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Die Neuorientierung der Physik

Rektoratsrede gehalten an der 87. Stiftungsfeier der Universität Bern

den 26. November 1921

von

Dr. P. Gruner

Professor der theoretischen Physik

Paul Haupt
Akademische Buchhandlung, vorm. Max Drechsel
BERN 1922

Die Neuorientierung der Physik.

Zu wiederholten Malen hat die Physik in ihrem raschen Entwicklungsgang sprunghafte Fortschritte gemacht, die von der damals lebenden Generation stets als radikale Umwälzungen aufgefaßt wurden: denken wir an das erste Aufblühen der Kenntnisse über die Elektrizität vor ca. 100 Jahren, an die Einführung des Energieprinzips, an die revolutionären Theorien von Maxwell und Hertz, an die glänzenden Entdeckungen der Röntgenstrahlen und der Radioaktivität usw. -— Aber so großartig diese Fortschritte auch waren, sie waren doch immer weniger tiefgreifend, als es den Anschein hatte, sie lieferten immer nur neue, imposante Bausteine zum Gebäude der Physik, ohne es in seinen Grundfesten zu erschüttern. — Was aber den Charakter der gegenwärtigen Entwicklungsphase der Physik ausmacht, das ist ihre vollständige Neuorientierung, die an den letzten Grundpfeilern unserer ganzen Naturwissenschaft rüttelt!

Ein Vergleich d'er gegenwärtigen Einstellung der Physik mit dem Bilde, das sie vor etwa 50 Jahren darbot, wird uns bald darüber aufklären.

Wie einfach war es doch damals, Physiker zu sein!

Da lag die ganze Natur in ihrer Pracht vor uns, aufgebaut aus den unzähligen Körpern mannigfachster Art, von denen jeder, auch der kleinste, seinen Platz im Raume beanspruchte und seine wunderbaren Bewegungen und Veränderungen in der Zeit vollführte. Der leere Raum, die absolute Zeit — das waren die großen, selbstverständlichen Realitäten, die Mietskasernen, in denen die ganz: Natur untergebracht war. Ein Problem des Raumes und der alle seine Verhältnisse ordnenden Geometrie oder ein Problem der Zeit gab es für den damaligen Physiker nicht. Hatte er doch die feinsten Maßstäbe, Instrumente und Uhren, mit denen er Raum und Zeit bis in's äußerste messen konnte — was wollte er mehr?

Die Bewohner von Raum und Zeit, die Körper, mußten selbstverständlich aus etwas bestehen, dieses etwas war der Stoff, die Materie; sie bildete die raumerfüllende Wirklichkeit — was nicht Materie war, das existierte nicht. — Es gibt zwar ein großes Gebiet von Naturerscheinungen, die Licht- und Wärmestrahlen (denen sich später die elektrischen Strahlen der Funkentelegraphie zugesellten), die gerade in den von Materie freien Räumen sich ausbreiten und also immateriell sind. Natürlich mußte für diese ein neuer Träger gefunden werden. Er wollte sich zwar durch kein Experiment nachweisen lassen, aber er mußte da sein: offenbar als Stoff feinerer Art, der den ganzen Weltenraum gleichmäßig erfüllt und auch alle materiellen Körper durchdringt, dabei aber unseren Sinnen unzugänglich bleibt, über den also eigentlich nichts auszusagen war. Die Hauptsache war, daß man einen Namen für ihn fand; man nannte ihn den Aether — im übrigen konnte man diesem rätselhaften X alle wünschbaren Eigenschaften zuschreiben, es war ja doch keine von ihnen kontrollierbar.

Um so eingehender ließ sich dafür die Materie analysieren. Außer ihrer Eigenschaft, den Raum auszufüllen, zeigte sie eine weitere universelle Eigenschaft, nämlich die, ein Gewicht zu besitzen. Das Gewicht diente zur Messung des Stoffquantums, es definierte die Masse der Körper, jene dritte Fundamentalgröße der Physik neben Raum und Zeit.

Die Chemie lehrte, daß bei den verschiedenartigsten Naturprozessen die Masse konstant bleibt, daß sie weder verschwinden noch entstehen kann, und diese Erkenntnis führte im Verein mit den übrigen Resultaten der Chemie zu der atomistischen Auffassung der Materie, zu der Vorstellung, daß das ganze Weltall aus ca. 70 verschiedenen, nicht mehr weiter zerlegbaren, winzigen Bausteinen zusammengesetzt sei, aus den Atomen der chemischen Elemente. Man ahnte, daß die Atome vielleicht selber aus einem Uratom aufgebaut seien — aber man behandelte sie doch als konkrete Wirklichkeiten, über die nicht weiter zu grübeln war.

Auf diesen Stoff wirkte die Kraft. Die Natur hatte sich ja als eine Welt vollendeter Ordnung und Regelmäßigkeit offenbart, es war, als ob eherne Naturgesetze ihren ganzen Lauf auf ewig bis in's Kleinste bestimmen würden. Diese Ordnung erklärte

man sich als Kausalzusammenhang, aber dieser philosophische Begriff mußte rein physikalisches Gewand haben, das man aus dem Gebiete menschlicher Tätigkeit hernahm, — man sprach von Kräften: Anziehungskräften, Schwerkräften, elektromagnetischen Kräften usw. — Die Welt, ja jedes einzelne Atom, war vollgespickt mit solchen Kräften; sie waren zwar als solche nicht wahrnehmbar, sie konnten allein aus ihren Wirkungen erschlossen werden; aber man konnte mit ihnen exakt rechnen, sie galten deshalb als konkrete, spürbare Realitäten, über die man sich nicht weiter den Kopf zu zerbrechen brauchte.

Auf die wunderbare Mannigfaltigkeit der erdachten Kräfte, von der von Atom zu Atom wirkenden chemischen Affinität bis zu der auf unermeßlichen Distanzen unvermittelt und momentan wirkenden Gravitationskraft, haben wir hier nicht einzutreten. Sie wurden alle gewissermaßen unter einen Hut gebracht durch den Begriff der Energie, welche die von jeder Kraft zu leistende mechanische Arbeit ausdrückt. Die Prinzipien der Konstanz der Masse und der Konstanz der Energie bildeten die unüberbrückbaren Schranken, innerhalb derer sich das ganze Naturgeschehen abspielen mußte.

Wie wunderbar klar war die Aufgabe der Physik!

