Ueber die Entwicklung
des
katholischen Kirchenrechts
im 19. Jahrhundert.
Rektoratsrede gehalten
am Jahresfeste der Universität Basel, den 8. November 1901, von
Dr. Fritz Fleiner,
o. ö. Professor der Rechte an der Universität Basel.
Das Recht der Uebersetzung in fremde Sprachen behält sich die
Verlagsbuchhandlung vor.
Druck von H. Laupp jr in Tübingen.
Revolution und Restauration — diese Worte bezeichnen
die Schicksale der katholischen Kirche im 19. Jahrhundert.
Kein Zeitalter ist seit der Reformation für die
katholische Kirche von grösserer Bedeutung gewesen als
die Epoche zwischen der Thronbesteigung Pius VII. und
dem Anno santo Leos XIII. Wohl hatte die Reformation
den Katholizismus aus grossen und weiten Gebieten verdrängt,
aber in den dem alten Glauben treu gebliebenen
Staaten stand sein Ansehen fest bei Fürsten und Völkern.
Da erhob sich in dem Stammlande des Katholizismus,
das die politische Vorherrschaft in Europa ausübte,
in Frankreich, der Sturm der Revolution; er begann
mit einem Akt grösster Kirchenfeindlichkeit: der Säkularisation
der Kirchengüter und der Zertrümmerung der
ganzen Kirchenverfassung. Wohin die Ideen der französischen
Revolution drangen, begann der Aufruhr gegen
das katholische Wesen. Kirchengüter wurden vom Staate
eingezogen, Bischöfe ihrer weltlichen Herrschaft entkleidet,
und der katholische Einfluss aus dem öffentlichen
Leben verbannt. Das Werk der Ausrottung des Katholizismus,
das die Reformation begonnen hatte, schien
die Revolution vollenden zu wollen. Doch der Sturm
tobte aus. Nach dem Sturze Napoleons wurde in Staat
und Kirche das Bedürfnis nach Wiederherstellung vorrevolutionärer
Zustände mit gleicher Lebhaftigkeit empfunden.
Ueberall traten die Kräfte hervor, die durch
die Revolution aus ihren Stellungen verdrängt worden
waren und suchten den verlorenen Einfluss zurückzugewinnen.
Allen voran das Papsttum. Am 24. Mai 1814
kehrte Pius VII. in den wiedergewonnenen Kirchenstaat
zurück.
Hier knüpft die moderne Entwicklung des katholischen
Kirchenrechts an. Das Papsttum trat auf als die
erste der restaurirten Gewalten. Das Zauberwort "Legitimität"
sicherte ihm den Beistand der Regierungen,
und die Romantik, jene grosse Bewegung der Geister
gegen die Herrschaft des Verstandes und individueller
Vernunft führte ihm die Achtung der Menge zu. Ein
Kult des Geschichtlichen, der Vergangenheit hob an,
und zum Schlagwort wurde das Mittelalter. Als der
beherrschenden Macht jener fernen Zeit, die der Blick
kaum schaute, aber das Gefühl um so lebendiger empfand,
flogen dem Papsttume die Sympathien von allen
Seiten zu, und Katholiken, Ungläubige und manch einen
Protestanten trug die Welle der Romantik hin zu den
Stufen des heiligen Stuhls.
Das war der Zeitpunkt, da das Papsttum daran
ging, die Welt unter den geistlichen Gehorsam zurückzuführen.
Wenn man diesen Vorgang als Restauration
bezeichnet, so darf dies nicht zum Glauben verleiten,
der Papst habe sich auf die Wiederherstellung der
Formen beschränkt, in denen sich bei Ausbruch der
Revolution der Katholizismus in Europa darstellte.
Denn diese hatten den internationalen Charakter des
kirchlichen Rechtes verwischt; unter dein Einfluss der
Lehre cujus regio ejus religio, die das Reformationszeitalter
in das Staatsrecht eingeführt hatte, war die Weltkirche
in eine Anzahl katholischer Landeskirchen aufgelöst
worden, die als Staatsanstalten in erster Linie den
Interessen der weltlichen Regierungen dienten und der
Gewalt eines auswärtigen Kirchenobern, des Bischofs
von Rom, keinen Raum übrig liessen. Die juristische That
des restaurirten Papsttums bestand nun darin, dass es
die durch die Revolution zertrümmerten Kirchenverfassungen
in den einzelnen Staaten wiederaufbaute, dabei
aber die nationalen Organisationen überwand und auf
diese Weise den alten universellen Begriff der katholischen
Weltkirche, wie ihn das mittelalterliche Recht ausgeprägt
hatte, zu neuer Entfaltung brachte. In der Abschliessung
von Verträgen mit den Staaten, den Concordaten,
bot sich das Mittel dar, die Gunst des Augenblickes
diesen weitausschauenden Plänen dienstbar zu
machen und die alten Sätze aus den Tagen der glänzendsten
Machtentfaltung des Papsttums in das Bewusstsein
der Gegenwart zurückzuführen. Dabei ist das Concordat,
das im Jahre 1801 Pius VII. mit dem ersten
Consul Frankreichs abgeschlossen hatte, für die ganze
weitere Entwicklung von der grössten Bedeutung geworden.
Wie bekannt, haben nicht religiöse Motive, sondern Rücksichten
auf die Befestigung der eigenen Macht Napoleon
bestimmt, mit dem Papst in ein Einvernehmen zu treten.
Allein schon in der Thatsache, dass sich der Gebieter
Europas mit Pius VII. über die Köpfe der französischen
Bischöfe hinweg verständigte, lag ein Zeugnis
von hohem juristischem Wert für die vom Papste beanspruchte
oberste Gewalt in der Kirche, und nicht geringer
war der Eindruck, den jener Satz des französischen
Concordates ausübte, worin Napoleon vom Rechte
und der Pflicht des Papstes sprach, die Bischöfe abzusetzen,
die sich der neuen kirchlichen Ordnung Frankreichs
nicht fügen, würden. Denn als nach Napoleons
Sturz die Regierungen katholischer und paritätischer
Staaten sich dem Plane zuwendeten, die Bistümer neu
zu umschreiben und die Bischofssitze wieder aufzurichten,
da half über die Zweifel, welches Mittel hierzu zu wählen
sei, das französische Beispiel hinweg. Ernsthafte
grundsätzliche Bedenken gab es kaum mehr zu überwinden,
nachdem die Regierung, die gegen das Papsttum
mit besonderer Feindseligkeit vorgegangen war, den
Weg nach Rom gewiesen hatte. Die Ueberzeugung brach
sich nur allmählich Bahn, dass diese Anerkennung der
päpstlichen Gewalt die Wiederbelebung eines ganzen
Systems kirchlicher Regeln zur Folge haben würde, das
man als tot und begraben betrachtet hatte. Der preussische
Gesandte bei der römischen Kurie, Niebuhr, der
berühmte Verfasser der "Römischen Geschichte" , bezeichnete
im Herbst 1819 nach dreijährigem Aufenthalt
in Rom in einer eingehenden Denkschrift als das Kennzeichen
des römischen Hofes im 19. Jahrhundert "die
Harmlosigkeit", und er meinte, dass diese im Hinblick
auf den "unvermeidlichen Untergang", der dem römischen
Hof drohe, nur zunehmen könne. Im Ministerium
in Berlin spendete man dem "durch hellen Ueberblick
der Hauptverhältnisse"ausgezeichneten Schriftstück grosses
Lob. Aber auch Diplomaten von tieferer Einsicht
hat Rom durch das Mittel, die Verhandlungen hinauszuziehen,
zu den erstrebten Zugeständnissen gezwungen.
