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PATHOLOGIE UND ZELLENLEHRE.

Rektoratsrede gehalten an der 90. Stiftungsfeier der Universität Bern

am 22. November 1924
von
Prof. Dr. Carl Wegelin.
PAUL HAUPT
Akadem. Buchhandlung vorm. Max Drechsel
Bern 1925.

Große naturwissenschaftliche Entdeckungen haben zu allen Zeiten einen nachhaltigen Einfluß auf die Medizin ausgeübt und zwar nicht bloss in der Weise, dass sie der praktischen Medizin neue Methoden als wertvolles Rüstzeug zur Diagnose und Behandlung der Krankheiten an die Hand gaben, sondern in vielen Fällen auch dadurch, daß sie die Vorstellungen über die krankhaften Vorgänge von Grund aus umgestalteten. So hat die Entdeckung der Bakterien seinerzeit ein ganz neues Licht auf die Krankheitsursachen geworfen, denn sie ersetzte den Krankheitsdämon, von dem nach Ansicht der orientalischen Priestermedizin und nach dem Volksglauben des Mittelalters der kranke Körper besessen sein sollte, durch sichtbare Lebewesen und verlieh dem Begriff der Infektionskrankheit erst eine feste Grundlage. In neuerer Zeit hat die Vererbungswissenschaft, die durch die Wiederentdeckung der Mendel'schen Regeln zu frischem Leben erwacht ist, eine ganze Reihe Krankheiten erhellt, bei denen wir bisher eine dunkle innere Ursache annahmen, und endlich hat es auch den Anschein, das die Colloidchemie unsere frühern Vorstellungen über manche krankhafte Stoffwechselvorgänge und über die Immunitätserscheinungen von Grund aus ändern wird. Aber wohl keine Errungenschaft der Naturwissenschaften hat die menschliche Pathologie, d. h. die Lehre von den abnormen Zuständen und Vorgängen unseres Körpers, so nachhaltig beeinflusst wie die Zellenlehre.

Jedem Gebildeten ist heute die Tatsache geläufig, dass die organischen Wesen zur Hauptsache aus Zellen aufgebaut sind und dass eine abnorme Funktion der Zellen zu Krankheit führen kann, aber zur Zeit, als die Zellenlehre noch jung und wenig anerkannt war, bedurfte es schon eines grossen Mannes, um ihre ganze Tragweite für die Medizin intuitiv zu erfassen und ihr

zum Durchbruch zu verhelfen. Dieses Verdienst gebührt Rudolf Virchow dessen reiches Lebenswerk vor 3 Jahren bei Anlaß der 100. Wiederkehr seines Geburtstages von verschiedenen Seiten aufs eingehendste gewürdigt wurde 1). Ihm verdanken wir die Einführung der Zellularpathologie in den medizinischen Gedankenkreis. Er war der erste, der die Bedeutung der Zellenlehre auch für den kranken Organismus mit voller Klarheit erkannte und sie in konsequenter Weise auf alle Arten der pathologischen Vorgänge übertrug. Seine Vorlesungen über Zellularpathologie, die er zuerst im Jahre 1858 hielt, bedeuteten einen Bruch mit den bisher herrschenden Anschauungen und eröffneten die glänzendsten Aussichten auf neue, unerwartete Einblicke in das innerste Wesen der Krankheiten. Die pathologische Anatomie erhielt von der Zellularpathologie so mannigfache Impulse und ein so fruchtbares Arbeitsfeld, daß sie für zwei Jahrzehnte geradezu die Führerrolle in der Medizin übernahm. Heute ist sie in eine bescheidenere Stellung zurückgetreten, aber sie erfüllt immer noch die wichtige Aufgabe, von der Betrachtung der Form ausgehend, an der Erforschung der Krankheitserscheinungen teilzunehmen und damit die Brücke zwischen der normalen Anatomie und Physiologie und den klinischen Fächern zu schlagen.

Wie aber steht es mit der Zellularpathologie, darf sie noch heute Gültigkeit beanspruchen? Wir dürfen nicht vergessen, daß beinahe 70 Jahre in unserer Zeit schon ein recht ehrwürdiges Alter für eine medizinische Anschauungsweise sind und deshalb dürfte es sich lohnen zu untersuchen, ob die Zellularpathologie immer noch als feste Grundlage in Unterricht und Forschung dienen kann. Gerade in der letzten Zeit hat diese Frage die Pathologen lebhaft beschäftigt. (Näheres bei Lubarsch 2), P. Ernst 3).

Bevor wir jedoch auf den heutigen Stand der Beziehungen zwischen Pathologie und Zellenlehre eingehen, ist es nötig, in kurzen Zügen erstens die vor Virchow herrschenden Anschauungen und zweitens die Grundpfeiler der von ihm neu geschaffenen Lehre darzulegen, denn nur aus diesen Gegensätzen heraus ergibt sich für uns die richtige Einschätzung des von

Virchow angebahnten Fortschritts. Da erscheint es vor allem merkwürdig, daß sich die im Altertum geltenden Vorstellungen über das Wesen der Krankheit bis in die erste Hälfte des vorigen Jahrhunderts zum großen Teil behaupten konnten, trotzdem in Anatomie und Physiologie seit dem 16. Jahrhundert geradezu umwälzende Entdeckungen gemacht worden waren. Während diese Wissenschaften sich immer mehr auf den Boden der exakten Naturforschung stellten, — ich erinnere nur an die physiologischen Studien Albrecht von Hallers —, blieb die Pathologie mit wenigen Ausnahmen in den Anschauungen des Hippokrates, des Begründers der Humoralpathologie, stecken. Dieser berühmteste Vertreter der Medizinschule von Kos (460-377 v. Chr.) führte die Krankheit auf die fehlerhafte Mischung, auf eine Dyskrasie der 4 Kardinalsäfte des Körpers zurück, als welche er Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle unterschied. Die 4 Elemente des Makrokosmos, Feuer, Wasser, Luft und Erde, waren hier gewissermaßen in den menschlichen Mikrokosmos verlegt und noch heute spiegelt sich diese Anschauung in den 4 Temperamenten wieder, deren Benennung sich von den hippokratischen Kradinalsäften herleitet. Beim Sanguiniker gerät das Blut leicht in Wallung, der Phlegmatiker ist vom träge fließenden Schleim beherrscht und der Choleriker und Melancholiker stehen unter dem Einflusse der gelben oder der schwarzen Galle. Zwar wurde noch im römischen Altertum von der Schule der Methodiker der Humoralpathologie die Solidarpathologie entgegengestellt, welche von den festen Bestandteilen des Körpers ausging und die Krankheiten auf eine abnorme Beschaffenheit der Poren, entweder zu große Straffheit oder Erschlaffung der Körperteile, zurückführen wollte. Aber durch die überragende Persönlichkeit des Galenos, der von 130-201 n. Chr. lebte und in der Hauptsache den hippokratischen Anschauungen huldigte, errang die Humoralpathologie bald wieder den Sieg und blieb nun durch das ganze Mittelalter hindurch die herrschende Lehre. Selbst die arabischen Mediziner, die auf einzelnen Gebieten, z. B. in der Arzneimittelkunde und in der Chirurgie ganz gewaltige Fortschritte verwirklichten, waren zur Hauptsache in den galenisch-hippokratischen

Ideen festgefahren und übermittelten den aufblühenden Universitäten des Abendlandes nur die antiken Vorstellungen.