Sie hatte nur ein Ziel: die Gesamtheit aller Naturerscheinungen auf das kausal determinierte Wechselspiel von Stoff und Kraft in Raum rund Zeit zurückzuführen. Ja, es schien sogar, als ob diese Aufgabe noch weiter vereinfacht werden könnte: der Schall war als Wellenbewegung der Materie erkannt worden, die Wärme als Bewegungszustand der Moleküle, die Lichtstrahlen als Wellenbewegungen des Aethers, auch für Elektrizität und Magnetismus hoffte man mechanische Erklärungen zu finden, dann ließ sich die ganze Physik auf bloße Mechanik reduzieren und den großen, einfachen Prinzipien derselben einheitlich unterordnen. —

Imposant erhob sich die mechanisch-materialistisch orientierte Weltanschauung, in die auch die organische Welt, ja auch der Mensch mit seinen höchsten geistigen Fähigkeiten aufgehen sollte.

Dieser summarische Rückblick erscheint uns heute fast wie ein Traum aus längst vergangenen Zeiten, — und doch ist es gerade diese Weltanschauung, die vielfach noch heutzutage, sogar von

akademisch Gebildeten, in den Volkskreisen als das sichergestellte Resultat der Naturwissenschaften angepriesen wird! ———

Aber wie ganz anders stellten sich die Dinge im Lichte der modernen physikalischen Forschung dar!

Die plumpe Auffassung, die in den Atomen und ihren Kraftäußerungen die wahre Wirklichkeit der Welt zu finden wähnte, hat allgemein einer nüchterneren Platz gemacht: die materialistische Weltanschauung hat dem phänomenologischen Weltbilde weichen müssen.

Die Wirklichkeit der Welt stellt niemand in Frage. Aber wir haben gelernt, scharf zu unterscheiden zwischen dem, was für uns die unmittelbar erfaßbare Wirklichkeit ist, die sich einzig und allein aus unsern subjektiven Bewußtseinserlebnissen zusammensetzt, und dem, was wir uns als unabhängig von unserm Bewußtsein bestehende, objektive Wirklichkeit denken. Sehen wir von den rein geistigen Bewußtseinserlebnissen, wie Denken, Fühlen, Wollen usw. ab, so bleibt für erstere, für die unmittelbar erfaßbare Wirklichkeit, die ganze Fülle der zahlreichen Erscheinungen, die uns als durch die Sinnesorgane vermittelte Wahrnehmungen, in Raum und Zeit verteilt, bewußt werden. Letztere, die objektive Wirklichkeit, soll uns die von allen subjektiven Elementen losgelöste Realität geben; eben darum ist sie uns als solche nicht mehr direkt zugänglich, wir können sie nur aus unsern Sinneswahrnehmungen heraus konstruieren, sie muß, also ein unserem Denkvermögen entsprechendes Bild der Naturerscheinungen geben, wir müssen sie als "Weltbild" auffassen.

Dieses Bild muß ein vollständig getreues Abbild der Wirklichkeit sein, es bedeutet also nicht Täuschung oder Schein; aber es darf in dasselbe nicht mehr hineingelegt werden, als unbedingt notwendig ist, um die durch Beobachtung und Experiment gefundenen Naturzusammenhänge in vollständiger Weise richtig darzustellen. Es bleibt ein phänomenologisches Weltbild, das auf metaphysische Fragen in keiner Weise eingehen darf; denn sonst werden die Grenzen reiner Naturforschung überschritten. -— Gelangt die Wissenschaft bei Aufstellung dieses Weltbildes zu gewissen letzten Grundbegriffen wie Atome, Aether, Kraft, Raum und Zeit, so bedeuten diese nur

noch die Formen, in die das Weltbild unsern augenblicklichen Kenntnissen nach hineingepreßt werden muß, damit es unserm Denkvermögen angepaßt werde; aber diese Formen sind in keiner Weise mit dem Inhalt der Wirklichkeit zu verwechseln. —

Um uns nicht in der Fülle der Gedanken zu verlieren, wollen wir nur drei dieser Grundbegriffe kurz in ihrer gegenwärtigen Darstellungsform betrachten: Materie, Raum, Zeit, und alle anderen bei Seite lassen.

Welch' gewaltige Änderungen hat nicht der Begriff der Materie, des Atoms, durchgemacht!

Die rasch sich entwickelnde Elektrizitätslehre hat neben dem materiellen Atom das Uratom der negativen Elektrizität, das Elektron, kennen gelehrt. Die Entdeckung der Radioaktivität hat in unbarmherziger Weise den Begriff des unteilbaren Atoms zerschmettert, und endlich hat uns die Quantentheorie in Verbindung mit den erstaunlich feinen Spektralmessungen ein ganz neues Bild des Atoms vorgezaubert, als einer eigenen planetenartigen Welt von Elektronen, die einen kompliziert aufgebauten Atomkern umkreisen. Wir ahnen, daß der Augenblick nicht mehr fern ist, in dem wir auch die Struktur des Atomkerns erkennen werden und sich so die ganze Materie auf zwei letzte Einheiten, das negative Elektron und die elektrisch positive Atomkorpuskel, wird reduzieren lassen. Es wäre tollkühn, zu behaupten, daß die Forschung bei diesen beiden Einheiten halt machen wird — aber bleiben wir vorläufig bei dieser Feststellung.

Was wissen wir eigentlich von diesen letzten Bausteinen der Welt? Daß in einem winzig kleinen Raumteil, einem Körperchen von höchstens 10 -13 cm Durchmesser etwas konzentriert ist, das sich in zweifacher Richtung wahrnehmbar macht: erstens als sog. elektrische Ladung, zweitens als sog. träge Masse. — Von elektrischer Ladung sprechen wir, weil die ganze Umgebung des betreffenden Körperchens zu einem elektro-magnetischen Feld wird, das überall bestimmte elektrische und magnetische Feldstärken aufweist. Diese aber sind an ihren Wirkungen wahrnehmbar, sie erteilen anderen, elektrisch geladenen Körperchen Bewegungsantriebe, d. h. sie üben mechanische Kräfte auf sie aus. — Von träger Masse sprechen

wir, weil eben solche mechanischen Kräfte den Körperchen eine Beschleunigung erteilen und der Quotient aus Kraft durch Beschleunigung für das Körperchen charakteristisch ist: dieser Quotient wird als träge Masse definiert.

