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Psychopathie und Moral

REDE

GEHALTEN AM 15, NOVEMBER 1928
ZUR FEIERLICHEN ERÖFFNUNG DES STUDIENJAHRES
1926-1927
Prof. Dr. DOMINICUS PRÜMMER O. P.
REKTOR DER UNIVERSITÄT
FREIBURG (SCHWEIZ)
,ST. PAULUS-DRUCKEREI 1927

Psychopathie und Moral.

Psychopathie, was versteht man unter diesem Worte? Inhalt und Umfang dieses Wortes sind heutzutage noch nicht klar umrissen.

Nach dem Beispiel Kräpelins werden aus dem Gebiete der Psychopathie ausgeschieden die Mangel des Erkenntnisvermögens, z. B. Idiotie, Imbezillität, Schwachsinn usw. Zur Psychopathie gehören daher nur Mängel, die wesentlich das Willens- und Gefühlsleben beeinträchtigen, z. B. das große Gebiet der Phobien, wie Agarophobie, Claustrophobie, ferner die vielen Störungen des Trieblebens, wie Kleptomanie, Monomanie, Erotomanie usw. Diese Einschränkung des Begriffes Psychopathie scheint jedoch logisch und sachlich nicht berechtigt zu sein, denn es gibt auch Mängel, die wesentlich das Verstandesleben beeinträchtigen, ohne indes zum wirklichen Irrsinn zu führen. Ich brauche da nur zu erinnern an den Schwachsinn und besonders an die große Zahl von Zwangsvorstellungen oder «idées fixes», wie die Franzosen sagen. Alles dies ist doch wohl Psychopathie.

Daher ist es besser, unter Psychopathie jenen Geisteszustand zu verstehen, der das Verstandes- oder Gefühlsleben nicht ganz abnormal gestaltet, aber doch ernstlich beeinträchtigt, d. h. der auf der Grenze liegt zwischen dem Normalen und dem gänzlich Abnormalen. Ich betone aber ausdrücklich, daß Psychopathie ein mehr oder minder dauerhafter Geisteszustand ist, und daß man nicht mit Sigmund Freud jede schnell vorübergehende Störung unserer geistigen Tätigkeit eine Psychopathie, ein Seelenleiden nennen kann. Sigmund Freud hat ein größeres Buch geschrieben mit dem

Titel: «Die Psychopathie des Alltaglebens», 10. Aufl. 1924. 1 Infolge der geistreichen Darstellung hat dieses Buch eine große Verbreitung gefunden und ist in die meisten Kultursprachen übersetzt worden. Ich habe die 10. Auflage dieses Werkes benutzt. Nach Freud ist es schon eine Psychopathie, wenn jemand im Alltagsleben sich verspricht, verliest usw., wenn einem ein sonst gut bekanntes Wort im Momente gar nicht einfallen will. Bekannt ist der Fall, wo ein Prediger, nach biblischem Berichte redend, von dem Pech- und Schwefelregen, der über die Städte Sodoma und Gomorrha gefallen ist, sich versprach und sagte : «Es regnete Schech und Pefel über die gottlosen Städte.» Diesen lapsus linguae und das Lächeln der Zuhörer merkend, will er sich korrigieren, konnte aber mit dem besten Willen die richtigen Worte nicht mehr finden. Wenn all diese kleinen Entgleisungen des Alltagslebens zu den Psychopathien zu rechnen wären, dann sind fast alle Menschen Psychopathen, denn versprechen, verlesen, vergessen kommt wohl bei jedem Menschen vor.

Also weder Kräpelins allzu große Einschränkung noch Freuds allzu große Ausdehnung des Begriffes Psychopathie ist angebracht. Überhaupt ist es notwendig, wenn man bei einem Autor über Psychopathie liest, sich zuerst zu vergewissern, in welchem Sinne er dies Wort gebraucht, denn sonst könnten große Mißverständnisse entstehen. Was die Deutschen Psychopathie, Seelenleiden nennen; das heißt bei den Franzosen (Pierre Janet) Psychasthenie, Seelenschwäche, oder (J. Dejerine) Psychonévrose, bei den Engländern (J. Sands) Psychopathic constitution. Diese Unstetigkeit im Ausdruck kommt wohl daher, daß die Psychologie und Psychiatrie bisher noch keine genügende Erklärung wissen von den meisten psychopathischen Erscheinungen. In tausenderlei Art und Form begegnen wir Psychopathien auf Schritt und Tritt, aber erklären, woher sie stammen, was sie eigentlich sind, gelingt oft nicht. Glücklicherweise

gelingt es aber — und das ist ja die Hauptsache — einem geschickten Psychotherapeuten dieselben oft zu heilen. — «Die Seelenstörungen», so schreibt Bergmann 1, «haben eine viel größere Verbreitung gefunden, als der Uneingeweihte auf den ersten Blick anzunehmen geneigt ist. Die peinlichsten Zustände finden sich auf dem Gebiete der sogenannten Obsessionen, unter denen alle Erscheinungen des Zwanges, der Angst und des Zweifels zusammengefaßt werden können, samt ihren weitgehenden Folgen auf das Denken und Handeln dieser Kranken. Die Obsessionen schonen weder Geschlecht noch Alter, weder Reiche noch Arme, weder Gelehrte noch Ungelehrte. Es scheinen sogar die obern Klassen der Gesellschaft, die Gebildeten und Reichen mehr befallen zu sein als die Ungebildeten und Armen. Die französischen Ärzte Pitres und Regis berichten: «Dans une période de dix ans environ nous avons pu recueillir pour notre part au moins quatre cents observations.» Pierre Janet sagt: «En très peu d'années j'ai pu très facilement réunir trois cent vingt-cinq observations de cas tout-à-fait rernarquables.» «Diese Zahlen», fährt Bergmann fort, «dürften viel zu niedrig gegriffen sein. Hierfür sprechen zunächst unsere eigenen Beobachtungen, die in dem Zeitraum der letzten acht Jahre sich auf 2664 Fälle von seelischen Störungen beliefen.»

Ohne allen Zweifel kommen Psychopathen und Psychopathien sehr häufig vor, so daß man auch von ihnen Göthes Wort im Faust gebrauchen könnte:

«Nun ist die Welt von solchem Spuk so voll,
Daß niemand weiß, wie er ihn meiden soll.» (Faust, II. Teil, 5. Akt.)

Daher ist es auch für jeden Gebildeten notwendig, etwas Näheres darüber zu wissen, besonders aber für Ärzte, Seelsorger, Pädagogen, Juristen, und deshalb ist auch in den letzten Jahren die Literatur über diesen Gegenstand fast unübersehbar geworden.

a) Zunächst ist es für Ärzte geradezu eine Notwendigkeit, die Psychopathien gründlich zu kennen. Auf Schritt und Tritt merkt der praktizierende Arzt, daß er nicht viel erreicht, wenn er bloß krankhafte Körperteile und körperliche Schmerzen durch Apothekererzeugnisse heilen will. Die sogenannte Idiosynkrasie mancher Kranken spielt dem Arzte oft recht üble Streiche. Z. B. die allbekannten Morphiumpräparate leisten ihm meistens zwar ganz wertvolle Dienste; das hindert aber nicht, daß eine ganz ordinäre Morphiumeinspritzung zuweilen sehr üble Folgen hat. So muß der Arzt seine Verordnungen genau anpassen dem ganzen, auch dem seelischen Status seines Patienten, sonst ist er nur ein besserer Vieharzt. 1

Also keine rein materielle Krankenbehandlung, sondern auch seelische Beeinflussung, Psychotherapie, so lautet heute der Ruf auch in Ärztekreisen. Daher hat denn der Jenenser Professor J. H. Schultz ein viel verbreitetes und öfter aufgelegtes Buch geschrieben mit dem Titel : «Seelische Krankenbehandlung» (Jena 1922, 3. Aufl.). Daher hatte auch der allbekannte Emil Coué wahrhaft glänzende medizinische Erfolge mit seiner Psychotherapie. Daher besteht auch an manchen Universitäten ein eigener Lehrstuhl für Psychotherapie.