Im 16. Jahrhundert versuchte dann freilich der in Einsiedeln geborene Paracelsus, ein durchaus origineller Geist, der die Autorität Galens ganz von sich abschüttelte und mit erfrischender, derber Natürlichkeit gegen die Doctores seiner Zeit zu Felde zog, die Krankheitsprozesse anders zu erklären. Seine Grundanschauungen über Physiologie und Pathologie waren auf der Chemie aufgebaut, doch ließ er daneben noch den Geist des Lebens, den Archaeus, walten. Diese Lehre vermochte aber ebensowenig wie später der Ruf Bacons nach vermehrtem Studium der festen Körperteile die Humoralpathologie dauernd zu verdrängen.

Die zunehmende Zahl der Leichenöffnungen konnte natürlich, wenn sie auch zunächst hauptsächlich die normale Anatomie förderte, auf die pathologische Anatomie nicht ohne Einfluß bleiben, und so sehen wir im 18. Jahrhundert den Italiener Morgagni mit seinem Werk über den Sitz und die Ursachen der. Krankheiten hervortreten, worin zum ersten Mal versucht wurde, die während des Lebens beobachteten Krankheitserscheinungen auf die Veränderungen bestimmter Organe zurückzuführen und die Krankheit zu lokalisieren. Noch einen Schritt weiter ging der Franzose Bichat, der den Sitz der Krankheit aus den Organen in die einzelnen Gewebe verlegte. Wie sehr die Lehre von den Geweben die geistigen Strömungen zu Anfang des vorigen Jahrhunderts beeinflusste, das zeigt der Umstand, daß der französische Positivist Comte auf ihr seine Ansichten von der Organisation der menschlichen Gesellschaft aufbaute. Sowohl Morgagni wie Bichat sind Vorläufer Virchows gewesen und Morgagni gilt mit Recht als der eigentliche Begründer der pathologischen Anatomie.

Aber noch war die Macht der humoralpathologischen Vorstellungen nicht gebrochen. Zwar waren Schleim und Galle weit hinter dem Blut zurückgetreten, von dem man nach Harveys Entdeckung des Kreislaufes nun wusste, daß es alle Organe des Körpers beeinflussen konnte. Um so mehr glaubte man, das alles auf die. Beschaffenheit des Blutes ankomme.

Blut ist ja ein ganz besonderer Saft, mit seinem Verlust entflieht das Leben, und bis zum heutigen Tag äußert sich diese besondere, oft mit einer gewissen ehrfurchtsvollen Scheu verbundene Einschätzung des Blutes in der Neigung des Laien, eine ganze Anzahl von Krankheiten, besonders auch die eitrigen Prozesse, auf das von Anfang an schlechte, verdorbene Blut des Patienten zurückzuführen. Höchst eigentümlich mutet es namentlich an, daß noch im Jahre 1846 der Wiener Carl Rokitansky, der mit seiner glänzenden Begabung und ungewöhnlich reichen Erfahrung die moderne Periode der pathologischen Anatomie eröffnete, ganz in humoralpathologischen Ansichten befangen war und in seiner Krasenlehre die richtige oder fehlerhafte Mischung des Blutes für Gesundheit und Krankheit verantwortlich machte. Wenn man bedenkt, daß Rokitansky selbst in geradezu klassischer Weise die anatomischen Veränderungen vieler Krankheiten beschrieben hat, so wird man es begreiflich finden, daß Virchow die Rokitansky'sche Krasenlehre, die sich auf ganz hypothetische chemische Bestandteile des Blutes aufbaute, als einen ungeheuren Anachronismus bezeichnete.

Und nun trat Virchow mit seiner Zellularpathologie 4) auf den Plan. Die neue Errungenschaft der Botanik und Zoologie, die Zellenlehre, hatte vor kurzem angefangen, auch in die Vorstellungen vom Bau des menschlichen Körpers einzudringen. Nachdem von den Botanikern schon längst Zellen in den Pflanzen gesehen worden waren und namentlich Schleiden in seiner "Phytogenesis" die Bedeutung der Zellenlehre für die pflanzlichen Gewebe hervorgehoben und die Entstehung der Zellen zu erklären versucht hatte, übertrug Schwann im Jahre 1839 die Zellenlehre auf den tierischen Körper, indem er von der Ähnlichkeit gewisser tierischer Zellen, z. B. der Chorda- Knorpelzellen, mit den Pflanzenzellen ausging und dann den kühnen Schluß zog, dass auch alle übrigen Gewebe des tierischen Körpers aus Zellen oder ihren Umwandlungsprodukten bestehen. Schwann war freilich noch in der irrtümlichen Auffassung befangen, daß die tierischen Zellen, ähnlich wie die meisten pflanzlichen, von einer festen Membran umschlossen

seien, was ja ursprünglich zu dem Namen Zelle Anlaß gegeben hatte. Diese Vorstellung musste bald aufgegeben werden und der Begriff der Zelle wurde nun in übertragenem Sinne für den lebenden, aus Kern und Zelleib bestehenden Inhalt, das Klümpchen Protoplasma, wie es Max Schultze nannte, gebraucht, während das ursprünglich bestimmende Merkmal, die feste Wand, aus der Definition der Zelle verschwand.

Virchow erkannte nun mit hellsehendem Blick die Bedeutung der Schwann'schen Zellenlehre für die Pathologie. Nach ihm ist die Zelle die wahrhafte organische Einheit, das letzte Formelement aller lebendigen Erscheinung sowohl im Gesunden als im Kranken, von ihr geht die Tätigkeit des Lebens aus. Sie ist der Elementarorganismus, wie ihn Brücke genannt hatte; aus der Summe dieser vitalen Einheiten setzt sich sowohl die Pflanze wie das Tier zusammen und stellt auf diese Weise einen Organismus sozialer Art dar, in welchem aber jede Zelle für sich eine besondere Tätigkeit hat. Auch da, wo die Zellen nicht unmittelbar aneinanderliegen, sondern in eine Grundsubstanz eingebettet sind, wie im Knorpel und Knochen, hat jede Zelle ihren Wirkungskreis, ihr Territorium, denn die feste Grundsubstanz ist nach Virchow nichts anderes als eine Abscheidung der einzelnen Zellen. Vor allem weist Virchow auch auf den Zellgehalt des Blutes hin und spricht die Hoffnung aus, daß es möglich sein werde, den alten Streit der Humoral- und Solidarpathologie in einer einigen Zellularpathologie zu versöhnen.

Von entscheidender Bedeutung wurde Virchows Ansicht von der Entstehung der Zellen. Während Schwann noch der Auffassung gehuldigt hatte, daß die Zellen aus einer ungeformten Masse, einem Blastem, gewissermaßen durch Urzeugung hervorgehen, sprach Virchow, der anfänglich selbst noch die Entstehung der Eiter- und Krebszellen auf diese Weise erklärt hatte, in seiner Zellularpathologie mit voller Schärfe den Satz aus, daß jede Zelle von einer andern abstamme und daß es keine Urzeugung gebe. Hier hatten ihm freilich die Embryologen, unter ihnen besonders unser Landsmann Kölliker, vorgearbeitet, aber erst Virchow verhalf dieser

Lehre zum Durchbruch. Ommis cellula e cellula. So wie das sich furchende Ei immer neue Zellen liefert, so entstehen auch auf pathologischem Gebiet neue Zellgenerationen nur aus den schon vorhandenen Zellen.

