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Individualität und Persönlichkeit

Rektoratsrede gehalten am 66. Stiftungstage der Universität Bern

den 17. November 1900
D. Hermann Lüdemann
ordentlichem Professor der Theologie
BERN
VERLAG VON A. BENTELI & Co. 1900.

Hochgeehrte Versammlung!

In den schwülen Julitagen des verflossenen Sommers standen wir wieder einmal in der Verblüffung tiefen Entsetzens: König Humbert von Italien, der gütige, der furchtlose, war ermordet. Bald verbreitete sich die Kunde, der Mörder sei von Amerika gekommen. Und beim Prozess gegen denselben in Mailand schleuderte der Generalstaatsanwalt die schwersten Vorwürfe gegen die Regierung des Staates New-York. Aber die angehobenen Untersuchungen in Patterson verliefen im Sande, und von New-York, vom Bureau der Einwanderer-Überwachung erging eine massive Antwort nach Rom: Unbildung, Armut und Verbrechen, so hiess es, bedingen einander. Von allen Einwanderern ist der Italiener der Ärmste und am schlechtesten Geschulte.; 46 1/2 Prozent können weder lesen noch schreiben; an Vermögen bringen sie mit: 8-9 Dollars pro Kopf; und das gegenüber 2-3 Prozent Analphabeten und 30 Dollars Vermögen bei den Deutschen und Engländern. Die Einwanderung aus Italien liefere ein Menschenmaterial so wenig wünschenswert wie möglich. Es werden energische Massregeln verlangt, um Italiener mit verbrecherischen Instinkten zurückweisen zu können.

Ein Stück Zeitgeschichte von willkommenem Illustrationswert. Es zeigt uns, gleichsam in den scharfen Zügen eines Camera-Bildes,

die extreme Lage auf dem Hauptkampffelde unserer Zeit, in dem Streit über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Auf der einen Seite der verbrecherische Individualfanatismus des Anarchisten; auf der andern die alle Individualunterschiede nivellieren wollende Theorie vom socialen Milieu; auf dieser Seite die Gesellschaft alles, das Individuum nichts, als ihr Produkt; auf jener die Gesellschaft nichts, das Individuum alles; beide Ansichten extrem und deshalb fruchtbar an unheilvollen Konsequenzen; die eine jedoch vorwiegend theoretisch, die andere vorwiegend ethisch verfehlt, aber verfehlt beide, weil die Thatsachen vergewaltigend. Denn Thatsachen sind und bleiben sowohl das Individuum als die Gesellschaft. Und wie hierin beide formal zusammentreffen, so dürfte es. auch ein gemeinsamer Fehler inhaltlicher Natur sein, von dem man zu diesen Einseitigkeiten fortgetrieben ist. Den Blick allzusehr nach aussen richtend, verkennt man das innere Wesen des Individuums; daher man es von der einen Seite leugnen, von der andern Seite masslos überheben zu dürfen glaubt. Dies verbietet sich beides sobald man den Blick auf das eigene Innere konzentrierend, zwei Seiten im menschlichen Individualleben sich voneinander abheben sieht, für welche wir uns in meiner Wissenschaft, der systematischen Theologie, schon seit geraumer Zeit mit Nutzen der zwei Bezeichnungen bedienen:

Individualität und Persönlichkeit.

Sollte sich herausstellen, dass diese Unterscheidung auch die feste Richtung angiebt in der die Lösung der heute alles in Atem haltenden Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft principiell zu suchen ist, so dürfte die Aktualität meines heutigen Themas keinem Zweifel unterliegen.

Mit der Erwägung desselben verlegen wir den Streit aus der breiten Ebene zurück auf ein höher und ruhiger gelegenes Feld, und lenken zunächst die Angriffe der extremen Socialtheoretiker auf uns.

Allein sie sind schwer zu bewegen uns zu folgen. Wozu ein gegenstandsloser Streit? Das Individuum, zu dessen etwas näherer Betrachtung wir sie einladen, existiert für sie ja so gut wie gar nicht. Woher diese Erscheinung? Die Wurzeln derselben sind weitverzweigt und saugen ihre Nahrung aus ganz verschiedenen Gebieten. Da ist einerseits die pantheistische Philosophie, die die Fülle des Individuellen nur als ein nie beharrendes Wellengekräusel an der Oberfläche der alleinen Substanz ansieht, anderseits aber vor allem die mechanistisch-kausale Naturbetrachtung, der das Universum nur jene ununterbrochene. Kette von Einzelursachen und Einzelwirkungen ist, innerhalb deren für das Individuum nichts übrig bleibt, als der nur sehr relativ einheitliche Sammelplatz von Wirkungen zu sein, deren Ursachen sich nach allen Richtungen der Windrose ins Unendliche erstrecken. Und wenn der sogenannte gesunde Menschenverstand dagegen protestiert, die uns so über alles gewisse Thatsache unseres einheitlichen Ich durch solche allgemeinen aprioristischen Konstruktionen und Theorien eskamotieren zu lassen, so verweist man ihn auf die von Physiologie und empirischer Psychologie erbrachten exakten Beweise.