So wurde der Wiederaufbau der katholischen Kirchenverfassung
das Werk des Papsttums. Damit stieg der
Papst in den Augen der Zeitgenossen über alle Bischöfe
des Erdkreises auf; er rückte in die alte Stelle an der
Spitze der Gesamtkirche ein, die ihm das canonische
Recht vorbehalten hatte.
In Rom war die Anschauung, dass dieser Rang
dem Papste von Rechtswegen gebühre, seit dem Mittelalter
nie aufgegeben worden. Wenn sie im 17. und 18.
Jahrhundert in Europa ihre praktische Bedeutung eingebüsst
hatte, so hing dies mit der Ausbildung der absoluten
Staatsgewalt zusammen, die die Konkurrenz einer
auswärtigen geistlichen Herrschaft nicht zuliess. Das
Papsttum verdankt daher die Wiederherstellung seines
Einflusses im 19. Jahrhundert nicht der Aufstellung irgendwelchen
neuen Satzes des Kirchenrechtes, sie ging
vielmehr aus jenen veränderten, seit der französischen
Revolution emporgekommenen Ideen über das Verhältnis
von Staat und Kirche hervor, die die Staatsgewalt aus
dem religiösen Gebiet verbannten und damit freien Raum
zur Entfaltung des päpstlichen Ansehens schufen. An
die Restauration des päpstlichen Amtes reihte sich jedoch
als unabweisliche Konsequenz die Wiederaufrichtung
des päpstlichen Rechtes des Mittelalters, mit der
die Welt umspannenden Organisation und dem Anspruch
auf Beherrschung der Staatsgewalt. Damit gewann das
Kirchenrecht seinen internationalen Charakter zurück.
Nicht dass es von einem Tag zum andern in Europa
undurchbrochen wiedereingeführt worden wäre. Aber
die römische Kurie hielt daran fest, dass die Sätze des
canonischen Rechtes die unabänderliche Verfassung der
Weltkirche vorgezeichnet und das für alle Zeiten gültige
Programm über das Verhältnis der katholischen
Kirche zum Staat aufgestellt hätten.
Das tritt zuerst zu Tage in den Bestimmungen der
Concordate über die Bischofswahlen. Sie standen in den
Unterhandlungen mit den Regierungen im Vordergrunde
der Diskussion. Denn in den engem kirchlichen Kreisen,
den Bistümern, ist das Ansehen des Papsttums davon abhängig,
dass die Bischöfe von den päpstlichen Ideen erfüllt
sind. In der Diöcese gebietet nach unten, über den Klerus
und die Gläubigen, der Bischof mit fast monarchischer Autorität.
Er vergibt die Aemter und Würden und wacht über
die Rechtgläubigkeit. Dem Papste musste aus diesem
Grunde Alles daran liegen, seinen Einfluss auf die Wahl der
Bischöfe rechtlich sicher zu stellen. In den meisten Staaten
Europas war an die freie päpstliche Ernennung der Bischöfe
nicht zu denken; die Regierungen machten eine
Beteiligung bei den Bischofswahlen zur Bedingung für
die finanzielle Beihülfe bei der Neugründung der Bistümer.
Der heilige Stuhl hat in irgend einer Weise
diese Forderungen erfüllen müssen. Aber wo immer es
anging, brachte er schon in der äussern Form die Auffassung
zum Ausdruck, der Staat leite die Befugnis,
bei Bischofswahlen mitzuwirken, aus einem päpstlichen
Privileg (indultum) ab. Für eine Reihe deutscher und
schweizerischer Diöcesen wiesen die mit Rom vereinbarten
Verträge die Bischofswahl den Domkapiteln zu.
Gleichzeitig verpflichtete sich der Papst, den Domkapitularen,
als den Wählern, aufzutragen, sie hätten sich vor
jeder neuen Wahl darüber Gewissheit zu verschaffen,
welche der in Aussicht genommenen Kandidaten den
beteiligten Regierungen ungenehm (personae minus gratae)
seien. Sein Versprechen löste der Papst durch die Zustellung
von Exhortationsbreven an die Domkapitel ein.
Aus der Thatsache, dass sich diese Breven formell als
einseitige päpstliche Anweisungen darstellten, zog die römische
Kurie im Laufe des 19. Jahrhunderts die Folgerung,
ihr allein gebühre die Befugnis, den Sinn dieser
Erlasse verbindlich auszulegen. Mit Hülfe dieser Interpretationsmethode
hat der heilige Stuhl den Versuch
unternommen, das staatliche Ausschliessungsrecht Schritt
für Schritt zurückzudrängen. Einer dieser auf dem Wege
einseitiger päpstlicher Interpretation eingeführten Notbehelfe,
der sogenannte irische Wahlmodus, geht davon aus,
das Domkapitel habe vor jeder Bischofswahl der Regierung
eine Kandidatenliste mit sechs Namen einzureichen,
davon dürften aber nur drei Namen von der Regierung
als ungenehm gestrichen werden. Wenn jedoch eine
solche Liste lauter ungenehme Namen aufweist, so wird
—vorausgesetzt, dass die Regierung nicht auf der Erwählung
eines ihr genehmen Bischofs verharrt — das
staatliche Ausschliessungsrecht wertlos gemacht. Einer
Anzahl katholischer Staaten (Frankreich, Oesterreich,
Bayern, Spanien Portugal u. s. w.) hat die römische Kurie
in den Concordaten die Ernennung der Bischöfe
durch die Landesherren zugestanden. Trotzdem befinden
sich auch die Bischöfe dieser Länder heute in voller
Abhängigkeit von Rom. Denn wie immer auch für die
Regierungen das Recht, bei den Bischofswahlen mitzuwirken,
ausgestaltet sein mag, an Einem hält Rom unerschütterlich
fest: an der Bestätigung jeder Bischofswahl
durch den Papst und der dabei mit voller Schärfe
zum Ausdrucke gebrachten Auffassung, erst durch diesen
Akt werde das Bischofsamt und die ihm innewohnende
Regierungsgewalt (potestas iurisdictionis) übertragen.