In der Zelle selbst ist das Leben an den Kern gebunden, der trotz der größten Variabilität in der Form der Zelle seine runde oder ovale Gestalt im allgemeinen behauptet. Kernlose Zellen, wie die verhornten Schüppchen der Oberhaut oder die roten Blutkörperchen, gehen innert kurzer Zeit zu Grunde. Wie sehr Virchow mit dieser Ansicht das Richtige getroffen hat, das wissen wir heute aus der Tatsache, daß überall in den menschlichen Geweben das allmähliche Absterben der Zellen am sichersten an den Kernveränderungen erkannt werden kann.

Unter den Geweben, d. h. den Gemeinschaften gleichartiger Zellen, scheidet Virchow die epithelialen Formationen (d. h. die Deck- und Drüsenzellen) und Bindesubstanzen von den höherstehenden, eigentlich animalischen Geweben, nämlich den Muskel- und Nervenapparaten; den Gefässen und dem Blut. Seine Einteilung richtet sich im wesentlichen nach der Funktion der Gewebe und er nennt sie mit voller Überzeugung eine physiologische, ein Beweis, das schon damals die morphologische Betrachtungsweise unzertrennlich mit dem Gedanken der Funktion verbunden war, und die Funktionslehre deshalb keineswegs im Gegensatz zur normalen und pathologischen Anatomie steht.

Sehr wichtig ist, dass Virchow den krankhaften Veränderungen ihre bisher in einen mystischen Nebel eingehüllte Sonderstellung nahm und ihnen mit einem kräftigen Ruck einen Platz unter den übrigen Naturerscheinungen anwies. Denn nach ihm hat jedes pathologische Gebilde sein normales, physiologisches Vorbild und weicht nur nach Ort, Zeit oder Mass vom Normalen ab. Wie im gesunden Körper, so sind auch im kranken die Zellen die eigentlichen Ernährungseinheiten, welche eine Vorliebe für einzelne Stoffe haben, sie durch Assimilation verwerten oder durch Retention aufstapeln oder endlich nach Aufnahme der Stoffe allmählich zerfallen.

Ferner setzt sich Virchow ausführlich mit den Humoralpathologen

auseinander, welche die fehlerhafte Mischung des Blutes als das Wesentliche der Krankheitsprozesse betrachten. Nicht das Blut selbst ist der Träger der Dyskrasie, sondern seine Zusammensetzung ist von den Geweben abhängig. Die Dyskrasie hat ihren bestimmten Ausgangspunkt und die Verunreinigung, die Infektion des Blutes, ist von einer Reizung der Gewebe begleitet, welche bei Eiterungen die vermehrten weißen Blutzellen liefern.

Virchow bekämpft auch die Neuropathologen, welche alle Lebenstätigkeit auf Innervation zurückführen wollen. Er bezeichnet ihren Gedankengang als mythologisch und weist darauf hin, daß die erste Entwicklung aller vielzelligen Lebewesen auch ohne Nervensystem erfolgt und daß auch die nervenlosen Teile des Körpers wachsen und sich ernähren. Aber auch im zentralen Nervensystem sollen keine dominierenden Zentren, sondern überall wieder Zellen sein, nirgends ist eine wirkliche Einheit. Eine solche ist nach Virchow nur in der immateriellen Seele möglich, die nicht mehr Gegenstand der naturwissenschaftlichen Beobachtung sein kann. Die eine Seele würde übrigens zur Erklärung des Lebens der einzelnen Teile nach Virchows Ansicht auch nicht genügen und so gelange man notwendigerweise zu zahllosen Zellenseelen, also auch einer Vielheit.

Als einer der wichtigsten Bestandteile der Virchowschen Zellularpathologie muß endlich noch die Lehre von der Reizbarkeit der Zelle hervorgehoben werden. Hatte schon Albrecht von Haller die Irritabilität der Gewebe und Organe als eine Grundeigenschaft der lebenden Materie erkannt, so nahm nun Virchow die Reizbarkeit ausschließlich für die Zelle in Anspruch. "Die Interzellularsubstanz ist nirgends erregbar." Sowohl in der Physiologie wie in der Pathologie gibt es dreierlei Elementarvorgänge, welche durch Reize ausgelöst werden: die Funktion, die Nutrition und die Formation. Die Funktion, die sich ganz unabhängig vom Nervensystem abspielen kann, z. B. in den Flimmerzellen der Schleimhäute, ist von Ermüdung gefolgt, pathologisch kann Mangel, Schwächung oder Verstärkung der Funktion vorliegen.

Der nutritive Reiz, welcher die Zellen zur Vergrösserung bringt, veranlaßt die Zellen zuerst zur vermehrten Stoffaufnahme und dann zur Fixierung der assimilierten Stoffe. Sie wählen ihr Nährmaterial und werden nicht bloss durch trophische Nerven, sondern durch verschiedenartige Reize zur Nahrungsaufnahme veranlaßt. Z. B. gehört hieher der Entzündungsreiz, der die trübe Schwellung der Zellen als höchsten Grad der nutritiven Reizung hervorruft.

Als Beispiel für das Vorhandensein von formativen, zur Zellneubildung führenden Reizen führt Virchow die Zellteilungen an, die beim Durchziehen eines Fadens durch einen Knorpel sich einstellen. Der Trieb zur Neubildung, die eigentliche plastische Kraft haftet ausschließlich an den Zellen, denn in den Säften oder den Grundsubstanzen findet niemals eine Neubildung von Zellen statt. Die Art der formativen Reize ist sehr verschieden, sie spielen namentlich eine Rolle bei der Entzündung, bei der Tuberkelbildung und den verschiedenen Geschwülsten. Ähnlich wie der Stich der Gallwespe den Gallapfel zur Entwicklung bringt, so sollen die pathologischen Reize die menschlichen Zellen zur Wucherung anregen.

Ich will mich mit diesen wenigen Angaben aus dem überaus reichen Inhalt der Virchow'schen Zellularpathologie begnügen. Virchows Ideen haben allseitig befruchtend gewirkt und eine reiche Ernte ist bis zum heutigen Tage aus ihnen hervorgegangen. Die Verfeinerung der histologischen Technik und die rasch fortschreitende Verbesserung der optischen Apparate erlauben uns heute, mit ganz andern Hilfsmitteln die Zustände und Vorgänge im Innern der Zellen zu erforschen, als dies noch vor 50 Jahren der Fall war. Und wie es auf andern Gebieten der Medizin so oft geschah, so hat auch hier das Studium des Pathologischen die Kenntnis des Normalen vielfach gefördert und vertieft. Ich gehe wohl nicht zu weit, wenn ich behaupte, daß auch die normale Gewebelehre und zum Teil auch die Physiologie aus der Zellularpathologie reichen Gewinn gezogen haben.