Allein hierbei handelt es sich um eine Übertragung der ihres Ortes vollberechtigten naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise auf ein Gebiet, auf welches sie völlig unanwendbar ist. Es ist richtig: die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise kann, ja darf vor der Thatsache der Individualität so wenig Halt machen, wie vor der des Organismus. Sie hat die die Welt der Erscheinung beherrschenden allgemeinen Gesetze mechanischen Geschehens in diese Gebilde hinein und durch ihr Innerstes hindurch zu verfolgen, ohne die wunderbaren Resultate dieses Geschehens als solche zu würdigen. Die Physiologie ist daher völlig in ihrem

Rechte, wenn sie unsere vermeintlich einheitliche Individualität auflöst in eine blosse Vielheit verschiedener höherer und niederer Centren, deren Bestehen sich auch von der psychischen Seite her an ihrem Hereinwirken in unser Selbstbewusstsein empirisch feststellen lasse, und letzteres als eine blosse Summierung zahlloser zu einander in Beziehung stehender Schauplätze psycho-physischer Hergänge enthülle. Die menschliche Individualität ist so angesehen in der That keine Einheit, sondern ein höchst komplexes System von relativen Einheiten. die ihrerseits wieder nur Komplexe sind, bis herab zur Zelle, zum Molekül, so dass wir vielleicht, im Atom die wirkliche individuelle Einheit erreichen, damit aber auch Schon im Dunkel metaphysischer Hypothesen angelangt sind. Und. die empirische Psychologie hat nicht umhin gekonnt, auch ihrerseits in die streng analytischen Bahnen der naturwissenschaftlichen Methode einzutreten. Sie. löst auch unsere scheinbar einheitlichsten inneren Erlebnisse auf in Reihen letzter, einfachster psychischer Elemente, die Empfidungen. aus deren verschiedener Kombination erst sie die qualitativ differenten psychischen Vorgänge entstehen sieht, welche sie in ihren strengsten Vertretern solange für .unerforscht erklärt, als es nicht gelungen ist, ihre physischen Äquivalente oder Parallelerscheinungen in unserem Organismus nachzuweisen.

Bei alledem würde man aber diesen naturwissenschaftlichen Forschern entschieden Unrecht thun, wollte man glauben, sie übersähen bei ihrer Arbeit eine entscheidend wichtige Thatsache, nämlich die ihres Untersuchens selbst. Wer ist es denn, der alle diese Analysen, alle diese scharfsinnigen. Unterscheidungen macht, ihre Ergebnisse in seinem Bewusstsein sammelt, hier untereinander vergleicht, und. zum einheitlichen Gedanken, zur umfassenden Theorie verarbeitet?

Es ist das persönliche Ich des Forschers, und so wenig es nach dem strengen Gesetze der Wissenschaft gestattet sein mag, für

erforscht auszugeben, was noch Problem ist, so ist dies Gesetz doch sehr wohl zu unterscheiden von der nur allzurasch gezogenen Konsequenz des Dilettanten, dass, was noch nicht erforscht ist, und mit den Methoden und Voraussetzungen des betreffenden Wissenschaftsgebietes auch nie erforscht werden kann, einfach zu leugnen sei, oder geleugnet werde. Jeder Forscher der genannten Gebiete, dem das einheitliche Ich aus seinen Analysen nie sich ergeben will, weiss doch, welche hohen Anforderungen seine Arbeit nicht nur an das einheitliche Denken, sondern auch an die Energie und Selbsthingabe des persönlichen Willens stellt, wenn es gilt, verwickelte Prozesse zu zergliedern und Einblick in ihren Verlauf zu gewinnen. Es kann keinen schlagenderen und den gesunden Menschenverstand beruhigenderen Beweis für das Dasein jenes Ichs geben, als das Dasein derselben Naturwissenschafter von welchen man die Leugnung jener psychischen Einheit gelernt haben will.

Allein glaubt nun der gesunde Menschenverstand nicht auch an die Realität der Zeit? Und da erwächst ihm ein neuer Gegner in der philosophischen Erkenntnistheorie.

Existiert das Ich? Unsere Selbsterfahrung sagt Ja. Nein, sagt Hume, der berühmte englische Skeptiker des XVIII. Jahrhunderts, sie eben thut es nicht; denn so wie wir sie nur einigermassen zergliedern, so bietet sie uns nichts als ein Nacheinander von Perceptionen, deren kontinuierlicher Zusammenhang —wie der der Momentbilder im Kinematographen können wir heute hinzufügen — nur auf einer inneren, gleichsam optischen Täuschung beruht, der wir aus träger Gewohnheit nachgeben. Das Ich ist nur ein Bündel von Vorstellungen. Lösen wir das willkürlich geknüpfte Band desselben, so zersplittert sich das Ich millionenhaft, es löst sich auf. Es ist so, und wenn die Zeit, das Nacheinander, Realität hat, so hat Hume recht. Der gesunde Menschenverstand gerät so in eine verzweifelte Lage. Zwei seiner Lieblingsüberzeugungen,

die Realität des Ich und die Realität der Zeit — er kann sie mit- und nebeneinander nicht festhalten. Aber da kommt ihm Kant zu Hülfe. Er erklärt, was für Hume Wirklichkeit war, nämlich die Zersplitterung des Ich im Zeitverlauf, für blosse Erscheinung. Denn die Zeit ist nicht real, sondern nur unsere Anschauungsform. Leider nur sagt Kant zugleich, dass eben damit die Wirklichkeit des Ich unserer Kenntnis ganz entzogen werde. Wir gewahren es nie. Denn der Ichgedanke, den wir bilden, mit seiner allerdings vorhandenen Einheitlichkeit und stets sich behauptenden Beharrlichkeit, ist nicht geeignet, um aus ihm Schlüsse auf unser eigentliches Wesen zu ziehen, gerade seiner Einheitlichkeit wegen. Denn diese ist zugleich völlig einfach und leer, und erweist den Ichgedanken als die Supposition eines blossen logischen Subjekts, mittelst dessen wir in der Mannigfaltigkeit unserer inneren Erlebnisse Einheit und Übersichtlichkeit herzustellen trachten.

Allein hier darf unbedingt wieder gefragt werden: wer ist es denn, der an sich selbst alle diese wunderbaren Entdeckungen macht? Was war es in Hume, was unser einheitlich erscheinendes Selbstbewusstem analysierte? Wer ist es nach Hume, der sich über seine innere Selbsterfahrung täuscht? Was ist es in Kant, das die Zeit als seine blosse Anschauungsform durchschaut, sie von seinem wahren Wesen abscheidet, und damit offenbar, trotz alles Nichtwissens vom Ich, erklärt, dass, wenn es nicht zeitlich sein kann, es eben zeitlos ist? Wer ist der Vollzieher all dieser Analysen, wenn nicht eben das Objekt dieser Analysen — nämlich eben das Ich selbst? Und Kant weiss von diesem überzeitlichen Ich, aber er entdeckte es seltsamerweise nur als das, welches sich selber Gesetze giebt, nicht aber als das, welches in intensivster Eigenerkenntnis sein Erkenntnisvermögen seciert.