Wenngleich die Concordate die Befugnis des
Papstes, eine Bischofswahl zu verwerfen, an bestimmte
Schranken zu binden versucht haben, so bleibt doch
als juristischer Kern der Einrichtung der Satz bestehen,
dass der ganze Akt seinen juristischen Abschluss erst
durch den Papst empfängt. Die Juristen des Vaticans
haben aus alledem den Schluss gezogen, in den von
Regierungen und Domkapiteln getroffenen Bischofswahlen
seien rechtlich nur Vorschläge an das Oberhaupt
der Kirche zu erblicken. Diese Praxis der römischen
Kurie hat mitgeholfen, die Bischöfe in die Dienstbarkeit
Roms zu bringen und aus ihnen Träger des päpstlichen
Systems zu machen.
Das Streben der römischen Kurie, die Universalität
der katholischen Kirche im 19. Jahrhundert zu neuer
Entfaltung zu bringen, tritt noch in einem andern Momente
hervor: in der Energie nämlich, mit der Rom
auch die schwächsten Ansätze zu selbständigen nationalen
Organisationen niedergehalten hat. Hierbei handelt
es sich keineswegs um die Befriedigung eines bloss theoretischen
Interesses, sondern um die wohl erwogene Sorge
dafür, dass nicht der Zusammenschluss des Episcopates
eines bestimmten Landes die Bischöfe Rom gegenüber
unabhängiger stelle. Als im Jahre 1848 die in Würzburg
versammelten Bischöfe Deutschlands mit der Bitte
an den Papst gelangten, er möchte ihnen die Abhaltung
eines Nationalconcils gestatten, versagte Pius IX.
dem Plane seine Genehmigung (Breve vom 17. Mai
1849), und dieselbe Antwort empfingen am gleichen Tag
die Bischöfe Frankreichs, die das nämliche Gesuch an
den Papst gerichtet hatten. Wenn trotzdem heute in
Missionsgebieten, namentlich in Nord-Amerika, Prälaten
Einer Nation unter dem Vorsitz eines päpstlichen Delegirten
zu Synoden zusammentreten, so verfolgt der heilige
Stuhl hierbei lediglich den Zweck, übereinstimmende Verhältnisse
eines Landes einheitlich zu regeln. Die Kurie
vermeidet deshalb auch hier den Ausdruck "Nationalconcil"
und spricht von einem "Plenarconcil". Den
nämlichen Erwägungen entsprang bei den Verhandlungen
mit den Staaten die Abneigung des heiligen Stuhles,
die Bistümer eines Staates zu einer Kirchenprovinz mit
einem Metropoliten an der Spitze zusammenzufassen,
falls die Gefahr bestand, es möchte bei der Einführung
der Metropolitanverfassung auf die Gründung einer Nationalkirche
abgesehen sein. In den Unterhandlungen mit
den Kantonen der Schweiz hat daher Rom die finanziellen
Bedenken und Eifersüchteleien der staatlichen Delegirten
klug benutzt, um den "schweizerischen Erzbischof"
abzulehnen und die Schweiz in eine Anzahl kleinerer,
Rom direkt unterworfener Immediatbistümer zu zerschlagen.
Aber auch dort, wo die Metropolitanverfassung
besteht, hat sich eine auf das Nationale gegründete Opposition
nicht zu behaupten vermocht. Denn bei der
Wiederbelebung der Provinzialconcilien im 19. Jahrhundert
wurde in Rom auf die Bestimmung Sixtus V. (1587)
zurückgegriffen, wonach jedes Provinzialconcil seine Beschlüsse
vor der Publikation nach Rom einzusenden hat.
Pius IX. errichtete im Jahre 1849 in der Congregatio
Concilii eine engere Congregatio particularis super revisione
conciliorum provincialium, und diese hat sich in
beständiger Praxis nicht auf eine Controle der Synodalschlüsse
beschränkt, sondern, ohne auf Widerspruch
zu stossen, sich die Befugnis beigelegt, von sich aus Aenderungen
daran vorzunehmen und neue Artikel hinzuzufügen.
Wie weit mit Hülfe dieser Praxis die Beschlüsse
der Provincialconcilien dazu benutzt wurden, die spezifisch
römischen Rechtsgedanken den engem kirchlichen
Kreisen zuzuleiten, das lässt sich, da die Synodalschlüsse
in der Regel erst in ihrer bereinigten Fassung
verkündigt werden, mi Einzelnen nicht feststellen.
Auch ausserhalb seiner Stammlande ist das restaurirte
Papsttum an die Spitze der Kirchenverfassung getreten.
Die Leitung der katholischen Missionen und der
Propaganda unter Heiden und Ketzern hatte der Papst
schon seit der Errichtung der Congregatio de Propaganda
Fide (1822) in seine Hand genommen. Welche
Arbeit, aber welche Fülle neuer Macht und neuen Ansehens
zugleich dies dem heiligen Stuhl zubrachte, darüber
gibt die kürzlich erschienene Statistik der Congregatio
de Propaganda Fide Aufschluss (Missiones
catholicae cura S. Congregationis de Propaganda Fide
descriptae anno 1901). In den Ländern, in denen die
Ketzerei ungestraft herrscht (ubi haereses impune grassantur),
fasste der Katholizismus im 19. Jahrhundert
festen Fuss, und die durch Gesetze des Staates eingeführte
Religionsfreiheit hat keiner Macht zu grösserem
Segen gereicht, als der katholischen Kirche, die ihren
eigenen Anordnungen gegenüber keine Freiheit der Entschliessung
zulässt, sondern für ihren Bereich die Gewissensfreiheit
als "pestilentissimus error" verwirft.
In den Ländern des griechischen Katholizismus ist
es der Propaganda und Diplomatie des heiligen Stuhles
gelungen, ganze Völkerschaften in die römische Kirche
zurückzuführen. Diese Unionen haben nur durch grosse
Zugeständnisse an die bei jedem Stamme bestehenden
nationalen Besonderheiten des kirchlichen Rechtes und
Lebens und der gottesdienstlichen Gebräuche erkauft
werden können. Denn den Griechen widerstrebt vor
Allem die Uniformität der Kultusformen, wie sie die
lateinische Kirche verlangt; für sie ist bei jedem Stamm
die besondere Ausgestaltung des kirchlichen Lebens das
Kennzeichen der besondern nationalen Eigenart. Die
Konfession bildet ein Stück der Nationalität. Diese hat
das Papsttum, wollte es nicht das ganze Unionswerk
gefährden, schonen müssen, aber auch ohne Abfall von
seinen Grundsätzen schonen können. Denn die Zugeständnisse
(nationale Kirchen sprache, Befreiung der Geistlichen
von der Cölibatspflicht, Abweichungen in der Liturgie)
lassen alle die Vorschriften, die die internationale
Organisation der katholischen Weltkirche ausmachen,
unberührt. Bei den Unionsverhandlungen hat der heilige
Stuhl von den Griechen als unerlässliche Voraussetzung
für ihre Aufnahme in den Mutterschoss der Kirche das
Versprechen ihrer Unterwerfung unter Rom und die
ausdrückliche Anerkennung des päpstlichen Primates erwirkt.