b) Die Kenntnis von Psychopathien ist ferner sehr notwendig für Seelsorger. Ein Seelsorger, dem die Psychopathien eine terra incognita sind, richtet großen Schaden an, sowohl bei andern, wie bei sich selbst. Greifen wir aus den Psychopathien nur die jetzt unter beiden Geschlechtern so sehr verbreitete Hysterie heraus. Ich betone ausdrücklich, daß ich Hysterie nur als eine bestimmte funktionelle Neurose nehme, die an und für sich gar nichts mit sexuellen Erregungen zu tun hat. Ich weiß freilich, daß Hysterie von vielen Laien in einem andern und zwar unschönen Sinne gefaßt wird, dementsprechend es eine grobe Beleidigung ist, wenn man z. B. von einer weiblichen Person sagt: die ist ein hysterisches Frauenzimmer. Nach jahrelangem, auch praktischem, ernstem Studium auf diesem Gebiete, sage ich aus innigster Überzeugung: diese Auffassung ist falsch. Ich habe sehr oft Hysteriker beider Geschlechter gefunden, deren Sexualleben durchaus normal war. Hysterische Psychopathen wenden sich erfahrungsgemäß sehr oft an den Seelsorger. Da kommt z. B. eine ganz exquisite Seele zum Beichtvater und berichtet von allerhand außergewöhnlichen Erscheinungen, sie habe Visionen, jeden Freitag könne sie gar nichts essen, leide unbeschreibliche Schmerzen an Leib und Seele. Samstag sei aber wieder aller Schmerz verschwunden, sie werde durch eine innere Stimme gebieterisch aufgefordert, stundenlang tags und nachts zu beten und zu sühnen für die Sünden der Welt usw. Wie leicht nimmt da ein in der Psychopathie unerfahrener Seelsorger alles dies sofort als bare Münze an, befördert noch und ermuntert zu diesen außergewöhnlichen Dingen. Und hinterher entpuppt sich alles als hysterische Täuschung. Ich sage nicht, daß derartige Personen den Seelsorger immer bewußt täuschen wollen. Nein, es kommt nicht selten vor, daß auch sie selbst pure Autosuggestionen für objektive und übernatürliche Tatsachen annehmen. Aber nichtsdestoweniger ist und bleibt es eine objektive, oft verhängnisvolle Täuschung, die zuweilen zu einem solchen Unfug wird, daß die kirchlichen Behörden einschreiten müssen. Ich erinnere nur an ein

Beispiel aus jüngster Zeit, wo in dem offiziellen Organ «Acta Apostolicae Sedis» 1924, p. 368, das hl. Officium gegen den Pio a Petralcina vorgehen mußte.

Noch häufiger kommen Psychopathen zum Seelsorger und berichten so scheußliche Dinge, daß er wahrhaft schaudert und sich nicht mehr zu helfen weiß. So z. B. kommt jemand und erzählt: «Bisher bin ich fast jeden Tag zur heiligen Kommunion gegangen, wurde aber dann ganz kalt und gleichgültig beim Sakramentenempfang, und jetzt glaube ich, daß ich wirklich vom Teufel besessen bin, denn, wenn ich zur Kommunion gehen will, muß ich selbst noch an der Kommunionbank wiederholt sagen: Lieber Teufel, lieber Teufel! Es ist mir das schrecklich, aber ich muß wirklich diese Worte aussprechen, auch wenn ich mich mit allen Kräften dagegen sträube. Der Geistliche, der nichts kennt von psychopathischen Zwangsreden, glaubt wirklich hier an Teufelsbesessenheit, probiert es sogar mit dem Exorzismus. Natürlich mit dem Erfolg, daß der vermeintliche Teufel nicht bloß von seinem Opfer nicht losläßt, sondern es noch mehr quält.

c) Die Kenntnis der Psychopathien ist auch unumgänglich notwendig für Eltern und Erzieher. Gerade in unserer Zeit ist die Zahl psychopathischer Kinder und Jugendlichen ins Unheimliche gewachsen. Gar manche Kinder sind für Eltern und Lehrer ein wahres Kreuz infolge ihrer anormalen psychischen Veranlagung; sie sind faul, boshaft, unbelehrsam, reagieren auf Strafen gar nicht mehr, haben einen unwiderstehlichen Trieb zum Stehlen oder gar auch zu allerhand sexuellen Abnormitäten. Kaum sind sie aus der Schule entlassen, sind sie ganz sicher jugendliche Verbrecher und begehen horrende Schandtaten. Ich brauche nur zu erinnern, wie vor einigen Monaten drei junge Burschen von 20-22 Jahren den Berliner Schnellzug bei Leiferde zum Entgleisen brachten, wobei 9 Menschen tötlich und viele andere schwer verletzt wurden. Motiv dieser Schandtat für die drei Bengel war: sie wollten den verunglückten Eisenbahnzug mit dem Postwagen ausrauben, um dann

viel Geld zum Amüsieren zu bekommen. — Allerorts, in Amerika sowohl wie in Europa, ist man erschreckt über die rapide Zunahme der jugendlichen Verbrecher. Nun, diese jugendlichen Verbrecher rekrutieren sich vielfach aus jugendlichen Psychopathen. Würden psychopathische Kinder richtig behandelt, so wäre ihnen meist zu helfen zum Wohle der menschlichen Gesellschaft. Ich darf da wohl einen interessanten, selbsterlebten Fall anführen eines psychopathischen Kindes. Voriges Jahr kommt eine ältere Dame mit ihrem 11-jährigen Neffen. Sie berichtet, wie dieser Junge seinen Eltern so viel Kummer bereitet durch zwei schlimme Unarten. Er hat Kleptomanie und Enuresis. Obschon die reichen Eltern alles Nötige in Fülle boten, konnte der Junge es dennoch nicht lassen, seinen Mitschülern die Bleistifte zu stehlen, die er dann aber in seinem Pulte herumliegen ließ. Fast alle Tage bekommt er von seinem Vater Prügel. Der Junge weint wohl ob der erhaltenen Schläge, seine Mutter weint ob der unverbesserlichen Unarten ihres Sohnes. — Im Beisein der Tante wurde der Junge hypnotisiert und ihm in der Hypnose stark suggeriert: Hör mal, Du stiehlst nicht mehr. Hörst Du? — Nein, seufzte der Knabe, ich tue es sicher nicht mehr, dann bekomme ich auch keine Schläge mehr vom Vater, und Mutti weint nicht mehr über mich. Im September dieses Jahres habe ich die Tante des Knaben wieder gesehen und gefragt, wie es jetzt gehe. Hocherfreut sagte sie mir: der Knabe stiehlt nicht mehr und das andere ist in diesem ganzen Jahre auch nur mehr ein paar mal vorgekommen. Ein solch glänzender, rascher Erfolg bei einem Psychopathen ist freilich selten, aber mit Geduld und Geschicklichkeit erreicht man doch sehr oft gute Resultate.

d) Die Kenntnis von Psychopathien ist notwendig für Juristen, Richter, Crirninalisten, weil sie dann ein viel gerechteres Urteil fällen werden bei vorgekommenen Verbrechen; sie werden sich dann frei halten ebensowohl von einem die menschliche Freiheit leugnenden Determinismus, wie von mechanischer Anwendung der Paragraphen

des Strafgesetzbuches. Leider sind viel zu viele Menschen auf den Determinismus eingeschworen. Vor einigen Jahren sagte mir der Direktor eines großen Zuchthauses, der den Ansichten Lombrosos huldigte: «all die vielen Verbrecher, die hier eingesperrt sind, gehören nicht hieher, sie können nichts für die begangenen Missetaten, die sie nur infolge ihrer Gehirnanormalien begangen haben. Man sollte sie nicht in ein Gefängnis, sondern in eine Irrenanstalt einsperren, damit sie der menschlichen Gesellschaft nicht weiter schaden können.» 1

Das ist nun freilich falsch. Gewiß sind unter den Verbrechern in den Gefängnissen viele Psychopathen, aber nun behaupten, daß diese Psychopathen ihre Missetaten ganz ohne freien Willen begangen und infolgedessen nicht straffällig sind, geht viel zu weit. Gewiß wird kein Richter eine Tat mit Kerkerhaft ahnden, die im Zustande vollständiger, unverschuldeter Geistesstörung geschehen ist. — Ein vollständig geistig Gestörter gehört ja ins Irrenhaus und nicht ins Zuchthaus. Aber viele Gefangene haben ihre Missetat im Zustand verminderter Zurechnungsfähigkeit begangen; dieser Zustand ist auch nicht immer unverschuldet, sondern nicht selten durch lange böse Gewohnheiten großgezüchtet.

Wenn jemand z. B. im Zustande totaler Trunkenheit ein Haus anzündet oder einen andern totschlägt, so ist er keineswegs vor Gott und den Menschen straflos. Seine Zurechnungsfähigkeit war zwar im Rausch sehr vermindert, aber doch nicht ganz aufgehoben, weil der Rausch selbstverschuldet war und mithin die Folgen des Rausches. Indes

wird sowohl der göttliche wie der menschliche Richter einem solchen Menschen bei der Bemessung der Strafe mildernde Umstände zuerkennen. Der göttliche Richter wird ohne Zweifel nach Gerechtigkeit urteilen, aber der menschliche Richter wird — wenn ihm das Gebiet der Psychopathien ein vollständig unbekanntes Gebiet ist — oft entweder viel zu streng oder viel zu milde bestrafen. —

Aus dem Gesagten geht zur Übergenüge hervor, daß die Psychopathien des Studiums wahrhaft wert sind aus sehr praktischen Notwendigkeiten. Und zwar nicht bloß für die angeführten Menschenkategorien, sondern auch für jeden Gebildeten. Folgendes ist da Grund:

L. A. Koch 1 nennt zwar die Psychopathien «Minderwertigkeiten» und hat in gewisser Beziehung recht; denn Psychopathien sind krankhafte Zustände und solche Zustände sind Minderwertigkeiten; aber man hüte sich ja, nun zu schließen: dieser Mensch ist Psychopath, also ist er auch in jeder Beziehung minderwertig. Das wäre ein arger Fehlschluß. Gerade unter den genialen Menschen, die durch ihre Leistungen die ganze Welt in Erstaunen setzen, gibt es eine außergewöhnlich große Zahl von Psychopathen, so daß man schon lange den Grundsatz geprägt hat: «Nullum magnum ingenium sine mixtura dementiae», was frei übersetzt lautet: «alle großen Menschen haben einen Strich, oder tous les grands génies sont un peu toqués», und Erasmus schrieb bekanntlich sein « », das Lob der Narrheit. Freilich gibt es Ausnahmen. Es hat Genies gegeben, die in jeder Beziehung Edelmenschen ersten Ranges waren. Erwähnt seien nur Augustinus und Thomas von Aquin.