Aber gerade dieser Massenbegriff hat die größten Wandlungen erfahren. Theorie und Experiment haben seine Veränderlichkeit, seine Abhängigkeit von der Geschwindigkeit nachgewiesen, und anschließend daran haben neuere Überlegungen ihm überhaupt seine Selbständigkeit geraubt. Die Masse gilt nur noch als eine Äußerungsform der Energie: Energie, geteilt durch das Quadrat der Lichtgeschwindigkeit, bedeutet träge Masse.

Damit fällt eigentlich der Begriff der Materie aus dem Weltbild heraus und wird ersetzt durch den allumfassenderen Begriff der Energie. Atomkorpuskeln und Elektronen sind nur noch räumlich begrenzte Zentren gewaltiger Energiemengen, und zwar, — da die ganze Atomwelt in letzter Linie nur durch ihre elektrische Ladung charakterisiert ist, — einfach elektrischer Energiemengen. Diese verschiedenartig konzentrierte elektrische Energie allein ist das charakteristische der Korpuskeln aller Art, sie ist es, die allen mechanischen Kraftwirkungen gegenüber sich als träge Masse äußert.

Energie ist jedoch nicht nur innerhalb jener positiv und negativ elektrischen Korpuskeln enthalten, sondern jede Korpuskel hat ihr elektromagnetisches Feld, und das Vorhandensein desselben bedeutet, daß in jedem Punkt des Feldes eine bestimmte Energiemenge, die Feldenergie, vorhanden ist, die sich von der betreffenden Korpuskel aus bis in die Unendlichkeit ausbreitet. Es ist nun nicht einzusehen, warum diese im ganzen Felde vorhandene Energie grundsätzlich etwas anderes sein sollte als die in den Elektronen und Atomen konzentrierte Energie. — Verfolgt man diesen Gedanken, wie dies u. a. von Gustav Mie geschehen ist, so gelangt man zu. folgenden Vorstellungen, die wir nur ganz summarisch skizzieren:

Wenn wir einen elektrisierten Körper betrachten, der aus unzähligen Atomkorpuskeln und Elektronen kunstvoll aufgebaut ist, so liegt faktisch nichts anderes vor uns, als ein bis in's Unendliche sich ausdehnendes elektrisches Feld, d. h. ein endlos

ausgebreitetes Energiekontinuum. In zahllosen Punkten aber verdichtet sich diese Energie in intensiver und verschiedenartiger Weise zu Energieknoten (Verdichtungen oder Verdünnungen), und diese Energieknoten repräsentieren die betreffenden Korpuskeln und Elektronen; dieselben sind demnach gar nicht absolut scharf abgegrenzte Raumteile, sondern sie fließen stetig, wenn auch sehr rasch, in das allgemeine Energiekontinuum über.

Jetzt brauchen wir nur noch einen Schritt weiter zu gehen, um mit dem alten Begriff der unveränderlichen Materie wohl endgültig aufzuräumen.

Was sollen wir unter der Bewegung der Materie verstehen?

Die Atome sind Konglomerate von Energieknoten des universellen Energiekontinuums. Diese Knoten sind aber nicht selbständig für sich bestehende Dinge, die als solche überall und immer wiedererkennbar sind. Die Bewegung eines Energieknotens bedeutet nicht, daß ein bestimmtes Stück Energie hin- und herläuft, etwa wie ein Fisch im Wasser herumschwimmt, sondern nur, daß eine Knoten-Stelle fortwandert, so wie eine Wasserwelle auf der Meeresoberfläche; es ist also überhaupt nicht die Energie selber, die sich bewegt, sondern nur die Verdichtungsstelle der Energie. Man kann nicht mehr von "ein und derselben Energie", also auch nicht mehr von "ein und derselben Masse" sprechen, aus der ein wanderndes Elektron oder eine bewegte Atomkorpuskel bestehen soll, sondern in jedem Augenblick besteht das Elektron, bzw. die Atomkorpuskel aus anderer, an seinem Ort verdichteter Energie. Unwillkürlich denkt man an das "πάντα ρεϊ' von Heraklit.

Die uns gewohnten Verhältnisse kehren sich geradezu um: Die raumerfüllende Wirklichkeit ist in unserem Weltbild gegeben durch das elektromagnetische Feld mit seiner Energie und die darin sich bildenden Knotenpunkte, die nunmehr auf unsere Sinnesorgane direkt oder indirekt einwirken und die wir als Materie auffassen sind nur die sekundären Produkte des Energiefeldes. Mit Weyl sagen wir: "Nicht das elektromagnetische Feld bedarf zu seiner Existenz der Materie als Träger, sondern die Materie ist umgekehrt eine Ausgeburt des Feldes."

Wir sprechen von dem elektromagnetischen Felde, bzw. von seiner Energie. — Wir könnten ebensogut von den überall vorhandenen "Massen" sprechen, wir können nach Mie die Bezeichnung "Aether" verwenden, ja wir können auch jetzt noch das altgewohnte bequeme Wort "Materie" benützen — auf den Namen kommt es gar nicht an. Das Bedeutsame der neuen Auffassung liegt gerade darin, daß sowohl die materiellen Phänomene wie auch die elektromagnetischen Erscheinungen eigentlich Äußerungen ein und desselben, nicht weiter definierbaren Agens sind, -— eines Agens, das den ganzen Raum erfüllt und das wir deshalb kurzweg Weltkontinuum nennen wollen.

Oder sollte dieses Agens vielleicht nicht kontinuierlich sein? Sollte es sich bei genauerer Analyse wiederum atomistisch, oder — wie man sich hierfür auszudrücken pflegt — quantenhaft in diskontinuierlich aneinandergereihte Einheiten zerlegen lassen? — Wir stehen hier vor den großen, aber zur Stunde noch unabgeklärten Problemen der Quantentheorie.

Wir gehen auf diese Theorie, eben ihrer Unabgeklärtheit willen, nicht näher ein. Aber sie läßt uns ahnen, daß wir noch nicht am Ende des Problems der Materie angelangt sind. So einfach und verlockend die eben geschilderte Auffassung von Mie ist, so unterliegt sie doch gewissen Einwänden, die gerade in allerneuester Zeit von Weyl erhoben worden sind. — Wie sollen denn im Weltkontinuum der Energie die sich bildenden und wandernden Knotenstellen entstehen? Handelt es sich hier um ganz willkürliche Verdichtungsprozesse der Energie? — Hier erwacht auf einmal unser Kausalitätsbedürfnis und verlangt nach einem Grund, weshalb an gewissen Raumstellen solche Knoten, also Atomkorpuskeln oder Elektronen, sich bilden sollen, an andern nicht Wir fahnden unwillkürlich nach einem von dem Energiekontinuum verschiedenen Ding, das die Energie gleichsam um sich herum konzentriert und damit jene Knoten verursacht. — Dieses Ding repräsentiert aber einen vom Weltkontinuum ganz verschiedenen Begriff, der nun erst als Materie im engsten Sinne des Wortes zu bezeichnen wäre und der dann auch den rätselhaften Gesetzen der Quantentheorie unterworfen wäre, im Gegensatz zu dem umliegenden Kontinuum.