In Westeuropa sind zu allen Zeiten die Bestrebungen
auf Berücksichtigung des Nationalen im Kirchenwesen
auf die Bildung einer von Rom unabhängigen
rechtlichen Organisation hinausgelaufen. In den Unionsverträgen
mit den Griechen dagegen wurde das
rechtliche System, auf dem das Papsttum ruht, von
vornherein vertraglich sichergestellt und die Befriedigung
der nationalen Wünsche auf einem ganz andern Gebiete
vollzogen. Daraus erklärt es sich, dass auch in der
neuesten Zeit der Papst, der in Westeuropa die Bildung
von katholischen Nationalkirchen mit aller Energie verwirft,
in der Bulle "Orientalium dignitas" vom Jahre
1894 als Schutzherr der nationalen Besonderheiten der
unirten Griechen hat auftreten können.
Die angeführten Thatsachen lassen zur Genüge erkennen,
wie viele juristische Faktoren dem päpstlichen
Absolutismus im 19. Jahrhundert die Wege bahnten.
Es liegt mir fern, in ihnen die einzigen treibenden Kräfte
sehen und die Bedeutung formal juristischer Momente
übertreiben zu wollen. Denn in der Kultur des 19.
Jahrhunderts sind sie selbst nur ein Stück einer allgemeinem
Erscheinung: in ihnen offenbart sich der Aufschwung
des katholisch-kirchlichen Geistes. Wenn dieser
zugleich ein Erstarken der päpstlichen Macht herbeiführte,
so war dies dadurch bedingt, dass die äussern
Schranken dahingefallen waren, die seit der Reformation
die Staaten der Gewalt des Papstes entgegengestellt
hatten. Seit die französische Revolution den Grundsätzen
der Religionsfreiheit in die Gesetzgebung der Staaten
Eingang verschafft hatte, zog sich die Staatsgewalt
mehr und mehr aus dem religiösen Gebiet zurück und
liess so dem päpstlichen Einfluss freien Raum. Dazu
kam, dass in Deutschland und in Frankreich die Elemente,
die innerhalb der Hierarchie dem Papsttume
gegenüber eine gewisse Selbständigkeit hätten behaupten
können, des festen Rückhaltes beraubt worden waren;
in Frankreich hatte die Einziehung der Kirchengüter
dem Klerus mit der finanziellen Unabhängigkeit das Gefühl
der Selbständigkeit genommen, und in Deutschland
wurde seit der Aufhebung der geistlichen Fürstentümer
das Interesse der hohen Geistlichkeit von den staatlichen
Aufgaben abgezogen und auf das rein hierarchische Gebiet
hingelenkt. Wie vollständig die Regierungen entwöhnt
waren, ihren Einfluss in den Verfassungskämpfen
der Kirche in die Wagschale zu legen, trat an dem
Misserfolg hervor, den der katholische Ministerpräsident
Bayerns, Fürst Chlodwig von Hohenlohe, erlebte, als er
im Jahre 1869 die deutschen Regierungen für ein gemeinsames
Vorgehen gegen die Verkündigung der päpstlichen
Unfehlbarkeit gewinnen wollte.
Mehr als man gemeinhin annimmt, hat auch die
politische Entwickelung der Dinge im Kirchenstaat die
Ausbildung des päpstlichen Absolutismus beschleunigt.
Als die Revolution des Jahres 1848 die liberalen Pläne
Pius IX. für Herstellung der Einheit Italiens unter dem
Papst und für Einführung constitutioneller Formen im
Kirchenstaat vernichtet hatte, da gewannen die Tendenzen
die Oberhand, die Staat und Kirche des Papstes
für alle Zeiten gegen das Eindringen demokratischer
Elemente abzuschliessen versuchten. Im Syllabus errorum
nostrae aetatis vom 8. Dezember 1864 hat diese Richtung
ihren lebendigsten Ausdruck gefunden. Darin unternahm
es Pius IX., die ganze Entwicklung des öffentlichen
Lebens in Europa, soweit sie den an der Kurie
emporgekommenen Anschauungen widersprach, als einen
grossen Abfall von Glauben und Kirche zu brandmarken.
Von da ab gehörte der Sieg jener Partei, den Jesuiten,
die im 19. Jahrhundert am entschlossensten den absolutistischen
Regierungsprinzipien an der römischen Kurie zu
Ansehen verholfen hatte. Ihr Werk ist die Berufung
des Vatikanischen Concils und die Verkündigung der
Beschlüsse vom 18. Juli 1870. In der Form von Glaubenslehren
führten diese in das System des Kirchenrechtes
die Sätze ein, die das Ergebnis der ganzen vorangegangenen
Entwicklung juristisch zusammenfassten.
Das Vatikanische Concil bestimmte, dass dem Papst
in jedem Bistum des Erdkreises die Gewalt eines ordentlichen
Bischofes zusteht; es setzte ferner fest, dass dem
Papste dann, wenn er eine Lehrentscheidung über eine
Frage des Glaubens oder der Sitten (de fide vel de moribus)
trifft, Unfehlbarkeit eignet. Mit der Aufstellung des Universalepiscopates
und der Infallibilität des römischen Papstes
vollzog die Kirche die rechtliche Umwandlung in die
schärfste Form der absoluten geistlichen Monarchie. Den
Juristen interessiren vor Allem die rechtlichen Mittel,
mit denen die Partei des päpstlichen Absolutismus ihr
Ziel erreichte. Um sie zu erkennen, muss man erwägen,
dass die zwei Stellen in der Verfassung der Kirche, von
denen aus ein Widerstand gegen den päpstlichen Primat
allein rechtlich möglich war, in dem Amt der Bischöfe
und in den allgemeinen Kirchenversamrnlungen gegeben
sind. Gegen beide zugleich wendete sich deshalb das
Vatikanische Concil. Es entzog keinem dieser Organe
auch nur Eines seiner bisherigen Rechte. Aber indem
das Vaticanum dem Papste die Macht eines Episcopus
universalis in allen Bistümern der Welt zusprach, hat
es die Möglichkeit geschaffen, dass jeder Zeit die Gewalt
des ordentlichen Diöcesanbischofs durch die konkurrirenden
Befugnisse des Papstes auf die Seite gesetzt werden
kann, in gleicher Weise wurde die Selbständigkeit der
allgemeinen Concilien vernichtet. Die Lehre, durch den
Beistand des heiligen Geistes sei die allgemeine Kirchenversammlung
vor Irrtum bewahrt, blieb unangetastet. Sie
ist schon im Mittelalter entstanden und auch die katholischen
Gegner des Vaticanums haben sie nie verworfen. Die
nämliche Unfehlbarkeit jedoch, die dem allgemeinen Concil
zukommt, hat das Vaticanum daneben dem Papste allein
zugeschrieben. Hält man damit zusammen, dass nach
derselben Auffassung eine Versammlung der Bischöfe des
Erdkreises erst durch Berufung und Mitwirkung des
Papstes den Charakter eines ökumenischen Concils erlangt,
dass aber andrerseits der Papst alle die Verrichtungen
allein auszuüben Macht hat, die vor dem Jahre
1870 das allgemeine Concil erfüllte, so vollendet sich
das Bild des alle Gewalten in der Kirche in seiner Hand
vereinigenden Alleinherrschers. Es wird nicht verwischt
durch den Hinweis darauf, dass nur de fide vel de
moribus und nur durch eine Lehrentscheidung der Papst
die Fülle seiner Macht zu bethätigen in der Lage sei.
