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DER ERLASS EINES BÜRGERLICHEN GESETZBUCHES

REKTORATSREDE GEHALTEN AM
JAHRESFESTE DER UNIVERSITAET BASEL
DEN 9. NOVEMBER 1894
von
L. R. von SALIS
D. Z. REKTOR DER UNIVERSITAET
BERN und BASEL
DRUCK UND VERLAG VON K. J. Wyss 1894

LOUIS RUCHONNET
ZUM GEDÄCHTNIS

Hochansehnliche Versammlung!

Ueber die Frage des Erlasses eines bürgerlichen Gesetzbuches und damit über die Aufgabe und die Ziele der Privatrechtskodifikation zu sprechen, scheint mir dem Zweck und der Bedeutung des Tages und der Versammlung zu entsprechen. Habe ich zu dieser festlichen Stunde von dieser Stelle aus die Ehre, nicht nur die Angehörigen der Universität, Lehrer : mit Schülern vereinigt, zu begrüssen, sondern auch Mitglieder der hohen Behörden unseres Kantons nebst vielen Gönnern und Freunden willkommen zu heissen —die Sie Alle durch Ihr Erscheinen von neuem das lebhafteste Interesse am Gedeihen und Blühen unserer alma mater bekunden —,' und darf ich daher meine Worte an eine besonders zahlreiche Zuhörerschaft richten, so will ich versuchen, durch Erörterung einzelner Seiten des Problems der Privatrechtskodifikation, Sie bekannt zu machen mit einer Frage, die seit langer Zeit in der Rechtswissenschaft aus verschiedenen Gründen zu den «brennendsten» gezählt wird, und die selbst dann ihre grosse Tragweite nicht einbüssen wird, 'wenn sie einst, durch den Gesetzgeber dem äussern Anscheine nach gelöst, nicht mehr wie heute als unmittelbar praktische Frage zu behandeln sein wird.

Nicht das ganze Gebiet rechtsbildender Tätigkeit der staatlichen Gesetzgebungsgewalt unterliegt meiner Untersuchung; ich habe daher nicht nachzuspüren den allgemeinen Beweggründen, die im modernen Staate dazu geführt haben, der Gesetzgebungsfunktion eine so gewaltige und scheinbar unbegrenzte Ausdehnung zu verleihen, der Gesetzgebungsfunktion, die alles Recht, öffentliches wie bürgerliches Recht umspannt. Ich beschränke mich auf den herkömmlich unter dem allgemeinen Privatrecht zusammengefassten Stoff und auf seine durch den Gesetzgeber herbeizuführende Gestaltung. Für die Sonderung der beiden grossen Gebiete des Rechtes ist auch für uns noch massgebend jener Gesichtspunkt, den die römischen Juristen dahin formulirt hatten, dass sie sagten: publicum ins est quod ad statum rei Romanae spectat, privatum quod ad singulorum utilitatem pertinet. Es ist im wesentlichen die Zweckbestimmung und Zweckrichtung, nach der die Grenzlinie zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht zu ziehen ist. Ergibt sich schon daraus, dass die zu einer bestimmten Zeit getroffene Sonderung keine unabänderliche, ein für allemal zutreffende sein wird, so bestätigt die aus der Rechtsentwicklung zu gewinnende Erfahrung, dass gar manches Rechtsverhältnis bald unter privatrechtlichem, bald unter öffentlichrechtlichem Gesichtspunkt betrachtet und normirt worden ist; und gerade die moderne Rechtsentwicklung, die in der Zukunft noch weiter um sich greifen dürfte, lässt eine sichtliche Schmälerung der rein privatrechtlichen Fixirung vieler Lebenserscheinungen zu Gunsten ihrer Einfügung in das öffentliche Recht erkennen. Eine vollständige Absorption des privatrechtlichen Rechtsgebietes durch das öffentlichrechtliche dürfte übrigens solange nicht eintreten, als von Staat und Gesellschaft dem einzelnen Individuum und Gruppen von Individuen Interessensphären zugestanden werden,

deren Regelung im Sinne ausschliesslicher Berechtigungen und Verpflichtungen im Verhältnis der Privatrechtssubjekte zu einander zu erfolgen hat. Die höchsten Kulturinteressen wären gefährdet, wenn unter Aufhebung des Privatrechtes an dessen Stelle ein staatliches Verwaltungsreglement und eine staatliche Dienstinstruktion treten sollten; ebenso kulturfeindlich und gemeinschädlich ist die entgegengesetzte Strömung, die alles öffentliche Recht in privatrechtliche Kategorien hinein zu pressen bemüht ist, den individualrechtlichen Gesichtspunkten die öffentlichrechtlichen opfert, und die schliesslich keinen Wesensunterschied mehr macht zwischen dem Staat und den öffentlichrechtlichen Verbänden einerseits und einem. privatrechtlichen Verein andrerseits.

Während für die verschiedenen Zweige des öffentlichen Rechtes die Notwendigkeit und Nützlichkeit der Gesammtgesetzgebung, wie auch die der Einzelgesetzgebung längst erkannt und demgemäss unangefochten betätigt worden ist, wird gegenüber der Gesetzgebung auf privatrechtlichem Gebiete, insbesondere gegenüber der Privatrechtskodifikation, noch vielfach eine entschieden ablehnende Haltung eingenommen; hier wird die Unzulänglichkeit und Schädlichkeit der Gesetzgebung betont.

Die grundsätzlich entgegengesetzte Stellung zur Kodifikationsfrage und zu der damit in Verbindung gebrachten Frage der Entstehung und der Entwicklung des Rechtes, die im Jahre 1814 Thibaut und von Savigny, die hervorragendsten Romanisten ihrer Zeit, eingenommen hatten —jener in einer Flugschrift, dieser in einer zum Programm gewordenen Abhandlung —, hatte die deutschen Juristen in zwei Schulen geschieden; der Gegensatz dieser Schulen machte sich auch in der deutschen Schweiz recht deutlich bemerkbar. Die Schule Savignys, die Kodifikation des Rechtes energisch und geschickt

bekämpfend, nahm für sich den Titel einer geschichtlichen (historischen) Rechtsschule in Anspruch; der gegnerischen Schule, deren Haupt in patriotischer Begeisterung für die Kodifikation eingetreten war, wurde die Bezeichnung: ungeschichtliche (nicht-historische) Rechtsschule zu teil, auch philosophische Schule wurde sie genannt. Der eigentliche Schulengegensatz hörte nach wenigen Jahrzehnten auf; die Grundanschauung der historischen Schule über die Entstehung und Entwicklung des Rechtes war zu einem «Gemeingut der ganzen Wissenschaft» geworden. Damit musste jedoch die Kodifikationsfrage nicht notwendigerweise im Sinne Savignys ablehnend beantwortet werden. Diese Erkenntnis brach sich freilich nur sehr langsam Bahn. Eine stattliche Schaar Juristen, vorab Theoretiker, hieng zäh am Savignyschen Axiom fest, jeder Kodifikationsbestrebung feindlich gesinnt. Des öftern begnügte man sich mit dem gründlichen Fehlschluss: Savignys Standpunkt sei für seine Zeit unzweifelhaft der richtige gewesen, im Laufe des Jahrhunderts hätten sich indessen die Verhältnisse so sehr geändert, und zwar namentlich infolge der von Savigny veranlassten und durch ihn persönlich geförderten Entwicklung der Privatrechtswissenschaft, dass man jetzt zur Kodifikation befähigt sei. Die Praxis ihrerseits seufzte, so zu sagen ununterbrochen, nach den Bedürfnissen der Neuzeit entsprechenden privatrechtlichen Gesetzbüchern.