Wir erkennen, wie fern wir hier noch vor dem Abschluß eines einheitlich festgefügten Weltbildes stehen. — Und doch bleiben die großen Züge der Mie'schen Vorstellung bestehen, wir dürfen also auch weiterhin mit den umfassenden Begriffen des Weltkontinuums oder Energiekontinuums und der darin auftretenden Knoten arbeiten.

Auf die Behandlung der hier berührten tiefer greifenden Fragen, die uns zu einer Auseinandersetzung mit dem Kausalitätsprinzip, dem Kraftbegriff usw. führen würden, müssen wir verzichten.

Es gibt noch andere, weitschichtige Probleme, die der Besprechung harren — Probleme, die wie wenig andere die gebildete und ungebildete Welt unserer Tage in Aufregung versetzt haben, die Probleme von Raum und Zeit.

Wir sprachen von dem Weltkontinuum mit seinen unzähligen Energieknoten, den Atomkorpuskeln und Elektronen. Dieses Kontinuum definierten wir als räumlich ausgebreitet.

Was verstehen wir darunter?

Können wir uns wirklich denken, daß an und für sich ein unendlich großer, leerer Raum da sei? und daß in diesem nun die Weltenergie schön eingebettet ist, sich nach Belieben dort zusammenziehen und ausdehnen, verdichten und verdünnen kann, den Raum bald ausfüllend, bald leerlassend? — — — —

Wir erkennen doch gleich, daß dieser leere Raum etwas unvorstellbares, sinnloses ist, daß der Raum nur da eine Bedeutung besitzt, wo ein Gegenstand vorhanden ist. — Was wir bestimmt aussagen können, ist nur folgendes: Das Weltkontinuum hat gewisse Eigenschaften, Äußerungsformen, die unserem Bewußtsein als räumliche Beziehungen erscheinen; das will aber sagen, daß der Raum nicht etwas an und für sich bestehendes ist, sondern, daß er nur eine bestimmte Form ist, in welcher die Wirklichkeit uns überhaupt erst zugänglich wird. — Wir sehen den Tisch, die Stühle, den Saal hier in bestimmten räumlichen Formen; nur in ihnen können wir sie überhaupt wahrnehmen, aber die Formen selber haben keine selbständige Existenz.

Verhält es sich so, so ist die Welt nicht in einen Raum von vorgeschriebenen, a priori feststehenden Eigenschaften eingelagert, sondern der Raum ist selber nur eine Erscheinungsform der Welt;

auch hier könnten wir sagen: der Raum ist eine Ausgeburt der physikalischen Welt.

Wenn nun die Eigenschaften des Raumes, wie wir ihn wahrnehmen, durch die physikalische Welt bestimmt sind, und nicht umgekehrt, so bekommt das Problem des Raumes einen ganz neuen Aspekt, namentlich aber, was für den Physiker eigentlich allein wichtig ist, das Problem der Raummessung, der Geometrie. — Wir verweisen hierfür auf den grundlegenden Vortrag Einsteins über "Geometrie und Erfahrung" und bemerken nur folgendes:

In der Schule haben wir alle Geometrie gelernt, und diese, nach Euklides aufgebaute Geometrie wurde uns als absolute Wahrheit vordoziert. Sie ist auch absolut wahr, in dem Sinne, daß sie ein logisch fehlerfreies System ist, das auf Grund ganz weniger, a priori einleuchtender Axiome alle Raumbeziehungen festlegt; aber über dieses "a priori Einleuchten der Axiome" können doch Zweifel walten, und die große, in Diskussion stehende Frage ist eben die, wie weit jene Euklidischen Axiome die wirklichen Verhältnisse des physikalischen Raumes umfassen.

Selbstverständlich fällt es niemandem ein, die wundervollen Resultate der exakten Naturwissenschaften, die sich auf die Geometrie stützen, zu bezweifeln, — aber dadurch, daß diese Resultate für die winzig kleinen Abmessungen unserer irdischen Experimente gelten, ist noch nicht bewiesen, daß sie im ganzen Kosmos gelten werden.

Wir können ja auch die meisten irdischen Messungen unter der Voraussetzung ausführen, daß das Stück Erdoberfläche, auf das sie sich, beziehen, eben sei; solche Messungen stimmen absolut fehlerfrei — und doch ist jedes Kind darüber belehrt, daß die Erde gekrümmt ist; wir können aus kleinen Verhältnissen nicht ohne weiteres auf sehr große Verhältnisse Schlüsse ziehen.

Gerade die Kugelgestalt unserer Erde kann uns den Begriff einer von der euklidischen verschieden gearteten Geometrie anschaulich machen. — Wenn wir plattgedrückte Wesen wären, die nur die beiden Dimensionen der Kugeloberfläche kennten und von einer dritten Raumdimension keine Ahnung hätten, so würde unsere ganze Raumgeometrie eine Kugelflächengeometrie sein. Der gewohnte Begriff der Geraden wäre uns jetzt ganz

fremdartig, höchstens könnten ihn die Geometer spekulativ ausdenken, aber niemand könnte sich ihn vorstellen. Würden wir die Gerade als kürzeste Verbindungslinie zweier Punkte definieren, so wäre jede solche "Gerade" stets ein Bogenstück eines Großkreises; mit solchen "Geraden" müßten wir unsere Geometrie aufbauen, — sie würde ganz anders lauten als diejenige des Euklides: die Geraden wären z. B. in sich geschlossene Gebilde, also endlich aber unbegrenzt, "parallele" Geraden würden sich alle in zwei gegenüberliegenden Polen schneiden, die Winkelsumme eines Dreiecks wäre größer als 180° usw. — Und obgleich der ganze Raum für uns nur aus dieser zweidimensionalen Kugelfläche bestünde, die für uns Bewohner weder krumm, noch eben, sondern einfach zweidimensional ausgedehnt wäre, so könnten doch unsere Geometer rein logisch eine dreidimensionale Geometrie als Hypothese sich ausdenken; sie würden dann die interessante, dem zweidimensionalen Laien ganz verrückt scheinende Entdeckung machen, daß der Raum, auf dem wir leben, eine in die dritte Dimension gekrümmte Kugel sei, ja sie wären sogar imstande, den Durchmesser, also die Ausdehnung dieses endlichen Weltraumes zu berechnen!