Denn eine objektive Norm darüber, was in das Gebiet
des Glaubens und der Sitten gehört, fehlt ebenso, wie
ein äusserlich erkennbares Merkmal, das einen päpstlichen
Erlass als eine Entscheidung ex cathedra kenntlich
macht. So ist es auch hier der Papst, der die
Grenzen seiner Macht selbst bestimmt.
In der Wiederherstellung der Universalität des
Kirchenrechtes und deren Sicherung durch den päpstlichen
Absolutismus liegt das eine charakteristische Merkmal
der kirchlichen Rechtsentwicklung des 19. Jahrhunderts.
Darin ist gleichzeitig die weitere Besonderheit
des Kirchenrechts ausgeprägt: sein konservativer
Charakter. Die kirchlichen Rechtssätze wurden vom restaurirten
Papsttum dem Leben in eben jener Form
wieder zugeleitet, die sie durch die päpstlichen Gesetzbücher
des Mittelalters empfangen hatten.
Das tritt schon darin hervor, dass die katholische
Kirche den vom mittelalterlichen Rechte ausgebildeten
Begriff der Kirchengewalt (iurisdictio), als einer die Rechtsprechung,
Rechtsetzung und Verwaltung in Einer Hand
vereinigenden Machtbefugnis, unverändert in Geltung belassen
hat. Der Begriff ist entstanden lange, bevor die
staatsrechtliche Theorie die Forderung nach einer Trennung
der Gewalten aufstellte; ihr hat die Kirche keinen
Einfluss gegönnt. Diese concentrirte Macht erklärt die
Autorität, mit der der kirchliche Amtsträger nach unten
aufzutreten im stande ist.
Im innern Bau der Hierarchie kommt dieser konservative
Zug zum Ausdruck in der Forterhaltung von
Organen, die ihr ursprüngliches Arbeitsfeld schon lange
verloren haben. So bietet heute die Rota Romana mit
ihren Richtern, einstmals das oberste Gericht der Christenheit
für alle nach kirchlichem Rechte zu beurteilenden
Streitsachen (mit Ausnahme der Kriminalprozesse),
das Bild entschwundener Herrlichkeit, und durch die
Ernennung von Bischöfen für Bistümer, die schon seit
Jahrhunderten untergegangen, in die Gewalt von Ungläubigen
und Schismatikern gefallen sind (episcopi in
partibus infidelium oder episcopi titulares), wahrt der
Papst seinen Rechtsanspruch auf verlorene Provinzen.
Alle diese Erscheinungen jedoch überragt die Thatsache,
dass das päpstliche Recht trotz der grossen Wandlungen,
die seit der Reformation und der französischen
Revolution eingetreten sind, in seinem Verhältnis zur
Gesetzgebung der Staaten an den alten Grundlagen festhält.
Auf die rein weltlichen Lebensgebiete, auf die
im Mittelalter bei der Ohnmacht des Staates die Kirche
die Hand gelegt, erhebt sie auch heute noch Anspruch.
Darum offenbart sich in unsern Tagen der Gegensatz
zwischen dem Staat und der katholischen Kirche in dem
Streit um den Vorrang des staatlichen, konfessionslosen,
vor dem kirchlichen, konfessionellen Rechte. Er hat den
heiligen Stuhl gezwungen, mit den Staaten von Macht
zu Macht zu verhandeln; im Behördenorganismus der
römischen Kurie ist damit das Staatssekretariat in den
Vordergrund gerückt.
Wo der heilige Stuhl eine günstige Stimmung vorfand,
hat er im 19. Jahrhundert den Kampf um die
Vorherrschaft seines Rechtes durch Abschliessung von
umfassenden Concordaten mit den Regierungen zu vermeiden
gesucht. In diesen Concordaten wird für eine
ganze Reihe von Materien, an deren Gestaltung Staat
und Kirche in gleicher Weise beteiligt sind, der Geltungsbereich
jedes der beiden Rechtssysteme genau umschrieben.
Es sei nur daran erinnert, in welcher Weise
dies durch das österreichische Concordat vom Jahre 1855
geschehen ist. Die Schule und das öffentliche Leben Oesterreichs
wurden dadurch der katholischen Kirche unterworfen.
Diese Concordate haben die grundsätzliche Erörterung
über das Verhältnis des kirchlichen Rechtes zum
staatlichen Rechte umgangen durch die Ausscheidung der
Kompetenzen zwischen Staat und Kirche. Aber um so
lebhafter ist dafür der Streit ausgebrochen über die
rechtliche Natur dieser Vereinbarungen, d. h. darüber,
ob das Concordat seinem Inhalte nach ein von dem
dem Staate übergeordneten Papst erteiltes, frei widerrufliches
Privileg darstelle oder aber ein von der Kurie
mit dem Staate als einer gleichberechtigten Macht vereinbarter
Vertrag. Die Privilegientheorie müssen selbstverständlich
die Anhänger des modernen Staates verwerfen.
Aber auch unter den Juristen, die katholischen
Anschauungen ergeben sind, gehen die Ansichten auseinander.
Allein die Meinung lässt sich nicht abweisen,
dass jene Schriftsteller — sie gehören vorzugsweise dem
Jesuitenorden an — die juristische Konsequenz und die
an der Kurie befolgten Grundsätze für sich haben, die
behaupten, die Concordate enthielten widerrufliche Gnaden
des Papstes an die Staatsgewalt.
In den Staaten, die keine Concordate dieser Art
abgeschlossen haben — und sie bilden heute die Mehrzahl
—, sieht sich die Kirchengewalt gezwungen, eine
feste Stellung zu den den kirchlichen Anschauungen
widersprechenden Sätzen der weltlichen Gesetzgebung zu
gewinnen. Wenn von angesehener katholischer Seite
(Rudolf v. Scherer) behauptet wird, die Kirche sei heute
mit der Wertung staatlicher Gesetze und Verfügungen
zurückhaltender als früher, so trifft dies für viele Fälle
zu, vermag jedoch die Thatsache nicht umzustossen,
dass heute wie ehedem das päpstliche Recht jedem staatlichen
Rechtssatze, der kirchlichen Anschauungen zuwiderläuft,
die verbindliche Kraft abspricht.