Gerade die zellulären Stoffwechselstörungen zeigen sehr deutlich, wie eng die normalen und pathologischen Vorgänge

miteinander verwandt sind. Schädigungen der Zellen, wie sie durch Bakterien- und andere Gifte, durch Anaemie oder Blutstauung hervorgerufen werden, äußern sich sehr oft in einer Ueberladung der Zelle mit denjenigen Stoffen, welche sie schon unter normalen Verhältnissen zu verarbeiten pflegen. Die Leberzellen, welche nach jeder fettreichen Mahlzeit schon feine Fettröpfchen enthalten, werden zum Beispiel durch den gelben Phosphor — weniger stark auch durch den Alkohol so geschädigt, daß sie das ihnen zugeführte Fett nicht mehr zu verbrennen vermögen und schließlich unter stärkster Verfettung sogar absterben. Auch Eiweiß, Glykogen, Eisen können sich pathologischer Weise in den Zellen anhäufen, wobei am Anfang diese Stoffe sehr oft in feinkörniger Form in den Zellen auftreten, indem sie von normalen Bestandteilen des Protoplasmas, den Körnchen (Granula, Mitochondrien oder Plasmosomen) gespeichert werden, welche auch in der Norm äusserst wichtige Organe des Zellstoffwechsels, z. B. auch Träger von Fermenten sind. Unmerklich geht hier das Normale ins Pathologische über, indem die genannten Stoffe allmählich den ganzen Zelleib anfüllen und oft einen Maßstab für die geschädigte Funktion der betreffenden Zellen abgeben.

Ferner hat sich die Virchow'sche Annahme, daß die Zellen ganz bestimmte Stoffe aus dem Blute an sich ziehen, nicht bloss für die Nährstoffe, sondern auch für viele Gifte als richtig erwiesen. Wir wissen heute, daß manche Gifte nicht bloss gewisse Organe, sondern auch innerhalb dieser Organe ganz bestimme Zellarten schädigen, z. B. das Sublimat nur einen umschriebenen Abschnitt der Nierenkanälchen, die Narcotica der Fettreihe in erster Linie die Zellen der Großhirnrinde, das Chloroform überdies noch bestimmte Gruppen von Leberzellen. Man spricht freilich in solchen Fällen gewöhnlich von einer Affinität der Gifte zu gewissen Zellen, aber es ist klar, dass nach dem Prinzip der Wahlverwandtschaften auch das Umgekehrte zutrifft, denn nur eine bestimmte chemischphysikalische Struktur der Zelle kann dem Gift einen Angriffspunkt gewähren.

Als äusserst stark hat sich der Einfluß der Zellularpathologie

auf dem Gebiete der Blutkrankheiten. der Haematologie, erwiesen. Viele hervorragende Haematologen sprechen von einer Histologie des Blutes, ein Zeichen, daß sie das Blut als ein Gewebe mit einer flüssigen Grundsubstanz auffassen. Dank dieser Beschaffenheit des Mediums sehen wir gerade bei den weissen Blutzellen die primitiven Eigenschaften, wie sie die einzelligen Organismen besitzen, am stärksten ausgeprägt, denn sie zeigen aktive Beweglichkeit und entwickeln eine Freßtätigkeit gegenüber Bakterien und Fremdkörpern, gleich wie die frei lebenden Amöben. Zahl und Beschaffenheit der weißen Blutzellen, die auf die verschiedensten äußern Einwirkungen reagieren, haben heutzutage nicht bloss bei den eigentlichen Blutkrankheiten, sondern auch bei vielen andern Krankheiten eine äußerst wichtige diagnostische Bedeutung erlangt. Freilich ist hier zu berücksichtigen, daß letzten Endes die Veränderungen der Blutzellen zum größten Teil auf die blutbereitenden Organe, das Knochenmark, die Milz und die Lymphdrüsen zurückzuführen sind, aus denen fortwährend Zellen ins Blut ausgeschwemmt werden.

Auch bei den Entzündungen spielen die Zellen des Blutes eine äußerst wichtige Rolle. Es war eine große Entdeckung, als Cohnheim 5) die Auswanderung der weissen Blutzellen aus den erweiterten Blutgefäßen direkt beobachten konnte und man die Gewißheit erlangte, daß die Zellen des Eiters nichts anderes als ausgewanderte, weiße Blutkörperchen sind. Aber nicht bloss Blutzellen, sondern auch Gefäßwand- und Bindegewebszellen können sich bei der Entzündung an den Ort des Reizes durch aktive Bewegung hinbegeben, z. B. an Stellen, wo sich Bakterien, die ja weitaus am häufigsten entzündliche Vorgänge hervorrufen, im Körper eingenistet haben.

Was die Reizbarkeit der Zellen betrifft, so hat die Virchow'sche Lehre von den formativen Reizen eine besondere Bedeutung in der Frage nach der Entstehung des Krebses erlangt, dessen Wesen eine schrankenlose Wucherung bestimmter epithelialer Zellen ist. Lange Zeit durch andere Theorien verdrängt, hat hier die Virchow'sche Reiztheorie gerade in den letzten Jahren wieder mehr und mehr Boden gewonnen,

denn nicht bloss haben sich die Beobachtungen gehäuft, dass beim Menschen manche Krebse durch äußere Reize verschiedener Art entstehen können, sondern es hat auch das Experiment den Beweis geliefert, das durch chemische, mechanische, parasitäre Schädlichkeiten oder durch gewisse Strahlengattungen beim Tier der Krebs künstlich erzeugt werden kann. Das Gemeinsame an allen diesen Einwirkungen ist eine durch den fortwährenden Reiz ausgelöste Wucherung der Zellen, in denen nun neue Eigenschaften im Sinne der vermehrten Teilungsfähigkeit und eines veränderten Stoffwechsels gezüchtet werden, bis sie sich gegenüber den übrigen Körperzellen wie bösartige Schmarotzer verhalten. Ich will freilich durchaus nicht behaupten, daß durch die Reiztheorie die ganze Krebsfrage gelöst sei, denn es spielen hier wahrscheinlich noch ganz andere Einflüsse mit, aber für gewisse Krebse gibt doch der äußere Reiz den Ausschlag und auf alle Fälle ist das Krebsproblem in der Hauptsache ein Zellproblem.

Auch auf einem Gebiet, das in der neueren Zeit immer mehr Raum unter den krankhaften Erscheinungen einnimmt, nämlich bei den Störungen der inneren Sekretion, ist die Zellenlehre unentbehrlich. Die sogenannten Blutdrüsen, welche ihre Sekrete direkt ins Blut abgeben und auf diese Weise andere entfernt liegende Organe beeinflussen oder den Stoffwechsel regeln, enthalten Zellen mit besonderen Aufgaben. Werden z. B. in der Schilddrüse die Zellen, welche das Colloid bereiten, zerstört, so hat dies dieselben Folgen, wie wenn das ganze Organ durch Operation entfernt wird, und was dies bedeutet, das ist ja in Bern, der Heimat Th. Kochers, zur Genüge bekannt. Eine eigentümliche Wachstumsstörung, die Akromegalie, die namentlich zur Vergrößerung der Hände und Füße. der Kiefer, Nase und Ohren führt, ist auf die geschwulstartige Wucherung einer ganz bestimmten Zellart im Hirnanhang, der Hypophyse, zurückzuführen, und in ähnlicher Weise steht auch die Entdeckung des Insulins, eine der wichtigsten Errungenschaften der letzten Jahre, mit zellularpathologischen Studien im innigsten Zusammenhang. Denn das Sekret der Bauchspeicheldrüse, welches in den Kohlehydratstoffwechsel eingreift und in der

Behandlung der Zuckerkrankheit so große Bedeutung erlangt hat, wird wahrscheinlich in erster Linie von ganz bestimmten Zellgruppen erzeugt, die man Langerhans'sche Inseln nennt.