Dabei ist es völlig klar, daß diese zweidimensionale Kugelgeometrie ebenso absolut wahr ist, wie die dreidimensionIe, euklidische; sie ist einfach von andern Gesichtspunkten und auf andern Axiomen aufgebaut. Darum lautet die zu lösende Frage nicht, ob die euklidische Geometrie wahr sei oder nicht, sondern ob die physikalischen Messungen in unserm Raum, z. B. innerhalb des Milchstraßsystems, sich der euklidischen Geometrie oder einer viel allgemeineren Geometrie, wie sie Gauß und Riemann begründet haben, anpassen lassen.

Das ist nicht eine Frage, die a priori entschieden werden kann, sondern die rein experimenteller Natur ist, und deshalb wird die Geometrie, sofern sie kein bloßes Gedankensystem sein will, sondern auf die Natur anwendbar sein soll, als eigentliche Welt- oder Erdmeßkunst (Geo-metria) zu einem Teil der Physik.

Das Bindeglied aber zwischen Geometrie und Physik gibt uns seltsamerweise die Schwerkraft, die Gravitation!

Wir haben diese absichtlich bei Behandlung des Weltkontinuums mit seinen Energieknoten weggelassen, obgleich ihr doch eine Hauptrolle zukommt.

Man kann ja wohl die außerordentliche Mannigfaltigkeit aller Naturerscheinungen in letzter Linie auf elektromagnetische Wirkungen zurückführen und das bunte Wechselspiel der Welt auf Veränderungen dieses einen Weltkontinuums reduzieren, in welchem elektrische Energie und Masse sich zu einer Einheit verschmelzen, — zu der "Materie" in weitesten Sinne des Wortes bzw. zum Mie'schen Aether. Aber daneben zeigt sich stets noch eine Wirkung ganz besonderer Art, eine anziehende Wirkung, die von Energieknoten zu Energieknoten, also von Massenpunkt zu Massenpunkt, sich bemerklich macht, die Gravitation. Ihr kommt eine eigentümliche, unscheinbare und deshalb bisher viel zu wenig beachtete Eigenschaft zu, die in der bekannten Tatsache, daß alle Körper im luftleeren Raum gleich schnell fallen, enthalten ist: die Gravitation hängt nur von der Masse der Körper ab, nicht von ihrer spezifischen Natur im Gegensatz zu den elektromagnetischen Erscheinungen, bei denen die individuelle Natur der Körper so deutlich mitspielt. Die Gravitation hat also einen universellen Charakter in ganz anderem Maße als das elektromagnetische Feld. Von den Massen, bezw. Energien, die in den Atomkorpuskeln und Elektronen konzentriert sind, geht auch dann, wenn die elektrischen Wirkungen der positiven und negativen Ladungen sich völlig neutralisieren, doch noch eine im ganzen Raum beobachtbare, universelle Wirkung aus, es ist die Gravitation. —

Im modernen physikalischen Weltbild sieht man aber von der alten Vorstellung der Fernkräfte vollständig ab, so daß die Gravitationswirkung auf eine im ganzen Raume ausgebreitete Energie, die Gravitationsenergie, auch Gravitationspotential genannt, zurückgeführt werden muß. Das Weltkontinuum, das den Raum erfüllt, ist demnach nicht nur als ein elektromagnetisches Feld, sondern in noch viel allgemeinerem Sinn als ein Gravitationsfeld aufzufassen.

Aber nach den neueren Vorstellungen ist es nicht das Weltkontinuum, das den Raum erfüllt, sondern der Raum, dem ja keine selbständige Existenz zukommt, ist in seinen Beziehungen

durch die Eigenschaften des Weltkontinuums bestimmt, und zwar durch universelle Eigenschaften desselben, die von der spezifischen Natur der Körper unabhängig sind. Die universellen geometrischen Beziehungen der Natur müssen also in engster Beziehung zu der universellen physikalischen Gravitation stehen — wir werden mit Notwendigkeit zu dem genialen Gedanken geführt, den Einstein mit kühnem Wagemut zuerst ausgesprochen hat:

Das Gravitationsfeld ist dasselbe wie das geometrische Feld der in der Natur vorhandenen Massen, bezw. Energieknoten. Beides, Gravitation und Geometrie, sind zwei verschiedene Äußerungsformen ein und derselben Eigenschaft des Weltkontinuums.

Wir können diese großartige Auffassung, die natürlich zu ihrer Durchführung eines komplizierten mathematischen Apparates bedarf, nicht weiter verfolgen, sondern begnügen uns mit der summarischen Andeutung eines Beispiels:

Die Sonnenmasse erzeugt in ihrer Umgebung das längstbekannte Newton'sche Gravitationsfeld mit seinem Gravitationspotential. Aber diese Umgebung, dieser umgebende Raum, ist nicht etwas primär vorhandenes, er ist ja selber nur eine Äußerungsform des Feldes; seine geometrischen Beziehungen sind durch die physikalische Natur des Feldes bestimmt. Es ist also die Sonnenmasse, welche die Geometrie ihrer Umgebung festlegt, — das Gravitationspotential ist nichts anderes als der sog. Krümmungstensor dieser Gauß-Riemann'schen Geometrie.

Ob diese Geometrie der Sonnenumgebung merklich von der Euklidischen abweicht, ist erst durch das Experiment festzustellen —und dieses Experiment liefern die Planeten. — In der Tat gestattet die Einstein'sche Theorie dieses geometrische Feld der Sonne zu berechnen und wiederum aus diesem Feld die Bewegungen zu bestimmen, die ein darin befindlicher, beweglicher Massenpunkt annehmen muß. — Was hat diese Rechnung ergeben? — Genau die elliptischen Bahnen und die zugehörigen Geschwindigkeiten, wie sie die Astronomen an den Planeten beobachten, mit allen ihren besonderen Abweichungen, bis zu der bisher unerklärlich gebliebenen Pendelbewegung des Merkurs.

