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Schweizerische Rechtsprechung und Rechtswissenschaft

Rektoratsreden
gehalten am 29. April 1912 und 1913
an der Universität Zürich von
Dr. A. Egger

o. Professor für schweizerisches Privatrecht

Berlin
Verlag von Julius Springer 1913

Alle Rechte, insbesondere das der
Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten.

I. Zivilgesetzbuch und Rechtsprechung.

II. Zivilgesetzbuch und Rechtswissenschaft.

Druck von Oscar Brandstetter in Leipzig.

I. Zivilgesetzbuch und Rechtsprechung.

Wenn am diesjährigen Dies academicus der Vertreter des schweizerischen Privatrechts die Ehre hat, die Rektoratsrede zu halten, so muß seine Betrachtung dem Zivilgesetzbuch gewidmet sein. Denn erst dieses Jahr hat die Sehnsucht von Generationen erfüllt und uns das einheitliche Recht gebracht. Jetzt ist das Werk vollendet und bezogen, und unsere Sache ist es nun, uns im großen neuen Bau wohnlich einzurichten. Wie weit uns dies gelingen wird, hängt keineswegs nur vom Gesetzesrecht selbst ab, sondern ganz vornehmlich auch von der Anwendungen die es durch unsere Gerichte finden wird. Die Zivilgesetzgebung war das Problem von gestern. Die wichtigste Aufgabe des Tages liegt in der richtigen Anwendung des neuen Rechtes.

Mancher Laie wird hierin freilich kaum ein Problem zu erblicken vermögen. Das Gesetz ist in Kraft getreten und es gilt jetzt lediglich dasselbe anzuwenden. Wenn es auch häufig vorkommen mag, daß ein bestimmter Einzelfall nicht gerade durch eine ausdrückliche Gesetzesbestimmung gedeckt ist, so kann die Aufgabe doch nur darin bestehen, durch ein volles Ausschöpfen des Inhaltes des Gesetzes die Lösung zu finden. Im Grunde genommen besagt aber auch die während des 19. Jahrhunderts herrschende wissenschaftliche Lehre nichts anderes. Die klassische Auffassung geht davon aus, daß die Rechtsordnung in jedem Zeitpunkt eine völlig lückenlose sei.

Dem Richter kommt somit ausschließlich die Aufgabe der Rechtsanwendung zu. Er ist nach Montesquieu nur der Mund, durch den der Gesetzgeber spricht, eine Ausführungsmaschine, ein Spruchautomat. Er. hat nur die Fälle, die ihm vorgelegt werden, dem Gesetz zu subsumieren. Dabei kann allerdings eine ausdrückliche Gesetzesbestimmung fehlen. Dann aber hat er die erforderlichen Sätze aus dem Gesetz heraus zu gewinnen. Dies geschieht durch logische Operationen. Der Jurist verfährt, wie schon Leibniz sagt, more mathematico. Und Savigny gebraucht das berühmt gewordene Bild vom Geometer. Wie für diesen durch zwei Seiten und den eingeschlossenen Winkel alle Elemente des Dreieckes gegeben sind, so muß auch der Richter mit den ihm gegebenen Elementen des Rechtes operieren. Er treibt Begriffsmathematik.

Diese Lehre hat vor allem deshalb durch ein Jahrhundert die volle Herrschaft ausgeübt, weil sie dem Postulate der Gewaltentrennung und damit einer festesten Grundlage des modernen Rechtsstaates auf das vollkommenste zu entsprechen schien. Die Rechtsschaffung liegt beim Gesetzgeber. Dem Richter verbleibt nur die Rechtsanwendung. Die Lehre schien aber auch eine Gewähr für eine zeitgemäße moderne Rechtsprechung zu bieten. Denn sie versprach die Affektlosigkeit, die Unbefangenheit und Unparteilichkeit des Richters. Für sein individuelles Fühlen bleibt kein Raum mehr. Der Richter ist, wieder nach dem Begründer der Lehre von der Gewaltentrennung, ein être inanimé. Und das zweite Ideal, das auf diese Weise zu erreichen erhofft wurde, ist die Sicherheit der Rechtsprechung, die Voraussehbarkeit der Entscheidungen.

So die Lehre, aber anders das Leben. Jene mathematische Sicherheit des Verfahrens, die sichere Voraussehbarkeit der Ergebnisse stellte sich nicht ein. Im Gegenteil. Die Logik konnte ihre krausen Wege gehen. Was mochte dabei herausspringen! Manches Urteil mochte auch von bewunderungswürdigem Scharfsinn zeugen, aber

im Ergebnis konnte es ein völlig verfehltes sein, unpraktisch, weltfremd, ungerecht. Wenn es aber den Anforderungen des Lebens und der Billigkeit entsprach, dann war dem nicht so dank des aufgewandten Scharfsinns, sondern oft genug trotz desselben. Es mochte sich wohl ereignen, daß, dem Richter unbewußt und von ihm selbst nicht eingestanden, Zweckmäßigkeits- und Billigkeitserwägungen und -empfindungen doch von ausschlaggebender Bedeutung für das Urteil geworden waren. So war es denn nichts mit der Voraussehbarkeit und auch jene Neutralisierung, die in der ausschließlich logischen Betätigung des Richters liegen sollte, war eine Selbsttäuschung und eine Verkennung der tatsächlichen Vorgänge.

Mit dieser Kritik setzt die neue Schule, die Freirechtsbewegung, ein, die in Deutschland und Frankreich zu einer immer noch anschwellenden umfangreichen Literatur geführt hat. Sie beschuldigt die ältere Richtung des Formalismus, des Buchstabenkultus, der Überschätzung der Logik und der Unterschätzung des Rechtsgefühls. Sie verpönt die begrifflich-konstruktive Auslegungsmethode und will sie durch eine freiere und praktischere ersetzt wissen. An die Stelle der Begriffsjurisprudenz sollen Zweckmäßigkeits- und Billigkeitserwägungen treten. So ist schon das Gesetz selbst in abwertender Beurteilung auszulegen. Vollends aber darf auch in das Gesetz nicht mehr hineingelegt werden, als darin steht. Darüber hinaus soll der Richter das Recht durch eigene Rechtsschöpfung schaffen. Es fehlt aber auch nicht an Stimmen, die unter bestimmten Voraussetzungen den Richter nicht mehr an das Gesetz gebunden erachten und ihm die Freiheit einräumen wollen, contra legem zu entscheiden.

Ausgangspunkt dieser jüngeren Lehre ist die Annahme von der Lückenhaftigkeit aller positiven Rechtsordnung. Diese läßt es als ungerechtfertigt und gefährlich erscheinen, den Richter ausschließlich auf die Gesetzesanwendung zu verweisen und ihn zwingen zu wollen,

Lösungen aus dem Gesetz herauszukonstruieren für Fälle, für die es nun einmal keine Lösung bietet.

Bei dieser Kritik beruft sie sich auf Art. 1 des ZGB., die berühmteste und meist angerufene Bestimmung des ganzen Gesetzbuches. Abs. 1 und 2 lauten:

"Das Gesetz findet auf alle Rechtsfragen Anwendung, für die es nach Wortlaut oder Auslegung eine Bestimmung enthält.