Aber sein Wesen bleibt dem Ich ja dennoch unbekannt. Ein zeitlos Existierendes, was soll das sein? Nun, mindestens sind wir

damit über die bekannte «Seelensubstanz» hinaus, die man so gern als den rückständigen Begriff uns vorhat, bei dem wir wieder anlangen müssten, sobald wir die Existenz des einheitlichen Ich behaupten; ein Vorhalt, der lediglich der Gewohnheit des bisherigen naturwissenschaftlichen Denkens entstammt, welches als solches nur von einer Art zu existieren wissen durfte — neuerdings ändert sich das — die irgendwie der körperlichen analog ist. Da Seelensubstanz nichts sein kann, so, meint man, könne auch die Seele nichts sein. Warum soll sie denn durchaus etwas .anderes sein, als das, was wir direkt in uns gewahren: nämlich unser zunächst ganz evident raumloses bewusstes Leben selbst, dessen Zeitlosigkeit aber uns sofort ebenfalls klar wird, sobald wir darauf achten, dass all unsere inneren Erlebnisse ihrem qualitativen Inhalt nach als Gefühls-, Gedanken-. oder Willensinhalte von der Zeit ganz unabhängig sind, wenn wir sie auch quantitativ nur in zeitlicher Ausdehnung zu gewahren und zu beobachten vermögen.

Dieses Ich nun erscheint stets schlechterdings individuell geartet. Kein Mensch ist so wie der andere. Das Ich existiert nur als Individualität, und zwar als leibliches, organisches Wesen, sich selbst erscheinend in Raum und Zeit als integrierender Teil der gesamten zeiträumlichen Erscheinungswelt. Von dieser seiner leiblich erscheinenden Individualität muss das Ich freilich einräumen, dass sie ein höchst komplexes System ist, dessen vielgegliederten Bau es sogar nur sehr teilweise in die Einheit seines Selbstbewusstseins aufzunehmen vermag. Und dennoch besteht die wunderbare Thatsache, dass dieses Selbstbewusstsein sich völlig mit dieser vorgefundenen Individualität identifiziert, und für sie in all ihren Teilen, sogar für ihre etwaigen Deformitäten, als für sein Selbst eintritt. Dadurch erhebt es diese Individualität, trotzdem dass es sie in ihrer Zusammensetzung nur sehr unvollkommen kennt; doch in seine eigene Einheit, und diese, weit. entfernt die leere,

bloss logische Subjekt-Marke zu sein, wie Kant es will, erfüllt sich dadurch mit einem Inhalt von unübersehbarem Reichtum, ohne sich darin zu verlieren. Sie bewahrt sich als Einheit, und sie kann es, weil ihr der Inhalt den sie aufnimmt trotz all seiner Mannigfaltigkeit immer schon als einheitlich geprägter entgegenkommt, eben als der der Individualität oder der «unteilbaren» Eigentümlichkeit, von der das Ich allmählich gewahrt, dass ihr ganzes so komplexes System einheitlich in seinem Dienst funktioniert; während es selbst, wie ein minorenner und erst heranwachsender König, diesen Dienst nur sehr langsam und auch nur sehr teilweise kennen lernt. Dieses mit seiner Individualität instinktiv sich identifizierende, in seinem Selbstbewusstsein aber sich auch wieder ihr gegenüberstellende Ich nennen wir die Persönlichkeit, und auf dieser Seite unseres Wesens beruht es, wenn unsere Individualität, trotz ihrer unleugbaren Komplexität, dennoch als eine unteilbare Grösse auch in der Reihe der Ursachen dasteht, deren Gesamtheit das Universum ist.

Doch kaum haben wir diesen Satz ausgesprochen, so belebt sich auch jene kausale Betrachtungsweise wieder, welche das eben erst gerettete Ich zu erdrücken trachtet. Verliert das Ich innerhalb dieses ungeheuren Kausalzusammenhanges, dem es eingesegnet ist und dem die Zusammengesetztheit seiner Individualität eine schrankenlose Beeinflussung gestattet, nicht notwendig sofort jede Eigenart und Selbständigkeit, und erscheint nicht eben diese Thatsache lediglich in sekundärer Form in dem Verhältnisse wieder, in welchem wir die Einzelindividualität innerhalb der Gesellschaft stehen sehen? Der Einzelne in seinem ganzen Sein und Wesen, mag er so individuell geartet scheinen wie er will, ist er nicht notwendig das Produkt des Bodens, der Scholle, des Klimas, der Rasse, der Volksgeschichte, der gesellschaftlichen Organisierung, der Sitten, der Denkgewohnheiten, der Umstände? Daher kein Eigenleben des Individuums, alles in ihm Erzeugnis