Einige der deutschen Staaten waren schon vor dem Jahre 1814 in den glücklichen Besitz selbst geschaffener oder von auswärts übernommener Civilgesetzbücher gekommen; in andern wurde seither die Kodifikation zwar in Angriff genommen, jedoch nur in sächsischen Gegenden erreichte man das erwünschte Ziel, und auch hier entsprach der Erfolg nicht den ursprünglich gehegten Erwartungen: das Königreich Sachsen nahm

das Gesetzbuch an, die Ausbreitung desselben in andere Staaten unterblieb. Nachdem aber im Jahre 1871 das neue deutsche Reich gegründet war, setzte sich das durch den Einheitsgedanken getragene Sehnen nach einem deutschen bürgerlichen Gesetzbuch kühn und vertrauensvoll über theoretische und praktische Bedenken hinweg; noch nicht fertig erstellt ist zur Stunde das herrliche und bedeutungsvolle Werk eines volkstümlichen deutschen bürgerlichen Gesetzbuches, an seinem Zustandekommen darf — soweit auf menschlicher Voraussage überhaupt Verlass ist — nicht mehr gezweifelt werden.

In der Schweiz konnte der Gegensatz zwischen Volksrecht und Juristenrecht, der das Rechtsleben in Deutschland so schwer und nachhaltig geschädigt hat, nicht entstehen. Die meisten denjenigen Kantone, in denen das Bedürfnis einer zusammenfassenden gesetzlichen Formulirung des bürgerlichen Rechtes vorlag, haben nicht gezögert, sich der Kodifikationsarbeit zu unterziehen; sie haben diese Arbeit in einer Weise gelöst, die des öftern als zutreffend, zum Teil als vortrefflich bezeichnet werden darf. Möge sich das zur Zeit in Sicht genommene, für die ganze Schweiz bestimmte Gesetzbuch in nicht zu ferner Zeit seinen besten kantonalen Vorgängern würdig an die Seite stellen!

Der Einfluss römischrechtlicher Anschauungen und die Macht des von Frankreich gegebenen Beispiels haben dazu geführt, für den modernen Staat auch für das Gebiet des bürgerlichen Rechtes das Postulat der Rechtseinheit aufzustellen. Als rein politisches Postulat aufgefasst, wird die Rechtseinheit mannigfache zum Teil wol begründete Anfechtung erfahren müssen. Man wird nicht ausser Acht lassen dürfen, dass die Gestaltung und Ausbildung des bürgerlichen Rechtes im grossen und ganzen von politischen Anschauungen und Empfindungen

unabhängig zu erfolgen hat. Man wird ferner Beispiele anführen dürfen, wie das durch den preussischen Staat gegebene, der während dieses Jahrhunderts trotz seiner bedeutenden Gebietserweiterungen keineswegs eine Ausdehnung der Geltung des preussischen Landrechtes auf den ganzen Umfang der Monarchie eintreten liess; besondere politische Nachteile erlitt deshalb der preussische Staat nicht. Ich möchte die politische Bedeutung der Rechtseinheit für einen Staat allerdings nicht vollständig in Abrede stellen; indessen dürfte das Postulat der Rechtseinheit auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts dann in zutreffenderer Weise begründet sein, wenn für dasselbe hauptsächlich wirtschaftliche und soziale Gründe geltend gemacht werden können.

Dass solche Gründe für Deutschland sowol wie für die Schweiz in der Gegenwart wirklich vorliegen, möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich festgestellt haben, ohne auf eine nähere Darlegung derselben im einzelnen eintreten zu können: Handels- und Gewerbefreiheit, Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit äussern ihre einschneidenden Wirkungen in hervorragendem Masse auf dem Gebiete des Privatrechtes; die Bedürfnisse des Verkehrs sind es, die zuerst energisch die Rechtseinheit verlangten und noch verlangen, aber auch im Interesse der übrigen Privatrechtszweige wird die Rechtseinheit gefordert.

Ist einmal die Einsicht durchgedrungen, dass die Privatsrechtsentwicklung auch da, wo sie sich nicht innerhalb des engsten Kreises der Gemeinde-, Mark- oder Thalschaftsgenossen bewegt, sondern wo sie auf der breiteren Basis des modernen Staates vor sich geht, eine «volkstümliche» sein kann, die den allgemeinen Bedürfnissen der Gesammtheit der Angehörigen des Staates gerecht wird, und ist insbesondere die Erkenntnis gefördert worden, dass gerade heutzutage die auf einen engern

Kreis von Genossen beschränkte Rechtsentwicklung leicht in eine einseitig schiefe ausartet, indem durch Sonderrücksichten bedingte Motive unter der Flagge der Allgemeingiltigkeit vorgebracht und geglaubt werden, so wird man die ein weiteres Gebiet umfassende Rechtsentwicklung als die zutreffende anerkennen müssen. Die Vereinheitlichung des Privatrechtes gewinnt endlich eine um so grössere Bedeutung, wenn wahrgenommen wird, wie in der Gegenwart für einzelne dem Verkehrsleben zugehörige Teile des Privatrechtes die Grenzen der einzelnen Einheits- oder Bundes-Staaten zu enge geworden sind, indem für dieselben mit Erfolg eine internationale Rechtsgemeinschaft und Rechtseinheit begründet worden ist.

In der Schweiz sollte meines Erachtens unter anderem das zur Zeit bestehende Verhältnis des eidgenössischen Rechtes zum kantonalen Rechte als besonderer Grund für eine prinzipielle Ersetzung der kantonalen Privatrechte durch ein einheitliches eidgenössisches Recht angesehen werden.

Die Schweiz besitzt seit einer Reihe von Jahren sowol eidgenössisches wie kantonales Privatrecht. Bei der Gründung des Bundesstaates mi Jahre 1848 dachte man nur schüchtern und vereinzelt an ersteres. Das Jahr 1874 brachte einen Kompromis in dem Sinne, dass diejenigen Teile der Privatrechtsordnung, deren einheitliche Regelung für die ganze Schweiz allgemein als nicht zu vermeidende Notwendigkeit angesehen wurde, dem eidgenössischen Gesetzgeber zugeschieden worden sind, ebenso einige derjenigen Gebiete, in denen die Kantone überhaupt kein Privatrecht anerkannt hatten oder nur ein höchst unentwickeltes, mangelhaftes aufweisen konnten; im übrigen sollte das Privatrecht prinzipiell Bestandteil des kantonalen Rechtes bleiben. Jede Grenzscheidung

der Rechtsnormen zwischen einem weitern Rechtskreis und einer Mehrheit engerer Rechtskreise verursacht sowol der theoretischen Ergründung, wie der praktischen Handhabung der Normen ausserordentliche Schwierigkeiten; denn kein Rechtsinstitut bildet ein in sich abgeschlossenes Gebilde, das eine isolirte Sonderexistenz führen könnte: die Normen des weitern und der engem Rechtskreise greifen auf die verschiedenartigste Weise in einander über. sie üben eine gegenseitige Wechselwirkung auf einander aus, und wie oft müssen nicht nebeneinander Rechtssätze des eidgenössischen und des kantonalen Rechtes angewandt werden. Eine zweckentsprechende Entwicklung wäre es, wenn in der Praxis das Verhältnis des eidgenössischen zu dem kantonalen Privatrecht in der Weise aufgefasst werden dürfte, dass stets jenes, als das den umfassenderen Geltungsbereich besitzende Recht, zum Ausgangspunkt genommen würde, und dass daher das kantonale Recht sich nach den dem eidgenössischen Recht zu Grunde liegenden Prinzipien zu richten hätte. Einen solchen Grundsatz in seiner Allgemeinheit für das Privatrecht aufzustellen, dazu hätte zur Zeit der eidgenössische Gesetzgeber schwerlich eine Kompetenz, und nur in bescheidenem Umfange haben ihm kantonale Gesetzgeber Geltung verschafft. Die Erfahrungen der Praxis belehren uns übrigens, dass bei dem gegenwärtigen Rechtszustand den Prinzipien des eidgenössischen Rechtes häufig die ihnen gebührende Wirkung im kantonalen Rechtsleben versagt bleibt.