Kann dem Gesetze keine Vorschrift entnommen werden, so soll der Richter nach Gewohnheitsrecht und wo auch ein solches fehlt, nach der Regel entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde."

Danach hat der Richter zuerst das Gesetz anzuwenden. Daran ist er gebunden. Das Gesetz verpönt jede Rechtsprechung contra legen. Dabei geht es auch keineswegs an, die Gebundenheit des Richters auf den Wortlaut des Gesetzes zu beschränken und ihm darüber hinaus schon die eigene Rechtsfindung einzuräumen. Vielmehr muß der Richter das Gesetz auf alle Rechtsfragen anwenden, für die es nach Wortlaut oder Auslegung eine Bestimmung enthält. Diese Auslegung muß zunächst eine logisch-systematische sein. Das liegt im Wesen der modernen Kodifikationen begründet. Denn diese sind nach einem wissenschaftlichen System in logischem Aufbau gearbeitet. Die einzelnen Rechtsregeln stehen nicht für sich da. Sie stehen in Zusammenhang mit den vorausgehenden und nachfolgenden Bestimmungen. Diese Zusammenhänge sind aufzudecken. Das geschieht durch ein Nachdenken und Ausdenken des Gesetzestextes, es geschieht durch logische Operationen. Der Richter hat dann nur noch den konkreten Fall zu subsumieren. In zahlreichen Fällen gelangen wir auf diese Weise bereits zu sicheren und einwandfreien Ergebnissen.

Aber es ist doch möglich, daß Wortlaut und Auslegung versagen und daß dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden kann. Davon geht das Zivilgesetzbuch

selbst aus, das gesteht es in Art. 1 expressis verbis ein. Der Gesetzgeber ist sich der Grenzen seiner Macht bewußt. Er verfällt nicht mehr in den "bodenlosen Hochmut" (Savigny), in jenen "Größenwahn der Legislative", wie sie dem Gesetzgeber vor hundert Jahren eigen gewesen. Das Gesetzeswerk kann, es muß Lücken haben.

So fehlten z. B. im bisherigen Bundesrecht Bestimmungen über den privaten Versicherungsvertrag, über die Schuldübernahme, über die Auslobung, das Lagergeschäft, den Mäklervertrag. Äußerst kümmerlich und lückenhaft war der Dienstvertrag geregelt. Nicht weniger versagte auf vielen Gebieten das kantonale Gesetzesrecht. Es sei nur an das Quellenrecht, an die beschränkten Rechte an eigener Sache, die Nutznießung, die Wasserrechtsverleihungen erinnert. So enthält auch noch das revidierte Obligationenrecht keine allgemeinen Bestimmungen über die Willenserklärungen, über die Wertpapiere, über die Konstitutivkraft der Eintragung in das Handelsregister, über das internationale Obligationenrecht.

In allen Fällen, in denen das Gesetz versagt, soll der Richter sich zuerst nach einem allfälligen Gewohnheitsrecht (Bundesgewohnheitsrecht) umsehen und sich dann an dieses halten. Wenn aber auch ein solches nicht vorhanden ist, dann soll er nach der Regel entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde. In dieser Anweisung liegt nun zunächst ein negatives: Der Richter soll die Entscheidung für solche Fälle nicht im Gesetz suchen. Das Gesetz mutet dem Richter nicht mehr zu, "alles und jedes, und wäre es auch mit den bedenklichsten Interpretationskünsten, aus dem Gesetze abzuleiten" (Erl.). Er soll nicht in das Gesetz hineininterpretieren, was nicht darin steht. Er soll nicht unter dem Zwange der Fiktion stehen, das Gesetz habe alles vorgesehen und alles geregelt. Damit ist für die Fälle der Lückenausfüllung die logisch-konstruktive Methode abgelehnt. Denn darüber gibt es ja keinen Zweifel, daß der Gesetzgeber nicht nach dieser verfährt.

Der Gesetzgeber ist frei. Er stellt eine Regel vernünftigerweise nicht darum auf, weil sie einem Theorem entspricht und sich logisch aus einem solchen ergibt, sondern er heißt sie gut, weil er sie für richtig, für gerecht, für zweckmäßig erachtet. Darin liegt denn auch der positive Gehalt jener gesetzlichen Anweisung. Das Gesetz bezweckt die Ordnung des menschlichen Zusammenlebens. Die rechtlichen Normen sind nicht Seinsgesetze wie die Naturgesetze, sondern Sollensgesetze. Sie zielen auf ein bestimmtes menschliches Verhalten ab. Dies ist nur so möglich, daß ein Verhalten gebilligt und gefördert, ein anderes verpönt wird. Somit wird das menschliche Verhalten vom Recht wie von den andern Normensystemen, der Ethik, der Sitte beurteilt, bewertet. Alle Rechtssätze beruhen auf Werturteilen.

So werden die Interessen der privaten Eigentümer und der Öffentlichkeit gegeneinander abgewogen und die der letzten vorgezogen, wenn das Gesetz zu öffentlichen Zwecken das Expropriationsrecht einführt. So liegt in der Bestimmung, daß eine Ehe geschieden werden könne, wenn sie eine tiefzerrüttete sei, die Bewertung, daß in einem solchen Falle das Interesse der Öffentlichkeit an der Aufrechterhaltung der Ehe nicht mehr stark genug sei und hinter dem Interesse der Ehegatten an der Lösung der ehelichen Gemeinschaft zurückzutreten habe. So erklärt das Gesetz, daß Verträge zu halten seien, auch wenn ein Kontrahent sich in einem Irrtum befunden habe. Aber bei wesentlichem Irrtum soll das Interesse der Verkehrssicherheit zurückgesetzt und das Interesse des Irrenden geschützt werden. Er soll sich auf den Irrtum berufen können und ist nicht an den Vertrag gebunden.

So löst der Gesetzgeber in seinen Normen Interessenkollisionen auf Grund von Werturteilen. In dieser Weise muß deshalb auch der Richter vorgehen, wenn er im Gesetz keine Entscheidungsnorm vorfindet. So hat das Bundesgericht — gewiß mit Recht — erklärt, daß, wenn

eine Aktiengesellschaft unter Verletzung zwingender gesetzlicher Vorschriften entsteht, sie dann doch zu Recht besteht, wenn es ihr gelingt, sich in das Handelsregister eintragen zu lassen. Denn das Interesse des Verkehrs verlangt die Annahme dieser heilenden Kraft des Registereintrages. So hat es ferner mit Recht den Aktionären gegen statuten- oder gesetzeswidrige Mehrheitsbeschlüsse eine Anfechtungsklage gewährt. Das (bisherige) Gesetz kennt eine solche nicht. Die Interessen der Aktionäre forderten ihre Anerkennung, und ihrer Gewährung standen nicht überwiegende andere Interessen entgegen.