Dies sind einige Beispiele, welche eindringlich für die Bedeutung der Zellularpathologie auch in der heutigen Medizin sprechen. Aber andrerseits sind der Zellularpathologie auch verschiedene Gegner erstanden.

Zunächst sind Einwände mehr morphologischer Art erhoben worden, die nicht bloss die Zellularpathologie, sondern die Zellenlehre überhaupt betreffen. Sie richten sich gegen die Zelle als Elementarorganismus, als selbständiges Lebenselement. So hat Altmannn 6) den Versuch gemacht, jene feinen Körnchen im Protoplasma, denen wir schon begegnet sind, als die wahre Lebenseinheit hinzustellen. Er nannte sie Bioblasten (Lebensbildner) und schrieb ihnen Assimilation, Wachstum und Selbstteilung zu, die Zellen selbst sollten ganze Kolonien solcher Bioblasten sein, die ihrerseits wieder als ursprünglich freilebend gedacht und mit den Bakterien verglichen wurden. Nun last sich ja nicht bestreiten, daß die Zelle nicht das einzige Formelement ist, in welchem sich das Leben offenbart, und dass es niederste Lebewesen gibt, welche nicht den Bau einer Zelle besitzen. Schon bei den Bakterien ist es sehr fraglich, ob sie mit Zellen in gleiche Linie gesetzt werden dürfen und jedenfalls gibt es noch kleinere, nicht zellige Lebewesen, die an der Grenze der Sichtbarkeit stehen und bei denen wir von Zellstruktur gar nicht reden können. Sollte z. B. bei dem d'Herelle'schen Bakteriophagen, einem Stoff, der Bakterien aufzulösen imstande ist, die Natur eines wahren Lebewesens bewiesen werden, so würden wir vor einer neuen, nicht zelligen Form des Lebens stehen. Aber bei den Altmann'schen Körnchen handelt es sich sicher nicht um selbständig lebensfähige Teilchen und es ist keine Rede davon, daß sie bei ihrer Zusammenrottung eine Zelle zu bilden vermöchten. Sie sind Organe, aber nicht Bildner der Zellen und somit bleibt also der Zelle beim Menschen und den höheren Pflanzen und Tieren ihre Eigenschaft als kleinste Lebenseinheit erhalten.

Wollte die Altmann'sche Lehre die Zellen durch noch kleinere Elementarorganismen ersetzen, so fehlte es auf der andern Seite nicht an Stimmen, welche die einzelne Zelle, wenigstens bei den höheren Tieren, nicht mehr als Lebenseinheit anerkennen, sondern eine Vielheit von Zellen an ihre Stelle setzen wollten. So hat M. Heidenhain 7) mit besonderem Nachdruck darauf hingewiesen, daß die Deckzellen der Oberhaut und der Schleimhäute unter sich durch feine Protoplasmabrücken verbunden sind, das der Herzmuskel eine einheitliche Protoplasmamasse, ein netzförrniges Plasmodium mit eingestreuten Kernen bildet und daß die Fasern des Bindegewebes sich über verschiedene Zellenterritorien erstrecken. Ferner sollen die feinsten Fäserchen des Nervensystems, die Neurofibrillen, nach der Ansicht mancher Forscher von Nervenzelle zu Nervenzelle verlaufen. Also nicht Trennung, sondern Zusammenhang der Zellen unter Einschränkung ihrer Selbständigkeit. In neuester Zeit ist diese Art der Anschauung von Hueck 8) sogar auf alle Binde- und Stützgewebe ausgedehnt worden. Ein Schwamm oder ein Netz von Protoplasma mit eingelagerten Kernen soll ihre Grundform sein, wobei dann an den Oberflächen des Schwammes die protoplasmatischen Grenzschichten in Fasern umgewandelt. würden. Aber daß auch bei solchen plasmodialen Bildungen der Kern ein gewisses Territorium des Protoplasmas beherrschen muß, daß er eine Wirkungssphäre ungefähr von der Größe einer Zelle besitzt, das ergibt sich daraus, daß auch aus diesen Verbänden heraus sich völlig isolierte Zellen bilden können. Z. B. lösen sich aus dem Bindegewebe bei entzündlichen Prozessen allseitig abgegrenzte, bewegliche Zellen ab und dasselbe sehen wir bei epithelialen Verbänden in geschlossenen, mit Flüssigkeit erfüllten Hohlräumen. Selbst die Muskelfasern kehren bei der Regeneration oft wieder zum einfachen einkernigen Zelltypus zurück. Ebenso haben die neueren, sehr wertvollen Versuche mit der Züchtung tierischer Gewebe außerhalb des Körpers in eiweißhaltigen Nährboden ergeben, daß die Kultur des Bindegewebes völlig selbständige, allseitig abgeschlossene Zellen liefern kann. Somit strebt die Natur auch bei solchen

komplizierten Verbänden doch unter Umständen wieder der Zellform zu und höchst wahrscheinlich werden in diesem Falle durch bestimmte physikalisch-chemische Einwirkungen die Oberflächenspannungen geändert und Protoplasmabrücken gesprengt. Wissen wir doch auch, daß kalkloses Seewasser die ersten Furchungszellen des befruchteten Seeigeleis völlig voneinander zu trennen vermag.

Von Schenck 9), M. Heidenhain und andern Autoren ist auch die Lehre vom menschlichen und tierischen Organismus als einem Zellenstaat scharf angegriffen worden, da höhere Ernährungseinheiten an die Stelle der Zellen treten sollen. Nun ist freilich zuzugeben, daß der sehr populär gewordene Vergleich des aus Zellen aufgebauten Körpers mit einem Staatswesen wie die meisten Vergleiche auch seine schwachen Seiten hat, denn tatsächlich ist die Rolle der einzelnen Zelle in der Gesamtheit des Organismus meistens viel bescheidener, als die eines menschlichen Individuums innerhalb des Staates. Die fortschreitende Arbeitsteilung, die die gegenseitige Abhängigkeit erhöht und die Freiheit der Einzelexistenz einschränkt, das, was H. Spencer 10) physiologische Integration genannt hat, ist bei der Zelle entschieden viel weiter getrieben, als beim einzelnen Menschen. Dies zeigt sich am deutlichsten beim zentralen Nervensystem, das etwa der vollziehenden Behörde im bürgerlichen Staat zu vergleichen wäre. Hier ist die einzelne Zelle von viel geringerer Bedeutung als der einzelne Mensch, ihr Untergang verursacht nicht die mindeste wahrnehmbare Störung, während uns allen bekannt ist, wie sehr der Verlust eines leitenden Staatsmannes den Gang des staatlichen Organismus beeinflussen kann. Aber deswegen braucht der Vergleich nicht absolut falsch zu sein, denn wenn auch die einzelne Zelle tatsächlich in größerer Abhängigkeit vom Ganzen steht als der einzelne Mensch, so ist sie doch, wie wir eben gesehen haben, unter gewissen Umständen imstande, ihre Sonderexistenz wieder aufzunehmen, so wie der auf eine einsame Insel verschlagene Mensch nun auch wieder alle zu seinem Dasein notwendigen Tätigkeiten ausübt.