Gerade die Schwierigkeiten, denen die teilweise Vereinheitlichung des bürgerlichen Rechtes, wie sie bis anhin in der Schweiz vorgenommen wurde, in der Praxis begegnet, ja beinahe notwendiger Weise begegnen muss, und das Gefühl der Unzufriedenheit, das entsteht über einen Zustand, in dem sich die Rechtsprinzipien des weitern Rechtskreises in hartnäckigem Kampfe gegenüber

denjenigen der engem Rechtskreise Anerkennung und Wirksamkeit zu erringen haben, lassen vermuten, dass bei gegenwärtiger Sachlage der Weg der Spezialgesetzgebung nicht der richtige sein kann, um zur Rechtseinheit durchzudringen. Es ist vielmehr eine Gesammtkodifikation des bürgerlichen Rechtes aufzustellen. Das durch diese geschaffene Recht und die in ihr enthaltenen Grundgedanken haben prinzipiell und absolut zu gelten, es wäre denn dass für einzelne genau umschriebene Partien die Rechtsentwicklung innerhalb kleinerer Rechtskreise als wünschenswert erschiene; soweit dies der Fall ist, aber nur soweit, mögen die innerhalb der kleinem Rechtskreise aufgestellten Grundsätze zur Anwendung kommen.

Es wäre denkbar, dass nicht infolge gesetzgeberischer Erlasse, sondern auf Grund der Rechtssprechung und Praxis die Rechtsverschiedenheit verschwinden und die Rechtseinheit Platz greifen würde. Es stehen Beispiele aus der Geschichte dafür zur Verfügung, dass die Rechtssprechung und Praxis das bisherige Recht nicht nur in einzelnen Punkten, sondern im ganzen aufgehoben und an seine Stelle ein neues Recht gesetzt haben. Die Grundlage für eine solche Rechtsentwicklung könnte auch heutzutage hergestellt werden; es würde ein Gesetz genügen des Inhaltes: dass eine bestimmte höchste Gerichtsinstauz des Landes bei Beurteilung der ihr vorliegenden Fälle nicht an die innerhalb kleinerer Rechtskreise entstandenen Gesetze und Rechtsgebräuche gebunden sei, sondern dass sie im Interesse und zum Zweck der Herstellung der Rechtseinheit im ganzen Lande ausschliesslich diejenigen Normen zur Anwendung zu bringen habe, die ihr «der Natur der Sache» am vollständigsten entsprechend erscheinen, und dass sie in Zukunft dieselben Normen bei Beurteilung gleicher Fälle für massgebend zu erachten habe.

Trotz einer solchen Möglichkeit muss dieser Weg der Erreichung der Rechtseinheit heutzutage sowol für Deutschland wie für die Schweiz entschieden als ungehbar ausser Erwägung fallen. Der Gesichtspunkt einer Verletzung des staatsrechtlichen Prinzips: der Gesetzgeber soll nicht Richter, der Richter nicht Gesetzgeber sein, fällt hierbei weniger in Betracht; ausschlaggebend scheint mir das Moment zu sein, dass durch den in Frage stehenden Weg in keiner Weise den Bedürfnissen der Gegenwart, den Anforderungen, die das heutige Leben an den bürgerlichen Rechtszustand stellt, Rechnung getragen würde. Die Rechtsverschiedenheit wird der Rechtsunsicherheit vorgezogen; der für die Zukunft verheissene ideale Rechtszustand nützt der Gegenwart nichts. Durch die blosse Tätigkeit der Rechtssprechung könnte das Ziel der Rechtseinheit nur in äusserst langsam vorwärts schreitender Entwicklung erreicht werden, und bis zur Erreichung des Zieles bestünde die grösste Rechtsungewissheit und damit ein bedenklicher Zustand von Willkür.

Wo eine staatliche Organisation für Herstellung der Rechtseinheit vorhanden ist, da kann die Rechtseinheit nicht durch die Rechtsgleichheit ersetzt werden. In der Schweiz ist wiederholt die Anregung gemacht worden, das Privatrecht zu unificiren statt zu centralisiren, mit andern Worten: jeder Kanton soll sein bürgerliches Recht so gestalten, dass dasselbe inhaltlich übereinstimmt mit dem Recht der übrigen Kantone; jeder Kanton soll in Ausübung seiner Gesetzgebungshoheit den von den Kantonen gemeinschaftlich auszuarbeitenden Entwurf eines Privatrechtes als sein Privatrecht anerkennen. Theoretisch lautet dieser Vorschlag sehr einfach, praktisch ist derselbe in der Gegenwart wenigstens undurchführbar. Seine Undurchführbarkeit wird durch die Geschichte der schweizerischen Konkordate

und Konkordatsbestrebungen dargetan, bei denen es sich darum gehandelt hat, durch Vereinbarung zwischen den Kantonen einheitliche Rechtsgrundsätze auf verschiedenen Gebieten für den gegenseitigen Verkehr sowol, wie auch zum Teil für den Verkehr im Innern der Kantone einzuführen. Die Geschichte der kantonalen Privatrechte in diesem Jahrhundert zeigt sodann, dass die Kantone, trotz der prinzipiellen Anlehnung ihres Rechtes an das Recht anderer Kantone und trotz des von ihnen zugestandenen, hin und wieder recht lebhaft gefühlten Bedürfnisses der Rechtsgleichheit, die mannigfachsten Rechtsverschiedenheiten sanktionirten und zahlreiche Abweichungen von dem Mutterrecht glaubten beibehalten zu müssen. Schliesslich sei der jüngsten Entwicklung des Baslerrechtes in der Stadt einerseits und auf der Landschaft andrerseits gedacht. Hätten die beiden Kantonsteile eine einheitliche Rechtsquelle, so würde doch wol, in Vollendung einer längst begonnenen Entwicklung des bürgerlichen Rechtes, das in der Landschaft geltende Erbrecht mit dem städtischen Erbrecht vollständig übereinstimmen; ich halte mit der Behauptung nicht zurück, dass die erbrechtlichen Verschiedenheiten beider Rechte nicht auf gesetzgeberischen Erwägungen beruhen, die vor der Kritik eines nicht durch allerlei Vorurteile befangenen Beurteilers Stand halten könnten. . -

In den Mittelpunkt der Erörterung über die Kodifikation des bürgerlichen Rechtes ist in der deutschen Litteratur zu oft und zu ausschliesslich das Interesse der Rechtswissenschaft gestellt worden. In neuester Zeit glaubte man «als entscheidenden Grund für die Notwendigkeit der Kodifikation» das «Bedürfnis der deutschen Jurisprudenz nach einem einheitlichen gleichmässig

das Objekt der Theorie und der Praxis bildenden Rechte» (E. Hölder) betrachten zu können; in früherer Zeit dagegen wurde der mutmassliche oder sichere Einfluss der Kodifikation auf die Entwicklung und Gestaltung der Jurisprudenz untersucht, und es wurde wegen dieses Einflusses die Nützlichkeit und Notwendigkeit der Kodifikation bestritten.