In dieser Weise soll die Lückenausfüllung erfolgen. Diese Art der richterlichen Tätigkeit ist aber eine sehr viel häufigere, als es zunächst den Anschein hat. Die Fälle, in denen der Richter in Ausfüllung sog. echter Lücken neue Rechtssätze selbständig aufstellen muß, um überhaupt zu einer Entscheidung zu gelangen, sind allerdings verhältnismäßig selten. Der Richter kommt aber sehr häufig in die Lage, einen Satz, den er im Gesetze vorfindet, anzuwenden auf Fälle, auf die er seinem Wortlaut nach nicht paßt. Er wendet den Satz analog an. Ein Beispiel: das bisherige zürch. Gesetzbuch gestattete, kleinere Zierbäume und Sträucher bis auf 60 Zentimeter an die nachbarliche Grenze zu setzen, Obstbäume dürfen dagegen nicht näher als 4 Meter von dem Nachbargrundstück gepflanzt werden. Wie nahe darf nun der Gärtner mit seiner Baumschulpflanzung an die Grenze heranrücken? Die beiden ordentlichen Instanzen haben verschieden geurteilt. Die eine Instanz hat auf die Baumschulpflanzungen die zweite Bestimmung angewandt, denn es handle sich zweifellos um Obstbäume. Sie stellte also auf den Wortlaut ab. Die andere Instanz hat auf jene Bestimmung abgestellt, die von den Zierbäumen und Sträuchern handelt, also auf eine Bestimmung, die dem Wortlaut nach gar nicht paßt. Und doch ist diese letztere Entscheidung die allein richtige. Jene Bestimmung wurde analog angewandt. Damit engt

aber der Richter den Geltungsbereich der einen Bestimmung ein und dehnt denjenigen der andern aus. Genau besehen nimmt er geradezu eine Änderung des Gesetzestextes vor. Er bereichert ihn um eine neue Norm: auch Baumschulpflanzungen müssen um 60 Zentimeter von der Grenze stehen. Jener Richter stellte somit die Norm auf, wie wir sie jetzt ähnlich im zürch. Einführungsgesetz (§170 Abs. 2) finden.

Auch hier nimmt der Richter nicht einfach eine logische Operation vor und noch weniger vollzieht er bloß eine Subsumtion. Seine Tätigkeit beschränkt sich nicht auf die Auslegung. Vielmehr geht er vor wie ein Gesetzgeber. Er stellt eine Norm auf und zu dieser gelangt er, wie dieser letztere durch teleologische Betrachtungen. Er findet, der Nachbar soll gegenüber Baumschulpflanzungen nicht jenen weitgehenden Schutz haben wie gegen Obstbäume, sondern nur jenen, der ihm gegenüber Zierbäumen und Sträuchern zusteht. Denn die schädigende Einwirkung auf das Nachbargrundstück ist auch nicht eine größere. So, findet er, seien die beiderseitigen Interessen in richtiger Weise abgeschätzt und gewahrt. Somit erfolgt die sog. analoge Anwendung eines Rechtssatzes absolut nicht aus Gründen der juristischen Konstruktion, sondern aus sachlich-kritischen Erwägungen, aus Zweckmäßigkeits- und Billigkeitsgründen. Diese korrektive Funktion der Analogie ist durch die methodische Forschung der letzten Jahre ins helle Licht gerückt worden.

Aber das Gebiet, auf welchem der Richter dieser gesetzgebungsähnlichen Tätigkeit obliegt, ist damit noch keineswegs erschöpft. Nach Abs. 1 hat er das Gesetz anzuwenden, soweit es nach Wortlaut oder Auslegung eine Bestimmung enthält. Diese Auslegung erfolgt nach den Grundsätzen der logisch-systematischen Interpretation. Aber ein näheres Zusehen zeigt, daß diese allein in zahllosen Fällen nicht zum Ziele führt, und daß auch bei dieser auslegenden Tätigkeit der Richter immer wieder "Werturteile und Willensentscheidungen"

abgeben muß. So kommt der Richter auch hier zur Aufstellung einer Fülle von ergänzenden Normen, die das Gesetz erst anwendbar machen. Es ist rein fiktiv, anzunehmen, daß diese neuen Sätze schon im Gesetz gelegen hätten. Man wird damit auch der Tätigkeit des Richters nicht gerecht. Es ist durchaus nicht so, daß er sie durch eine Deduktion aus dem Gesetz herausholt, sondern er hat in selbständiger Interessenabwägung erst die Regel aufzustellen. Das gilt für die einengende und die ausdehnende Interpretation. So erklärt das Gesetz ganz allgemein den Schuldner seiner Verpflichtungen frei und ledig, wenn er ohne sein Verschulden nicht erfüllen kann. Danach müßte es auch für den Geldschuldner gelten. Ein sehr mildes Gesetz! Aber die Praxis schränkt den Geltungsbereich des Gesetzes ein und macht eine Ausnahme gerade für diesen wichtigsten Fall. Der Geldschuldner wird durch das unverschuldete Unvermögen trotz OR. Art. 119 nicht frei. Der Richter ist zu dieser äußerst wichtigen Einschränkung aber nicht mit den Mitteln der Dialektik gelangt, sondern durch Zweckmäßigkeitsbetrachtungen und Werturteile. Er spielte den Gesetzgeber. Aber niemand wird ihn tadeln. Seine Entscheidung ist vollkommen richtig: Der Geldschuldner wird nicht befreit. Die Interessen des Verkehrs erfordern die Aufstellung dieser Ausnahmen. — Ferner: Wer unter der Herrschaft eines wesentlichen Irrtums rechtsgeschäftlich gehandelt hat oder dabei betrogen worden war, ist nicht gebunden. Aber das Bundesgericht lehnt es ab, diesen Satz auf den Eintritt in eine Aktiengesellschaft oder Genossenschaft anzuwenden (EBG. XXXII, II, 101 ff.). Wie kommt es dazu? Es versucht gar nicht, eine Begründung mit der logisch-systematischen Auslegungsmethode zu geben. Die Begründung ist vielmehr eine rechtspolitische: Das Aktienkapital der Aktiengesellschaft und der Mitgliederbestand der Genossenschaft sind die Grundlagen des Kredits. Diese darf nun nicht zum Schaden des Verkehrs dadurch illusorisch

gemacht werden, daß die Aktionäre oder die Genossenschafter im kritischen Moment geltend machen, die Beitrittserklärung sei null und nichtig, das gezeichnete Kapital dürfe also nicht zur Schuldentilgung verwendet werden, sondern sei ihnen zurückzuerstatten, bzw. sie seien aus der Haftung zu entlassen. Indem der Richter diese Erwägungen anstellt, geht er vor wie der Gesetzgeber. Er bewertet die widerstrebenden Interessen und gelangt so zur Aufstellung der Norm: Art. 23 findet in diesen Fällen keine Anwendung.