Diese überraschend schöne Leistung der Einstein'schen Theorie bildet den festen Stützpunkt der neuen Auffassung. — Geometrie

und Gravitation vereinigen sich in einer höheren Synthese, das ganze Weltbild der Astronomie gewinnt einen neuen Anblick, — statt der rätselhaften Gravitationskräfte, welche nach alter Vorstellung die Planeten wie mit unsichtbarer Hand bewegten, erscheinen jetzt rein geometrische Führungslinien, in denen sie ihre Harmonie der Sphären erklingen lassen.

Weite Ausblicke eröffnen sich für unsere ganze Vorstellung vorn Kosmos. Wir deuten sie nur in wenig Worten an: Der Raum, in welchem wir das Weltall wahrnehmen, wird nicht mehr als unendlich groß angenommen, sondern als endlich, — ja sein Durchmesser ist bereits, in allerdings völlig hypothetischer Weise, auf ca. 10 8 Lichtjahre geschätzt. — Und in diesem Raum eilen die sog. geradlinigen Lichtstrahlen nicht in euklidisch'en Geraden fort, sondern in sog. kürzesten Linien, d. h. sie beschreiben gewaltige Bogen und kehren nach Millionen von Lichtjahren wieder an ihren Ausgangspunkt zurück! — — —

Man könnte über solche phantastische Gedanken mitleidig zu lächeln versuchen, wenn nicht auch hier wieder die bei der Sonnenfinsternis vom 29. Mai 1919 gemachten Beobachtungen, eine erste Bestätigung dieser kühnen Gedankenflüge zu geben schienen: die Krümmung der Lichtstrahlen ist durch sie sehr wahrscheinlich gemacht.

Aber wir gehen auf dieses Gebiet, das einen immerhin rein hypothetischen Charakter trägt, nicht ein, obgleich es allerdings eine ungeahnte Neuorientierung andeutet. — Es ist Zeit, das Problem der Zeit selber in Angriff zu nehmen.

Eigentlich wurde dieses Problem schon berührt; denn wir haben von Bewegungen gesprochen, und Bewegungen sind immer eine Kombination von Raum und Zeit, sodaß wir bereits unbemerkt etwas von diesem Problem vorweg genommen haben. Und das ist nicht verwunderlich; denn nicht nur bei Bewegungen, sondern in allem Naturgeschehen sind immer Raum und Zeit unlöslich miteinander verbunden. —- Ist das aber nicht ein Hinweis, daß diese beiden Begriffe zusammengehören und daß die Resultate, die wir für den Raumbegriff erhalten haben, mutatis mutandis auch auf den Zeitbegriff zu übertragen sind?

Aber merkwürdigerweise sucht man mit zähester Hartnäckigkeit am Zeitbegriff als einem selbständigen, absoluten festzuhalten,

auch wenn man für den Raum die Relativität ohne weiteres zugibt. — Darum ist es nicht erstaunlich, daß die Einstein'sche Relativitätstheorie, die gerade beim Zeitbegriff einsetzt, so viel Widerstand erfährt — und doch lassen sich seine Überlegungen nicht aus der Welt schaffen.

Es ist und bleibt unmöglich, von zwei Ereignissen, die an räumlich weit entfernten Orten (z. B. in Genf und Washington) stattfinden, mit absoluter Sicherheit physikalisch festzustellen, ob sie "gleichzeitig" stattfinden oder nicht. Die vollkommensten Uhren nützen nichts, da wir die Gleichmäßigkeit ihres Uhrganges an verschiedenen Orten nie voraussetzen dürfen; diese Gleichmäßigkeit muß erst noch durch Signale von einem Ort zum andern kontrolliert werden; aber hierzu muß die Geschwindigkeit der Signale bekannt sein und diese wiederum kann nur unter Voraussetzung, daß die Gleichzeitigkeit der Uhrangaben bestehe, gemessen werden — wir stehen vor einem circulus vitiosus.

Wir mögen über den Zeitbegriff denken, wie wir wollen, es besteht keine experimentelle Möglichkeit — und für den Physiker kommt es darauf allein an — die Zeit in einer vom Ort unabhängigen, absoluten Weise zu messen. Darum muß die absolute Zeit aus dem Weltbilde des Physikers verschwinden, wenn er nicht mit metaphysischen Begriffen operieren will; es kann nur eine mit dem räumlichen Bezugssystem des Beobachters verknüpfte, relative Zeit, die Ortszeit, in das Weltbild aufgenommen werden. — Dann aber werden wir mit Minkowski sagen: "Von Stund an sollen Raum für sich und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken und nur noch eine Art Union der beiden soll Selbständigkeit bewahren."

Diese "Union von Raum und Zeit", von einem allgemeineren Standpunkt aus betrachtet, drückt die Tatsache aus, daß wir mit Sicherheit ein Ereignis nur so weit unmittelbar erkennen können, als es ein raum-zeitliches Punktereignis ist. D.h. wir erfahren in unserem Bewußtsein nur, was "hier" und "jetzt" stattfindet, bzw. die Ereignisse, die an einer Raumstelle und in einem Zeitpunkt gerade zusammentreffen, koinzidieren. — Ein Astronom z. B. stellt fest, daß im Moment, in welchem sein Chronometerzeiger auf einer bestimmten Ziffer steht, ein leuchtendes Pünktlein, Sirius genannt, den Fadenkreuzungspunkt

im Fernrohr schneidet. Aus den nachträglichen Ablesungen am Fernrohr glaubt er die Lage des Sirius am Himmelsgewölbe im betreffenden Zeitmoment zu finden; aber er weiß ganz genau, daß diese Angaben falsch sind, daß der wirkliche Sirius in seiner enormen Entfernung jedenfalls in jenem Moment uni viele Millionen von Kilometern von dieser scheinbaren Lage entfernt war! — Was der Astronom festgestellt hat und allein feststellen konnte, war nur die Koinzidenz des vom Sirius vor vielen Lichtjahren ausgesandten Lichtstrahles mit dem Fadenkreuzungspunkt des Fernrohres und zugleich mit der abgelesenen Zeigerstellung des Chronometers — alles andere ist nicht mehr direkte Beobachtung, sondern bereits deduktive Folgerung.