Das römische Recht ist zu Anfang dieses Jahrhunderts durch die Tätigkeit der historischen Rechtsschule Gegenstand einer blühenden Wissenschaft geworden; an die modernen Privatrechtsgesetzbücher dagegen schloss sich zunächst keine nennenswerte wissenschaftliche Litteratur an. Erst allmählich, zum Teil unter Einfluss der gemeinrechtlichen Litteratur wurden auch diese Gesetzbücher in den Bereich historischer und dogmatischer Untersuchungen gezogen. In der Litteratur des gemeinen römischen Rechtes ist zwar mancher naturrechtliche Zopf hängen geblieben, und die gemeinrechtliche Litteratur ist des öftern verunziert worden durch eine hässliche «Begriffsjurisprudenz», die, eine Art moderner Scholastik, kein Verständnis für die Erscheinungen des wirklichen Lebens hat. Schon Savigny hatte den Uebelstand einer stets wachsenden Scheidung zwischen Theorie und Praxis beklagt; aber gerade ihn und seine Schule trifft schwere Schuld, dass diese Scheidung zwischen Theorie und Praxis nicht abnahm, sondern im Gegenteil zunahm. In den Gebieten der kodificirten Privatrechte macht sich —begünstigt durch die in ein Gesetzbuch gebrachte Form des Rechtes — leicht eine geistlose, handwerksmässige Rechtssprechung breit, die sich nur an den Gesetzesbuchstaben anzuklammern weiss und aus einer faden Kommentarlitteratur, ihrer unentbehrlichen Stütze, all ihr Wissen schöpft. Unrichtig wäre jedoch die Behauptung, dass solche Rechtssprechung und solche Litteratur das notwendige Resultat der Kodifikation

sind; denn es fehlen uns Gebiete kodificirten Rechtes nicht, auf denen sich eine freie, nicht nur den Geist des Rechtes tief ergründende, sondern auch dem tatsächlichen Leben voll und ganz gerecht werdende Rechtssprechung entwickelt hat, eine Rechtssprechung, die neben dem Gesetzestexte eine vortreffliche Grundlage für eine wissenschaftliche, die Gefahr einer Scheidung zwischen Theorie und Praxis ausschliessende Durchdringung des Rechtes bildet. -

Wir sagen also: die Wissenschaftlichkeit oder Unwissenschaftlichkeit der Rechtssprechung und das Blühen oder Siechtum der Rechtswissenschaft hängen nicht davon ab, ob das Privatrecht kodificirt sei oder nicht, ebensowenig hängt davon ab die Gefahr einer eintretenden Kluft zwischen Theorie und Praxis. Allerdings ist die Aufgabe der Rechtswissenschaft gegenüber einem neuerdings kodificirten Rechte nicht die gleiche wie gegenüber einem Rechte, das seit Jahrzehnten, vielleicht seit Jahrhunderten in der Praxis geübt wurde und in der Theorie vielfältige Bearbeitung erfahren hat. Aber jene Arbeit ist keine rein dogmatische, sowenig wie diese eine ausschliesslich historische ist. Mit der Zusammenfassung des Privatrechtes in einem Gesetzbuch ist die Brücke zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart nicht abgebrochen, im Gegenteil' die Beziehungen zwischen dem alten und dem neuen Recht, die Entstehung dieses aus jenem müssen genau erforscht und gewürdigt werden; und sodann genügt es bei einem nicht auf Kodifikation beruhenden Rechte nicht, den ursprünglichen Sinn einer Rechtsvorschrift aufzuhellen, um ihre Anwendung in eben diesem Sinne für die Gegenwart zu postuliren, vielmehr muss der Wert und die Bedeutung der Vorschrift im Zusammenhang mit dem ganzen übrigen Rechtsstoff und den praktischen Anforderungen der Gegenwart erkannt werden.

Nicht auf das Interesse der Rechtswissenschaft kommt es bei der Privatrechtskodifikation zunächst an, sondern auf das Interesse des bürgerlichen Lebens; nicht die Interessen des Standes der Juristen, sondern die Interessen des Volkes in seiner Gesammtheit sind bei dieser Frage beteiligt, und das Interesse sämmtlicher Rechtsgenossen muss daher bestimmend und massgebend sein. Meines Erachtens verlangt aber das wolverstandene Interesse des Volkes den Erlass umfassender Gesetzbücher des bürgerlichen Rechtes. Das Bedürfnis der Gegenwart besteht nicht nur darin, ein volkstümliches Recht zu erhalten und zu behaupten, sondern auch darin, dieses Recht in einem volkstümlichen Gesetzbuch zu besitzen. Fehlt diese volkstümliche Form des Rechtes, so ermangelt eine wesentliche Voraussetzung für die Möglichkeit der Volkstümlichkeit des Rechtes selbst. Nicht in einer dem gemeinen Manne fremden Sprache, sondern in einer ihm verständlichen Sprache soll das Recht formulirt sein. Dabei ist unsere Meinung nicht die, dass beim Vorhandensein eines volkstümlichen Gesetzbuches die juristisch geschulten Berater des Publikums entbehrlich würden; nicht einmal das darf angenommen werden, dass ein solcher Kodex überhaupt jedem in gleicher Weise verständlich sein müsse; denn «thöricht» ist die Vorstellung, ein volkstümliches Gesetzbuch sei eine Art «Hausapotheke» (Gierke). Wie aber dem ordentlichen Kaufmann das Verkehrsrecht so geläufig ist, dass er auch ohne besondere juristische Schulung sein Handelsgesetzbuch zu Rate zu ziehen weiss, so soll auch dem verständigen Bürger die Möglichkeit geboten werden, aus einem bürgerlichen Gesetzbuch Aufschluss zu gewinnen über die Privatrechtsverhältnisse, in die er zu den verschiedenen Zeiten seines Lebens tritt.

Die tatsächlichen Erfahrungen sprechen durchaus für die hier vertretene Auffassung. Um nur das wichtigste

Beispiel anzuführen, sei das französische Civilgesetzbuch erwähnt. Der Code Napoleon ist in ganz hervorragendem Masse ein volkstümliches Gesetzbuch. Selbst in deutschen Ländern, wo man die unmittelbare Wirkung des französischen Urtextes entbehren und sich mit einer dürftigen Uebersetzung begnügen musste, hatte man kein Verlangen darnach, dieses Gesetzbuch durch eines der in Deutschland entstandenen zu ersetzen, und noch viel weniger ein Verlangen darnach, den sichern Besitz des Code Napoleon mit dem corpus iuris civilis und dem zweifelhaften Gewinn des gemeinen römischen Rechtes einzutauschen. Und so ist es nicht das Bedürfnis der Juristen, sondern das Bedürfnis des Volkes, das in den noch übrig gebliebenen Gebieten des gemeinen römischen Rechtes die Aufhebung desselben, vorab die Aufhebung der Geltung der römischen Rechtsquellen erheischt. Diese Aufhebung hat also nicht zu erfolgen wegen der «innern Schlechtigkeit der mehrsten Bestimmungen des römischen Rechtes» (Thibaut), um an seine Stelle ein angebliches Vernunftrecht zu setzen; sie hat ferner nicht zu geschehen, um das römische Recht in allen seinen Teilen definitiv zu beseitigen und an seine Stelle ausschliesslich Rechtssätze nationalen Ursprungs und daher einheimischen Gepräges in Wirksamkeit treten zu lassen. Mit der Ersetzung der römischen Rechtsquellen durch ein modernes bürgerliches Gesetzbuch hat zwar die .Reception des römischen Rechtes in Deutschland ihr Ende erreicht; sie ist überwunden. Nach wie vor wird aber das römische Recht Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung bleiben, und bei den römischen Juristen wird das lebende Geschlecht und werden künftige Generationen in die Schule gehen, um ihnen die Kunst juristischen Denkens, die sie in oft wundervoller Vollendung geübt haben, abzulauschen und diese Kunst sich selbst anzueignen.