Diese richterliche Betätigungsweise scheint wenigstens bei einer Art von Rechtssätzen zu entfallen, bei den Blankettvorschriften oder Rahmengesetzen. Ein solches stellt der Gesetzgeber auf, wenn er erklärt, daß ein Dienstvertrag aus wichtigen Gründen sofort aufgelöst werden könne. Eine ähnliche Auflösungsbefugnis wird aus wichtigen Gründen bei Mietverträgen und Gesellschaftsverhältnissen eingeräumt. Nicht viel anders wird schließlich das Ehescheidungsrecht geregelt, wenn der Gesetzgeber erklärt, daß die Scheidung dann verlangt werden könne wenn die Ehe eine so tief zerrüttete sei, daß den Ehegatten die Fortsetzung der ehelichen Gemeinschaft nicht zugemutet werden dürfe. — Ferner gilt für das ganze große Gebiet des Schadensersatzrechtes, daß der Richter Art und Größe des Ersatzes nach seinem Ermessen zu bestimmen habe (OR. Art. 43). — Urteilsunfähige Personen sollen für den Schaden, den sie anrichten, haften, wenn es "der Billigkeit" entspricht (OR. Art. 54), usw.

Hier wird überall auf das Ermessen des Richters abgestellt. Diese Fälle unterstellt das Gesetz selbst nicht dem Art. 1, sondern es stellt für sie eine eigene Bestimmung in Art. 4 auf und erklärt, daß der Richter in diesen Fällen seine Entscheidung nach Recht und Billigkeit zu treffen habe. Diese Regelung ist durchaus zutreffend. Hier handelt es sich darum, daß der Richter die Umstände des Einzelfalles angemessen berücksichtige. Er muß individualisieren.

Das Urteil ist um so besser, je mehr es allen diesen Umständen Rechnung getragen hat. Dann kommt ihm als gutem Urteilsspruch ein hoher Eigenwert zu, aber es wird ihm keine allgemeine Bedeutung beigemessen werden können. Das Urteil trifft eben nur gerade für den vorliegenden Fall zu. Es fehlt ihm der normative Gehalt. Aber bei sehr vielen Urteilen, die auf Grund dieser Blankettvorschriften erlassen werden, ist dies doch anders. Die Umstände des Falles sind in weitem Umfange doch typisch und dann erhält die Bewertung, die der Richter vornimmt, doch eine über den Einzelfall hinausgehende, allgemeine, normative Bedeutung. Da hat ein Arbeiter in einem Betrieb, welcher der Fabrikhaftpflicht untersteht, einen Leistenbruch erlitten und macht nun den Haftpflichtanspruch geltend. Der Richter wird den Schadensersatz nach dem Schaden bemessen. Aber dieser ist sehr verschieden groß je nach dem sich der Arbeiter einer Bruchoperation unterzieht oder nicht. Kann der Arbeitgeber verlangen, daß er das tut? Das Bundesgericht äußert sich in einem jüngsten Entscheide nach den Berichten der Tagespresse darüber so: Zwei an sich durchaus achtenswerte Interessen stehen sich dabei diametral gegenüber: auf der einen Seite das Recht eines jeden Menschen, über seinen Körper frei zu verfügen, und sein Anspruch darauf, nicht durch die Voraussicht ökonomischer Nachteile in diesem Recht beschränkt zu werden; anderseits der Anspruch des Schadensersatzpflichtigen, dahingehend, daß der Berechtigte nicht durch eigenes schuldhaftes Verhalten den Schaden vermehre. Es fragt sich nun, ob in der Weigerung des Geschädigten, eine relativ gefahr- und schmerzlose, nahezu sichern Erfolg versprechende Operation vornehmen zu lassen, ein solches Verschulden erblickt werden könne. Es wird dann des genaueren untersucht, aus welchen Gründen dem Kläger die Operation zugemutet, bzw. nicht zugemutet werden dürfe.

Dieses Urteil ist seiner Methode nach vollkommen richtig. Aber es enthält nicht nur eine Berücksichtigung

aller Umstände, wie sie gerade in diesem Falle vorliegen, sondern es enthält Werturteile von großer normativer Bedeutung. Es liegt keineswegs nur eine Subsumtion des vorliegenden Falles unter die Schadensersatzbestimmungen des Gesetzes vor. Diese lauten zu allgemein und geben noch nicht die genügenden Direktiven ab. Der Richter muß deshalb ausfüllende, ergänzende Regeln aufstellen. Wohl muß man anerkennen, daß er sich dabei innerhalb des gesetzlichen Rahmens hält, daß er somit durch das Gesetz gedeckt ist. Aber es wäre ungerecht und undankbar, wenn man nicht anerkennen wollte, daß er, um zu einer zutreffenden Entscheidung zu gelangen, auch hier Regeln aufstellen muß, die vorher nicht da waren, die seine Schöpfung, seine Tat sind. Diese Regeln stellt er so auf, wie er sie als Gesetzgeber aufgestellt hätte.

Diese wertende und regelsetzende Tätigkeit innerhalb der Blankettvorschriften ist wieder eine sehr häufige. Ich nenne nur noch zwei Beispiele: einerseits den Art. 20 des rev. Obligationenrechtes (alt Art. 17). Danach sind die unsittlichen Verträge nichtig. Das war die einzige gesetzliche Handhabe zur Behandlung der Konkurrenzklauseln in Anstellungsverträgen. Die Praxis hat dann aber eine ganze Reihe von Regeln aufgestellt zur rechtlichen Beurteilung dieser Verpflichtungen, nach Beendigung des Dienstverhältnisses während einer bestimmten Zeit keine Konkurrenz zu machen. Der Gesetzgeber hat in der Hauptsache diese richterlichen Normen jetzt in das revidierte Obligationenrecht aufgenommen. Anderseits sei auf a. OR. Art. 55 (ZGB. Art. 28, rev. OR. Art. 49) verwiesen. Diese Bestimmung sprach den Rechtsschutz der Persönlichkeit in ihren persönlichen Gütern aus. Aber wie weit der Schutz der Ehre, der Geheimsphäre, des eigenen Bildes, des Namens, der wirtschaftlichen Persönlichkeit, des Gewerbebetriebes, der Arbeitskraft geht und wann ihre Beeinträchtigung nicht als unbefugt erscheint, das bedurfte erst der Abgrenzung in zahlreichen richterlichen Abgrenzungsnormen.

Aus dem Gesagten geht endlich hervor, daß selbst der Wortlaut der Gesetze und seine Tragweite nicht unverrückbar ein für allemal feststeht und daß auch die Begriffsentwicklung nicht eine gesicherte Domäne der Begriffsjurisprudenz ist. Dies trifft vielmehr nur zu für die juristisch-technischen Begriffe wie: Eigentum, Grunddienstbarkeit, Pfandrecht, Kaufvertrag usw. Aber das Gesetz muß sehr viele Wertbegriffe verwenden: wichtiger Grund, Sittlichkeit, Billigkeit, Verschulden, Fahrlässigkeit, Treu und Glaube, Umstände des Falles, Mißbrauch, Recht und Billigkeit, usw. Ferner operiert es mit außerrechtlichen Begriffen, spricht von Tieren, von Häusern, von Werken, von Zierbäumen und Sträuchern, von Obstbäumen, von Wald und Weide, Weg und Steg usw. Hier überall aber erfolgt die Begriffsentwickelung nicht auf dem Wege logischer Operationen, aber ebensowenig durch ein Abstellen auf die Naturwissenschaften oder irgendwelche Technologie. Vielmehr sieht sich der Richter auch hier vor eine Fülle von feinen, eigenen Aufgaben gestellt. Der Inhalt dieser Begriffe wird nur durch Zweckmäßigkeitserwägungen gewonnen. So besteht eine strenge Haftung des Eigentümers eines Hauses oder eines ähnlichen Werkes. Ist ein Baugerüst ein "ähnliches Werk", ein Benzinapparat, eine Telephonstange? Entscheidend für die Beantwortung ist augenscheinlich, wie sich eine objektiv richtige und dem gesetzgebungspolitischen Gedanken der Gesetzesbestimmung entsprechende Schadenstragung ergibt.