der Gemeinschaft, kein Ich, keine Freiheit, keine Verantwortlichkeit: der Böse schuldlos an seinen Verbrechen, der Gute ohne Verdienst an seiner Tugend. Zola, und mit ihm alle die Romanciers des «Milieu», Lombroso der Entdecker der Verbrecherrasse, sie haben recht! Aber aus dieser völligen. Abhängigkeit des Individuums von der Gesellschaft sehen wir dieser letzteren Pflichten erwachsen: Die Socialdemokratie stellt ihre Forderungen und verheisst dem Individuum eine goldene Zukunft im Schutze seiner endlich bekehrten Mutter, der Gemeinschaft. An Stelle des Individuums ist nur noch von der Gesellschaft die Rede, aber seltsamerweise nicht wieder als dem Objekt einer alles regelnden kausativen Notwendigkeit, sondern — trotz Marx — geradezu als dem Subjekt einer neuen Ethik, an welches Forderungen gestellt, flammende Entrüstungsreden adressiert werden, dem seine Ungerechtigkeit, seine Grausamkeit vorgeworfen, das zur Bekehrung von einem unmenschlichen Strafrecht, von einer Elend verbreitenden Produktionsweise aufgerufen wird. So stellt die Verantwortlichkeit sich also doch wieder her, und sie wieder setzt Freiheit voraus. Beides aber ist sinnlos ohne Einzelsubjekte, und nur weil aus ihnen die Gesellschaft besteht, kann bildlich auf sie übertragen werden, was im eigentlichen Sinn nur auf das Einzelsubjekt Anwendung leidet. Ist aber der Begriff der Verantwortlichkeit unausrottbar, und doch nur auf das Individuum anwendbar, was wird dann aus der Milieu-Theorie? Die Persönlichkeit erhebt ihr Haupt von neuem. Und es ist Zeit. Denn bei jener Theorie, welche das Individuum aus der Gemeinschaft ableiten will, wird eben immer Eins vergessen: dass das Individuum selbst ja mit unter den Ursachen steht, welche wieder das Milieu machen. Dies gilt schon von der bloss vorhandenen Individualität, wie es auch von jedem untermenschlichen Wesen gilt, bis herab zur Zelle, zum Bacillus, zum Atom oder letzten Seinselement. Es ist nicht Null, niemals einseitig Wirkung, sondern Ursache in der

Kette der Ursachen. Im Princip kann gesagt werden: die Welt wäre anders ohne dieses Atom. Wie viel weniger kann das menschliche Individuum, aus der Reihe der Ursachen gestrichen werden! Ware es in seiner Wirkung lediglich determiniert, so sänke es ja unter das Atom herab, das doch auch seine Eigentümlichkeit geltend zu machen vermag und anders abstösst wenn es rund, anders wenn es eckig ist. Und wäre es gewirkt durch alles vor ihm — was freilich wider die Hypothese ist, denn das Atom ist Urbestandteil — es selbst bestimmt sofort dann durch sein blosses Dasein den Fortgang des Geschehens mit. Aber freilich das menschliche Individuum, als höchst zusammengesetztes System, kann dem einfachen Atom dennoch, wie es scheint, nicht gleichgesetzt werden. Es bietet der umgebenden Ursächlichkeit eine zu grosse Einflussfläche., Gewiss — wäre nicht die Persönlichkeit, die ja das Individuum trotz seiner Komplexität in seiner Individualität oder Unteilbarkeit erst konstituiert, alle Einwirkungen in den specifischen Sinn dieses Individualsystems umsetzt, und so durch ihre entscheidende Mitwirkung dieses letztere zu einer einheitlichen Ursächlichkeit macht, die, sicher nicht «frei» im Sinn rein ursprünglicher Kausalkraft, sicher gebunden auch durch ihre vorgefundene Eigentümlichkeit, doch als diese Eigentümlichkeit untilgbar unter den Ursachen steht und nun als selbstbewusste und auf sich selbst zurückwirkende, auf eigenen Entschluss hin ihren eigensten Beitrag zum Geschehen zu geben oder zurückzuhalten, abzumessen und zu modifizieren vermag. Schon auf dieser Fähigkeit, eigenartige Mitursache zu sein, beruht die Würde der Persönlichkeit, die jeder von uns in sich angetastet fühlt, wenn er sich als Null behandelt sieht.

II.

Diese Darlegungen scheinen uns nun zu Verbündeten des anderen Extrems zu machen, des Individualismus, der ja gradeswegs aus dem Thatbestande den wir verteidigen, und seiner

energischen Geltendmachung hervorgegangen zu sein scheint. Wirklich war die thatsächliche Existenz des selbstbewussten und zu eigenem Wollen befähigten Subjektes so wirkungskräftig, dass sie mächtige geschichtliche Bewegungen hervorrief, lange bevor das heutige Zurückpendeln der Geister auf die socialtheoretische Seite eintrat. Und auch damals war der Individualismus ein Rückschlag gegen ein Übergewicht der Gemeinschaft, gegen jenes nämlich, welches, aus der antiken Welt an die katholische Kirche übergegangen, während des Mittelalters das Individuum unterdrückt hatte durch die Autorität der kirchlichen Gesamtheit.

Seit Jakob Burckhardts «Kultur der Renaissance» ein Kleinod unserer litteratur geworden, ist uns allen geläufig das Wort von der «Entdeckung der Individualität», in diesem Werke dargestellt nach allen Seiten: sowohl in dem principe der städtischen Tyrannis, wie in dem grossen Frevler des italienischen Räubertums; in dem Dichter, der sein Inneres entdeckt sind der Mitwelt rückhaltlos offenbart, wie in dem Philosophen, der, die Bande der Autorität sprengend, den sprühenden Feuerbrand der Wissenschaft an sich reisst, kühn hineinleuchtet in uralte Mysterien, und das morsche Gebäude einer ausgedörrten Tradition in Flammen aufgehen lässt. Die Kirche kann nur mit den Flammen des Scheiterhaufens antworten, die dem Geiste nichts anhaben. Die Individualität behauptet sich; ihre Freiheit wird das Losungswort einer neuen Zeit; ihre machtvolle geistige Kausalkraft gestaltet die Welt um. Ihre Befreiungsfeste wiederholen sich. Auf die Renaissance folgt die Revolution, die Menschenrechte werden verkündigt, aber durch die schreckensvolle Konsequenz ihrer innern Logik gelangt sie bald dahin, die Freiheit der Vielen zu kondensieren zur Freiheit des Einen auf Kosten Aller. Da schlägt die Befreiung der Individualität wieder um in den Individualismus. Und was so vor hundert Jahren in leibhafter Realistik zum Drama der Geschichte wurde, davon erleben wir heute ein spukhaft

dekadentes Nachspiel, im Anarchismus einerseits — in der Philosophie Nietzsches andererseits; jener wie ein Epileptikus, durch plötzlich ausbrechendes sinnloses Umsichschlagen uns von Zeit zu Zeit erschreckend — diese notgedrungen Buchdrama verbleibend, eine Revolution am Schreibtisch, ein Feuer im Studierzimmer, in ihrer neurasthenischen Übertriebenheit und inneren Zerfahrenheit ein peinlich wirkendes Bild unaufhaltsamer Vergeudung einer ursprünglich hochedlen Kraft.