Einige geniale Psychopathen mögen hier angeführt werden nach Grasset I. Cf. J. Grasset, «Demifous et demiresponsables», p. 135-196.

Auguste Comte, der vielgerühmte positivistische Philosoph war sicher ein halbverrückter Psychopath, daher sogar zeitweise interniert in einer von den berühmten Esquirol geleiteten Anstalt.

Saint-Simon, ein anderer Philosoph, litt an Megalomanie, an Größenwahnsinn. Er selbst nennt sich Stellvertreter Gottes und meint, er sei der Papst in der Wissenschaft: auch glaubt er Erscheinungen von Karl dem Großen zu haben.

Dostojewski hatte epileptische Anfälle und behauptete während derselben ein intensives Glücksgefühl zu verspüren.

Tolstoi sagt von sich selbst, daß er nicht ganz normal sei und viel von Selbstmordgedanken geplagt sei.

Jean Jacques Rousseau hat Verfolgungswahn, erklärt, daß er 10 Jahre in einem Delirium gelebt habe. Er schreibt «une lettre très tendre et très familière» an Gott selbst und will denselben vor dem Hauptaltar der Notre-Dame-Kirche niederlegen. Da er aber das Gitter vor dem Altare verschlossen findet, meint er sogar, der Himmel sei gegen ihn.

Flaubert war epileptisch und hysterisch.

Baudelaire hatte eine krankhafte Vorliebe für starke Gerüche, die gewöhnlich anders benannt werden. Er färbte seine Haare grün. Er starb an Gehirnerweichung.

Alfred de Musset hatte Halluzinationen, war Fetischist, litt an Manien.

Emil Zola war ein psychopathisches Original. Er zählt in den Straßen 1. die Gaslampen, 2. die Nummern über den Haustüren, 3. die Nummern der Fiaker und addiert dann sorgfältig alle Zahlen zusammen; auch gibt er krampfhaft darauf acht, daß er nicht mit dem linken Fuß zuerst über die Türschwelle schreitet.

Huysmans hat allerlei Illusionen, er hatte den sogenannten goût auditif. So z. B. trank er den Likör Curaçao, so meinte er den Klang der Klarinette zu hören, trank er Wermut oder Anisette, so hörte er Flötenspiel, trank er Kirsch, so vernahm er Trompetenschall. 1 Derartige Synesthesien kommen auch sonst vor.

Torquato Tasso litt an krankhafter Melancholie und vielen Halluzinationen.

Friedrich Nietzsche war zeitlebens ein schlimmer Psychopath und die letzten Jahre seines Lebens bekanntlich vollständig geistesgestört.

Selbst Göthe und Schiller waren nicht frei von psychopathischen Zuständen. Möbius hat eine Schrift verfaßt mit dem Titel: «Über das Psychopathische bei Göthe» (1898) und Schiller steckte seine Füße in eiskaltes Wasser und legte vor sich in die Schublade sehr überreife Äpfel, wenn er scharf nachdenken wollte. Göthe litt zeitweise an Halluzinationen.

Die Liste der Psychopathen, die hervorragende Menschen gewesen und Großes geleistet haben, ließe sich noch bedeutend verlängern. Aber die angeführten Namen erbringen wohl den vollgültigen Beweis, daß Genie und Psychopathie häufig nahe beieinander sind. «Le génie frise la folie.» Man hat verschiedene Erklärungsversuche für diese Tatsache gemacht. Ich kann mich hier nicht darauf einlassen, da alle nur Hypothesen sind. Mir persönlich scheint es am wahrscheinlichsten, daß die Psychopathie in diesem Falle die Tochter des Genies ist, freilich eine illegitime Tochter. Das Genie bringt großartige Werke hervor, das geht aber nicht ohne einen Aufwand von großer Nervenkraft. Der Körper ist nun nicht imstande, den raschen Verbrauch der Nervenkraft zu ersetzen. Infolgedessen entsteht nervöse Überreizung, und diese nervöse Überreizung bringt allerhand Psychopathien hervor. Jeder, auch wenn er kein Genie ist, kann es an sich selbst erfahren, daß bei Überarbeitung Überreizung der Nerven entsteht und daß er infolge seiner überreizten Nerven spricht und handelt, wie er es im Stande geistiger Ruhe nicht tun würde.

Aus der Tatsache, daß hervorragende Menschen oft Psychopathen sind, entsteht eine besondere Gefahr für die ganze Menschheit, denn die Masse der Menschheit betet das Genie an, läuft dem Genie nach und sucht es nachzuahmen. Und nun sind es oft nicht Produkte des Genies, sondern einer krankhaften Psychopathie im Genie, welche von der Volksmasse bewundert und nachgeäfft werden und zwar zum unermeßlichen Schaden für Glauben, Religion und Sitte. Einen geradezu abschreckenden Beweis hierzu liefert Friedrich Nietzsche, der in offenbar psychopathischem Zustande viele seiner Werke geschrieben hat. Und dennoch, wie werden

diese Werke von vielen geradezu verschlungen und leider auch in die Lebenspraxis übertragen! 1 — Als «Übermenschen» leben sie «jenseits von Gut und Böse».

Es ist auch von diesem Gesichtspunkte aus notwendig, und zwar für jeden, genügende Kenntnisse von Psychopathien zu haben, damit er sich nicht täuschen läßt durch sonderbare Meinungen und Taten sonst großer Menschen.

Die Psychopathien sind, wie bereits gesagt, krankhafte Grenzzustände zwischen dem normalen und gänzlich anormalen Geistesleben. Daß dieselben bestehen und einen großen Einfluß auf die menschlichen Handlungen ausüben, darüber kann kein vernünftiger Zweifel bestehen. Wohl aber bestehen bisher große Zweifel, was dieselben eigentlich sind. Es würde viel zu weit führen, all die verschiedenen Erklärungsweisen anzugeben. Ich glaube, daß noch immer die aristotelisch-thomistische Erklärung am meisten genügt. Grundsatz hierbei ist: Nihil est in intellectu, quod non prius fuit in sensu. Nichts ist im Verstande, was nicht zuerst in der Sinneswahrnehmung war, d. h. der begrifflichen geht die sinnlich bedingte Erkenntnis voraus. Thomas fragt sich: Utrum judicium intellectus impediatur per ligamen sensus? Und antwortet: «Impossibile est quod sit in nobis judicium intellectus perfectum cum ligamento sensus per quem res sensibiles cognoscimus.» 2 Sind also die Sinne — gleichviel ob innere oder äußere —gehemmt, so ist auch der Verstand

gefesselt. Gestützt auf diesen Grundsatz erklärt der englische Lehrer auch die Fieberdelirien und die Träume, nämlich durch eine hindernde Bindung der inneren Sinne. Die vier inneren Sinne haben ihren Sitz in dem Gehirn (wahrscheinlich in der Gehirnrinde), sind also etwas Materiell-Körperliches. Sind nun diese inneren Sinne behindert oder gar gänzlich gefesselt, so hört es mehr oder weniger auf mit der richtigen Geistestätigkeit. Im Fieberdelirium ist es die abnormal hohe Blutwärme, die des Gehirns normale Tätigkeit hemmt; bei Psychopathien sind es ebenfalls Hemmungen der normalen Gehirntätigkeit. Freilich ist es bisher noch nicht gelungen, physiologisch diese Hemmungen im einzelnen auszuproben. Deshalb nennt man die Psychopathien funktionelle Neurosen oder Psychosen, im Gegensatz zu den organischen Neurosen oder Psychosen, z. B. Paralysis. Wenn nämlich nach dem Tode eines Psychopathen mit funktioneller Neurose das Gehirn auf das genaueste durchseziert wird, hat man bisher nicht die geringste pathologische Veränderung gefunden, hingegen lassen sich bei der Paralyse pathologische Gehirnveränderungen leicht nachweisen. Man merke aber wohl, daß man bisher bei funktionellen Neurosen derartige Veränderungen nicht nachweisen kann. Daß sie aber trotzdem vorliegen, ist fast sicher. Man kann ja auch manchem schlauen Verbrecher seine Missetat nicht nachweisen, aber begangen hat er sie dennoch. Übrigens hat sich das menschliche Gehirn mit seinen Tätigkeiten hinter einer festen Gehirnschale verborgen, und wir wissen bisher bitter wenig von dem, was hinter dieser Gehirnschale vorgeht. Die ganze Gehirnphysiologie steckt noch in den Kinderschuhen und beruht auf vielen, recht problematischen Hypothesen. Beispielsweise vermögen wir nicht einmal zu erklären, warum der Mensch allein und kein Tier lachen kann, warum der Mensch lacht, wenn man ihn kitzelt. — Wenn man nicht einmal ein solch alltägliches Erscheinen genügend erklären kann, wie soll man da das so komplizierte Problem der Psychopathie restlos lösen? Es bedarf also noch langer und geduldiger Forscherarbeit, ehe wir genau wissen, was die Psychopathien wesentlich

sind. Man sollte fast den Mut verlieren, sich an diesen Forschungen zu beteiligen, wenn man bedenkt, daß seit Aristoteles und Thomas, also seit vielen Jahrhunderten diese Experimentalpsychologie so wenig wesentlich Neues gefunden hat; so z. B. hat man sich seit Jahrhunderten vergeblich bemüht, die Träume während des Schlafens zu erklären, aber trotzdem ist man nicht wesentlich weiter gekommen über die Erklärungen hinaus, die bereits Thomas von Aquin gegeben hat im Anschluß an Aristoteles. 1 Bekanntlich hat die kürzlich von Sigmund Freud gegebene Erklärung der Träume wenig Anhänger gefunden.