So ergibt sich denn, daß das Anwendungsgebiet von Abs. 2, wonach der Richter nach jener Regel entscheiden soll, die er als Gesetzgeber aufstellen würde, ein außerordentlich weites ist. Der Richter muß nicht nur bei der eigentlichen Lückenausfüllung und bei der Analogieziehung so verfahren, sondern schon die Auslegung des Gesetzes selbst, die Anwendung der gesetzlichen Bestimmungen, ja die Festsetzung des Wortsinnes des

Gesetzestextes stellen ihn vor diese Aufgabe. Hier überall muß der Richter nach richtigem Zweck und richtigem Mittel fragen, überall die Interessen, die aufeinander stoßen, gegeneinander abwägen und danach für seine Entscheidung eine Norm aufstellen. Hier überall verfährt er nicht anders als der Gesetzgeber, wenn dieser eine Regel aufstellt. Auch die psychischen Funktionen sind in beiden Fällen dieselben. In dieser Betätigung der Urteilskraft liegt ein alogisches irrationales Element. Die Werturteile enthalten Billigungen und Mißbilligungen. Sie beruhen letzten Grundes auf Lust- und Unlustgefühlen. Der Jurist arbeitet nicht wie der Mathematiker mit Elementen, denen er allen gleich gegenübersteht. Deshalb sind denn auch die Ergebnisse nicht mit jener Sicherheit voraussehbar, wie sie es sein müßten, wenn er nur Begriffsmathematik triebe. Er wertet vielmehr, er schätzt und wählt. Er betätigt Gefühl und Wille. Er setzt seine Persönlichkeit ein. Der Richter ist nicht die Verstandesmaschine, die man aus ihm hat machen wollen. Schon längst hat man erkannt, daß in seiner Betätigung auch ein künstlerisches Element enthalten liegt. Sie ist in der Tat eine eigenartige Verbindung von Erkennen und Können, von Wissenschaft und Kunst. Es ist nichts mit jener erstaunlicherweise auch in gebildeten Kreisen weit verbreiteten Anschauung, daß schließlich jeder zum Richter tauge, dessen Denkapparat leidlich funktioniere. — Nur eine starke, gefestigte, innerlich reiche Persönlichkeit kann ein guter Richter sein.

Vor allem aber ergibt sich aus der bisherigen Betrachtung, daß der Richter nicht nur das Recht anwendet, sondern daß er unaufhörlich auch normbildend tätig ist. Seine Tätigkeit ist rechtsgestaltend, schöpferisch. In wie reichem Maße dies zutrifft, zeigt sich uns, wenn wir daraufhin das revidierte Obligationenrecht ansehen. Eine große Zahl der neuen Bestimmungen sind Rechtssätze, welche die richterliche Praxis ausgebildet hat, so über den Vertragsabschluß unter Abwesenden, über die

eigenhändige Unterschrift, über den Vorvertrag, über die unrichtige Übermittlung von Antrag oder Annahme, über den unlautern Wettbewerb, über die Schadensersatzgrundsätze bei Vertragsverhältnissen, über die Fälle, in welchen dem in Verzug befindlichen Schuldner keine Frist angesetzt werden muß, über die Schuldübernahme, über Selbsthilfekauf und -verkauf und Schadensliquidation im kaufmännischen Verkehr, zahlreiche Vorschriften über den Dienstvertrag u. a. m.

Diese schöpferische Tätigkeit des Richters erhält eine besondere Bedeutung unter dem Zivilgesetzbuch. Jede Kodifikation kann schließlich nur ein Rahmen sein. Vom Zivilgesetzbuch gilt dies aber in besonderem Maße. Es hat im vornherein bewußt darauf verzichtet, durch das Mittel einer schwerfälligen abstrakten Kasuistik nach Vollständigkeit zu streben. Es übt eine starke Selbstbeschränkung und ist bestrebt, überall nur die leitenden Gesichtspunkte zu geben. So gelangt es zu zahlreichen Blankettvorschriften und zu einer reichen Verwendung von Wertbegriffen, während es die technischen und wertfreien Begriffe mit größter Sparsamkeit verwendet. Somit ergibt sich aus Art. 1 in Verbindung mit dem gesamten Gesetz eine richterliche Bewegungsfreiheit, die zweifellos sehr viel größer ist, als diejenige, die das deutsche BGB. den dortigen Gerichten einräumt. Das Zivilgesetz ist eine große Vertrauenskundgebung an den schweizerischen Richter.

Aber nun drängen sich uns doch ernste Bedenken auf, und es könnte uns bange werden vor der Gesetzgeberähnlichkeit unserer Richter. Viele dieser Werturteile sind von außerordentlicher Feinheit und Kompliziertheit. Sind unsere Richter dieser Aufgabe gewachsen? Besteht nicht die große Gefahr des richterlichen Subjektivismus? Wird der Richter sich nicht je länger je mehr von seinem Gefühle leiten lassen ohne ständige starke Kontrolle durch ein geschultes Denken? Dann aber wird nicht nur der juristische Verstand sinken, sondern das Rechtsgefühl selbst mag

dann auch verwildern. Und endlich: bedeutet diese richterliche Rechtsschaffung nicht eine Gefahr für eines unserer grundlegenden Kulturgüter, für die Rechtssicherheit? Wird es nicht eine Rechtsbildung werden, die sich nur gerade durch den Mangel der Kontinuität und der Kohärenz auszeichnet und ist da schließlich nicht unser neues Zivilgesetzbuch selbst in Gefahr?

Alle diese Besorgnisse entbehrten in der Tat nicht der Begründung, wenn das ZGB. für die richterliche Rechtsfindung einfach auf die Richterpersönlichkeit abstellte, wie dies die extreme Freirechtsschule fordert. Aber für eine solche Freiheit ist kein Raum. Das Gesetz anerkennt zwar eine freie Rechtsfindung, aber nur in diesem Sinne, daß der Richter nicht alles Recht im Gesetz selbst suchen muß. Im übrigen ist auch diese Rechtsfindung eine gebundene. Dafür sorgen schon, äußerlich betrachtet, das Kollegialprinzip unserer Gerichtsorganisation und der Bestand der oberen Instanzen. Ferner hat diese richterliche Rechtsschaffung doch nur einen subsidiären Charakter. Das Gesetz und das Gewohnheitsrecht gehen vor. Deshalb darf der Richter mit seinen Werturteilen sich auch nicht in Gegensatz zu den Werturteilen stellen, die im Gesetze selbst enthalten sind.