Nietzsches Übermensch, heute schon ein abgenutztes Schlagwort der «Vielzuvielen», war der Individualismus im Stadium der Paralyse, ein seltsames Erzeugnis widerspruchsvoller Vereinigung von titanischem Idealismus und alle Geisteswerte nivellierendem Materialismus, die gesamte Mitwelt herabsetzend zum wesenlosen Mittel eines ebenso genussgierigen wie kulturell und sittlich sterilen «Willens zur Macht».

Dennoch hat Nietzsche das Verdienst, hiermit das eigentliche Wesen des extremen Individualismus kurz und schlagend bezeichnet zu haben. Es ist die Isolierung des Individuums von der Gesellschaft zum Behuf schrankenloser Bethätigung des Willens zur Macht.

Versuchen wir den Schlüssel unserer Unterscheidung zwischen Individualität und Persönlichkeit auch hier, so zeigt sich bald, dass wir im Individualisten zwar einerseits die Persönlichkeit mit ihrem Selbstbewusstsein und Selbstwollen als das die komplexe und allen Beeinflussungen offen stehende Individualität zu harter Einheitlichkeit konzentrierende Element wieder vorfinden; aber mit einem Wirkungserfolg, der uns stutzig macht. Denn andererseits zeigt gerade der Individualist die deutlichste Beeinflussung durch die Umgebung der er entstammt. Nur aus turbulenten, durch schwere Krisen gehenden Zeiten erhebt sich der Individualismus. Und sein Entstehen ist dadurch bedingt, dass die Individualität alles das gierig in sich saugt, wodurch ihr vielseitiges und mannigfaches Triebleben Begünstigung und Nahrung

empfängt. während die Einheit gebende Persönlichkeit, in den Dienst dieses Trieblebens sich stellend, die durch die eingetretene Abhängigkeit von der Umgebung zu qualitativer Gewöhnlichkeit verflachte Individualität mit der konzentrierten Kraft ihrer Ichheit versieht, um sich zu behaupten und auf Kosten der Gemeinschaft zu erweitern. Das Ergebnis ist thatkräftiger und gemeiner Egoismus. Gemein? Warum denn eigentlich? Nietzsche bestreitet das. Er hält den Individualisten für ein hochedles Produkt sorgfältigster absichtsvollster also selbstbewusstester Züchtung, d. h. mit uns zu reden, normalen Wirkens der Persönlichkeit. Aber wenn wir dabei unsern Verstand auf den Kopf gestellt fühlen, kommen wir etwa wieder auf die Füsse, wenn wir uns die socialpsychologische Weisheit jenes Wortes der Milieu-Theorie aneignen: «Unwissenheit, Armut und Verbrechen bedingen einander?» Nein, wir protestieren dagegen im Namen der Millionen von Unwissenden und Armen, die gleichwohl vollkommen wissen, dass der Mensch sich ehrlich durch die Welt zu bringen hat, und es auch thun. Noch ist denn doch auch unter ihnen das Verbrechen nur die Ausnahme. Und weshalb sollte man nicht mit demselben Recht sagen können: «Bildung, Reichtum und Verbrechen bedingen einander?» Blickt nach Neapel, blickt nach Berlin! Die Helden ihrer letzten Causes célèbres 1) sind wahrlich keine armen Teufel und Analphabeten. Das Triebleben unserer sinnlichen und der sinnlichen Affektion ausgesetzten Individualität kann durch die verschiedensten Einflüsse zu perversen Instinkten verändert werden. Wie und wann es geschieht, das ist doch immer wieder individuell bedingt. Der durchstehende Grund aber ist der, dass die Persönlichkeit in den betreffenden Individuen nicht richtig funktioniert, Sie schützt weder die Individualität vor der Verderbung durch die Gesamtheit, noch die Gesamtheit vor Verletzung durch die verderbte Individualität. Erregt ihre in verkehrter

Richtung entwickelte Energie unsere Entrüstung, so erregt ihr Herabsinken in den Dienst des Trieblebens der Individualität unsere Verachtung. Daher ist uns das Wesen des Individualisten, wie oben gesagt, thatkräftiger aber gemeiner Egoismus. Dieses sittliche Urteil wird paralysiert sowohl wenn angesichts der hervortretenden Beeinflussung des Individuums seine persönliche Selbständigkeit und damit seine Zurechnungsfähigkeit geleugnet, als auch wenn angesichts der entwickelten perversen Energie in falscher Bewunderung Recht und Bedeutung des Individuums übertrieben werden.

Diesem haltlosen Hinundher thut Einhalt der Blick auf die durch die richtig funktionierende Persönlichkeit zur ruhigen Kraft inneren Gleichgewichts gelangte, berechtigte Individualität. Auch sie hat ihre Geschichte. Denn die Renaissance hat ja nicht nur ihre Cesare Borgia und Macchiavelli gehabt, sondern auch ihre Giordano Bruno und Galilei. Und es hat überhaupt nicht nur eine Renaissance gegeben, sondern auch eine Reformation; wiederum eine Befreiung der Individualität, aber der nach Gott verlangenden. Und es hat nicht nur einen Spinoza gegeben, der das Ich versinken lässt in die Substanz, sondern auch einen Leibnitz, dem das Ich zwar isolierte Monade war, aber begabt mit der Anschauung vom Universum. Und es hat nicht nur einen kritisch verneinenden Kant gegeben, sondern auch einen kritisch bejahenden, dem das Ich der intelligible, auf ewige Aufgaben hinweisende Regulator war unserer sinnlichen Individualität. Und es hat nicht nur den Individualisten-Züchter Nietzsche gegeben, sondern schon lange vor ihm auch den Ethiker Fichte, dem das ich vor allem schöpferischer Charakter ist, nicht blosse unfruchtbare oder gar gemeinschädliche Thatsache sondern unaufhörlich im Dienste an der Welt, sich selbst vollziehende Thathandlung. Das ist das Losungswort geblieben und — losgelöst freilich von den auch bald geänderten Zusammenhängen bei seinem Urheber —

vor allem auch das Losungswort für die Gestaltung des Begriffs der Persönlichkeit bei unserem grossen Ethiker Richard Rotbe.