Wenn wir nun auch nicht imstande sind, das innerste Wesen der Psychopathien restlos zu erklären, so dürften doch funktionelle Neurosen, welche die inneren Sinne stören, sie veranlassen. Die Erscheinungs- und Wirkungsweisen der Psychopathien sind uns wohl bekannt. Sie erscheinen als Störungen des Erkenntnis- und Gefühlslebens und haben infolgedessen einen großen Einfluß auch auf das menschliche moralische Leben.

1. Störungen im Erhenntnisleben. — Damit eine vollkommene Erkenntnis zustande komme, bedarf der Mensch gar vieler Hilfsmittel. Er bedarf gesunder äußerer Sinne — ein von Geburt an Tauber hat keine Ahnung von Musik. Der Mensch bedarf ferner besonders gut funktionierender innerer Sinne, der Phantasie, des sinnlichen Gedächtnisses, des sogenannten Gemein- oder Zentralsinnes und der sogenannten aestimativa oder Ratio particularis. 2 Sind diese inneren Sinne, die an das Gehirn gebunden sind, krank, so ist der Verstand mehr oder minder gehindert in seiner Tätigkeit. Kommt z. B. ein abnormales großes Abnehmen des sinnlichen Gedächtnisses vor, etwa bei senilem Marasmus, so zeigt sich senile Infantilität im ganzen Benehmen. Der

Mensch stand vielleicht früher geistig sehr hoch in jeder Beziehung, jetzt aber benimmt er sich als ein geistig beschränktes Kind, er ist, wie der Volksmund sagt, «verkindscht», er ist Psychopath geworden, und wenn er ein objektiv schweres Sittlichkeitsverbrechen begeht, wie das nicht selten vorkommt wegen seinem Marasmus, so ist dasselbe subjektiv genommen gar nicht oder nur wenig anrechnungsfähig; deshalb sprechen die Richter auch meistens einen Menschen, der an Dementia senilis leidet; frei.

Auch sonst kommen vielfach Denkstörungen vor infolge krankhafter Innen-Sinne, z. B. bei melancholischen oder manischen Zuständen.

Es sei hier noch kurz erwähnt die moral insanity, das moralische Irrsein, das zuerst von dem Engländer Prichard aufgestellt wurde im Jahre 1835. 1

Was Farbenblindheit für das Auge, das sei moralisches Irrsein für den Verstand, so meinen die Anhänger dieser Lehre. Bekanntlich gibt es Menschen, die eine gute Sehkraft besitzen, aber entweder gänzlich oder teilweise farbenblind sind. Die gänzliche Farbenblindheit (Achromatopsie) ist selten, die teilweise (Dischromatopsie) ziemlich häufig. So gibt es Menschen, die die grüne und die rote Farbe nicht zu unterscheiden wissen. Ähnlich wie nun diese Farbenblindheit den Menschen unfähig macht, trotz seiner normalen Sehschärfe, gewisse Farben zu unterscheiden, so wisse der moralisch Irre trotz seinem sonst normalen Verstande nicht zu unterscheiden zwischen gut und bös.

Seit zirka 100 Jahren ist viel disputiert worden, ob es wirklich ein solches moralisches Irrsein gibt bei sonst ganz

intakter Verstandes- und Willenstätigkeit. Fr. Scholz hat ein eigenes Buch geschrieben von moralischer Anästhesie. Bleuler spricht von einem Defekt der moralischen Gefühle.

Es gibt gewisse Fälle, wo man versucht ist, einen moralischen Irrsinn anzunehmen. Schon ein solches Kind kennt keine Anhänglichkeit, Dankbarkeit und Liebe gegenüber seinen Eltern und Mitleid und Ehrfurcht sind ihm fremd; es quält die Geschwister, peinigt die Tiere. Es nascht, lügt, verleumdet, stiehlt. Strenge bei der Erziehung hilft nichts. Milde macht ebensowenig Eindruck. Das Gefühl von Scham und Reue fehlt gänzlich, auch später, nachdem es erwachsen ist. Selbst nach schwersten Verbrechen, wie Mord, bleibt die Stimmung ruhig. Ein solches Individuum ist imstande, neben der Leiche des Ermordeten mit Appetit zu essen und die ganze Nacht in demselben Bett ruhig zu schlafen. Dabei ist die Intelligenz verhältnismäßig gut, manchmal sogar sehr gut. Während viele andere gewöhnliche Schwachsinnige trotz hochgradiger Herabsetzung ihrer Intelligenz rührende Gefühle der Liebe, Anhänglichkeit, Dankbarkeit, des Mitleidens offenbaren, fehlt den moralisch Schwachsinnigen die Fähigkeit, sich in die Lage anderer zu versetzen. Von selbstlosem Altruismus keine Spur, hingegen brutalster Egoismus. Beim moralisch Schwachsinnigen gilt nur der Spruch:

«Das Ich und Mich, das Mir und Mein
Regiert in meiner Welt allein.»

Solche Fälle kommen wirklich vor. In der Abteilung einer großen Anstalt, wo halbverrückte Verbrecher eingeschlossen waren, erzählte mir ein junger Mann ganz lächelnd und witzelnd, wie er seine Geliebte gemordet hatte. Er zeigte nicht die geringste Spur von Reue oder Scham, sodaß ich meinen tiefempfundenen Abscheu kaum verbergen konnte. Aber trotzdem stehe ich auf dem Standpunkte von Hoche 1 und der meisten Psychiater, daß es keine moral

insanity gibt im Sinne Prichards, also auch keinen gebornen Verbrecher. Die Erfahrung hat immer wieder bewiesen, daß, wenn ein sonst in seinem Erkenntnisvermögen intakter Mensch zur moralischen Bestie wird, wie dieser eben angeführte Mörder, das auf schlechte Erziehung, schlechte Umgebung und jahrelanges wüstes Leben zurückzuführen sei. Schon seit Jahrhunderten sprechen die Moralisten von einer Conscientia cauteriata, einem überkrusteten Gewissen. Malträtiert nämlich jemand fortwährend sein Gewissen durch allerlei Schandtaten, so hören die Gewissensbisse langsam auf. Eine dichte Kruste legt sich um das Gewissen, das gänzlich gefühllos geworden, auch den offenkundigsten Schandtaten gegenüber. Aber das ist keine psychopathische moral insanity, das ist vielmehr sittliche Verkommenheit, ja Verlumpung, die weder vor dem göttlichen noch vor dem menschlichen Richter Nachsicht verdient.

Soviel über das moralische Irresein, das in der Prichard'schen Form abzulehnen ist, auch schon weil die Synteresis immer bleibt. Nach thomistischer Philosophie muß die moral insanity von vorneherein abgelehnt werden. Denn Thomas lehrt, daß jedem vernunftbegabten Menschen die Synteresis unauslöschlich inne wohnt. 1 Diese Synteresis ist die sofort mit dem Erwachen der Vernunft dem Menschen verliehene Kenntnis: Das Gute ist zu tun und das Böse ist zu meiden. Die Synteresis ist ein Abglanz der göttlichen Weisheit im Menschen; sie ist wie diese unveränderlich und unzerstörbar. So lange also der Mensch nicht wirklich geistesgestört ist und noch den Gebrauch der Vernunft hat, kann er immer unterscheiden zwischen gut und böse und strebt naturgemäß zum Guten. Also ist Prichard's moral insanity nach der thomistischen Philosophie eine Unmöglichkeit. Damit soll aber keineswegs geleugnet werden, daß bei allgemeinem Schwachsinn, bei Imbezillität und noch mehr bei Idiotie auch Erkenntnisdefekte in bezug auf die moralischen Verpflichtungen vorliegen.