Aber auch soweit das Gesetz nun wirklich Bewegungsfreiheit läßt, ist der Richter durchaus nicht frei. Das ergibt sich schon aus der Stellung und Funktion des Richters. Er ist ein staatliches Organ und steht im Dienste der allgemeinen Rechtsordnung. In dieser Stellung wird er angerufen, nicht als Privatmann, und die Parteien bringen ihm das Vertrauen entgegen, daß er nach objektiven Bewertungsmaßstäben urteile. Der Richter kann sich auch dem Banne dieser Vorstellung nicht leicht entziehen. Sie zwingt ihn in eine objektive Stellung hinein. Der Richter weiß auch, daß nur so die Kontinuität der Rechtspflege und die Rechtssicherheit gewahrt werden und gerade diese Güter werden ihm anvertraut. Daß ein Richter aber

durchaus nicht nach seinem subjektiven Empfinden urteilen darf, kommt im Gesetz selbst zum Ausdruck. Denn es verlangt, daß der Richter nach einer Regel entscheide. Damit ist die extrem subjektivistische Lehre bereits abgewiesen. Und wenn der Richter die Regel so zu bilden hat, wie er sie als Gesetzgeber aufstellen würde, macht ihm dies wiederum eine objektive Beurteilung zur Pflicht, die keinen Raum für Willkür läßt.

Aber zu alledem kommt, daß das ZGB. selbst noch ausdrücklich Schranken aufstellt und für die richterliche Rechtsschöpfung sehr bestimmte Wegleitung erteilt. Denn der dritte Absatz unserer Bestimmung sagt: Er (der Richter) folgt dabei bewährter Lehre und Überlieferung.

Der Richter wird somit angewiesen, die bewährte Lehre zur Anwendung zu bringen, wenn ihm diese die erforderliche Entscheidungsnorm bietet. Man erkennt sofort die ganz andere Auffassung des modernen Kodifikators im Vergleich zu derjenigen seiner älteren Vorgänger. Hat doch einst Justinian nicht nur die Gesetzgebung, sondern sogar die Auslegung dem Kaiser vorbehalten wollen: itam conditor quam interpres legum solus imperator iuste existimabitur. Nicht viel anders ist die Auffassung, die Napoleon gehabt haben muß, als er den ersten Kommentar zum code civil mit den Worten begrüßte: mon code est perdu. Und aus gleichen Gedankengängen heraus erklärte das preußische Allg. Landrecht von 1794: Auf Meinungen der Rechtslehrer oder ältere Aussprüche der Richter soll bei künftigen Entscheidungen keine Rücksicht genommen werden (Einl. §6). Demgegenüber ruft das ZGB. die Rechtswissenschaft zur Mitarbeit auf. Es liegt nun an ihr, ihre schöpferische Kraft zu erweisen. Dabei gilt dann das bisher über die richterliche Tätigkeit Ausgeführte auch für die Wissenschaft. Sie erhält eine gesetzgeberähnliche Funktion. Sie muß Normen aufstellen. Sie darf diese aber nicht aus Begriffen konstruktiv ableiten wollen. Vielmehr kann sie zur schöpferischen

Tat nur kommen durch eine teleologische, kritische Betrachtung des Stoffes, der ihr Forschungsgebiet ausmacht.

Nur so wird sie von dem Fehler verschont bleiben, dem sie im 19. Jahrhundert nicht ganz selten verfallen ist, daß sie nämlich das Rechtsleben aus engem Doktrinarismus heraus schulmeistern will. Was alles hat eine konstruktive Jurisprudenz nicht als unmöglich erklären wollen, was heute lebendes Recht ist: die Eigentümerhypothek, überhaupt das beschränkte dingliche Recht an eigener Sache, das Gesamteigentum, den gesetzlichen Übergang der Gläubigerrechte auf den zahlenden Bürgen, Personalservituten mit dem Inhalt von Grunddienstbarkeiten, Persönlichkeitsrechte usw.

Nur durch eine kritische Betrachtungsweise kann die Wissenschaft dem Gesetzgeber wertvolle Vorarbeit liefern, nur durch eine solche aber auch im Dienste der Rechtsprechung die Aufgaben erfüllen, die der Gesetzgeber ihr in Art. 1 zuweist.

Ferner hält das Gesetz den Richter an, die bewährte Überlieferung zu befolgen. Diese liegt vor allem in der Rechtsprechung. Wenn ein Richter nach Abs. 2 unseres Artikels verfährt und, um zu einer Entscheidung zu gelangen, eine Regel aufstellt, so gilt diese Regel zunächst nur für den Einzelfall. Wenn der Richter dabei auch normbildend tätig ist, —er stellt die Regel doch nur auf im Dienste der Einzelentscheidung. Aber in ihr liegt eine Betätigung der Urteilskraft, die doch über den Einzelfall hinaus Bedeutung erhält. Schon die Postulate der Rechtsgleichheit und der Rechtssicherheit verlangen eine Berücksichtigung der schon gefällten Entscheidungen, des bisherigen richterlichen Rechtes. Wenn der Richter in einem neuen Falle ein Urteil abgibt, das mit früheren im Widerspruch steht, gesteht er damit ein, daß jene früher aufgestellte Entscheidungsnorm nicht die sachgemäße, nicht die richtige gewesen ist. Er wird also nur aus Gründen besserer Einsicht von ihr abweichen. So erhalten die richterlichen Rechtssätze

doch eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung. Sie sind ein wertvolles Material, das der Richter vorfindet und das er nicht ignorieren darf. Sie enthalten eine reiche Fülle von Werturteilen. Dabei eignen den vom Richter aufgestellten Sätzen oft unverkennbare Vorzüge. Sie sind aufgestellt worden in engster Fühlung mit dem Leben. Dieses selbst bot den Rohstoff. Wenn nun schon die richterlichen Sätze auch Abstraktionen enthalten, so ist doch regelmäßig die abstrahierende Tätigkeit nicht eine so weitgehende, wie beim Gesetzgeber. Das richterliche Recht bildet sich in individualisierender, experimentaler Weise, in enger Anschmiegung an die Bedürfnisse des Lebens, allmählich und unter beständiger Selbstkontrolle. Man untersuche daraufhin die feinen Wandlungen der zürcherischen Praxis in der Zulassung der Vaterschaftsklage nach der Geburt des Kindes, oder die Praxis des Bundesgerichtes in der Behandlung von Streik, Boykott und Sperre, wie sie zuerst tastete und schwankte, schließlich aber doch zur Abklärung gelangte und eine innerlich begründete und befestigte wurde.

Deshalb verweist das Gesetz den Richter auf das vorhandene richterliche Recht. Aber in der Überlieferung liegt noch ein außerordentlich wichtiger weiterer Faktor des Rechtslebens. Die Überlieferung braucht durchaus nicht nur eine gerichtliche zu sein, sie kann auch eine außergerichtliche sein. Sie liegt in den Anschauungen des Lebens. Namentlich die Verkehrssitte liefert zahllose Verhaltensregeln, so über die Rechte und Pflichten des Mieters, des Vermieters, des Arbeitgebers, des Arbeitnehmers, über die Stellung des Verkäufers, des Käufers im kaufmännischen Verkehr, im Effekten-, im Waren-, im Immobilienhandel und so in reicher Fülle für das ganze Rechtsleben.