Es liegt in der Beschränktheit unseres menschlichen Wahrnehmungsvermögens, daß uns das ganze Naturgeschehen nur in solchen raum-zeitlichen Koinzidenzen bewußt werden kann. Dabei tritt freilich in unserem Bewußtsein ungewollt und spontan eine Zerspaltung des Wahrgenommenen in Raum und Zeit auf, aber diese Zerspaltung besteht nicht notwendig auch im wirklichen, objektiven Verhalten des Weltgeschehens. — Mathematisch hängen für uns alle Naturgesetze von den drei Variabeln ab, die die Lage des Punktereignisses im Raum angeben, und von einer ferneren Variablen ab, die jenes in der Zeit festlegt. — Aber objektiv sind diese vier Variabeln einander gleichwertig: die Wirklichkeit als solche braucht kein raum-zeitliches Weltgeschehen zu sein, sie ist ein raum-zeitloses, vierdimensionales Weltsein, abhängig von vier allgemeinen Weltvariabeln.

Die Vorstellung der Natur als einer vierdimensionalen Welt, die dem Nichtmathematiker leicht ein gewisses Gruseln einflößt, ist durchaus nichts verwunderliches und nicht einmal etwas neues. Das Neue, das sie ausdrücken will, ist lediglich dies, daß der Zeit in der objektiven Realität keine Sonderstellung mehr gewährt wird, sondern daß sie — gemäß den Grundsätzen der Relativitätstheorie — mit dem Raum in unauflöslicher Beziehung steht.

Hierfür ein ganz triviales Beispiel: Ein Buch mit all' seinen Blättern repräsentiert, wenn wir uns dessen Seiten nebeneinander ausgebreitet denken, einen zweidimensionalen Raum. Wir können nun das Buch fortlaufend lesen, das will genau genommen sagen, daß unser Bewußtsein in der eindimensionalen Zeit successive den

ganzen zweidimensionalen Raum des Buches durchschreitet — das entspricht der subjektiven Zerspaltung des gelesenen Buches in den zweidimensionalen Raum und in die eindimensionale Zeit. Aber objektiv ist das Buch zu allen Zeiten da; wir können es zuklappen, es ist dann eine von dem Zeitbegriff unabhängige dreidimensionale papierene "Welt", und die Buchstaben und Wörter, die wir Menschen immer nur zeitlich nacheinander lesen können (in einer Reihe von Koinzidenzen unseres Blickes mit den Buchstaben), —sie liegen in Wirklichkeit in einer zeitlosen dreidimensionalen Welt aufgeschichtet da.

Wir haben wohl Phantasie genug, um diesen unvollkommenen Vergleich sofort auf vierdimensionale Verhältnisse zu übertragen, und damit zu verstehen, was unter der vierdimensionalen Welt gemeint ist. —

Fassen wir diese Gedanken über Materie, Raum und Zeit noch einmal zusammen:

In unserem Bewußtsein, also rein subjektiv, läßt sich die Natur immer nur als in Raum und Zeit zerspalten erkennen. Aber in der objektiven Darstellung des wissenschaftlichen Weltbildes sind wir an diese Bewußtseinsformen nicht mehr gebunden. Was die Wirklichkeit objektiv ist, bleibt uns ja für immer verborgen, und wenn wir sie altmodisch als "Materie" oder "Aether" oder modern als "Energie" bezeichnen wollen, so handelt es sich' dabei nur um Namen, denen weiter keine Bedeutung zukommt. Von der objektiven Wirklichkeit können wir ja nur die gesetzmäßigen Beziehungen, die Naturzusammenhänge, erkennen, mehr nicht, — aber diese brauchen nun nicht in die subjektive Form von Raum und Zeit hineingezwängt zu werden. Es ist das Bedeutsame der modernen Forschung, daß es ihr gelingt, die Naturgesetze in einer Weise auszudrücken, die von dieser Unterscheidung von Raum und Zeit unabhängig ist, die invariant ist (wie die Mathematiker sagen), d. h. die für alle raum-zeitlich verschiedenen, subjektiven Standpunkte unverändert bleibt und deshalb wirklich die absolut gültige Form des Naturgeschehens gibt. Darin liegt ja das Wundersame der Relativitätstheorie — über die übrigens jedermann denken kann wie er will —, daß sie unser Naturerkennen von allem relativen loslöst, um die absolut bestehenden Beziehungen um so reiner hervortreten zu lassen.

Das Weltbild wird dann in seinen großen Zügen erstaunlich einfach.

Hatten wir bisher das Weltkontinuum als räumlich verteilte Energie aufgefaßt, dessen Energieknoten, die Elektronen und Atomkorpuskeln, sich zeitlich bewegen, so wird jetzt dieses räumliche Verhalten mit dem zeitlichen verschmolzen.

Wir sprechen immer noch von Energie und Energieknoten, aber jene Energie bildet ein raum- und zeitloses vierdimensionales Kontinuum. Was wir als zeitliche Bewegung der Knoten erfassen, das ist eine zeitlich unveränderliche Kurve in diesem vierdimensionalen Kontinuum, die Weltlinie des betreffenden Knotens, in welcher die ganze raum-zeitliche Weltgeschichte des Energieknotens, bzw. des betreffenden Elektrons oder Atomkörperchens, enthalten ist.

Unserem Denkvermögen erscheint so die ganze Welt als ein vierdimensionales, unbewegliches, unveränderliches Gebilde, in welchem die Energie zu unzähligen, komplizierten und verwickelten, wohl auch mehrdeutig verzweigten Energieknotenlinien verdichtet ist, die sich bald kreuzen, bald wieder auseinandergehen. Ob dabei diese Knotenlinien nach den neueren Auffassungen Weyl's eine von Energiekontinuum unabhängige, selbständige Existenz besitzen, oder nicht, lassen wir dahingestellt. — In dieser "Welt" gleitet unser Bewußtsein gleichsam hin, von höherer Hand geleitet, trifft auf seiner Bahn immer wieder andere Energieknoten und Koinzidenzpunkte von solchen Knoten -— und so erlebte es in zeitlicher Reihenfolge nacheinander und in räumlicher Verteilung nebeneinander denjenigen Ausschnitt aus dem Weltsein, der ihm zugänglich ist, — es erlebt die Natur! —

Und nun liegt das unerwartet Neue und Großartige, das sich aus dieser neuen Darstellung des Weltbildes ergibt, darin, daß es möglich scheint, dem universellen Grundgesetz der vierdimensionalen Welt auf die Spur zu kommen und die Welt aus diesem heraus zu konstruieren!