II. Störungen der Willenstätigkeit. —Zwischen Erkenntnistätigkeit und Willenstätigkeit ist eine innige Wechselbeziehung und Abhängigkeit. Mein Wille kann nichts wollen, was ich vorher nicht erkannt habe. Daher der Grundsatz: «nil volitum nisi praecognitum» und «ignoti nulla cupido». Im Deutschen sagen wir: «Was ich nicht weiß, das macht mich nicht heiß.» Anderseits kann auch das Erkenntnisvermögen sich nicht betätigen, wenn der Wille es nicht befiehlt oder wenigstens zuläßt. Die Scholastiker sagten: «voluntas movet intellectum quantum ad exercitium, intellectus autem movet voluntatem quantum äd specificationem.» Ist also der menschliche Wille, oder sagen wir allgemeiner, das menschliche Strebevermögen gehemmt, so kann auch der beste Verstand nicht viel machen. Sind es schon eine ganze Reihe von Hemmnissen, die das Erkenntnisvermögen des Psychopathen sehr hindern, so sind solcher Hemmnisse für das Strebevermögen noch viel mehr. Die Scholastiker führen alle Hemmnisse des Erkenntnisvermögens auf die ignorantia, die Unkenntnis, und deren Akt, die inadvertentia, Unaufmerksamkeit, zurück. Hingegen zählen sie als Hemmnisse des Strebevermögens auf: den Zwang, die Angst, die Leidenschaft, die eingewurzelten Gewohnheiten und gewisse pathologische Zustände. 1 Es würde zu weit führen, all diese Feinde des freien menschlichen Handelns im einzelnen vorzunehmen. Es ist dies aber auch nicht notwendig, weil wir es ja nur mit Psychopathien und Moral zu tun haben, nicht aber mit allen übrigen Schädlingen der freien Entscheidung. Wenn z. B. ein Mensch seit langer Zeit der üblen Gewohnheit des Fluchens oder des Alkoholmißbrauchs frönt und nun einen fast unwiderstehlichen Drang spürt zu fluchen und sich zu betrinken, so ist das noch lange nichts Psychopathisches; das ist nur eine Wirkung selbstverschuldeter, schlechter Gewohnheiten. Die neuem Psychiater pflegen einen solchen Menschen 1

einen Degenerierten, aber nicht einen Psychopathen zu nennen.

Sprechen wir der Kürze halber nur vom psychischen Zwang, den die Modernen Obsessionen nennen. Ich weiß recht wohl, daß diese Obsessionen auch das Erkenntnisvermögen und andere Seelenkräfte befallen, aber ich persönlich glaube, daß dies nur die sekundäre und nicht die primäre Wirkung ist. Das Primäre scheint mir stets eine krankhafte Affektion des Strebevermögens, oder kurz die Angst zu sein, wie ich weiter unten ausführen werde. 1

Diese Obsessionen sind nun bei allen Neurasthenikern sehr, sehr häufig. Die abnormen Erregbarkeitsverhältnisse der Gehirnrinde, wie sie bei der Neurasthenie vorhanden sind, veranlassen zunächst, daß die auftauchenden Vorstellungen eine über die gesunde Norm hervorragende Intensität gewinnen und sich infolgedessen dem Willen gegenüber nicht so gefügig zeigen wie die normalen Vorstellungen. Sie drängen sich mit einer lästigen Aufdringlichkeit und störenden Energie in die Aufmerksamkeit vor und weichen von dort nicht so leicht wie die gesunden Vorstellungen. Sie sind überbetont, wie die Neueren sagen. Der Wille bedarf einer Kraftanstrengung, die über das normale Maß hinausgeht, wenn er diese krankhaft intensiv betonten Vorstellungen verdrängen will. 2 Dem Neurastheniker mangelt

nun diese Willensstärke, denn dieselbe ist bedeutend herabgesetzt (Anenergie), ja in schlimmen Fällen bis auf den Nullpunkt gesunken. Wir sprechen dann von Abulie. — Wenn das Gehirn an reizbarer Schwäche leidet, so können selbst gewöhnliche, alltägliche Eindrücke so tief sich eingraben, daß ein wahres Martyrium entsteht. Es besteht eine wirkliche Ohnmacht des Willens, die störenden Eindringlinge zu beseitigen.

In seiner bekannten humorvollen, etwas drastischen Weise erzählt Marc Twain einen Fall solcher Zwangseindringlinge. Die ganze Geschichte ist etwas lang und deren Schluß arg anzüglich für Universitätsprofessoren und Studenten, sodaß ich dieselbe nicht ganz anführen kann. Dieselbe befindet sich in dem Werke Marc Twain «Erzählungen und Plaudereien», deutsch von H. Löwe, unter dem Titel: «Knipst, Bruder, knipst». Der kurze Inhalt ist folgender: Marc Twain liest zufällig in einer Zeitung folgende dumme Reimereien: «Schaffner knipse das Fahrpapier, zahlt die Taxe der Passagier. Acht Cents Fahrt ein gelb Papier, drei Cents Fahrt ein rot Papier, Schaffner knipse das Fahrpapier.» Diese wirklich geistlosen Reime prägen sich sofort dem Marc Twain so gebieterisch ein, daß er zwei Tage und Nächte sie nicht mehr los werden konnte und sie ihn an jeglichem Arbeiten und Schlafen vollständig. hinderten. Da besucht ihn ein befreundeter anglikanischer Geistlicher, der bei seinem ersten Anblick sofort ausruft: Bist Du krank Twain? Twain antwortet apathisch und tonlos: Schaffner knipse das Fahrpapier, zahlt die Taxe der Passagier usw. — Während zwei Stunden versucht der anglikanische Geistliche dem Marc Twain diese törichten Reimereien auszureden, aber vergebens. Marc Twain wiederholte stets nach einigen Pausen: Schaffner knipse das Fahrpapier usw. Der Anglikaner war ratlos. Aber schließlich hatte er die Reimereien so oft gehört, daß auch er sie auswendig konnte und dahersagte. Nun fing auch dieser, der sehr neurasthenisch war, an, dieselben Reime mit Marc Twain um die Wette herzusagen. Marc Twain fing so unbändig an zu lachen, daß er im selben Augenblicke von diesem Zauberbann befreit war, aber jetzt hatte es den Anglikaner gepackt, der immer wieder die tollen Verse wiederholte; sogar bei einer Trauerrede, die er am folgenden Tage halten mußte, entschlüpfte ihm: «Schaffner

knipse das Fahrpapier!» — Wie endlich der anglikanische Geistliche diese Zwangsredereien los wurde, erzählt Marc Twain am Schluß durch einen anzüglichen Witz auf Universitätsprofessoren und Studenten. Diesen Witz kann ich aber, weil er durchaus nichts mit der Wissenschaft gemein hat, hier vor dieser illustern Gesellschaft nicht erzählen.

Auch im Alltagsleben kommen die unbegreiflichsten Zwangsvorstellungen, Zwangsreden, Zwangshalluzinationen, Zwangsstimmungen, Zwangsbewegungen, Zwangshandlungen, Zwangshemmungen vor und zwar so häufig, daß man wirklich die bereits oben angeführten Worte Göthes gebrauchen kann:

«Nun ist die Welt von solchem Spuk so voll,
Daß niemand weiß, wie er ihn meiden soll.»

Aus den vielen, von mir selbst beobachteten Fällen greife ich nur ein paar heraus.

Ein gebildeter Geschäftsmann, Vater von fünf erwachsenen Kindern, Besitzer eines sehr großen Unternehmens, hat die Zwangshandlung, daß er jeden Abend, ehe er schlafen geht, unter das Bett schauen muß. Seine Frau hatte ihm eines Tages so das Unvernünftige dieser Handlung vorgestellt, daß er ihr versprach: «Diesen Abend schaue ich nicht unter das Bett.» Der Abend kam, die Eheleute gingen zur Ruhe, und wirklich schaute der Mann nicht unter's Bett. Die Frau lobte noch ihren Mann, daß er so treu das gegebene Wort halte und schläft auch bald ein; aber nach Mitternacht wird sie wach und hört, wie ihr Ehemann sich unruhig und schlaflos herumwirft und stöhnt. «Warum schläfst Du denn nicht? —Ich kann es mit dem besten Willen nicht; ich werde den Gedanken nicht los, daß ein Dieb unter dem Bette liegt. — Nun denn, in Gottes Namen, schaue nach!» Der Mann schaut nach, findet natürlich nichts und kann dann ruhig einschlafen. Von da an hat die Frau sich nicht mehr bemüht, ihren Ehemann von seiner an sich harmlosen Zwangshandlung, allabendlich unter das Bett zu schauen, abzubringen.

Eine recht vornehme und gebildete Dame hatte die Zwangsangst, daß sich Bakterien an ihre Hände festsetzten

und deshalb ihre eigene und Fremder Gesundheit gefährdeten. Nun wäscht sie sich ihre Hände wohl 20-30 Mal am Tage, so daß innerhalb ein paar Tagen immer ein ganzes Stück Seife und eine gute Quantität Lysol verbraucht wurde. Die Hände sahen infolgedessen viel schlimmer aus als die einer Wäscherin, die ihre Hände den ganzen Tag in scharfer Seifenlauge gehabt hat.

Ein hervorragender Geistlicher litt an Platzangst, konnte infolgedessen nie von der Kanzel herab sprechen, noch allein über einen Platz gehen.

Ein anderer Geistlicher litt geradezu schrecklich an dem Zwangszweifel, daß er die Konsekrationsworte nicht recht ausspreche. Daher brauchte er zuweilen fast 20 Minuten für die Konsekration, stieß die Konsekrationsworte immer wieder aufs neue hervor und zwar so laut, daß man es in der ganzen Kirche hören konnte. Seine Angst war dabei so groß, daß ihm der Schweiß von der Stirne perlte.