Verhängnisvoll für die Kodifikationsfrage waren und sind heute noch die beidseitigen Uebertreibungen, deren sich Anhänger wie Feinde der Kodifikation haben zu Schulden kommen lassen, jene in der Wertschätzung,. diese in der Geringschätzung. Die unzähligen alten wie neuen Kontroversen des gemeinen Rechtes konnten weder durch die Rechtssprechung noch durch die Rechtswissenschaft jemals definitiv beseitigt werden. Nur die Gesetzgebung kann hier Abhilfe bringen. Kontroversen könnten zwar durch Spezialgesetze geschlichtet werden; ebenso könnte die «Sehnsucht nach gesetzlicher Befreiung von so. manchem innerlich abgestorbenen Rechtssatz» des römischen Rechtes durch die Spezialgesetzgebung befriedigt werden. Diese ist jedoch da nicht mehr ausreichend, wo das corpus iuris civilis als eigentliche Rechtsquelle ausser Kraft zu setzen ist, und wo es sich um die Neugestaltung des Privatrechtes in seiner Gesammtheit handelt. Sodann darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Gesetzgebung kühner und. kraftvoller in die Rechtsentwicklung einzugreifen und dieser Wege zu weisen im stande ist, als die naturgemäss stets zögernde und bedächtige Rechtssprechung. Alles kann aber die Kodifikation nicht leisten. Kein gesetzgeberisches Werk wird sämmtliche Streitfragen aus der Welt schaffen; im Gegenteil, neue werden entstehen und selbst alte werden fortwuchern. Die bisherigen Erfahrungen kann und soll der Gesetzgeber möglichst vollständig verwerten. Eitel ist aber die Hoffnung, alles, was die Zukunft in ihrem Schoosse birgt, jetzt schon überschauen und normiren zu können.

Mit Unrecht tritt demnach das vorn modernen Staat erlassene Gesetzbuch des bürgerlichen Rechtes mit dem Anspruch der Vollständigkeit und der Ausschliesslichkeit in Kraft. Es herrscht nämlich die Meinung, in dem erlassenen Kodex sei ausdrücklich oder implicite für

jede privatrechtliche Frage eine Antwort, für jede entstehende Schwierigkeit eine Lösung zu finden; neben diesem Kodex wird daher keine andere Rechtsquelle anerkannt.

Diese Auffassung findet ihren charakteristischen Ausdruck in der Vorschrift, dass für die im Gesetzbuch nicht geregelten Verhältnisse «die für rechtsähnliche Verhältnisse gegebenen Vorschriften» und in Ermangelung solcher «die aus dem Geiste der Rechtsordnung sich ergebenden Grundsätze» massgebend sein sollen, und in der weitern Vorschrift, dass dem Gewohnheitsrecht keine Wirksamkeit mehr zukommen soll. Ich unterlasse es, den fatalen Konsequenzen einer solchen Auffassung für das Rechtsleben im einzelnen nachzugehen; sie erschwert und hemmt in nutzloser Weise die Kodifikationsarbeit und führt schliesslich zu einer bedenklichen und gefährlichen Erstarrung des Rechtes.

Dass das Gesetzesrecht die hervorragendste Rechtsquelle der neuern Zeit ist, sei nicht nur nicht bestritten; sondern es sei ausdrücklich betont, dass auf dem Wege dieser Rechtsquelle die Bedürfnisse des modernen Lebens am sichersten und leichtesten Befriedigung erfahren. Ob von der Gesetzgebung stets der richtige Gebrauch gemacht worden ist, lassen wir dahingestellt. Dass ferner die einzelnen positiven und negativen Gesetzesvorschriften in der Praxis und Rechtssprechung gewissenhaft befolgt werden müssen, ist unbedingt die Erwartung des Gesetzgebers, und der Richter kann ohne schwere Verletzung seiner Amtspflicht das geltende Gesetzesrecht nicht ausser Acht lassen. Daneben ist aber auch das Gewohnheitsrecht, das in der Praxis geübte, vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich fixirte Recht als Rechtsquelle anzuerkennen. Denn noch niemals haben bis jetzt irgend welche Gesetzesvorschriften die reiche Mannigfaltigkeit der Lebensverhältnisse erschöpft, und sie werden

dieselbe nie erschöpfen, sei es nun dass der Gesetzgeber sich in einer kasuistischen Unendlichkeit ergeht, sei es dass er die Form der Festsetzung allgemeiner Rechtsprinzipien und deren Konsequenzen wählt. Stets bleibt ein grosser Raum übrig für eine durch die Rechtssprechung und Praxis vorzunehmende Ergänzung des Gesetzesrechtes und für eine Ausfüllung der Lücken desselben; es bleibt ferner Raum übrig für eine Weiterentwicklung und für eine Entfaltung der im Gesetzesrecht enthaltenen (ausgesprochenen und nicht ausgesprochenen) Gedanken; auch der Fall wird eintreten, dass die Praxis die scheinbare Tragweite des Gesetzestextes in zweckentsprechender Weise einschränkt und abschwächt; und die Rechtssprechung kann im Laufe der Zeit selbst dazu geführt werden, dem Gesetzestext eine von der ursprünglichen Interpretation prinzipiell abweichende Interpretation zu teil werden zu lassen.

Die Praxis hat vom Gesetzestext auszugehen; sie darf aber an demselben nicht kleben bleiben. Die Praxis wird die Bestimmungen des Gesetzes analog anzuwenden haben; diese analoge Anwendung soll aber keine rein mechanische, geistlose sei: eine sorgfältige Prüfung hat darüber vorauszugehen, welche der verschiedenen möglicher Weise analog zur Anwendung zu bringenden Vorschriften als die geeignetste erscheint, und in welchem Umfang die Analogie zu verwerten ist; statt die analoge Anwendung einer bestimmten Gesetzesvorschrift zu verlangen, ist es vielleicht zutreffender, eine ganz neue Regel aufzustellen und zwar eine solche, die sich ergibt aus der Berücksichtigung und der gegenseitigen Abwägung der Gesammtheit der das zu beurteilende Verhältnis bestimmenden Faktoren, d. h. also eine in diesem Sinne aus der Natur der Sache gewonnene Regel. Endlich ist es für denjenigen, der ein Verständnis für die Frage der Rechtsentwicklung hat, keine auffallende Erscheinung,

dass selbst da, wo das Recht in die Form von Gesetzen und Gesetzbüchern gebracht ist, die Erfahrung der «Umwertung» des Gesetzestextes in grösserem oder geringerem Umfange gemacht worden ist und auch in Zukunft gemacht werden wird; darnach kann eine Rechtsvorschrift aufhören, Rechtsbeziehungen zu beherrschen, die sie ursprünglich beherrscht hat, und umgekehrt werden auf Grund derselben Rechtsverhältnisse beurteilt, die ursprünglich nach andern Gesichtspunkten beurteilt worden sind.

Das ist die Macht der Praxis und die Macht des in ihr zur Herrschaft gelangenden Gewohnheitsrechtes!

Wer aber als Richter, auf den Gesetzestext sich berufend, die ursprüngliche Tragweite desselben wieder herzustellen unternähme, würde nicht nur Verständnislosigkeit für die Rechtsentwicklung bekunden, sondern sich geradezu einer Rechtsbeugung schuldig machen; denn der Richter hat das geltende Recht zur Anwendung zu bringen, und auch Gewohnheitsrecht ist Recht.