Auf alle diese geschriebenen und ungeschriebenen Verhaltensgrundsätze verweist das Gesetz. Es anerkennt sie somit ausdrücklich als normbildende Faktoren, als Quellen des Rechts. Dabei soll der Richter sich nicht nur von

ihnen inspirieren lassen, wie allerdings der französische Text sagt, sondern er hat ihnen zu folgen, wie schärfer und zutreffender der deutsche Wortlaut des Gesetzes ausspricht. Allerdings: er folgt bewährt er Lehre und Überlieferung. Er darf also von ihnen abweichen und sich mit ihnen in Widerspruch setzen. Aber doch nur, wenn er sie durch etwas Besseres zu ersetzen weiß, doch nur, wenn sie seiner gewissenhaften Nachprüfung nicht standhalten. Und zwar muß diese Prüfung gerichtet sein auf die objektive, sachliche Bewährung, auf die Begründetheit angesichts der übrigen Rechtssätze und angesichts der Bedürfnisse des Rechtsverkehrs. Lehre und Überlieferung sind somit neben dem Gesetz Rechtsquellen, wenn auch nur bedingte (Eugen Huber) oder nur als Rechtssätze minderen Grades (Gmür).

So schließt sich der Kreis. Der Gesetzgeber hat sich eine starke Selbstbeschränkung auferlegt. Das Gesetz hat das Recht nicht monopolisiert. Neben ihm fließen noch reichlich andere, Quellen. Es beläßt einen gewissen freien Raum für eine richterliche Betätigung, die nicht Gesetzesanwendung ist. So stellt das Gesetz den Richter —relativ — frei. Aber es ist trotzdem nichts mit jenem Richterkönigtum und mit jener Intronisation der Richterpersönlichkeit, wie sie nun schon so oft aus Art. 1 herausgelesen worden ist. Denn in jenem gesetzesfreien Raum ist der Richter an jene andern rechtsbildenden Faktoren gebunden, an Lehre, Übung, Sitte. Das ist das Verhältnis von Gesetzeszwang und Richterfreiheit nach Art. 1.

Doch da drängt sich uns die Frage auf: Liegt nicht ein Widerspruch in diesen beiden Gesetzessätzen? Ist es nicht ein Geben und Wiedernehmen, wenn das Gesetz den Richter anweist, nach der Regel zu entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellte, um ihn nachher an bewährte Lehre und Überlieferung zu binden? Doch da offenbart sich uns erst der tiefe Sinn der Gesetzesbestimmung:

Der Richter soll vorgehen wie ein Gesetzgeber.

Dieser aber offenbart ihm, wie er selbst vorgegangen ist. Sein ganzes Streben war gerade darauf gerichtet, bewährter Lehre und Überlieferung zu folgen und diesen zu klarem eindringlichem Ausdruck zu verhelfen. Das Gesetz will dem Leben dienen und das Leben fördern. Dieses Ziel kann es gar nicht anders erreichen als indem es seine Normen dem Leben selbst ablauscht. Folgende Worte Eugen Hubers in den Erläuterungen werden immer ein klassisches Programm jedes Privatrechtsgesetzgebers sein: "Die Gesetzgebung kann und darf sich nur als das Werkzeug betrachten, mit welchem dasjenige zur Durchführung gebracht wird, was ohnedies im Volke bereits lebt. Die Gesetzgebung spricht nur das durch die allgemeine Entwicklung gegebene Wort für die Gedanken aus, die ohnedies vorhanden sind, die aber eines solchen Ausdrucks bedürfen, weil sie ohne diese Hilfe nur schwer zu voller Klarheit durchzudringen vermöchten. Das Gesetz muß aus dem Gedanken des Volkes heraus gesprochen sein. Der verständige Mann, der es liest, der über die Zeit und ihre Bedürfnisse nachgedacht hat, muß die Empfindung haben, das Gesetz sei ihm von Herzen gesprochen. Keine Nachahmung, keine Wissenschaft, keine Phantasie vermag hier den eigentlichen Lebensnerv zu ersetzen. Nur in stiller beharrlicher Aufmerksamkeit und in stetem und innigem Zusammenhange mit dem Rechtsleben des Volkes läßt sich etwas von jenen Stimmen erlauschen, die Kunde geben von der den Überlieferungen entsprechenden Weiterbildung eines volkstümlichen Rechtes. Der Gesetzgeber schafft das Recht nach dem, was seiner Überzeugung nach Recht sein sollte. Er vermag sich diese Überzeugung aber nicht unabhängig von den Dingen, wie sie sind, zu bilden. In der Betrachtung der gegebenen Zustände, nach den Erfahrungen die mit diesen gemacht worden sind, nach den Anforderungen, die sich aus dem Leben ergeben, gelangt er zu seiner Auffassung, wie jeder denkende Bürger."

Damit bezeugt der Gesetzgeber einen scharfen Blick

dafür, wo allein die Wurzeln seiner Kraft liegen, worin allein die Stärke des Gesetzes ruht: nämlich darin, daß es den im Volk lebenden Anschauungen entspricht. Das Gesetz gilt nicht schon darum, weil es erlassen ist. Es gilt nur, wenn es angewendet wird, wenn diejenigen, die zu seiner Anwendung berufen, ihm ihren Arm leihen, wenn es sich durchzusetzen vermag. Das Gesetz ist nur ein Motivationsversuch, nur ein Faktor zur Bestimmung des menschlichen Verhaltens und nicht der stärkste. Wenn sich ein Gesetz im Widerspruch mit eingelebten und noch lebendigen Vorstellungen befindet, dann versagt es nur allzu leicht. So brachte uns das Zivilstands- und Ehegesetz von 1874 ein einheitliches Ehescheidungsrecht. Aber die Rechtsprechung blieb in den Kantonen bis zuletzt in starker Abhängigkeit von dem bisherigen Ehescheidungsrecht, und so erhielten sich in Ost und West des Landes bis herab auf unsere Tage sehr erhebliche Unterschiede der Rechtsprechung, die selbst in der Statistik zu klarem Ausdruck gelangen. So war ferner das zürch. pr. GB. recht engherzig in der Zulassung der Vaterschaftsklage nach der Geburt des Kindes — zum Schutze der Männer. Heute scheint uns der Schutz der Mütter und vor allem des Kindes wichtiger. Und aus dieser anderen Bewertung heraus hat sich in den letzten Jahren eine Praxis ausgebildet, die dem Gesetz gegenüber zum mindesten als eine sehr weitherzige bezeichnet werden muß. In der gleichen Weise wird sich das Gesetz sehr leicht als der schwächere Teil erweisen, wenn es in scharfem Widerspruch zu den wirtschaftlichen Bedürfnissen des Verkehrs steht. Nur zwei Beispiele: So war in dem kantonalen Rechte die Eigentümerhypothek zumeist aus doktrinären Erwägungen heraus ausgeschlossen und auch der Schuldbriefverkehr war durch lästige Formvorschriften erschwert. Der Verkehr hat diese Bestimmungen in weitem Umfange mißachtet. Auch das zürch. Gesetz von 1887 hat nicht erst dem Verkehr die Freiheit gebracht, sondern das Gesetz sanktionierte in der Revision der §§ 386 ff. vielfach nur