Ich würde kein Ende finden, wenn ich von all den Skrupeln, die doch im Grunde nichts anderes sind als Zwangserscheinungen, reden wollte, welche sittlich hochstehende Menschen befallen in bezug auf das sechste Gebot des Dekaloges. Sie verabscheuen die aufsteigenden inneren Bilder, und das um so mehr, je inniger sie sich mit den heiligmäßigen Vorstellungen als Kontrastassoziationen verbinden. In dem Moment setzt die Untersuchung ein, ob nicht doch ein Wohlgefallen an diesen Vorstellungen entstanden ist. Alles wird genau und peinlich untersucht. Hierdurch werden aber diese Vorstellungen um so mehr fixiert, die dann nicht selten sogar organische Sexualerregungen auslösen, die sich dem Willensgebiete völlig entziehen. Es geht ihnen wie dem Vogel, der auf einer Leimrute festsitzt; je mehr er mit den Flügeln flattert, um so mehr Leim bekommt er an seine Flügel, die er schließlich überhaupt nicht mehr zu bewegen weiß.

Wie entstehen nun alle diese tausendartigen Zwangserscheinungen? Eine wichtige und sehr schwierige Frage das! — Eine kurze, knappe, vollkommen richtige Antwort

ist wohl unmöglich. Wir haben es hier mit Wirkungen zu tun, die aus verschiedenen Ursachen entstehen können. So können ja auch auf andern Gebieten gleiche oder ähnliche Wirkungen durch die verschiedensten Ursachen hervorgerufen werden; z. B. kann man die Wirkung des Schwitzens hervorrufen durch Fieber, durch Bergsteigen, durch Schwitzkasten, durch einen heißen Grog und schließlich sogar — wenn es sich um einen Examenskandidaten handelt — durch scharfes Examinieren. Die Zwangserscheinungen kommen zuweilen durch wirkliche Geisteskrankheiten, z. B. bei Schizophrenie vor. In jedem Irrenhause kann man viele Insassen finden, die an Zwangshalluzinationen, Zwangsillusionen, Zwangsvorstellungen leiden. Doch wir haben es hier nicht mit Irren, sondern mit bloß psychopathischen Menschen zu tun. Stellen wir also die Frage: wie entstehen meistens die vielgestaltigen Zwangserscheinungen bei Psychopathen, die nicht gänzlich geistig anormal sind? 1 Ein Professor aus Berlin, bei dem ich einen Ferienkurs mitgemacht habe über diesen Gegenstand, erklärte sie folgendermaßen: Jede Sinneswahrnehmung bewirkt einen Eindruck in der Gehirnrinde. Bei normalen Menschen und bei normalen

Das geschieht nun dadurch, daß auf die Gehirnrinde sehr starke andere Wahrnehmungen produziert, etwa durch starke (hypnotische) Suggestion, durch anderweitige intensive Beschäftigung oder Ablenkung.

Auf den ersten Blick erscheint diese Erklärung so einfach und überzeugend. Aber bei näherem Zusehen ist dieselbe doch nichts weiter als eine pure Hypothese. Daß die Zwangserscheinungen überstarke und übertiefe Eindrücke in der Gehirnrinde erzeugen, ist zwar möglich, aber bisher noch gar nicht bewiesen. Denn bei der Sektion eines psychopathischen Gehirns ist es bisher noch nie gelungen, etwas Anormales in der Gehirnrinde zu entdecken.

Ich meinerseits kann die meisten Zwangserscheinungen nur als Produkte der Angst oder eines überstarken Affektes bezeichnen. Auch Bergmann sagt 1: «Tatsächlich findet sich die Angst in den allermeisten Fällen der krankhaften Zwangszustände.» Wie lähmend eine übergroße Angst auf alle Fähigkeiten einwirkt, dafür bietet die Erfahrung Hunderte von Beispielen. Hier nur einige wenige. Über ein Brett, das ½ Meter breit ist und auf dem Boden liegt, kann jeder leicht gehen, ohne zu straucheln und zu fallen. Wenn das gleiche Brett aber in der Höhe von 100 Metern befestigt ist, so könnten nur die wenigsten Menschen darüber gehen, ohne zu straucheln und zu fallen. Warum dieser Unterschied? Liegt das Brett auf dem Boden, so hat kein Mensch Angst zu fallen, ist aber das Brett in der Höhe von 100 Metern, so befällt die meisten Menschen eine unbeschreibliche Angst, sie möchten herunter fallen. Diese Angst macht aber die Füße unsicher und den Kopf schwindelig, so daß der Mensch tatsächlich herunter fällt.

Ein Neuling im Radfahren sieht auf dem Wege ein Hindernis, an dem er aber leicht vorbeifahren könnte. Aber er ist seiner Sache noch nicht sicher. Große Angst befällt ihn, an dem Hindernis anzustoßen und zu stürzen. Und nun ist es sicher, daß er tatsächlich, je mehr er von dem Hindernis abzulenken sucht, umsomehr darauf losfährt und dann vom Rade herunterstürzt. Es handelt sich hier um den sogenannten Kontrastzwang.

Sogar in der Tierwelt wird die Angst oft verhängnisvoll. Eine große Schlange liegt unter einem Baum; ein Vogel sitzt oben auf dem Ast ganz außer dem Bereich der Schlange. Merkt nun plötzlich der Vogel die grausige Schlange, die ihre gierigen Blicke auf ihn richtet, so ist er vor Schreck wie gebannt. Er fängt an zu flattern, aber anstatt davon zu fliegen, flattert er in unsäglicher Angst immer tiefer von Ast zu Ast und schließlich sogar direkt in den offenen Rachen der Schlange.

Bei großer Angst kann der Mensch oft kein Wort mehr hervorbringen und infolge der sogenannten Kontrastemfindungen tut er gerade das, wovor er am meisten zurückschreckt. Mancher Neurastheniker hat als religiös und sehr sittlich denkender Mensch einen großen Abscheu vor allem Unsittlichen. Trotzdem ist es auch bei ihm, wie bei jedem mit der Erbsünde behafteten Menschen unausbleiblich, daß zuweilen unreine Gedanken und Empfindungen sich einstellen. Mit großem Schrecken merkt er das und fürchtet sehr, diesen Sachen ein schuldbares Wohlgefühl gestattet zu haben. Er denkt und denkt, ob er wirklich eingewilligt habe, und je mehr er denkt, umso intensiver kehren auch die unsittlichen Gedanken und Empfindungen wieder, die schließlich zu entsetzlich quälenden Zwangserscheinungen sich auswachsen. Bei jeder, auch der heiligsten Gelegenheit, z. B. beim Anblicke eines Kruzifixes, drängen sie sich auf, sodaß er sie nicht mehr loswerden kann. 1

Doch genug der Beispiele, die sich beliebig vermehren ließen. Es bleibt wahr, daß bei den meisten Zwangserscheinungen der Psychopathen eine übermächtige Angst eine große Rolle spielt. Es bleibt ebenso wahr, daß, wenn es gelingt, diese Angstgefühle zu beseitigen, die Zwangserscheinungen allmählich abklingen.

Es drängt sich nun von selbst die Frage auf, wie ist diesen armen, von Zwangserscheinungen geplagten Psychopathen zu helfen? Ein solcher Mensch leidet wirkliche Folterqualen, besonders wenn es sich um religiöse oder sittliche Zwangserscheinungen handelt. Ohne Zweifel. ist es daher ein Werk verdienstvollster Nächstenliebe, diesem Bedauernswerten zu helfen. Die Therapeutik kann aber nur von einem auf diesem Gebiete durchaus erfahrenen Menschen,

besonders durch Psychotherapie geleistet werden. Ein Unerfahrener, gleichviel, ob er Priester oder Arzt ist, soll lieber die Finger davon lassen, er könnte sonst leicht mehr schaden als nützen. Er ist nämlich durchaus nicht imstande, eine bloße Psychopathie von einer im Anzug begriffenen wirklichen Geisteskrankheit zu unterscheiden, z. B. von Hypochondrie, Katatonie, Hebephrenie usw. Wird nun aber eine im Anfangsstadium begriffene Geisteskrankheit nicht erkannt, so verschlimmert sie sich meistens und endet mit dem Aufenthalt im Irrenhaus. Welch' eine Verantwortung ist es aber für jemanden, durch seine unerfahrenen, wenn vielleicht auch gutgemeinten Tuereien wenigstens indirekt daran schuld gewesen zu sein, daß da nicht rechtzeitig die rechte Psychotherapie angewendet wurde! Besonders kann ich nicht genug warnen, Personen, die, mit Psychopathien und besonders mit hysterischen Anzeichen behaftet, Hilfe suchen, rauh anzufahren, sie lächerlich zu machen oder ihnen gar ins Gesicht zu schleudern : «Du bist ja verrückt»! Das ist genau so roh, lieblos und schädlich, wie wenn man einen durch Unverschulden bitter arm gewordenen Menschen rauh anfährt und mit einer Flut von Schimpfreden überschüttet, statt ihm eine wirkliche Unterstützung zu geben. Wohl muß der Psychotherapeut den Psychopathen energisch und konsequent anpacken, aber die feste Hand, womit er anfaßt, muß mit einem weichen Handschuh bekleidet sein.