Das folgende Zitat des Mathematikers Hilbert in Göttingen deutet diesen neuen Weg an; er sagt:

"Ich möchte im Folgenden . . . wesentlich aus zwei einfachen Axiomen ein neues System von Grundgleichungen der Physik aufstellen, die von idealer Schönheit sind . . .." — "Durch diese

Theorie werden nicht nur unsere Vorstellungen über Raum und Zeit von Grund aus in dem von Einstein dargelegten Sinn umgestaltet, sondern ich bin auch der Überzeugung, daß durch die hier aufgestellten Grundgleichungen die intimsten, bisher verborgenen Vorgänge innerhalb des Atoms Aufklärung erhalten werden . . . wie denn überhaupt damit die Möglichkeit naherückt, daß aus der Physik im Prinzip eine Wissenschaft von der Art der Geometrie werde."

Diese Grundgleichungen, wie sie außer Hilbert auch Klein, Weyl u. a. ausgearbeitet haben, und aus denen in der Tat ungeahnte Einblicke sowohl in die Welt der Atome, wie auch in den Makrokosmos sich ergeben, gipfeln in dem Prinzip, das schon die alte, klassische Mechanik zu oberst gestellt hatte, in dem verallgemeinerten Wirkungsprinzip, gewöhnlich Prinzip der kleinsten Wirkung genannt. —

Freilich liegt dieses Ziel, aus der Physik "eine Wissenschaft von der Art der Geometrie" zu machen, noch in weiter nebelhafter Ferne; noch ist die Forschung in den allerersten Anfängen, noch wird sie unerwartete Hindernisse antreffen, noch wird sie viele Zickzackwege gehen müssen.

Im physikalischen Weltbild der Einstein'schen Relativitätstheorie besteht noch ein ausgeprägter Dualismus: sie gibt keinen Zusammenhang zwischen den Gesetzen des elektromagnetischen Feldes, der sog. "Materie", und denen des Gravitationsfeldes, des sog. "Raumes". — Zwar hat Weyl den genialen Versuch gemacht, durch Einführung der Relativität der Größe, neben derjenigen von Raum und Zeit, diesen Dualismus zu beseitigen; ein endgültiges Urteil über diesen Versuch kann zur Stunde nicht gegeben werden. — Sollte Weyl Recht haben, so würden sich Elektromagnetismus und Gravitation zu einer wunderbar einheitlichen "Feldphysik" vereinigen, die nach Hilberts eben erwähntem Ausspruch auf ideal schönen Grundgleichungen sich aufbaut. Aber damit entsteht die schon erwähnte Schwierigkeit, daß dasjenige, was den Kern der Wirklichkeit in der Natur ausmacht, in der Feldphysik nur zur Auswirkung kommt, aber doch von ihr unabhängig ist und ein selbständiges Dasein führt. Dieser Wirklichkeitskern, der uns an die Monaden Leibniz's erinnert, hüllt sich in das unergründliche Dunkel des Problems der Materie,

d. h. der Singularitäten des physikalischen Feldes, und das einheitliche Band zwischen "Feld" und "Materie" läßt sich noch nicht erkennen.

Und doch ist der neue Weg betreten und kann wohl nicht mehr verlassen werden! — Wir ahnen, daß es einer späteren Generation möglich sein dürfte, den ganzen physikalischen Weltzusammenhang logisch aus einem Grundgesetz herzuleiten.

Dann geht wohl der alte Traum Hegels, die Welt logisch aufzubauen, in gewissem Sinne in Erfüllung: die Physik, im Verein mit der Geometrie, wird zur Logik des Naturgeschehens, sie lehrt uns dann, die unzähligen, durch Beobachtung und Experiment gefundenen Naturerscheinungen als selbstverständliche Weltbeziehungen zu verstehen! — —

Aber je deutlicher uns gerade dieses Ziel der neuorientierten Physik wird, um so eindringlicher wird die Frage, ob dieses vollendete, physikalische Weltbild nun den Schlußstein unserer Erkenntnis überhaupt gibt?

Im menschlichen Geist, und ganz besonders im Geist unserer modernen akademischen Jugend, liegt ein tiefes Sehnen verborgen: das Sehnen nach absoluter Wahrheit! — nach einer Wahrheit, die nicht nur den logischen verstandesmäßigen Aufbau der Welt, sondern auch den Sinn und den Zweck der Welt, ihre absolute Bedeutung, offenbaren soll.

Es mag dem Naturforscher schwer fallen, die Frage, ob die Naturwissenschaft diese volle Wahrheit finden kann, nicht unbedingt bejahen zu können. — Aber er muß ehrlich eingestehen, daß das vollständige Erfassen der Wahrheit nicht durch das Erkennen des physikalischen Weltbildes ermöglicht wird, sondern auf ganz anderem Gebiete liegt — auf sittlich-religiösem Gebiete: Wer das Absolute finden, d. h. wer Gott schauen will, der muß reines Herzens sein.

Dem bloßen Denken und Beobachten der Naturwissenschaft ist dieses intuitive Schauen versagt (so sehr es übrigens bei allen genialen Entdeckungen indirekt mitwirkt). Über den Sinn der Welt und namentlich über den Sinn unseres Lebens kann sie uns nichts sagen. Eine rein intellektuell-naturwissenschaftliche Einstellung des Menschen kann zum äußersten Verständnis des Naturzusammenhanges,

zum Höchstmaß seiner Verwertung im Dienste der Technik, zum Maximum der vollkommensten Kultur führen — aber wohin diese moderne Kultur selber uns führt, das haben wir erlebt und erleben es noch jetzt. — Der intellektuelle Fortschritt der Menschheit ohne sittlich-religiöse Grundlage ist ihr Verhängnis.

Durch diese Überlegungen wird der hohe Wert naturwissenschaftlicher Erkenntnis in keiner Weise herabgemindert; der Wahrheitsgehalt eines Arbeitsgebietes büßt niemals an Bedeutung ein dadurch, daß dessen Grenzen klar erfaßt werden.

Der angehende Jünger der Wissenschaft möge mit aller Begeisterung, deren er fähig ist, an die Lösung all' der intellektuellen Probleme, die sich ihm darbieten, herantreten. Er möge sich vertiefen in die auf allen Wissensgebieten sich anbahnenden Neuorientierungen — aber er möge sich bewußt werden, daß unsere Zeit besonders eines nötig hat: eine Neuorientierung des Lebens.