Was in alledem durchsteht, das ist, dass die berechtigte Individualität imstande ist, sich richtig selbst zu bestimmen, weil sie die Fähigkeit hat, sich selbst zu sehen im Lichte eines Gesamtzusammenhangs, dem sie als integrierendes Glied angehört, und für dessen Zwecke ihr bestimmte Aufgaben zufallen, deren Vollziehung sie wollen soll, weil sie in und mit derselben zugleich ihr eigenes Wesen verwirklicht.

Dass es in unserem Geistesleben neben dem Besonderen in uns das jeder für sich hat, ein anderes Element giebt, welches wir in allen uns gleichgearteten Wesen wieder antreffen wie ein durch uns alle hindurchgehendes Allgemeines, lässt sich zeigen. Und es muss gezeigt werden, gegenüber dem schrankenlosen Relativismus, zu welchem die heutige Zeit sich mehr und mehr hinneigt. Es genügt vor allem nicht, in diesem Allgemeinen etwa nur unsern Gattungscharakter erkennen zu wollen; es greift weiter und führt tiefer — über alle Relativität unseres Gattungslebens zurück auf ein festes Merkzeichen, das uns überhaupt alle Relativität erst als solche erkennbar macht. Es hat nicht Anspruch auf den Namen eines Elements des Absoluten in uns. Denn darunter verstehen wir das vollinhaltlich Göttliche, und davon ist in uns nicht die Rede. Es besteht vielmehr nur in gewissen Direktiven, wie sie das endliche Geisteswesen überhaupt charakterisieren müssen und wie sie gerade das endliche Geisteswesen bedarf, so dass auch wir an ihnen uns stets wieder orientieren können, auf den gewundenen Wegen unserer individuellen wie generellen Entwicklung. Es sind die letzten Normen endlichen Fühlens, Wollens, und Denkens; jener drei sehr unzutreffend sogenannten «Geistesvermögen»; unzutreffend, weil in denselben sich nichts anderes reflektiert als die einfache Thatsache, dass wir sind, aber nicht allein sind; daher wir einerseits zwar für uns

sind, und dessen im Gefühl inne werden, andererseits aber zu fremdem Sein in doppelter Relation stehen receptiv. das Fremde in uns aufnehmend und verarbeitend, d. h. denkend; reagierend das Fremde beeinflussend, d. h. wollend. Jene letzten Normen für diese naturgemäss dreifache Bethätigung unseres an sich einfachen Wesens tragen wir in unserem religiösen, moralischen und logischen Bewusstsein.

Aber; wirft man ein, die Entwicklungsniederschläge dieser Seiten unseres Bewusstseins, Religionen, Sittengesetze, wissenschaftliche Ergebnisse sind doch längst erkannt als Zeugnisse der völligen Relativität menschlicher Entwicklung. Die Mannigfaltigkeit und stete Variabilität all dieser Gebilde ist durchschaut; Es giebt keine absolut fertige Religion, kein absolut fertiges Sittengesetz, keine absolut fertige Wissenschaft. Sehr natürlich; denn es giebt in uns überhaupt nichts Absolutes. Und religiöse, moralische, logische Wesen sind wir nur als endliche Wesen. Gott kann weder als religiös, noch als moralisch, noch als logisch gedacht werden. Er ist mehr als alles das: er ist fertig. Religiöse, moralische, logische Wesen sind unfertig, immer nur auf dem Wege. Und für diesen haben wir Wegweiser in Gestalt nicht etwa inhaltlich fertiger Offenbarungen, .. sondern in Gestalt rein formaler Principien, durch welche sich unsere religiöse, moralische und denkende Entwicklung reguliert. Wir kennen dieselben aus unserer inneren Erfahrung als das Abhängigkeitsgefühl, das Pflichtbewusstsein und den Satz des Widerspruchs.

Diese Normen sind unverletzlich, bei Strafe des Verlustes unserer geistigen Existenz. Zwar gegen die Dogmen und Kultusformen bestimmter Religionen lehnen sich viele auf. Aber wer nicht wollte zugestehen, dass er schliesslich auf eine ganz unaufhebbare Weise abhängig sei, müsste doch dem Grössenwahn verfallen sein. Gegen bestimmte Sittengesetze lehnen sich viele auf. Aber wer von dem, was er selbst für recht hält, das Gegenteil thut, gilt uns als defekt,

bestenfalls als Schwächling, unter Umständen als Schurke. Irren werden wir stets; aber den, der einen nachgewiesenen Widerspruch nicht einräumt und aufgiebt, den geben wir auf. Alle spielerische Zweifelei hat hier ein Ende. Um die Achse unseres Wesens sich bewegend, ist sie gezwungen sich im Kreise zu drehen.

Diese formalen Grundnormen sind zwar als solche von der Menschheit nur sehr allmählich erkannt und erst verhältnismässig spät mit klarem Bewusstsein verwendet teilweise ist dies noch jetzt nicht der Fall — und insofern haben auch sie natürlich ihre Entwicklung. Aber gewirkt haben sie thatsächlich stets sofort, wenn die gegebene Lage es verlangte, und immer erhalten sie sich konstant.