Im einzelnen kann ich hier keine bewährten Mittel der Psychotherapie angeben. Das würde zu weit führen in einer kurzen Abhandlung über Psychopathie und Moral. Übrigens ist bei jeder rationellen Psychotherapie eine durchaus individuelle Behandlung des Patienten notwendig. Wenn irgendwo, so sicher hier, gilt der Satz: «Eines schickt sich nicht für alle.» Weil es nun so schwierig ist, den Psychopathen individuell richtig zu beurteilen und richtig zu behandeln, deshalb mißlingt auch so häufig die vollständige Heilung.

Nur muß ich ein kurzes Wort der Warnung sagen über die jetzt nicht nur in der Zürcher Schule Bleuler-Jung, sondern auch in katholischen Kreisen ziemlich beliebte

Psychoanalyse, selbst wenn sie nicht, wie Freud, alle Psychopathien auf verdrängte sexuelle Impulse zurückführt. Ich habe Patienten gesehen, die monatelang psychoanalytisch behandelt wurden, ein wahres Martyrium ausgestanden haben durch die ertragenen psychoanalytischen Methoden und am Schluß viel schlimmer daran waren als zu Anfang. Ich bestreite zwar keineswegs, daß die klug angewandte Psychoanalyse zuweilen auch gute Erfolge bewirken kann 1, aber sie ist und bleibt vorläufig noch ein gefährliches Experiment.

Wie stellt sich nun die christliche Moral in der sittlichen Einschätzung der von Psychopathen begangenen Handlungen? Mit andern Worten: Welche Verantwortung vor Gott bewirken die mit psychischem Zwang geschehenen Werke? Diese Frage ist sehr wichtig, sowohl für den Mitmenschen, wie für den Psychopathen selbst. Denn bei den verschiedenen Zwangserscheinungen handelt es sich nicht immer um an und für sich harmlose Dinge, wie beim Waschzwang, bei Platzangst, bei Zwangsreden usw., sondern oft um objektiv erhebliche Verletzungen des Sittengesetzes. Zwar glaube ich nicht — und bisher ist kein Fall mit Sicherheit konstatiert — daß ein sonst sittlich denkender Psychopath ein wirkliches großes Verbrechen unter dem Einfluß des Zwanges begehen wird, wie z. B. Mord, Selbstmord, bedeutender Diebstahl. 2 Werden solche Verbrechen

wirklich begangen von sonst sittlich hochstehenden Menschen, so war nicht psychopathischer Zwang, sondern wirkliche Geistesstörung die Ursache. Wenn z. B. eine sonst sittlich handelnde und ihre Kinder wirklich liebende Mutter plötzlich denselben allen mit dem Küchenmesser die Hälse durchschneidet, so geschah dies nicht unter bloßem psychopathischem Zwang, sondern unter momentaner Geistesstörung. 1

Immerhin kommen auch bei reinen Psychopathien objektiv recht bedenkliche Vergehen vor, und speziell auf sexuellem Gebiete, deren richtige subjektive Einschätzung für den Moralisten recht schwierig ist. Ich habe da besonders eine gewisse Handlung im Auge, die bei neurasthenischen jungen Menschen beiderlei Geschlechts für diese sowohl als auch für ihren Seelsorger eine wahre Qual werden kann. Bergmann sagt da mit Recht: Die Angst vor der Sünde kann so hochgradig werden, daß die Angst vor der Angst die Angst vor der Tat überwindet.

Ohne allen Zweifel ist daher die Frage nach der Verantwortlichkeit der unter psychischem Zwang verrichteten Handlungen sehr wichtig. Als Moralist spreche ich nur von der Verantwortung vor dem göttlichen Richter. Die Verantwortung vor dem menschlichen Richter lasse ich außer Betracht. Der menschliche Richter muß sich an seine Landesgesetze

halten und diese müssen an erster Stelle das Staatswohl erstreben. Es kann nun recht wohl vorkommen, daß die sozialen Handlungen eines Psychopathen das Staatsrecht wohl schädigen, mithin strafbar sind, ohne daß der Psychopath wegen seiner subjektiven Abnormität schwer vor Gott gesündigt hat. Wenn z. B. ein Viehhüter plötzlich einen epileptischen Anfall bekommt, infolgedessen das Vieh nicht beaufsichtigen kann, das nun auf einem benachbarten Grundstück großen Schaden anrichtet, so wird dieser Viehhüter vom menschlichen Richter zum Schadenersatz verurteilt. Der Schaden ist nun einmal geschehen. Jemand muß ihn tragen, und da ist es billig und recht, daß nicht der gänzlich unschuldige Grundstückbesitzer, sondern der Viehhüter den Schaden trägt. Freilich ist dieser Viehhüter, wenn er in keiner Weise den epileptischen Anfall voraussehen konnte, vor dem göttlichen Richter gänzlich unschuldig.

Bei Handlungen irgend welcher Art, die unter dem Einfluß des psychischen Zwanges verrichtet wurden, ist die sittliche Verantwortung ohne Zweifel sehr vermindert. Darin sind alle Moralisten einig. Sofort drängen sich aber zwei andere Fragen auf, die sehr schwierig zu beantworten sind:

1. Ist eine objektiv schwer sündhafte Handlung, die unter dem Einfluß psychischen Zwanges verrichtet worden, nur eine kleine, sogenannte läßliche Sünde?

2. Ist eine solche objektiv schwer sündhafte Handlung vielleicht überhaupt keine Sünde?

Die Beantwortung der zweiten Frage ist leichter als die der ersten. Fangen wir daher mit dieser an. Gemäß den Prinzipien der christlichen Moral ist eine objektiv schwer sündhafte Handlung nur dann subjektiv gänzlich sündenfrei, wenn kein actus humanus, sondern bloß ein actus hominis vorliegt, oder mit mehr für den nicht Fachmann verständlichen Worten: wenn die Verstandes- und besonders die freie Willenstätigkeit gänzlich ausgeschaltet war während der Handlung. Wenn z. B. in den ersten Jahrhunderten ein Christ mit Gewalt geschleppt und gezwungen wurde, daß

er ein Kruzifix mit Füßen treten oder Weihrauch streuen mußte vor einem Götzenbilde, so hatte er gar keine moralische Schuld. Wenn eine weibliche Person trotz allen Sträubens von einem Wüstling vergewaltigt wird, so hat sie ebenfalls gar keine sittliche Schuld, weil es nur aus übermächtigem Zwange gegen den freien Willen geschehen. Wird nun bei den von Psychopathen verrichteten Handlungen die Verstandes- und freie Willenstätigkeit gänzlich ausgeschaltet? Daß derartige Fälle wirklich, wenn auch nicht häufig vorkommen, kann kaum geleugnet werden. So habe ich z. B. eine Hysterica gekannt, die sonst sich bemühte, ein sittlich einwandfreies Leben zu führen, die aber während eines Besuches bei mir plötzlich die tollsten Grimassen schnitt und zotige Reden ausstieß, die dann aber nachher nicht mehr wußte, was sie getan und gesagt hatte. Ich glaube, daß in diesem Falle gar kein Actus humanus und gar keine sittliche Schuld vorlag. Ich nehme es wenigstens an, denn es ist außergewöhnlich schwer, einen hysterischen Psychopathen objektiv richtig einzuschätzen. Auch bei manchen religiösen Zwangserscheinungen mag der freie Wille vollständig ausgeschaltet sein. Wenn z. B. ein tief religiöser Mensch einen unwiderstehlichen Drang verspürt, an der Kommunionbank das Wort Teufel hervorzustoßen, oder beim Anblick eines Kruzifixes scheußliche Vorstellungen bekommt, so kann da von irgend einer freiwilligen Schuld nicht die Rede sein. Also die Möglichkeit ist zu bejahen, daß bei psychopathischen Handlungen jede sittliche Schuld, auch die geringste, ausgeschlossen ist. Indes wiederhole ich, derartige Fälle scheinen mir sehr selten zu sein, vorausgesetzt natürlich, daß keine wirkliche Geisteskrankheit vorliegt. Der Grund ist wohl der, daß sich bei den meisten Psychopathien stets ein mehr oder minder großes Stück von Hysterie beigesellt. Und ein trauriges Stigma der Hysteriker ist bekanntlich die Pseudologia phantastica: sie belügen sich selbst, sie belügen andere. Und das geschieht mit einer solchen Raffiniertheit, daß auch der vorsichtigste dabei hereinfällt. Daher ermahne ich auch stets meine jungen

Moralstudenten auf's eindringlichste: Cave hystericos! Wie mancher vertrauensselige Priester hat seine bestgemeinten Bemühungen um hysterische Psychopathen auf's bitterste bereuen müssen, wegen der durch die pseudologia phantastica produzierten Verleumdungen schwärzester Art! — Daß all diese Lügengewebe, auch wenn sie hochgradig pathologisch sind, gänzlich schuldlos seien, kann ich nicht annehmen. Dasselbe gilt auch von andern psychopathischen Handlungen. Vernunft und freier Wille sind wohl dabei bedeutend geschwächt, aber nicht gänzlich ausgeschaltet, daher auch nicht gänzlich alle sittliche Verantwortlichkeit. 1 Daher sind auch die objektiv schweren Vergehungen der Psychopathen, wenn auch minder schuldbar, doch nicht ohne alle sittliche Schuld. Es mag diese Ansicht zu streng erscheinen, aber wenn man bedenkt, daß ich zunächst alle Psychopathien, die mit wirklichen Geisteskrankheiten verbunden sind, ausgenommen habe — da liegt gar keine moralische Schuld vor — daß ich ferner zugegeben, daß in einzelnen wenigen Fällen, wo es sich um Psychopathien handelt, d. h. um Grenzzustände zwischen dem Normalen und gänzlich Anormalen, völlig schuldlose Zwangshandlungen gibt, dürfte die vorgetragene Ansicht viel von ihrer anscheinenden Strenge verlieren.