Weit übertrieben waren die Erwartungen, die man einst, da der Glaube an ein allgemeines, aus der Vernunft zu deducirendes Naturrecht herrschte, auf den Erlass eines bürgerlichen Gesetzbuches setzte; man träumte «Bürgerglück», man erwartete eine Art absoluter Rechtseinfachheit, Rechtsgewissheit und Rechtssicherheit, man sah «die angefochtene Unschuld wider die gewöhnlichen Advokatenkünste» (Thibaut) geschützt. Diese Erwartungen konnten sich nicht erfüllen. Ebensowenig werden sich erfüllen die Erwartungen, die heutzutage an die Kodifikation hinsichtlich ihrer absoluten Vollständigkeit und ihrer untrüglichen Zuverlässigkeit geknüpft werden.

Bei der Kodifikationsarbeit handelt es sich um eine umfassende Formulirung des Privatrechtes in einer Reihe von die Rechtsprinzipien und deren Folgerungen enthaltenden

Rechtssätzen (Rechtsbefehlen) und zwar in systematischer Anordnung und Entwicklung. Diese Arbeit ist eine wissenschaftliche. Um im stande zu sein, eine Kodifikation des Rechtes in annähernd .genügender Weise anzufertigen, muss eine intensive wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Rechte vorausgegangen sein. Die Kodifikationsarbeit ist daher von Juristen vorzunehmen. Die Bedeutung und Stellung der Juristen bei der Rechtskodificirung ist jedoch im Prinzip bloss die der Bildner des Rechtsstoffes, nicht dagegen die der Schöpfer des Rechtsstoffes. Nur die Formulirung, nicht auch die Erzeugung des Rechtes steht ihnen zu. Nicht dem eigenen Kopfe entnehmen sie den zu gestaltenden Rechtsstoff; dieser wird ihnen vielmehr gegeben aus der Mitte, in der sie leben und wirken, hier finden sie ihn vor. Infolge berufsmässiger Beschäftigung mit dem Recht mögen die Juristen besonders befähigt sein, die Tragweite einer in Anregung gebrachten Bestimmung rasch zu überblicken und leicht zu bestimmen; aber über den praktischen Wert und die Zweckmässigkeit derselben sollen sie wenigstens nicht allein entscheiden. Die formalistische Korrektheit und die scheinbar elegante juristische Konsequenz sind nicht der Endzweck privatrechtlicher Gesetzgebung. Und so ergibt sich, dass nicht nur Juristen und die gesetzgebenden Behörden sich mit der Frage des Inhaltes des bürgerlichen Gesetzbuches beschäftigen sollen, sondern dass in dieser oder jener Weise die Beteiligung der verschiedenen Berufsstände, die Beteiligung des ganzen Volkes — ein jeder lebt ja in Privatrechtsverhältnissen — als notwendig erscheint.

Es kann keineswegs unsere Aufgabe sein, an dieser Stelle die Kodifikationsarbeit im einzelnen zu verfolgen; nur zwei Fragen, die für die Beschaffenheit eines Gesetzbuches

von grundlegender Bedeutung sind, seien in Kürze hervorgehoben; es ist dies zunächst die Frage der Form, sodann die Frage des Inhaltes.

Als «das einzig erstrebenswerte Ideal eines Gesetzbuches» ist von einem geistreichen Rechtslehrer (Zitelmann) hingestellt worden: «ein Werk, welches auch wirklich den vollen Reichtum der rechtlichen Vorkomnisse geistig vorauszubestimmen versucht, ein Werk, welches aus möglichst vollständiger Durchdenkung der Einzelheiten heraus induktiv zu so allgemeinen und genauen Sätzen kommt, dass dem Richter in jedem Fall die Wege seines Urteils fest gewiesen sind. Dass ein solches Gesetzbuch schwer verständlich, wenig anschaulich, unvolkstümlich wird, ist ein Nachteil, den wir in den Kauf nehmen müssen».

Glücklicher Weise wird man vergeblich darnach trachten, ein solches Idealwerk herzustellen; wir haben schon hervorgehoben, dass die Vorkomnisse des Lebens viel zu verschiedenartig sind, als dass die Weisheit irgend eines Gesetzgebers ihren zutreffenden rechtlichen Gehalt je vollständig vorausbestimmen könnte. Aber selbst wenn das gedachte Idealwerk hergestellt werden könnte, so müsste dennoch von demselben. abgesehen werden, sobald man erwägt, dass das Gesetzbuch kein Geheimbuch für einen beschränkten Kreis eingeweihter Wissender sein und werden soll, sondern ein Buch, das sich an die Gesammtheit der Rechtsgenossen zu wenden hat.

Der mitgeteilte Ausspruch charakterisirt übrigens eine wissenschaftliche Richtung, die unter den deutschen Juristen einen ansehnlichen Anhang zählt, eine wissenschaftliche Richtung, welche die unendlich reiche Fülle des vielgestalteten Lebens zu bannen und zurückzuführen bemüht ist auf eine verhältnismässig kleine Reihe scharfer und genau bestimmter Formeln, eine Richtung,

die glaubt, Rechtsbegriffe wie mathematische Formeln handhaben zu können. Was die römischen Juristen nicht getan haben, das erstreben moderne Juristen: nämlich das «Rechnen mit den Rechtsbegriffen». Dass für eine solche Richtung das Gesetzbuch eine besondere juristische Kunstsprache sprechen muss, ist selbstverständlich. Wol soll sich im Gesetzbuch ein konsequent eingehaltener Sprachgebrauch vorfinden. der möglichst genau und präzis das zu Bezeichnende charakterisirt; dieser Sprachgebrauch soll aber nicht abweichen von dem der Umgangssprache. Wol soll der Gesetzgeber bei Aufstellung der Rechtssätze von einer kasuistischen Normirung der einzelnen Fälle absehen und die Gesammtheit gleich zu normirender Tatbestände unter eine einheitliche allgemeine Rechtsnorm bringen; damit ist aber nicht gesagt, dass es ihm verwehrt wäre, eine spezialisirende, jedoch sehr plastische und anschauliche Ausdrucksweise da zu verwenden, wo die allgemeinere vielleicht vollständiger, jedoch farbloser wäre. Und nichts weniger wie zu billigen ist es, wenn bei der Formulirung der Rechtssätze darauf Bedacht genommen wird, dass die gefundene Formel von vorneherein gegen Angriffe und sophistische Verwertung eines findigen Advokaten geschützt ist; nicht für diesen wird das Gesetzbuch erlassen, und gegen seine Angriffe sollte doch das Gesetzbuch hinlänglich durch einen vernünftigen Richter geschützt sein.

Manches ist vom Standpunkt der heutigen Rechtswissenschaft gegen die Fassung der Rechtssätze im französischen Civilkodex einzuwenden: hin und wieder ist sie viel zu allgemein, oft aber auch allzu sehr spezialisirend, in beiden Kategorien von Fällen also ungenau; geht dort der Wortlaut des Gesetzes über die Bedeutung des Rechtssatzes hinaus, so deckt er diesen dagegen hier nicht; und doch hat hieran eine gesunde Rechtssprechung nicht Schaden genommen. Das Gesetzbuch

ist ein volkstümliches geworden und geblieben, und hiezu haben nebst anderen Gründen insbesondere auch jene Sätze beigetragen, die in ihrer Fassung zwar nicht immer vollständig korrekt sind, die aber durch ihre Kürze und Anschaulichkeit den Wert von Rechtssprichwörtern haben; allerdings muss hervorgehoben werden, dass viele dieser Sätze bereits vor Erlass des Code Napoleon nicht nur in der französischen Rechtslitteratur gebräuchlich waren, sondern auch in des Volkes Munde lebten.