Unter ihrem Druck nun zunächst in ihrer individuellen Entwicklung ihre innere Einheit und Übereinstimmung mit sog selbst zu bewahren, das ist das höchste Interesse, welches die menschliche Persönlichkeit hat, und in dieser Funktion vollzieht sie beständig ihr eigenes Wesen. Daher ist ihr mit dem logischen, dem religiösen und dem sittlichen Bewusstsein die Wacht anvertraut über ihre Integrität, und keine Individualität erachten wir als berechtigt, als die, welche der Ausdruck einer solchen Persönlichkeit ist. Denn nicht als abstrakte Einerleiheit und ewige Wiederholung desselben Typus soll und kann die Persönlichkeit in der Vielheit endlicher Wesen existieren, sondern nur als Individualität kann sie Existenz gewinnen; aber als Individualität, welche durch die normierende Kraft der über sie hinaufblickenden Persönlichkeit in derjenigen Stellung verbleibt, die ihr durch ihre tathsächliche Lage vorgeschrieben ist: eine zu sein unter vielen. Daher sie als integrierender Teil des ihr präsenten Ganzen und in der Arbeit an den Zwecken dieses letztem zugleich ihren höchsten Selbstzweck erreicht. Denn ausgeschlossen bleibt, dass die Gemeinschaft einen höheren Wert in Anspruch zu nehmen habe als das Individuum Die Gemeinschaft besteht nur aus den Individuen. Sie hat daher

Wert nur, soweit diese in ihr ihren Selbstzweck erreichen, das heisst aber: die normale Ausgestaltung ihrer Individualität zur durchgebildeten und geistige Werte produzierenden Persönlichkeit, zu denen in erster Linie eben die aus wirklichen Persönlichkeiten bestehende Gemeinschaft selbst gehört. Nirgends ist dieses Verhältnis aber klassischer ausgesprochen als in der Ethik Christi mit dem Wort: «Welcher will gross werden unter euch, der soll euer Diener sein, Und welcher unter euch will der Vornehmste werden, der soll aller Knecht sein.» (Marc. 10, 43. 44 Vergl.. 9, 35. Matth. 20, 26. 27. Luc. 22, 26.) Die edelste Form der Herrschaft die es für die Individualität giebt ist die, ihre Unentbehrlichkeit durch hingebenden Dienst auf dem ihr zugewiesenen Arbeitsfelde erweisen, und so in dem Ganzen den Stempel ihres Wesens zurücklassen durch die ihr mögliche Förderung desselben. Und es giebt keinem Dienst, der zu gering wäre, um diese Art von Grösse — die einzige, die sittlich in Betracht kommt — in ihm zum Ausdruck zu bringen.

Gerade durch ihre Ausrüstung aber mit jenen rein formalen Normen erweist die Persönlichkeit sich andererseits auch zum umfassendsten Dienst für das Allgemeine befähigt. Denn sie sind es eben, welche die Entwicklung auf denjenigen ihrer Hauptzüge vorwärtstreiben, wo wir die vorzugsweise social erscheinenden Erzeugnisse geistiger Kultur erwachsen sehen. Dies die einfache Erklärung der Thatsache, dass auf dem Gebiete der Religion, der Sitte, der Wissenschaft alle wirklich epochemachenden Fortschritte von der hochgespannten Kraft bestimmter Persönlichkeiten auszugehen pflegen.

Obwohl uns jene Normen selber inhaltlich nichts Absolutes lehren, und an der Relativität jener Erzeugnisse nichts ändern, so treiben sie uns doch unablässig dem Absoluten, dem Vollkommenen entgegen. Am klarsten und unbestrittensten ist dies auf dem Gebiet des Erkennens, obwohl gerade hier im Einzelnen die

Relativität der Ergebnisse am evidentesten ist: an der Hand des Satzes des Widerspruchs wird gleichwohl eine Täuschung nach der andern eliminiert; durch die Kritik. der Wahrnehmung am Satz des Widerspruchs ist der grösste Erkenntnisfortschritt erzielt, dessen wir gegenwärtig geniessen,. darin bestehend, dass wir unser Weltbild jetzt als Erscheinung durchschauen, dies zu unterscheiden ist vom eigentlichen Wesen der Dinge.

Auch die Dunkelheit, die über der religiösen Fortentwicklung liegt, hebt sich bei Beachtung des Wirkens ihrer Norm. Denn das Abhängigkeitsgefühl wirkt so, dass je höher die geistige Kultur sich steigert und je feiner und schwieriger ihre Aufgaben werden. dem Menschen seine Unzulänglichkeit und Abhängigkeit desto schneidender zum Bewusstsein kommt. Und auf je höhere Interessen das Abhängigkeitsgefühl sich dann erstreckt, je geistige und edler die Bedürfnisse sind, für welche wir Hülfe bei der Gottheit suchen, desto reiner und geistiger gestaltet sich auch das Verhältnis zur Gottheit, oder die sich weiter bildende Religion mit ihren Lehren und Riten.

Am umstrittensten aber ist bekanntlich Dasein, Inhalt und Wirkung der Willensnorm oder des Pflichtbewusstseins. Und doch dürfte, bei richtiger Einsicht in das Wesen des Willens, ihr eigentümliches Wirken psychologisch am begreiflichsten sein. Denn da der Wille die aktuellste und direkteste Relation unseres Ichs zum Objekt involviert, so drückt er einerseits am vollständigsten das Wesen des Ichs aus, eine individuelle Existenz unter Vielen zu sein, und hat er andererseits zu seiner Voraussetzung wie zu seinen unentbehrlichen Ingredienzien ein lebhaftes Selbstgefühl und eine lebhafte Vorstellung vom Objekt in seinem Verhältnis zum Subjekt. Nur wo beide, das Selbstgefühl und die Einsicht in dieses letztere Verhältnis, in Übereinstimmung miteinander vorhanden, sind; da sind auch die Bedingungen starken moralischen Wollens gegeben. Wo das Selbstgefühl. (die «Neigung») die von

der Einsicht gezeigten Ziele des Wollens ablehnt, da ist auch der Wille als moralischer gelähmt, so stark er als egoistischer unmoralisch sich äussern mag. Und wo die Einsicht ihr Übergewicht geltend macht, und den Willen gegen das Selbstgefühl determiniert da wird es nur noch zum blossen Gehorsam kommen, ohne die Schnellkraft wahren Selbstwollens. Jene Übereinstimmung zwischen Selbstgefühl und Einsicht kann in der naiven Teilnahme des Individuums. an der Entwicklung der Gemeinschaft ohne wesentliche Schwierigkeit da sein. Seinen Konflikt mit jener Einsicht beurteilt das Individuum dann nicht anders als die Gemeinschaft und fühlt sich «schuldig». Denn es urteilt über «Gut» und «Böse» zunächst immer als Glied seiner Gemeinschaft.