die Freiheit, die sich dieser mit innerer Gewalt schon vorweggenommen hatte. Und dasselbe Schauspiel werden wir auf dem Boden des Bundesrechtes erleben. Art. 873 des OR. verbietet, in die Firma einer Aktiengesellschaft den Namen einer lebenden Person aufzunehmen. Dieses Verbot verletzt sehr große Interessen und widerspricht eklatant den Bedürfnissen des Verkehrs. Und deshalb haben sich denn auch geradezu in einer gesetzwidrigen Praxis Firmenbildungen durchzusetzen vermocht, wie die folgenden: Verlagsanstalt Benziger u. Cie. A.-G., Möbelfabrik Robert Zemp A.-G., Aktienges Brown, Boveri u. Cie., Zwilchenbart, schweiz. Akt.-Ges. für Auswanderung, Akt.-Ges. der Maschinenfabriken von Escher, Wyß u. Cie usf. Da die Aufsichtsbehörde, insbesondere auch die oberstinstanzliche, der Bundesrat, diese Praxis schützt, gibt es gar keine Möglichkeit mehr, der gesetzlichen Bestimmung Geltung zu verschaffen. Nach dem Revisionsentwurf will der Gesetzgeber der "Gescheitere" sein, nachgeben und den Gesetzestext gemäß der Praxis, die sich durchgesetzt hat, abändern.

So ist denn nur dasjenige Gesetz ein gutes Gesetz, lebensfähig und stark, das mit den allgemeinen Anschauungen und mit den Bedürfnissen des Lebens übereinstimmt. Am stärksten ist dasjenige, das in seinen Normen lediglich die Tatsächlichkeit des Lebens zum Ausdruck bringt und mit ihr vollkommen harmoniert. Deshalb jene weise Selbstbescheidung des Gesetzgebers, deshalb seine historische Methode der Rechtsetzung.

Deshalb weist der Gesetzgeber auch den Richter an, ebenso zu verfahren. Auch für ihn gilt, daß das Recht nicht Selbstzweck ist, sondern dem menschlichen Zusammenleben zu dienen hat. Auch das richterliche Recht muß einen Widerhall im allgemeinen Urteil finden. Auch es muß aus dem Gedanken des Volkes heraus gesprochen sein und den Bedürfnissen der Zeit entsprechen. Wie das Gesetzes- vermag auch das richterliche Recht nur dann zu bestehen.

Nun ist im allgemeinen die schweizerische privatrechtliche Judikatur bisher eine durchaus gesunde gewesen. Ich war denn auch in der Lage, in den gemachten Ausführungen immer wieder auf richterliches Recht und gerade auf methodisch durchaus richtig gebildetes richterliches Recht aus dem bisherigen Rechtsleben zu verweisen. Aber mit dem ZGB. tritt das Gesetzesrecht mit einer Wucht wie nie zuvor in unser Rechtsleben ein. Und deshalb wird auch die Gefahr, die in den modernen Kodifikationen liegt, dringlicher und größer, daß nämlich das Gesetzeswort überschätzt wird, daß Wissenschaft und Rechtsprechung ihr Antlitz dem Leben abkehren und nur noch das Gesetz zu sehen vermögen, daß sie verknöchern und zu formalistischer Buchstabenjurisprudenz ausarten. Deshalb hat der Gesetzgeber diese Sätze vor sein Werk hingestellt:

Art. 1 ist sein Selbstbekenntnis über die ihm und seiner Macht gezogenen Schranken. Er ist eine Absage an alle pseudogelehrte scholastische Rechtsprechung und eine eindringliche Mahnung vor den Gefahren, die hinter der Kodifikation lauern. Er ist aber nicht weniger eine Absage an den Richtersubjektivismus der extremen Freirechtsschule. Er ist ein Hinweis auf die unversieglichen Quellen stets lebendigen Rechts. Er ist, von unseren Richtern befolgt, die Gewähr einer gesunden und volkstümlichen Rechtsprechung.

Literatur.

Die folgenden Angaben sollen lediglich einer ersten Einführung in die besprochenen Probleme dienen. Eine bis zum Jahre 1912 fortgeführte Literaturübersicht bietet Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung, Tübingen 1912.

Der schärfste Kritiker der herrschenden Methodenlehre ist bekanntlich Fuchs: Die Gemeinschädlichkeit der konstruktiven Jurisprudenz 1909, Juristischer Kulturkampf 1912. Ihm sind als — bedingte — Verteidiger derselben besonders entgegengetreten Vierhaus, Über die Methode der Rechtsprechung 1911.

Düringer, Richter und Rechtsprechung 1909. Anregungsreich bespricht die richterliche Tätigkeit i. A.: Wurzel, Das juristische Denken 1904.

Der Ausgangspunkt für die neue Bewegung ist die Lehre von den "Lücken im Recht". Vergl. über sie die gleichbetitelte Abhandlung von Zitelmann 1903. Wie weit die lückenausfüllende Tätigkeit des Richters reicht, untersucht auch Oertmann, Gesetzeszwang und Richterfreiheit 1909.

Die Ausfüllung der Lücken soll nach den Vertretern der "Freirechts"-Bewegung durch den Richter in freier Weise erfolgen: Ehrlich, Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft 1903, Guaeus Flavius (Kantorowicz), Der Kampf um die Rechtswissenschaft 1906. Demgegenüber verlangt Rumpf, Gesetz und Richter 1906, ein Urteilen durch Wertermittlung und Werturteil. Damit ist die Lehre von der Interessenabwägung nahe verwandt: Heck 1. c., M. Rümelin, Das neue schweiz. ZGB. 1908. Eine andere Methode entwickelt Stammler, der eine Beurteilung nach gemeingültigem Maßstabe verlangt und diese in seiner Lehre vom sozialen Ideal zu gewinnen versucht. Vergl. die Literaturangaben zum zweiten Vortrag.

Die Gebundenheit des Richters an die Überlieferung findet in der Literatur den beredtesten Vertreter in Danz: Auslegung der Rechtsgeschäfte, 3. Aufl. 1911, ders. Rechtsprechung nach der Volksanschauung und nach dem Gesetz, S.-A. aus Iherings Jahrb. II. Folge XVIII., ders. Einführung in die Rechtsprechung 1912.

Über die "bewährte Lehre" Eugen Huber, S.-A. aus d. pol. Jahrb. der schweiz. Eidg. 25 (1911).

Über Art. 1 ZGB. vergl. außerdem die Komm. von Reichel und von Gmür, ferner Gmür, Die Anwendung des Rechts 1908, Rümelin, Das neue schweiz. ZGB. 1908.