Bei der Ausarbeitung des Entwurfes eines deutschen bürgerlichen Gesetzbuches (1. Lesung) waren die Mitglieder der Kommission bestrebt, sich einer in konsequenter Technik durchgeführten deutschen Rechtssprache zu bedienen, sowie sich möglichster Kürze zu befleissigen und sich von Kasuistik frei zu halten. Die Terminologie ist im Entwurf möglichst konsequent gehandhabt, die Kasuistik fehlt, auch dem Postulat der Kürze ist das Werk nicht untreu. Das Resultat aber war: ein Entwurf, geschrieben in einem höchst bedenklichen abstrakten Juristendeutsch, gerade wegen seiner Fassung nicht nur für den Laien, sondern selbst für den geschulten Juristen schwerverständlich.

Nicht unter allen Umständen ist die Arbeit des Kodifikators hinsichtlich der Gestaltung des in den Kodex aufzunehmenden Rechtsstoffes ein und dieselbe. Hiebei lasse ich ausser Betracht die Frage der Abgrenzung des gemeinen Rechtes gegenüber dem in Spezialgesetzen zu normirenden Sonderrecht (wie Handels-, Gewerbe- und Industrierecht), ebenso die Frage der Abgrenzung des gemeinen Rechtes gegenüber dem in engem Rechtskreisen auszubildenden Partikularrecht. Ich möchte aber darauf aufmerksam machen, dass, mit Rücksicht auf das bisherige Recht oder mit Rücksicht auf den herbeizuführenden Rechtszustand, eine Reihe von Rechtssätzen, namentlich Folgerungen aus den zu sanktionirenden

Prinzipien oder Ablehnung bestimmter Folgerungen aus den selben, der Rechtsgewissheit wegen entweder ausdrücklich ausgesprochen werden müssen oder angeblich als selbstverständlich — wenigstens im Zeitpunkt der Kodifikation — mit Stillschweigen übergangen werden können. Durch ein solches Verfahren erleidet der einheitliche Gesammtcharakter des Gesetzbuches nur scheinbar Abbruch; denn niemals wird für alle Teile des bürgerlichen Rechtes das Bedürfnis und die Notwendigkeit einer gleichmässig detaillirten Behandlung vorhanden sein. Immerhin liegt in der Unterlassung des ausdrücklichen Aussprechens eines Rechtsprinzips oder in der namentlichen Hervorhebung oder Ablehnung einer Folgerung eines Rechtsprinzips oft der Keim einer Rechtsentwicklung, die zur Zeit der Kodifikation nichts weniger wie beabsichtigt war; hierin aber einen womöglich von Anfang an zu vermeidenden Uebelstand zu erblicken, halte ich durchaus nicht für gerechtfertigt. Auch die Ausdehnung des Geltungsgebietes des zu erlassenden Gesetzbuches muss der Kodifikator berücksichtigen. Ein Gesetzbuch, bestimmt für das Rechtsleben eines umfangreichen Landes Norm zu sein, wird einlässlich neben den leitenden Rechtsprinzipien nach den verschiedensten Richtungen hin auch die Folgesätze und die Ausnahmen auszusprechen haben; wo dagegen das Geltungsgebiet des Gesetzbuches ein beschränktes ist, da kann man seltene, in dem kleinen Gebiet kaum je sich ereignende Ausnahmefälle unberücksichtigt lassen und sich begnügen mit der Festsetzung der die praktisch wichtigen und häufigeren Fälle treffenden Regeln.

Praktisch bedenklich und theoretisch unhaltbar scheint mir die Ansicht derjenigen zu sein, die behaupten, die Kodifikationsarbeit habe sich zu beschränken auf eine neue Formulirung des bereits geltenden Rechtes, oder wenn es sich um die Herstellung der Rechtseinheit

auf einem bisher von verschiedenen Rechten beherrschten Gebiet handelt, sie habe eine mehr oder weniger glückliche Auswahl und Kombination von Rechtssätzen aus diesen Rechten zu treffen. Im Gegenteil, jede Kodifikation soll eine «Reformation» des Rechtes bedeuten. Nicht nur sind Kontroversen zu schlichten und dem Leben fremd gewordene Rechtssätze auszuscheiden, sondern es ist auch neuen, nach Verwirklichung strebenden: Rechtsanschauungen Rechnung zu tragen, und selbst vor weitgehenden Neuerungen darf der Gesetzgeber nicht zurückschrecken.

Indem wir diese Anschauungen vertreten, kehren wir nicht etwa zu der naturrechtlichen Auffassung zurück, die durch die Kodifikation und in derselben ein völlig neues Recht hervorzubringen hoffte; wir geben vielmehr zu, dass auch das künftige bürgerliche Recht in manchen seiner Grundgedanken und in hundertfältigen Detailvorschriften dem bisherigen Recht ähnlich sein wird, ja mit ihm übereinstimmen muss. Damit ist aber nicht gesagt, dass nicht, gleich wie in der Spezialgesetzgebung, auch anlässlich der Kodifikation die bisherige Rechtsentwicklung unterbrochen werden müsse und neue Gedanken in das Recht aufzunehmen sind.

Mag die Tatsache des Anerkanntseins einer bestimmten Reihe von Rechtssätzen im geltenden Recht diesen einen Anspruch auf Fortbestehen im künftigen Rechte gehen, so gilt dieser Anspruch doch nur sehr bedingt. Denn nur das soll Recht sein und Recht werden, was als nützlich und notwendig erscheint im Zusammenhang mit den die Gegenwart bewegenden Ideen, mit den von der Gegenwart zu befriedigenden ethischen, nationalen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedürfnissen. Der ungeheure Erfolg, den das französische Civilgesetzbuch sofort nach seinem Erlass hatte, beruht nur zum Teil auf dem Machtspruch Napoleons, zum Teil

beruht er auch auf seinem innern Wert, insbesondere darauf, dass in ihm, trotz aller Abhängigkeit vom bisherigen Recht, gewisse Grundanschauungen und Tendenzen der Revolution — die jene Zeit bewegenden Faktoren — Aufnahme und Durchführung gefunden haben: die Ideen der Freiheit und Gleichheit der Personen, der Sicherheit und Unverletzlichkeit des Eigentums, der Sicherheit des Verkehrs und der Beseitigung der Beschränkungen des Verkehrs u. a. m.

Diese Erwägungen zeigen zugleich, wie ausserordentlich schwierig die Kondifikationsarbeit in der Gegenwart ist und in der nächsten Zukunft sein wird!

Die Entwicklung des modernen allgemeinen Privatrechtes beruht auf einer durch und durch individualistischen und kapitalistischen Grundauffassung. Hiefür die Reception des römischen Rechtes ausschliesslich verantwortlich zu machen, erscheint nicht gerechtfertigt; soviel dürfte indessen richtig sein, dass für diese Entwicklung das recipirte römische Recht ein besonders geeigneter Nährboden war. Diese Entwicklung hat übrigens ihren Höhepunkt bereits überschritten. Die Sozialgesetzgebung der neueren Zeit hat zum Schutze der ökonomisch Schwachen manche Bresche dem stolzen Gebäude des angeblich einzig juristisch korrekten und haltbaren modernen Privatrechtsystemes beigebracht; zum Lobe eidgenössischer Civilgesetzgebung sei hervorgehoben, dass sowol das Obligationenrecht wie das Zwangsvollstreckungsrecht der Schweiz einige nicht unbedeutende Abweichungen von der Auffassung eines schroffen und unbarmherzigen Rechtsindividualismus enthalten.