Eine gewisse Abkehr von den Virchow'schen Anschauungen

macht sich heute auch in dem Sinne bemerkbar, das den Interzellularsubstanzen, z. B. den Fasern des Bindegewebes, wieder ein gewisser Anteil an den Lebensvorgängen zugestanden wird. Wie sehr hier im Laufe der Zeiten die Anschauungen gewechselt haben, ergibt sich daraus, daß die Interzellularsubstanzen, denen Virchow nur die Erregbarkeit aberkannt hatte, von Weigert 11) als völlig tote Massen erklärt wurden, während in der letzten Zeit Grawitz 12) den Fasern wieder so viel selbständiges Leben zuschreibt, dass er aus ihnen Bindegewebszellen, die vorher schlummerten und unsichtbar waren, hervorgehen lässt! Die Faser als Grundelement des Lebens, wie sie noch von Haller eingeschätzt wurde, wäre hier nahezu wieder in ihre ursprünglichen Rechte eingesetzt! Aber so weit dürfen wir nicht gehen, denn im Anfang waren Zellen, nicht Fasern, und ohne kernhaltiges Protoplasma ist ein selbständiges Dasein der Fasern und aller andern Interzellularsubstanzen nicht möglich. Aber es ist durchaus zuzugeben, daß sich zwischen den Zellen physikalisch-chemisch sehr wichtige Vorgänge abspielen, die unter Umständen für das Leben der Zellen von größter Bedeutung werden können, wie z. B. die amyloide Eiweißablagerung bei chronischen Eiterungen und Tuberkulösen. Hier handelt es sich um Ausfällungen von colloidalem Eiweiss in Gewebsspalten, wodurch die Zellen geradezu erdrückt werden können. Aber auch im zentralen Nervensystem kommt wahrscheinlich den Ausfüllungsmassen zwischen den Zellen eine besondere Bedeutung zu und das rätselhafte Grau der Grosshirnrinde, welches zwischen den Nervenzellen und stützenden Fasern liegt, birgt wohl noch manche Geheimnisse.

Andere Einwände betreffen nicht die Zellenlehre an sich, sondern nur die Zellularpathologie. Daß sich die Neuropathologen wieder regen und alle krankhaften Vorgänge auf Reizung der Gefäßnerven zurückführen wollen (Rieker 13)), möchte ich nur kurz erwähnen. Man kann ihnen, auch wenn man die Bedeutung des Nervensystems für die Entstehung und den Verlauf vieler Krankheiten sehr hoch einschätzt, erwidern, daß sich pathologische Prozesse z. B. das Wachstum vieler Geschwülste

ganz unabhängig von nervösen Einflüssen abspielen, gleich wie auch in der normalen Entwicklung das Wachstum der Organzellen der Ausbildung der Blutgefässe und ihrer Nerven nach W. Roux 14) vorauseilt.

Aber auch die alte Humoralpathologie ist wieder aufgewacht, sie hat gleichsam eine Erbin in der Serologie gefunden, die mit der Immunitätslehre aufs engste verknüpft ist. Von neuem nimmt der Blutsaft, das Serum, eine sehr wichtige Stellung in der Pathologie ein, denn in ihm spielen sich Reaktionen ab, die gerade bei den Infektionskrankheiten von grösster Wichtigkeit sind. Zunächst wissen wir, daß das Blutserum an sich schon gewisse Schutzstoffe gegenüber Bakterien enthält, die man Alexine (Abwehrstoffe) genannt hat. Aber die Reaktionen des Blutserums steigern sich fast ins Unermessliche, wenn bestimmte Bakterien oder deren Giftstoffe in den Körper eindringen, wenn artfremde Blutkörperchen oder andere artfremde Zellen oder wenn gewisse Eiweißstoffe direkt in die Blut- oder Lymphbahn eingebracht werden. Dann treten nach einiger Zeit Antikörper von spezifischem Charakter im Blutserum auf, d. h. Stoffe, welche die betreffenden Bakterien, artfremden Blutkörper und Zellen aufzulösen oder zusammenzuballen vermögen oder Gifte unschädlich machen oder endlich das fremde Eiweiß ausfällen oder rasch abbauen. Die Wirkungen der Antikörper, welche früher nach Ehrlichs Theorie im wesentlichen als chemische Bindungen gedeutet wurden, sind nach der heute herrschenden Anschauung colloid-chemische Vorgänge, welche von Oberflächenspannung, elektrischen Kräften und Absorptionen abhängig sind. Aber woher stammen diese Antikörper, werden sie etwa in der Blutflüssigkeit selbst gebildet? Zu einer solchen Annahme hat sich keiner der modernen Immunitätsforscher entschließen können. Ehrlich 15) nahm an, daß die Antigone, d. h. die Stoffe, welche die Bildung der Antikörper des Blutes hervorrufen, direkt mit chemischen Bestandteilen der Körperzellen eine Bindung eingehen und dass dann die gebundenen Stoffe, welche er Seitenketten nannte, von den Zellen übermässig regeneriert und ins Blut abgestoßen werden, während mein verehrter Kollege

Sahli 16) in scharfem Gegensatz zur Ehrlich'schen Lehre die Antikörper in ihrer ganzen "praktisch unendlichen Mannigfaltigkeit" im Blutserum praeformiert sein läßt. Aber auch er lässt die Antikörper durch Sekretion seitens der Zellen entstehen, und so kann ich auch in seiner Anschauung keinen Gegensatz zur Zellularpathologie erblicken. Wo freilich die antikörperbildenden Zellen hauptsächlich zu suchen sind, ob z. B. nur in den blutbereitenden Organen oder in dem sog. retikulo-endothelialen Zellapparat, das ist noch nicht mit Sicherheit entschieden.

Überhaupt sind die Immunitätsreaktionen mit zellulären Reaktionen aufs innigste verknüpft. Wenn auch die Immunität gegen Infektionserreger in den allermeisten Fällen nicht auf rein zellulare Funktionen, wie z. B. das Auffressen der Bakterien durch weiße Blutkörperchen und Gewebszellen verschiedener Art (Metschnikoff), zurückgeführt werden kann, so wirken doch vielfach die Antikörper des Blutes mit den Zellen zusammen, so daß die Freßtätigkeit der weissen Blutkörperchen gegenüber den Bakterien durch gewisse Antikörper ganz erheblich gesteigert werden kann. Es sind dies die von Wright beschriebenen Opsonine. Ferner greifen im Abwehrkampf des Organismus gegen die Tuberkelbazillen und bei der Überempfindlichkeit und Immunität, welche im Verlauf der Tuberkulose sich einstellen können, zellulare und humorale Reaktionen aufs innigste ineinander ein. daß die Aufgabe der Zellen hierbei keine geringe ist, das ergibt sich am deutlichsten aus der wechselnden Zusammensetzung des tuberkulösen Gewebes je nach den Phasen der Krankheit und der zu- oder abnehmenden Resistenz gegenüber den Bazillen. Auch dürfen wir nicht vergessen, daß der Tuberkel, d. h. das Knötchen, in welchem die Bazillen sitzen, selbst gefäßlos ist und daß deshalb der Kampf gegen die Bazillen wohl in erster Linie durch die Zellen geführt wird. Auf keinen Fall aber können wir den Körpersäften eine eigentliche Lebenstätigkeit zugestehen, was auch von Marchand 17) betont wird.