Die Rechtfertigung hierfür findet die Kirchengewalt
in verschiedenen Erwägungen. Soweit das staatliche
Recht Verhältnisse ordnet, die die Kirche mit spezifisch
religiösen Vorstellungen in Zusammenhang bringt, lehnt
sie es wegen Unzuständigkeit des Gesetzgebers ab. Ein
Beispiel bietet die Stellung der katholischen Kirche zur
obligatorischen Civilehe. Ihrem Inhalte nach stimmen
staatliche und kirchliche Eheschliessungsform überein.
Sie verlangen, dass die Ehe vor einer mit öffentlicher
Autorität bekleideten Urkundsperson und vor weiteren
Zeugen eingegangen werde. Denn nach kirchlichem
Recht wird eine Trauung oder gar Benediktion durch
den Priester nicht erfordert. Die übereinstimmenden
Willenserklärungen der Brautleute bringen die Ehe zu
Stande. Der Pfarrer wohnt der Handlung lediglich als
testis auctorizabilis pro Ecclesia bei; seine passive Assistenz
reicht aus. Trotzdem verwirft die Kirche die
obligatorische Civilehe. Denn die Kompetenz, die Eheschliessungsform
zu bestimmen, zieht nach sich die Befugnis,
die Voraussetzungen der Ehe, die Ehehindernisse,
zu regeln. Hier knüpft das Recht, um die Zuständigkeit
der Kirche zu begründen, an die scholastische
Theologie an. Nach dieser ist die Ehe ein Sakrament.
lieber die Sakramente aber Gesetze zu erlassen,
so hat Leo XIII. den alten Rechtssatz im Jahre
1880 neu formulirt, das kommt nach Christi Anordnung
allein der Kirche zu. Pius IX. hat von der Civilehe
geradezu als von einem "turpis atque exitialis concubinatus"
gesprochen.
Aber mit dem Vorwurf der Unzuständigkeit des
staatlichen Gesetzgebers vermag die Kirche vor ihren
Angehörigen nicht jeden von den kirchlichen Anschauungen
abweichenden Satz zu entkräften. Nur der Nachweis,
dass das, was das weltliche Gesetz gebietet, seinem
Inhalte nach nicht vereinbar sei mit einer höhern, jeden
Widerspruch ausschliessenden Anordnung, ist im
Stande, bei den Gläubigen der Vorstellung von der Unverbindlichkeit
aller den kirchlichen Lehren widerstrebenden
Staatsgesetze Eingang zu verschaffen. Die juristische
Begründung eines solchen der Kirche und dem
Staate übergeordneten gesetzgeberischen Willens liegt
in der Theorie vom göttlichen Recht und dem unabänderlichen
Naturrecht, wie sie die katholische Doktrin
im Anschlusse an die Schriften des Thomas von Aquino
ausgebildet hat. Damit wurde für die Träger der Kirchengewalt
der feste juristische Boden gewonnen, von
dem aus sie alle Vorschriften der staatlichen Gesetze
auf ihre Uebereinstimmung mit den Forderungen der
Kirche zu überprüfen befugt sind. Mit Hülfe dieser
Theorie hat der Papst die österreichischen Grundgesetze
der Jahre 1867 und 1868 verdammt, ebenso wie (1873)
die Gesetze der Schweizerkantone aus den Tagen des
Kulturkampfs und (1875) die "Maigesetze" Preussens.
Der Versuch eines bekannten Jesuiten (Lehmkuhl), das
Bürgerliche Gesetzbuch für das Deutsche Reich "unter
Bezugnahme auf das natürliche und göttliche Recht"
zu erläutern, zeigt den Einfluss dieser Theorie auf die
Praxis des täglichen Lebens.
Hält man dies fest, so stellt sich ein weites Gebiet
dar, auf dem das Kirchenrecht die Konkurrenz der mit
den übermächtigen Mitteln äussern Zwangs ausgestatteten
staatlichen Gesetzgebung auszuhalten hat. Die
Aufhebung des kirchlichen Rechtes zu Gunsten des Staates
würde, nach katholischer Anschauung, einem Verzicht
auf die Selbständigkeit der Kirche, einer Zerstörung
ihrer von Christus errichteten Grundlagen gleichkommen.
In Gesetzgebung und Praxis muss deshalb die
Kirche darauf hinausgehen, die Grundsätze ihres alten
Rechtes zu wahren, aber dabei so viele Zugeständnisse
an das staatliche Recht zu machen, dass auch dem glaubenstreuen
Katholiken auf dem Boden des modernen
Staates zu leben möglich ist. In der Erfindung dieser
Notbehelfe, bewährt sich die volle Virtuosität des beweglichen
römischen Geistes.
So hat der heilige Stuhl zuerst in einer Instruktion
der Poenitentiaria Apostolica aus dem Jahre 1866 und
-seither wiederholt die Katholiken angewiesen, die staatlichen
Vorschriften über die obligatorische Civilehe zu
beobachten, damit den Nachkommen die Rechte ehelicher
Kinder und dem Vermögen der Gatten der Schutz der
staatlichen Gesetze erworben werden. Aber die Gläubigen
sollen die staatliche Eheschliessungsform lediglich
als eine leere Ceremonie betrachten und sich gegenwärtig
halten, dass eine gültige Verbindung nur in der vom
Kirchengesetze vorgeschriebenen Form zu stande kommt,
und dass daher alle, die sich mit einer Civilehe begnügen,
den kirchlichen Strafen der concubinarii verfallen
sind.
Nicht selten greift der heilige Stuhl zur Dispensation,
um den Zweck zu erreichen. Die Dispensation
hat zur Folge, dass ein vorhandener Rechtssatz auf einen
bestimmten Fall oder eine ganze Kategorie von Fällen
keine Anwendung findet. Das Gesetz selbst wird dadurch
nicht aufgehoben; die Dispensation setzt vielmehr
voraus, dass das Gesetz in Kraft stehe, und dass nur
ausnahmsweise seine Wirkung suspendirt werde. Somit
bietet die — im Mittelalter für ganz andere Verhältnisse
berechnete — Dispensation dem Papste auch das
Mittel dar, an dem kirchlichen Rechte grundsätzlich festzuhalten,
aber trotzdem der staatlichen Gesetzgebung
Rechnung zu tragen. Nicht nur im Eherecht — bei der
Dispensation von Ehehindernissen und bei der Befreiung
von der tridentinischen Eheschliessungsform -— macht
der heilige Stuhl von ihr Gebrauch. Er dispensirt von
Vorschriften, die längst durch das Leben überholt worden
sind und weist damit aufs Neue auf seine Zuständigkeit
zur Regelung jener Fragen hin. Die Geschichte
des canonischen Zinsverbotes bietet hierfür ein charakteristisches
Beispiel. Der Verkehr hat thatsächlich die
kirchliche Vorschrift schon längst ausser Kraft gesetzt;
aber so oft sich auch noch in der allerneusten Zeit die
römische Kurie über die Zulässigkeit des Zinsennehmens
ausgesprochen hat, ist dies stets mit einem Zusatz erfolgt
(dummodo parati sint, stare mandatis S. Sedis),
der die Kompetenz der Kirche, auf das alte Verbot zurückzugreifen,
wahrt.