Die alte Frage nach der Herkunft der Begriffe gut und böse und ihres normativen Charakters entscheidet sich gegen die empiristische Vererbungstheorie, weil ererbte Sitten und Denkweisen stets sich als bloss relativ enthüllen und vergehen, während die Bedeutung der Begriffe gut und böse, und damit das Pflichtbewusstsein, sich erhält. Selbst die Verbrecher haben unter sich wieder ihre rigorose Moral: Verrat ist verpönt. Hier wirkt also eine im persönlichen Selbstbewusstsein gelegene Norm. Und zwar wirkt sie dadurch, dass das willenslähmende Auseinandergehen von sittlicher Einsicht und Selbstgefühl als Person-zerstörend, ihre Kraft und ihren Wert aufhebend. zum Bewusstsein kommt. Hierin liegt der Grund, weshalb auch diese Norm von der Einzelpersönlichkeit aus vorwärtstreibend auf die Weiterbildung der öffentlichen Sitte wirkt. Sobald der kulturelle Gesamtzustand fortschreitet, bildet sich — zuerst in Einzelnen — auch die sittliche Einsicht weiter; dieselbe geht — unter harten Konflikten vieleicht — an die Gesamtheit über, 'und wird in Ihrer Abweichung von dem in alten Neigungen beharrenden Selbstgefühl erkannt. in jedem Einzelnen ruht nun die zerspaltene Persönlichkeit nicht, bis wider eine Willensbethätigung herstellt ist; welche

in neugestalteter Sitte der vorausgeeilten Einsicht entspricht. Diese Entwicklung kommt aber auf einen Punkt, wo die ethische Einsicht der Kraft des Willens so weit voraus ist, dass der Zwiespalt in der Persönlichkeit habituell wird und ein Bedürfnis nach Erlösung von demselben eintritt Das ist der Punkt, wo sittliches und religiöses Bewusstsein sich finden und sich miteinander verbinden. Im Christentum ist diese Verbindung zur völligen und endgültigen Vereinigung geworden. Und eben deshalb hat die menschliche Persönlichkeit am Christentum ein so hohes Interesse; eben deshalb ist das Christentum die persönlichste Religion die es je gegeben. Denn hier werden die höchsten Bedürfnisse der Persönlichkeit geweckt und befriedigt. Im Christentum sind die sonst so unnatürlich oft ihre eigenen Wege gehenden verschiedenen Seiten der menschlichen Persönlichkeit, das religiöse, das sittliche und das Wahrheits-Interesse unmittelbar vereinigt und aufeinander bezogen. Und weil das Christentum in diesem eminenten Sinn die Religion der Persönlichkeit ist, deshalb ist es auch im Altertum nie vollständig begriffen und rein ausgeprägt, da das Altertum die Persönlichkeit nicht kannte und nur die Gemeinschaft achtete. Wie die Befreiung der berechtigten Individualität derjenigen in welcher die Persönlichkeit normal fungiert, der neuen Zeit angehört, so war auch das Christentum innerhalb des Altertums schon eine moderne Erscheinung. Weit entfernt, dass das Christentum eine absterbende Kulturmacht wäre, geht es vielmehr in seinem wertvollsten Kerne seiner wahren Würdigung erst entgegen durch die moderne, Persönlichkeit.

Aber besitzt denn wirklich das Christentum die ideale hochgespannte Ethik, welche mit zwingender Gewalt, den Menschen vor eine unendliche Aufgabe stellend und ihn der helfenden Gottheit zutreibend, die Vereinigung von Moral und Religion herbeiführt? Ist es nicht die heut so vielgeschmähte Sklavenmoral, die Moral der Feigen, sich Duckenden, der Ehrlosen, der Heuchler?

Sollte es denn wirklich so schwer sein, den wahren Sinn der erhabenen Gebote der Bergpredigt, auf welche diese Vorwürfe zu zielen pflegen, zu erkennen? Hat nicht sogar unsere sogenannte gebildete Gesellschaft sich schon zu einem guten Teil nach ihnen gebildet? Was ist denn vornehmer: wenn Rohheit dreinschlägt — wieder schlagen: wenn Rohheit beleidigt — wieder beleidigen, oder: schweigend seines Weges gehen? Nun verlangt zwar das Christentum noch etwas ganz anderes als Vornehmheit; in jedem Fall aber verlangt es nichts anderes als: innerlich erhaben sein über die Gemeinheit. Und der Tropf soll doch wohl noch erst geboren werden, der es fertig bringt, vor dem Haupt voll Blut und Wunden von Feigheit zu reden.

«Ecce homo»: bei Gott, das ist kein Bild niederen Sklavensinnes; das ist die herrlichste Erscheinung einer unvergleichlich machtvollen Individualität zu ewig gültiger Erhabenheit verklärt durch die Kraft ihrer gottdurchwalteten Persönlichkeit; das ist die ergreifende Verkörperung des schlechthin wertvollen Individuums, wie es durch seine alles umgestaltende Kraft seine Überlegenheit über die umfassendste Gemeinschaft beweist, und dennoch freiwillig für diese Gemeinschaft sich selbst dahingiebt in Leiden und Tod.