss
dieses Autors durch eine vorzügliche Biographie desselben,
vor Allem aber durch eigene, vorurtheilsfreie Beobachtung
der Natur zu erkennen gegeben. Zu gleicher
Zeit aber, als ihre Vesalausgabe beendet wurde, studirte.
ihr grösster Schüler in Leyden, Albrecht von Haller,
welcher selbst wieder einer der besten Vesalkenner war.
Um die Chirurgie, deren Aufschwung überall auf
das Engste an das Fortschreiten der Anatomie geknüpft
ist, hat Vesal sich als tüchtiger Praktiker, nicht aber
als Verfasser der ihm zugeschriebenen Chirurgia magna
verdient gemacht, denn diese ist als ein untergeschobenes
Machwerk zu betrachten 14. Sehr bedeutend ist seine
mittelbare Einwirkung auf die Chirurgie durch die
von ihm herrührende Bereicherung der Anatomie der
Knochen, Gelenke, Blutgefässe. Schon 1543 waren
seine ersten osteologischen Tafeln in die vielgelesene Chirurgie
des Tagault übergegangen und von Ambrosius Paré,
dem grossen Kriegschirurgen, wissen wir, dass er Vesals
Anatomie auf das Genauste studirt und grossentheils
in sein Werk aufgenommen hat
Nicht hoch genug endlich können Vesals Leistungen
für die Physiologie angeschlagen werden. Er hat zuerst,
soviel uns bekannt ist, den Thierversuch zur Lösung physiologischer
Aufgaben wieder hervorgeholt; ihm verdankt
man die Entdeckung der für die Experimentalphysiologie
so wichtigen künstlichen Respiration. Wohl kommt er
vielerorts nicht über die teleologische Erklärungsweise
Galens hinaus, aber manche Probleme, namentlich der
Gelenkmechanik, hat Vesal gelöst oder doch ihrer Lösung
genähert. Das Geheimniss des Blutkreislaufs war ihm
zwar zu entdecken nicht vergönnt, aber keiner hat dem
grossen Engländer so mächtig vorgearbeitet als Vesal
durch genaue Darstellung des Arterien- und Venensystems,
durch Stürzung des Dogmas vom Ursprung
der Hohlvene aus der Leber, durch den Nachweis des
Nicht-Durchbohrtseins der Herzscheidewand 15. Unter den
wenigen Autoren, welche Harvey nennt, bekommt
Vesalius einzig den Zusatz »divinus«. — Und wahrhafte
Divination verräth sich in jenem Passus, wo Vesalius
mit aller Schärfe die Muskelbewegung als specifische
Funktion der kontraktilen Substanz, als Ausfluss der
besondern Gewebstruktur, hinstellt, wie er denn auch
Aehnliches über die Beziehungen zwischen Bau und
Leistung des Gehirns und der Drüsen äussert. Lange
hat der Gedanke von der specifischen Dignität der Gewebe
geschlummert. Es bedurfte noch weiterer Fortschritte
der Anatomie und Physiologie und ihrer Befruchtung
durch Physik und Chemie, sowie der Befreiung
der Geister durch die französische Revolution, bis jener
Vesalische Gedanke auf alle Gewebe ausgedehnt werden
konnte. Die Erkenntniss, dass jedwede lebendige Thätigkeit
an bestimmte, normale oder pathologische Gewebe
gebunden sei, wir verdanken sie dem grossen Anatomen
Xavier Bichat. Dieser Satz, durch das Mikroskop präcisirt
und vertieft, bildet das Fundament aller heutigen
biologischen Forschung.
Immer mehr ist es der• Medicin gelungen, vom
Druck des Autoritätsglaubens und der Spekulation
loszukommen und auf dem Wege Vesals mittelst vorurtheilsfreier
Beobachtung vorzudringen. In ungeahnter
Weise haben sich, durchweg auf anatomisch-physiologischer
Grundlage, die praktischen Fächer vervielfältigt
und fruchtbar erwiesen.
Die heutige Medicin darf man einem Baume vergleichen,
die praktischen Disciplinen dessen Aesten, welche
immer neue und edlere Früchte für das gemeine Wohl
zur Reife bringen, Anatomie und Physiologie dessen
Wurzeln, welche den Aesten stets neue und bessere
Nahrung zuführen; immer tiefer dringen diese Wurzeln,
verflechten sich und verschmelzen mit denen der andern
Wissenschaften; gemeinsam streben alle dem gleichen
Ziele zu, der Wahrheit.
ANMERKUNGEN.
Obige Skizze enthält dasjenige aus Vesals Leben und Wirken, was
etwa für ein weiteres Publikum Interesse bieten kann. Eine vollständige
mit Quellenangaben versehene Biographie Vesals gedenkt der Verfasser
in einiger Zeit zu veröffentlichen; für diessmal glaubt er sich auf folgende
Belege beschränken zu sollen.