Daneben hat es aber der heilige Stuhl in der Hand,
ohne Dispensation und ohne Aufhebung seines Gesetzes
von der Durchführung seines Rechtes abzusehen und
den Katholiken die Befolgung des staatlichen Rechtes
zu gestatten, auch wenn dieses den Gesetzen der Kirche
direkt zuwiderläuft. Dieses "tolerari posse" spricht aber
die römische Kurie nur dann aus, wenn der Widerstand,
auch der passive, gegen das Staatsgesetz den Katholiken
erhebliche rechtliche, politische oder finanzielle Nachteile
zuziehen würde. Die Apostolische Pönitentiarie hat im
Jahre 1860 die Katholiken, die im Heere des Königs
von Sardinien, eines "Kirchenräubers", Militärdienst
leisten mussten, mit einem "tolerari posse" beruhigt.
Der heilige Stuhl hat sich gegenüber der konfessionslosen
Volksschule in der Schweiz und in gewissen Staaten
Nord-Amerikas zu dem nämlichen "tolerari posse"
verstanden, sobald aus finanziellen und politischen Rücksichten
den Katholiken die Gründung eigener Schulen
nicht zugemutet werden konnte. Endlich hat die Kurie
seit dem Inkrafttreten der staatlichen Ehescheidungsgesetze
ein "tolerari posse" auch dafür gefunden, dass in
der Schweiz, in Belgien und wohl auch in Deutschland
der Katholik als staatlicher Richter Ehescheidungen ausspricht
und dadurch mithilft, den für alle Christen geltenden
Satz des göttlichen Rechtes von der Unauflöslichkeit
der Ehe zu durchbrechen. Den Juristen Frankreichs
hat die römische Kurie bis jetzt diese Erlaubnis
versagt. Doch fehlt es auch hier nicht an Ausnahmen:
im Jahr 1887 hat die Congregatio Inquisitionis einem
glaubenstreuen Katholiken die Uebernahme des Vorsitzes
in einem mit der Rechtsprechung in Ehescheidungsprozessen
betrauten Gericht durch ihr "tolerari posse" möglich
gemacht.
Der letzte Notbehelf, zu dem der heilige Stuhl im
Hinblick auf die ungünstigen Zeitverhältnisse (temporum
ratione habita) gegriffen hat, liegt in der Praxis des
Dissimulirens, d. h. darin, dass die Organe der Kirche
sich weder für noch gegen die Gültigkeit von Rechtsverhältnissen
aussprechen, die im Widerspruche zum
kirchlichen Rechte stehen. So wird gelegentlich verfahren,
wenn es sich um Ketzerehen handelt, die --- um
in den Augen des Papstes gültig zu sein — an einem
bestimmten Orte in der tridentinischen Form (vor dem
katholischen Pfarrer und zwei Zeugen) hätten geschlossen
werden müssen. Denn auch der Ketzer ist Angehöriger
der alleinseligmachenden Kirche und an deren
Gesetze gebunden.
Aber gerade die Praxis, die Rom im 19. Jahrhundert
den Ketzern gegenüber befolgt hat, ist ein Zeugnis
dafür, wie stark die Rücksichten auf lokale und politische
Verhältnisse die Handhabung des kirchlichen
Rechtes beeinflussen. Dieselbe Handlung, die an einem
Orte kirchliche Strafen nach sich zieht, gilt zur nämlichen
Zeit am andern für erlaubt. Während auf unserer
Seite der Alpen den Katholiken im Verkehr mit
den Ketzern im Allgemeinen nur in wenigen Beziehungen
Zurückhaltung auferlegt ist, macht sich nach einem
Erlass des Kardinal-Vikars Leos XIII. aus dem Jahre
1878 in der Stadt Rom schon der katholische Drucker,
der für die religiösen Versammlungen der Ketzer Einladungskarten
anfertigt, der strafbaren Begünstigung der
Ketzerei schuldig. Wie weit sich aber die Praxis der
Kurie von dem strengen Rechte zu Zeiten entfernen
mag, sie greift darauf zurück und führt es undurchbrochen
durch, wenn daraus der Kirche kein Schaden
erwächst.
So werden grosse Teile des kirchlichen Rechtslebens
heute nicht mehr von den festen Normen der Gesetze,
sondern von den wandelbaren Sprüchen der römischen
Kurialpraxis, der vigens ecclesiae disciplina, beherrscht.
Dass dies so gekommen, hat der conservative Charakter
der päpstlichen Gesetzgebung verschuldet. Dass sich
aber ein Recht von, solcher Elasticität auf die Dauer
festhalten kann, das ist begründet einmal in der Concentration
aller Gewalten in Rom, die gestattet, dass das
Oberhaupt der Kirche das Recht zersplittern lässt, ohne
befürchten zu müssen, auf die Dauer dessen Einheit zu
zerstören; denn der Papst hat es in der Hand, jeder
Zeit auf das vorhandene einheitliche Recht zurückzugreifen.
Zum andern jedoch wird diese Elasticität bedingt
durch die allgemeine juristische Struktur der Kirchengewalt
als einer die Rechtsprechung, Rechtsetzung und
Verwaltung in Eines zusammenfassenden Machtbefugnis.
Sie macht es möglich, dass die Organe des päpstlichen
Absolutismus, die Behörden der römischen Kurie, nach
freier Wahl in jedem einzelnen Fall diejenige ihrer Funktionen
in Bewegung setzen können, die ihnen die Erwägungen
der Nützlichkeit anzeigt. So ist eine um das
Urteil in einer Rechtssache angegangene Instanz befugt,
den Spruch nach Recht zu umgehen, eine Verwaltungsverfügung
für den Einzelfall zu erteilen, oder gar den
Gesuchsteller zu entlassen mit dein Bescheid "consulat
probatos auctores". Während auf dem Boden der nationalen
Staaten im 19. Jahrhundert die Entwicklung
des öffentlichen Rechtes zur Einschränkung der absoluten
Fürstengewalt durch demokratische Elemente, zur Bindung
der staatlichen Thätigkeit au die festen Regeln
von Gesetzen und zur Unabhängigkeit der Gerichte von
den Verwaltungsbehörden führte, brachte die katholische
Weltkirche Rechtsgrundsätze zum Abschluss, die zu allem
diesem in direktem Widerspruche stehen.