Die Vertragsfreiheit wird zwar auch im künftigen Privatrecht eine der Grundlagen des Schuldrechtes bleiben; aber es wird der Satz: «dass schrankenlose Vertragsfreiheit sich selbst zerstört», sorgfältiger erwogen werden müssen, als solches bis anhin geschah; denn

«eine furchtbare Waffe in der Hand des Starken, ein stumpfes Werkzeug in der Hand des Schwachen wird sie zum Mittel der Unterdrückung des Einen durch den Anderen. der schonungslosen Ausbeutung geistiger und wirtschaftlicher Uebermacht» (Gierke). Dass hierbei in erster Linie der Dienstvertrag in seinen mannigfachen Formen und der Miet- und Pachtvertrag, namentlich die städtische Wohnungsmiete, in Betracht fallen, ist einleuchtend. Neben das umfangreich auszugestaltende Gebiet der Schadenersatzpflicht wegen schuldhafter Weise zugefügten Unrechts hat als gleichwertiges, nicht als minderwertiges Gebiet die Haftpflicht aus blosser Verursachung zu treten; diese sowenig wie die absolute oder relative Haftung für das Handeln bestimmter Drittpersonen darf mit der Begründung von der Hand gewiesen werden, sie sei juristisch nicht konstruirbar.

Die persönliche Schuldhaft ist, weil den modernen sittlichen Anschauungen widersprechend, seit einigen Jahrzehnten allgemein fallen gelassen worden. Weniger feinfühlend ist unsere Zeit bei Vertreibung des Schuldners von Haus und Hof, bei Wegnahme von Hab und Gut; wie mancher Jurist scheut sich nicht zu rechtfertigen, ja geradezu zu fordern, dass der insolvente Schuldner — ohne Rücksicht darauf, wie die Zahlungsunfähigkeit entstanden — mit Frau und Kind halbnackt auf die Strasse gestellt werde, und doch haben der Staat und die Gesellschaft ein bedeutendes Interesse daran, dass der Bürger nicht aller Mittel, die für sein Fortkommen und für dasjenige seiner Familie notwendig sind, entblösst werde. Deshalb wird nicht nur auf die Frage der unpfändbaren Vermögensobjekte grosses Gewicht, zu legen sein, sondern es wird überhaupt das Gebiet der persönlichen Haftbarkeit einzuschränken und zum Teil durch unpersönliche Vermögenshaftung zu ersetzen sein. Gewiss war es keine der unfruchtbarsten

Ideen, die verlangte, dass für bestimmte Kategorien von Schulden bestimmte Vermögensbestandteile allein oder wenigstens in erster Linie haften sollen; diese Idee hat im geltenden Recht bei weitem nicht die ihr gebührende Entfaltung gefunden. Dass mit Verwirklichung dieser und ähnlicher Ideen die Kreditverhältnisse und zwar in erster Linie die persönliche Kreditfähigkeit eine Umgestaltung weitgehendster Art erleiden müssen, ist — ohne jedes Bedauern — anzuerkennen.

Der Begriff des Eigentums hat in Wirklichkeit nie dem theoretisch aufgestellten Ideal einer absoluten , schrankenlosen Willkürherrschaft entsprochen; dies gilt. sowol für das Mobiliareigentum, wie für das Immobiliareigen. Es wird Aufgabe einer Kodifikation sein, die zahlreichen Schranken und die weitgehenden Pflichten des Eigentums deutlich und unumwunden zu sanktioniren, um jener Theorie vollends den Boden zu entziehen. Mit Recht versuchte man einst das Immobiliareigentum von den «ewigen» Lasten und Beschwerden zu befreien; es will mir aber scheinen, dass mit den heutigen Belastungsformen des Immobiliareigentums trotz der angeblichen Freiheit des öftern eine grössere Unfreiheit und namentlich eine intensivere Bedrückung des Besitzers. hervorgerufen wird, als die durch jene ewigen Lasten bedingte. Die ausgedehnte Mobilisirung der Rechte an. Grund und Boden hat wirtschaftlich zu schädlich gewirkt, als dass sie nicht zurückgedrängt werden müsste.

Ist auf die «Rekonstruktion der Familie, als eine der höchsten Aufgaben des modernen Gesetzgebers» (von Planta, Huber) Bedacht zu nehmen, so soll namentlich die Frau nicht nur den Namen einer gleichberechtigten Genossin des Mannes tragen, sondern von Rechtes wegen und in der Tat eine solche Genossin sein. Daraus ergibt sich Ablehnung der Vormundschaft des Mannes über seine Frau und Anspruch der Frau auf

ihren Arbeitserwerb unter den selben Voraussetzungen wie Anspruch des Mannes auf seinen Arbeitserwerb; aber es folgt daraus keineswegs — wie in letzter Zeit vielfach in Unkenntnis der Sachlage behauptet wurde —, dass der ordentliche Güterstand der Ehegatten das herkömmlich als Gütertrennung bezeichnete Güterrechtssystem bilden müsse; im Gegenteil dieses System ist prinzipiell abzulehnen: weder rechtlich noch tatsächlich können sich die Ehegatten einander gegenüberstehen, wie zwei fremde Personen, die zufälligerweise gemeinsamen Haushalt führen.

Eine Abschaffung der unentgeltlichen Erwerbstatsachen von Privatrechten ist sicherlich nicht ins Auge zu fassen. Ihre Minderwertigkeit gegenüber dem entgeltlichen Rechtserwerb ist zum Teil längst erkannt (z. B. bezüglich der Frage der Anfechtbarkeit); diese Minderwertigkeit ist jedoch schärfer und energischer durchzuführen als bisher. Und daraus wird einst eine tiefe Umgestaltung des Erbrechtes resultiren; nur soweit die Familienzusammengehörigkeit als sittliche und rechtliche Gemeinschaft vorhanden ist und gepflegt wird, hat das gesetzliche Erbrecht einen innern Wert. «Lachende Erben» sollte kein Gesetzgeber dulden. Die Testirfreiheit hat Platz zu greifen zur Ausgleichung unbilliger Wirkungen, die bei Anwendung der gesetzlichen Bestimmungen infolge eigenartiger tatsächlicher Verhältnisse unter den gesetzlichen Erben eintreten könnten; ferner ist die Testirfreiheit unter bestimmten Voraussetzungen zu gewähren zur Begünstigung von Personen, die nicht gesetzliche Erben sind; und der Gesetzgeber soll die Testirfreiheit namentlich dann in weitem Umfange zugestehen, wenn von derselben behufs Erreichung allgemein nützlicher Zwecke Gebrauch gemacht wird. Bei solcher Gestaltung des Erbrechts gewänne der Anfall des Vermögens eines Verstorbenen an die Gesammtheit

eine grosse Bedeutung; dieser Vermögensanfall dürfte indessen nicht zur Aeuffnung des gemeinen Fiskalgutes verwendet werden, sondern hätte lediglich zu dem Zwecke zu erfolgen, damit der Staat und die Gemeinden. im Interesse der Armen und Aermsten der Gesellschaft die ihrer harrenden sozialpolitischen Aufgaben zu erfüllen im stande sind.

Ich bescheide mich mit diesen wenigen Andeutungen über die Gestaltung des Inhalts eines künftigen bürgerlichen Gesetzbuches. Ich führte sie an zur Unterstützung meiner Anschauung, dass in der Gegenwart das Kodifikationswerk in weitem Umfange eine Reformation des Rechtes herbeizuführen hat. Sie beweisen überdies die Dringlichkeit der Kodifikation, weisen sie doch hin auf den engen Zusammenhang, der besteht zwischen dem allgemeinen Privatrecht und den grossen sozialen Reformen, denen der moderne Staat seine volle Aufmerksamkeit zuwendet, wenn er die Zeichen der Zeit versteht.