Beantworten wir nun die oben gestellte erste Frage: Ist eine objektiv schwer sündhafte Handlung, die unter dem Einfluß des psychischen Zwanges verrichtet worden, nur eine leichte oder läßliche Sünde? Ja, scheint mir die durchweg richtige Antwort. Denn Gottes Milde und Güte rechnet dem Menschen eine begangene Handlung nur dann als schwer sündhaft an, wenn sie mit vollkommen freiem Willen und klarer Erkenntnis der schweren Bosheit geschehen ist. Darin sind alle Moralisten einig. Und in der Tat ist eine schwere Sünde, die ja gemäß der theologischen Dogmatik

die furchtbaren, ewigen Höllenstrafen nach sich zieht, wenn sie nicht vor dem Tode durch die göttliche Gnade vergeben wurde, etwas so Entsetzliches, daß sie ohne klare Erkenntnis und völlig freien und bösen Willen nicht denkbar ist. Die gegenteilige Behauptung ist calvinistisch und jansenistisch. Nun aber geht aus dem Gesagten klar hervor, daß die verschiedenen psychischen Zwangserscheinungen sowohl das Erkenntnis- wie das Willensvermögen erheblich behindern. Also können sie auch keine schwere Sünde sein. Diese Wahrheit ist sehr trostreich und beruhigend, besonders für diejenigen, die an Zwangserscheinungen auf sexuellem Gebiete leiden. Wenn diese ärmsten Menschen einmal zur Überzeugung gelangt sind, daß ihre leidigen Zwangserscheinungen ihnen wenigstens keine schwere Schuld vor Gott aufbinden, so ist meistens der erste Schritt zur Heilung getan. Diese Wahrheit ist auch beherzigenswert für den Seelsorger, an den die Psychopathen sich wenden und ihre, wenn rein objektiv betrachtet, schweren Vergehen bekennen. Er kann und muß annehmen, daß keine subjektiv schwere Schuld vorliegt. Es wird zwar Fälle geben, in denen der Seelsorger mit Recht zweifelt, wie groß tatsächlich die subjektive Schuld des Psychopathen gewesen ist. Nun, Gott sei Dank, ist der Seelsorger nicht verpflichtet, mit mathematischer Genauigkeit oder gleichsam mit dem Metermaß die Größe der Schuld abzumessen. Das wäre ja bei sehr vielen moralischen Verfehlungen überhaupt nicht möglich. Seine Aufgabe ist es dann, den Psychopathen zu allgemeiner Reue über die Vergangenheit und zu geeigneten Vorsätzen für die Zukunft zu disponieren. Wie im einzelnen diese guten Dispositionen zu erstreben sind, kann hier nicht weiter angeführt werden. Ich verweise dafür auf Bergmann, «Pastorale Behandlung obsessiver Zustände», Aug. Gemelli O. M., «Skrupellosität und Psychasthenie, psychopathologische Studien, vorzüglich für Beichtväter», Eymieu, «Le Gouvernement de soi-même».

Psychopathien oder Psychasthenien, oder wie man nun einmal das unartige Kind taufen will, schwirren in unserer heutigen, verhasteten Zeit und dem modernen exzentrischen

Genußleben umher wie die Miasmen in einer Fiebergegend. Diejenigen, die in einer solchen Fiebergegend leben müssen, suchen sich gegen die Ansteckung sorgfältig zu schützen durch Chinin und andere Mittel. Suchen wir uns zu schützen gegen die Gefahr der Psychopathien. Schutzmittel sind:

1. Willensdisziplin und
2. religiöses Leben.
Zunächst Willensdisziplin.
«Ich will,
Das Wort ist mächtig, sprichts einer ernst und still,
Die Sterne reißts vom Himmel, das eine Wort: Ich will.» (Fr. Halm)

und Büttler in Schillers Wallenstein sagt mit Recht «Den Menschen macht sein Wille groß und klein.» Gegenwärtig ist der Sport in allen Ländern so beliebt. Der Sport stählt die Muskeln. Wäre doch auch der Willenssport so geübt wie der Muskelsport! Sustine et abstine! Ertrage und entsage, war die Lebensregel, welche bereits die alten Weisen der Jugend beibrachten. Ertrage Mühe und Arbeit, Widerwärtigkeit, entsage jeder unordentlichen Leidenschaft. Wird das im Leben geübt, so gibt es kaum mehr eigentliche Psychopathien, sondern es gibt einen gesunden Geist in einem gesunden Körper.

F. W. Foerster schreibt mit Recht in seiner «Jugendlehre» (II. Teil, S. 231): «Die wachsende Nervosität und Überreizung unseres Zeitalters hängt zu einem nicht geringen Teil damit zusammen, daß die Menschen heute so ohne Hemmung auf einander prallen und sich gehen lassen in jeder Art von Aufregung, Laune und Ärger. Man ruiniert sich gegenseitig die Nerven, weil im Grunde kein Mensch mehr einsieht, warum er sich eigentlich beherrschen soll. Die Lehre des Sich-Auslebens beherrscht verschämt und unverschämt das Zeitalter. Und immer weiter greift eine lebensfremde Weltanschauung um sich, die keine Ahnung mehr hat von dem, was der Mensch wirklich ist und braucht, um unter Menschen leben zu können. Das Gelächter über

das Alte und die Lobpreisung des Neuen aber geht weiter seinen Gang. Es wird immer lauter von dem herrlichen freien Menschentum geredet, das da kommen soll; aber da niemand die konkreten Mittel weiß, wie dieses aus dem konkreten Menschen herausgestaltet werden soll, so werden wir unterdessen wieder langsam immer tierischer und unfreier.» Also das Sichgehenlassen oder die Willensschwäche gegenüber von innen oder von außen aufgepeitschten Leidenschaften ist die Ursache der Nervosität, und die Nervosität ist wieder die Ursache der Psychopathien. Daraus ergibt sich nun mit Evidenz, daß Willensstärke, erlangt durch Willensdisziplin, ein vorzügliches Mittel gegen Psychopathie ist. Diese Willensdisziplin muß aber bereits in der Jugend einsetzen, sonst wird sie selten erworben im spätem Alter. Das Kind muß in Schule und Haus bereits daran gewöhnt werden, daß Lust und Spiel nicht des Lebens Hauptsache, sondern nur eine Würze sind für die gesunde Kost von Arbeit und Pflicht. Ein Mensch, der pflichttreue Berufsarbeit Tag für Tag leistet und die Willensdisziplin erworben hat, nicht nach der verbotenen Frucht unordentlicher Lust die Hände auszustrecken, der wird auch seine eigene Psyche zu schützen wissen gegen anstürmende Psychopathien. Bei ihm gibt es nämlich keine sogenannten überbetonten Affekte, und wenn ihn auch einmal das Leben hart mitnimmt, so wird er doch bald wieder das Gleichgewicht finden; er ist und bleibt Meister im eigenen Hause. Sollten Obsessionen ihn bestürmen, wird er dieselben nicht eindringen und sich festsetzen lassen. Dies wird ihm umsomehr gelingen, wenn er zu den in der Religion gelegenen Hilfskräften greift. Willensdisziplin und religiös-gläubiges Leben sind übrigens häufig beieinander.

Religiöses Leben ist das zweite Schutzmittel gegen Psychopathien, denn dies adelt den Menschen, bringt ihn Gott näher und von der verdorbenen Welt entfernter. Religiöses Leben birgt auch in sich das beste Trostmittel, wenn bereits die Psychopathie ausgebrochen ist.

«So laß den Zweifel in mir stürmen
Und Nacht auf Nacht sich um mich türmen
Und alle Sinne sich in Schwindel drehen!
Ich will, o Gott, die Hände falten
Und mich an Dich im Sinken halten
Und sinkend werde ich nicht vergehen.» Seume.

Religiöses Leben birgt auch in sich das beste Heilmittel gegen die Psychopathien. Denn echte Religion einigt mit Gott, der Frieden und Ruhe gewährt. Ein mit Gott wirklich vereinigter Geist und eine durch Psychopathien gemarterte Seele sind auf die Dauer unvereinbar. Ich sage, auf die Dauer, denn es ist eine unleugbare Tatsache, daß auch Personen, die es mit der Religion ernst nehmen, zeitweise unter Psychopathien viel leiden müssen. Führen sie aber trotzdem ihr religiöses Leben standhaft weiter und können körperliche, sowie andere Ursachen der Schädigung beseitigt werden, so wird die Psychopathie sicher weichen. Freilich müssen die körperlichen und andern Ursachen der Psychopathien beseitigt werden. Liegt z. B. Hysterie vor, so darf man von der Religion allein nicht Heilung erwarten. Ein wahrhaft religiöses Leben wird aber auch in solchen Fällen die Wirkung der übrigen anzuwendenden psychotherapeutischen Mittel erheblich steigern und die Heilung beschleunigen.