Es kann daher nicht überraschen, dass im 19. Jahrhundert
das päpstliche Recht nur an wenigen Punkten
zu ruhiger organischer Weiterentwicklung gediehen ist.
Der Unterschied zwischen Gesetz , Verwaltungsakt und
Richterspruch hat sich an der römischen Kurie mit der
vollen Ausbildung der unbeschränkten päpstlichen Gewalt
vollends verwischt. Der Plan dagegen einer neuen Codifikation
aller Vorschriften, die in der Gegenwart als päpstliches
Recht anzusehen sind, muss schon an der Erwägung
scheitern, dass bei einem solchen Unternehmen das
Papsttum gezwungen wäre, die alten Herrschaftsansprüche
gegenüber der modernen Staatsgewalt aufs Neue durchzufechten
oder aber auf das machtvollste Stück seines
Rechtssystems definitiv zu verzichten. Die Rücksicht,
eine Revision des gewaltigen Rechtsstoffes durchzuführen,
um den Ländern des canonischen Rechtes Rechtssicherheit
zurückzugeben, ist seit dem Verlust des Kirchenstaates
weggefallen. Der Zusammenbruch aber der weltlichen
Herrschaft des Papstes ist dem internationalen
Recht der Kirche zum Segen ausgeschlagen. So lange
der Papst als weltlicher Fürst regirte, bestand für ihn
die Pflicht, die Rechtsnormen, die er als Oberhaupt der
Kirche als allgemeingültige Rechtswahrheiten ausgab, in
seinen Landen als Staatsgesetze mit äusserem Zwange
durchzuführen. Im Jahr 1858 wurde auf päpstlichem
Gebiet, in Bologna, ein Knabe seinen israelitischen Eltern
auf Befehl der Obrigkeit weggenommen und in eine
katholische Erziehungsanstalt verbracht, nachdem sich
herausgestellt hatte, dass er einige Jahre vorher in Todesgefahr
auf Veranlassung einer katholischen Dienstmagd
wider Wissen und Willen der Eltern getauft worden
war. Der Fall Mortara machte damals durch ganz
Europa grosses Aufsehen. Die päpstlichen Behörden
und die katholischen Schriftsteller auf beiden Seiten der
Alpen beriefen sich mit gutem Grund darauf, man habe
in Bologna lediglich die geltenden Sätze des Kirchenrechtes
zur Anwendung gebracht. Die Diskussion über
diesen Fall that jedoch dar, wie tief auch bei Katholiken
das Ansehen eines Rechtes sank, das im Zeitalter
der Glaubensfreiheit rein religiöse Gebote mit äusserem
Zwang durchzuführen unternahm. Der Untergang des
Kirchenstaates wies das Papsttum auch in diesen Territorien
von selbst auf die rein geistlichen Zwangsmittel
zurück. Damit wurde der Opposition gegen die Herrschaft
kirchlicher Rechtssätze das kräftigste Argument
entzogen. So wird es auch für den Juristen eine der
wunderbarsten Fügungen der neueren Geschichte bleiben,
dass der Papst mit einer schrankenlosen geistlichen
Gewalt bekleidet wurde in eben jenem Augenblicke, da
er den letzten Rest weltlicher Macht verlor.
Damit habe ich das dritte Merkmal bezeichnet, das
im 19. Jahrhundert neben dem internationalen und dem
conservativen Charakter dem katholischen Kirchenrecht
sein Gepräge gibt: seitdem der Staat seinen Arm zurückgezogen,
fehlt den meisten Sätzen kirchlichen Rechtes
der Apparat äusseren Zwanges, wie er hinter dem staatlichen
Gesetze steht. Die Kirchengewalt ist bei der
Durchführung ihrer Vorschriften auf die eigene Kraft
und die eigenen, rein geistlichen Mittel angewiesen. In
der Buss- und Beichtdisciplin wirkt sie auf das Gewissen
ein, und allein durch Versagung der Sakramente und
Entziehung der kirchlichen Rechte beugt sie seither den
Willen der Gläubigen unter ihr Gesetz. Es beruht auf
keinem Zufall, dass zu den umfassendsten Erlassen, die
im 19. Jahrhundert von Rom ausgegangen sind, jene
Bulle ("Apostolicae Sedis") vom Jahre 1869 zählt, in der
Pius IX. die Verhängung geistlicher Strafen neu geordnet
hat. Aber freilich, die kirchlichen Censuren werden
nur von denen als Uebel empfunden, die von den religiösen
Vorstellungen beherrscht sind, in denen jene Strafen
wurzeln. Jede Erörterung katholischer Angelegenheiten
des 19. Jahrhunderts muss darum mit der Thatsache
rechnen, dass die Wiedererweckung der Gewissen
und die Wiederherstellung des rein moralischen Einflusses,
den die katholische Glaubenslehre auf die Gemüter
auszuüben vermag, die erste und wesentlichste Aufgabe
der Kirchengewalt hat bilden müssen. Hält man
dies fest, so erklären sich eine ganze Reihe von Einzelerscheinungen
der kirchlichen Rechtsentwicklung unsrer
Tage: die machtvolle Förderung der alle menschlichen
Interessen umspannenden Thätigkeit geistlicher Gesellschaften,
der Kampf für die konfessionelle katholische
Schule, die Forderung nach einer vom Staate unbeeinflussten
Erziehung der Kleriker, und die strenge Ueberwachung
der Litteratur, wie sie in dem grossen Gesetz
Leos XIII. vom Jahre 1897 (,,Officiorum ac munerum")
durchgeführt ist.
So wird die Betrachtung rein juristischer Verhältnisse
stets wieder zurückgelenkt zu den gemeinsamen
Quellen, aus denen mit der ganzen Kultur auch das
Recht fliesst. Denn wie im Mittelalter die Macht der
Päpste und die Herrschaft des canonischen Rechtes in
letzter Linie auf einem rein geistigen Moment beruht
hatte, darauf nämlich, dass Fürsten und Völker in denselben
religiösen Vorstellungen lebten, auf denen sich
das Papsttum und sein Recht auf bauten, so war die
Restauration des römischen Katholizismus im 19. Jahrhundert
bedingt durch jene seit der französischen Revolution
emporgekommene Anschauung, die die Religion
in das Gewissen des Einzelnen verwiesen und den Staat
genötigt hat, sich aus dem religiösen Gebiet zurückzuziehen.
Damit ist der katholischen Kirchengewalt der
Beistand des Staates verloren gegangen; aber dafür hat
sie die Freiheit der Bewegung gewonnen, die ihr erlaubt,
ohne staatliche Aufsicht ihren Einfluss auf die Gemüter
durch die Mittel rein geistigen Zwanges auszuüben. So
prägen sich auch im Recht die grossen Ideen aus, die eine
Zeit beherrschen.