Auf die Einwände, welche z. B. von seiten der Stoffwechselpathologie gegen die Zellularpathologie erhoben worden sind,

möchte ich nicht mehr eingehen, sondern das bisher erwähnte dahin zusammenfassen, daß die Zellularpathologie durch die Kritik, die man an ihr geübt hat, in ihren Grundfesten nicht erschüttert werden konnte. Die Zellenlehre besteht fort. Denn ganz abgesehen davon, das der Ausgangspunkt aller höheren Pflanzen und Tiere in Zellen zu suchen ist, begegnet man in allen menschlichen Organen und Geweben der Zelle als Grundform der organisierten Materie oder wenigstens Formelementen, welche durch 'weitere Ausgestaltung von Zellen entstanden sind, wie z. B. den quergestreiften Muskelfasern. Auf alle Fälle sind die Zellen, wie Virchow sich ausgedrückt hat, die lebenden Mittelpunkte des Gewebes, denn die Interzellularsubstanzen haben kein selbständiges, von den Zellen völlig unabhängiges Leben und auch im Nervensystem bleibt die Zelle zum mindesten die ernährende Einheit. Wir stossen also, wenn wir unsern Körper immer weiter und weiter zerlegen, zuletzt auf die Zelle, also auf denjenigen Teil, der unter günstigen Umständen und bei nicht allzu hoher Differenzierung noch selbständig lebensfähig bleibt. Gehen wir aber in der Zerlegung noch weiter, so hört die Lebensfähigkeit bei allen isolierten und kernlosen Zellfragmenten nach kurzer Zeit auf, ein Beweis, daß die wichtigen colloidalen Eiweißstoffe als Träger des Lebens an eine ganz bestimmte Form gebunden sind. Für die Pathologie bedeutet das, daß auch die Äußerungen des durch Krankheit gestörten Lebens im wesentlichen auf die Zellen zurückgehen, wenn auch die außerhalb der Zellen sich abspielenden Vorgänge durchaus nicht zu vernachlässigen sind.

Trotz dieser weitgehenden Anerkennung der Zellularpathologie, in der ich mit Lubarsch, Ernst und andern Pathologen einig gehe, müssen wir die Frage aufwerfen, ob die zellulare Betrachtungsweise für das volle Verständnis des kranken Menschen und seiner gestörten Funktionen genügt. Diese Frage möchte ich mit einem Nein beantworten. Ungenügend ist sie zunächst beim Studium der vererbbaren Krankheiten und Mißbildungen. Wir wissen zwar, dass die vererbbaren Merkmale ganz allgemein gesprochen in den Zellkernen enthalten sein müssen und daß sie hier an die Chromosomen,

geformte Bestandteile, welche zur Zeit der Kernteilung sichtbar werden, gebunden sind. Wir wissen auch, namentlich durch die Untersuchungen an der Taufliege Drosophila, dass für diese Merkmale innerhalb der Chromosomen der Keimzellen eine bestimmte Verteilung vorhanden sein muß. Aber diese Erbeinheiten oder Gene, welche beim Menschen vielleicht zu Hunderten in einem Chromosom enthalten sind, sind für uns ganz unsichtbar und wir sind gezwungen, uns hier eine ganz neue Vorstellungswelt zu schaffen. Ich halte es für durchaus möglich, daß wir mit der Zeit zu gewissen räumlichen Vorstellungen über die Anordnung der Erbeinheiten im Chromosom gelangen, ähnlich wie die Chemiker sich die Atome im Molekül auch in einer ganz bestimmten Weise angeordnet denken.

Während hier die Zelle für unser Bedürfnis nach der Vorstellungsmöglichkeit gewisser stofflich gebundener Energiemengen gleichsam zu gross ist, gibt es andere Fälle, bei denen die Zellen wegen ihrer Kleinheit beim Studium normaler und krankhafter Funktionen in unserm Körper unberücksichtigt bleiben können.

Prüfen wir z. B. einen Knochen auf seine Festigkeit gegen Druck und Zug oder Drehung, so kommt es auf die gröbere Struktur und vor allem auf die Grundsubstanz mit den eingelagerten Kalksalzen an, aber nicht auf die im Knochen verstreuten Zellen. Die Folgen eines Herzklappenfehlers sind in erster Linie von den grob mechanischen Veränderungen des Klappenapparates und nicht von den Zellen abhängig. Ebenso studieren der Physiolog und der Kliniker die Kontraktion des gesamten Muskels und nicht der einzelnen Faser, ferner werden die Gesetze der Nervenleitung am gesamten Nerven ganz unabhängig von den im Nerven liegenden Zellen erforscht. Schon E. Albrecht 18) hat bemerkt, daß die Zellenlehre in vielen derartigen Untersuchungen nicht die letzte Erklärung liefern kann.

Wenn hier statt der Zelle ganze Organe das Objekt der Forschung sind, so können wir noch einen Schritt weiter gehen und den ganzen Organismus als Einheit betrachten. Man kann

der Zellularpathologie nicht ganz den Vorwurf ersparen, daß sie in diesem Punkte oft etwas zu einseitig war. Virchow selbst hat zwar betont, daß die Zellen nicht auf einer Insel leben und daß alles, was im Körper besteht, gewisse Beziehungen zum ganzen Körper hat. Aber man ist wohl in vielen Fällen allzu weit den kleinsten Teilen nachgegangen, hat sich zu sehr mit toten Zellen beschäftigt und hat darüber die Einheit des lebenden Organismus vernachlässigt. Die Reaktion gegen die Überschätzung der Zellenlehre hat schon längst bei den Botanikern eingesetzt, von denen nur de Bary zitiert sei, der den Ausspruch tat: Die Pflanze bildet Zellen, nicht die Zelle bildet die Pflanze. Aus der experimentellen Zoologie sind uns Fälle bekannt, wo kleine Teile eines fertigen Tieres, z. B. von Strudelwürmern und Manteltieren, den zum Ganzen fehlenden Abschnitt oder das verkleinerte Ganze wieder herzustellen vermögen, ein Vorgang, der, wie Driesch 19) sich ausdrückt, "ganzheitsbezogen" ist. Ein regulierender Einfluss von Seiten des Ganzen beherrscht die sich neubildenden Teile, bis die ursprüngliche Körperform wieder erreicht ist. Im menschlichen und höheren tierischen Organismus sehen wir die Einheit, die Zusammenfassung der Teile, hauptsächlich durch das Nervensystem und das Blut, dessen flüssige Bestandteile ein inneres Sekret im weitesten Sinne sind, hergestellt, aber es muß auch noch eine Einheit in einer andern Richtung, nämlich in der chemischen Konstitution des Protoplasmas aller Zellen trotz ihrer baulichen Verschiedenheit vorhanden sein.

Dies ergibt sich vor allem aus den Ergebnissen der Transplantation. Verpflanzt man Gewebe, z. B. Haut oder Schilddrüse von einem Menschen auf einen andern, so erhält sich das transplantierte Gewebe auch unter den günstigsten Verhältnissen niemals dauernd in dem Körper des Wirtes. Es wird nach Wochen oder Monaten, im besten Fall wohl nach 2-3 Jahren resorbiert und zwar selbst dann, wenn zwischen dem Spender und Empfänger Blutsverwandtschaft besteht. Verpflanzt man aber ein Stück Haut von einer Stelle auf eine andere Stelle desselben Körpers, so erhält es sich dauernd.

Dies zeigt uns mit aller Deutlichkeit, daß jeder Mensch eine ganz besondere chemische Konstitution besitzt, mit der sich die Teile eines anderen Individuums nicht auf die Dauer vertragen, dass er also auch in dieser Beziehung eine Einheit darstellt. Auch die üblen Zufälle, die man öfters bei der Transfusion von Blut von einem Menschen in einen anderen beobachtet hat, sprechen in diesem Sinne.

Dass auf psychischem Gebiet sich in jedem Individuum die Einheit des Bewußtseins trotz seines wechselnden Inhalts erhält, hat auch Virchow zugegeben, jedenfalls würde uns durch die Annahme von Millionen von Zellseelen im Großhirn zum Verständnis der geistigen Tätigkeit kein Dienst geleistet und wenn auch neuerdings manche Hirnforscher glauben, in gewissen Schichten der Großhirnrinde bestimmte psychische Funktionen lokalisieren zu können, so würde uns dies zwar den innigen Zusammenhang zwischen Psyche und anatomischem Substrat beweisen, aber wollten wir auf psychischem Gebiet eine Zerlegung der geistigen Funktionen nach Zellen oder Zellterritorien vornehmen, so stände dies in einem unüberbrückbaren Gegensatz zur Einheitlichkeit unseres bewußten Ich in einem gegebenen Moment.

Gleichsam als Reaktion gegen eine allzuweit getriebene Zellularpathologie ist heutzutage wieder mehr die Konstitutionspathologie in den Vordergrund getreten, die wir auch als Pathologie des Individuums, der Persönlichkeit, bezeichnen können. Jedes Individuum hat seine besondere Art, auf Einwirkungen der Außenwelt zu reagieren, es hat eine besondere Konstitution, d. h. Körperverfassung, womit auch seine geistige Eigenart, sein Charakter eng verknüpft ist, wie neuerdings besonders Kretschmer 20) zu zeigen versucht hat. Wenn auch eine eng umzirkelte Schematisierung und Einpressung in bestimmte Gruppen in Anbetracht der unendlichen Mannigfaltigkeit unseres geistigen und körperlichen Seins nur einen sehr bedingten Wert besitzt, so hat doch die Konstitutionslehre das Gute, daß sie das Ganze im Organismus zu erfassen sucht: Aber auch sie ist gezwungen, zur Erklärung der individuellen Reaktionsweise zur Analyse zu greifen, wobei einerseits

die gesamte Erbmasse in Form von Erbeinheiten und andrerseits die im Einzelleben neu erworbenen Eigenschaften der Zellen für die Konstitution bestimmend sind. Somit kann auch die Konstitutionspathologle der Zellenlehre nicht entraten und letztere behält neben den übrigen Anschauungsweisen ihre volle Berechtigung. Vergessen wir auch nicht, daß die Kontinuität des Lebens von einer Generation zur andern über die Keimzellen geht und das der höchst komplizierte, vielzellige Organismus sich nur fortpflanzen kann, indem er seine Erbmasse in elnor Zelle konzentriert. Durch die Vereinigung zweier Keimzellen entsteht ein neues Individuum und so wird auf wunderbare Weise die Substanz der Keimzelle zum eigentlichen Erhalter des Lebens, während das einzelne Individuum vergeht, mag es auch noch so hoch entwickelt sein. Wir werden dadurch an einen Ausspruch des Schweizers Tobler erinnert, der zu Goethes Zeiten in seinem "Fragment über die Natur" im Tiefurter Journal schrieb: "Die Natur scheint alles auf Individualität angelegt zu haben und macht sich nichts aus den Individuen. Sie baut immer und zerstört immer und ihre Werkstätte ist unzugänglich".

Die Hauptsache wird sein, daß wir über der Analyse die Synthese nicht vergessen und die Zellularpathologie nicht durch allzu einseitige Betonung in Mißkredit bringen. Wie P. Ernst in seinem schönen Aufsatz über die "Virchow'sche Zellularpathologie einst und jetzt" bemerkt hat, ist "dem einen ein Gewebsschnitt eine Offenbarung von Wundern, ein Drama mit den Zellen als handelnden Personen, dem andern ein toter, spröder Stoff, der ihm nichts sagt, da er keinen Blick dafür hat". Gelingt es dem Lehrer der pathologischen Anatomie nicht, das Tote in seiner eigenen Vorstellung und in derjenigen seiner Schüler zu beleben, und die veränderte Zelle als einen Teil eines leidenden Menschen anzusehen, so ist seine Lehrtätigkeit in einem wesentlichen Punkt unfruchtbar und er verzichtet dann auf eine Seite seiner beruflichen Tätigkeit, die ihm gerade wegen ihrer innigen Berührung mit der praktischen Medizin hohe Befriedigung gewähren kann.

Zum Schlusse noch die Konsequenzen, die sich aus unserer Wertung der Zellenlehre für das ärztliche Handeln ergeben. Denn das Ziel des Arztes ist die Heilung der Krankheit, die Behandlung des Patienten wird aber stets von den wissenschaftlichen Anschauungen des Arztes abhängig sein. Virchow 20) hat nun im Jahre 1898 die Äußerung getan, daß die zelluläre Pathologie vor allem Lokalbehandlung fordere und daß er mit Freude sehe, wie diese Konsequenz bald mit mehr, bald mit weniger Bewußtsein gezogen werde. Ganz besonders folge für die Chirurgie die Forderung frühzeitiger Operation aus dem Grundsatz der Zellenlehre. Dies ist gewiss richtig, wenn wir an Abszesse, an die Anfangsstadien des Krebses, an lokalisierte tuberkulöse Prozesse und vieles andere denken, denn durch Beseitigung des ersten Krankheitsherdes kann der Organismus vor einer allgemeinen Erkrankung bewahrt werden, aber es birgt auch eine gewisse Gefahr in sich, nämlich die des übermäßigen Spezialistentums. Wenn die Spezialisierung im bisherigen Tempo weitergeht, so werden wir es vielleicht noch erleben, dass nicht bloss Organ-, sondern sogar Zellspezialisten ihre Dienste der Menschheit anbieten und deshalb tut es dringend not, über den kranken Zellen und Organen die ganze Persönlichkeit des Kranken, seine körperliche und geistige Eigenart nicht zu vernachlässigen. Der medizinische Unterricht ist freilich in vielen Dingen spezialistisch und muss es auch sein, aber er soll sich auch die dankbare Aufgabe nicht entgehen lassen, den künftigen Arzt auf die individuelle Einheit im Organismus und auf die Bedeutung der Konstitution und der Psyche für den Verlauf vieler Krankheiten aufmerksam zu machen. Freilich sind wir uns bewusst, daß der Unterricht hier nie alles leisten kann, denn es gehören hierzu nicht bloß ausreichende Kenntnisse, scharfer Verstand und eine gute Beobachtungsgabe, sondern auch jenes rasche Erfassen der Eigenart eines Patienten, worin sich die Tätigkeit des Arztes mit der des Künstlers berührt. Wenn auch des Hippokrates Säftemischungslehre in ihrer naiven Form endgültig begraben ist, so bleibt es doch sein unsterbliches Verdienst, den Krankheiten

den kranken Menschen gegenübergestellt und überall die individualisierende Heilkunst gepredigt zu haben. In dieser Beziehung ist er ein wahrhaft großer Arzt gewesen und unsere heutige Generation kann nichts Besseres tun, als bei ihm wieder in die Schule zu gehen.

Literatur.