Die Entwicklung der deutschen Literaturwissenschaft

Rektoratsrede

gehalten am 13. November 1926, den 92. Stiftungsfeste der Universität Bern
von
Harry Maync
PAUL HAUPT
Akademische Buchhandlung vorm. Max Drechsel
Bern 1927

HEINRICH FEDERER
dem Ehren-Doctor der Universität Bern
anlässlich seines 60. Geburtstages
in freundschaftlicher Verehrung dargebracht

Vorwort.

Die Rede erscheint hier in der ursprünglichen Fassung ihrer ersten Niederschrift, nicht in der verkürzten Form, in der sie gehalten wurde. Mit Rücksicht auf die Studierenden und alle, die zu den Quellen steigen, sich selbständig mit den Problemen bekannt machen und auseinandersetzen wollen, habe ich ihr reichlich bibliographische Nachweise beigegeben.

Hochansehnliche Versammlung, geehrte Kollegen, liebe Kommilitonen!

Professor heisst Bekenner, und es ist nicht bloss üblich, sondern in sich selbst begründet, dass ein akademischer Lehrer bei einer Gelegenheit wie dem Antritt des Rektorats sein Glaubensbekenntnis vorträgt, nicht sowohl als Einzelmensch, der sich der Wissenschaft gewidmet hat, sondern vielmehr als ordentlicher öffentlicher Vertreter des ihm anvertrauten Faches. So sei es denn mir heute gestattet, mit der gebotenen Knappheit einige grundsätzliche Fragen der Literaturwissenschaft und ihrer Entwicklung, ihrer Problematik und ihrer Methodik vor Ihnen zu erörtern und damit Zeugnis und Rechenschaft abzulegen vor denen, welchen ich mich verantwortlich fühle, vor meinen Kollegen und Schülern, aber auch vor einem weiteren Kreise solcher, die dieser Disziplin, ohne ihr wissenschaftlich verbunden zu sein, Anteil entgegenbringen. Und gerade im Hinblick auf die überwiegende Zahl von Nichtfachleuten will ich nicht auf Einzelheiten eintreten, sondern Ihren Blick auf die grossen allgemeinen Zusammenhänge zu lenken suchen.

So viele Freunde und Gönner die Literaturwissenschaft hat, nicht geringer ist die Zahl ihrer Widersacher. Vor Jahren habe ich von ebendieser Stelle aus eine "Rechtfertigung der Literaturwissenschaft"*) unternommen gegenüber Angriffen und Einwendungen, die z. T. auf falschen Voraussetzungen, auf laienhaften Ansichten von ihren Aufgaben beruhen. Gleich allen anderen Wissenschaften strebt die Literaturwissenschaft nach reinen Erkenntnissen, die "nicht zur Ergötzung und auch nicht für die Notdurft des Lebens da sind" (Aristoteles), und zwar nach geschichtlichen und ästhetischen Erkenntnissen. Es heisst sie mit der Tageskritik verwechseln, wenn man von ihr die Verfolgung praktischer Zwecke verlangt. Ihre Ergebnisse werden von Populärschriftstellern aufgenommen und verbreitet, doch sie selbst dient weder den Dichtern noch dem Publikum; nicht sie, die Presse

hat die Aufgabe, einen Rilke oder Unruh dem Publikum mundgerecht zu machen und ihnen Leser zuzuführen. Als historische Disziplin hat sie es grundsätzlich überhaupt nicht mit lebenden Dichtern zu tun, sondern nur mit solchen, welche die Schwelle der Geschichte bereits überschritten haben. Dass der Künstler von der Geschichte seines Kunstgebiets, der gestaltende Praktiker vom wissenschaftlichen Theoretiker nicht viel wissen will, ist ganz in der Ordnung; er sollte nur folgerichtig auch nicht verlangen, dass die Kunstwissenschaft seinen Schrittmacher und Herold abgebe.

Nicht minder verständnislos und falsch ist die Einstellung derer, die literarhistorische Vorlesungen besuchen oder literarhistorische Bücher lesen, um aus ihnen poetische Erbauung zu schöpfen. Aesthetischen Genuss gewährt die Dichtung, nicht die ihr gewidmete Wissenschaft als solche; sie tut es nur insofern, als die von ihr behandelten Gegenstände und Inhalte einen solchen vermitteln, als die Darstellung und Erläuterung von Dichtwerken deren ästhetische Werte ins Licht rückt und damit Lustgefühle wach ruft. Aber das ist nicht Zweck der Literaturwissenschaft, sondern bloss eine in der Sache selbst liegende angenehme Beigabe; als Wissenschaft soll sie nur das geistige Lustgefühl auslösen, das die Erkenntnis gibt. Ein Literaturkolleg, in dem Schönseligkeit und begeisterte Wohlredenheit herrschen, hat mit Wissenschaft nichts zu tun, und für einen Salonprofessor ist auf einem Hochschulkatheder kein Platz. Gerade die Kunstwissenschaftler, die so viel Zulauf aus Laienkreisen haben und dem oberflächlichen Blick so wenig vorauszusetzen und zu fordern scheinen, müssen besonders streng darauf halten, im Gesamtbetrieb der Wissenschaft ihre Stellung zu wahren, ihre Fächer nicht, mit Belletristik und Journalistik wetteifernd, zu Liebhaber- und Nebenfächern zu machen und ihre Hörsäle mit Unzünftigen zu füllen. Sie dürfen nicht diesen zuliebe nur das behandeln, was der Masse für "interessant" gilt. Wissenschaftlich ist die zweite schlesische Schule oder die Anakreontik ebenso interessant wie das Schaffen der Klassiker und Romantiker. Die Weltgeschichte berichtet auch nicht bloss von Siegen und Blütezeiten, die Botanik nicht bloss von Rosen und Orchideen, die Zoologie nicht bloss von Löwen und Paradiesvögeln; an Algen und Pilzen, Würmern und Tiefseetieren kommt man den Problemen oft am nächsten.

Natürlich will das nicht besagen, dass die Wissenschaft Bedeutendes

und Unbedeutendes gleich wichtig zu nehmen habe. Möglichste Vollständigkeit war nur der Ehrgeiz unfruchtbarer Polyhistorie. Die Literaturwissenschaft will nicht ein Linne'sches System der Dichtung und nicht einen Bädeker für das Land der Poesie ausarbeiten. Mit Aufzählung und Statistik, mit Sammlung und Annalistik ist es nicht getan; das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Die Synthese ist auch für die Literaturwissenschaft Selbstzweck und verleiht ihr Eigenwert. Indem sie geistige Entwicklungen und ihre Bedingungen aufzeigt, bietet sie auch demjenigen Erkenntnisse, der in der behandelten Periode wenig belesen ist. Kann und soll man doch auch über die Perserkriege Bescheid wissen, ohne sie mitgemacht zu haben, und über Amerika, ohne es aus eigener Anschauung zu kennen.

Selbstverständlich bilden die grossen geistigen Strömungen und die grossen dichterischen Persönlichkeiten den wesentlichen Stoff der Literaturwissenschaft; nur nebenher geht sie auch auf die Leihbibliotheksbelletristik ein, mit der sich die Menge ihre leeren Stunden verkürzt. Echte und hohe Dichtung ist viel mehr als ein zur Not auch entbehrlicher Schmuck des Lebens; sie stellt, wie die Religion, die Philosophie und die Wissenschaft, einen Wert dar, ohne den das Leben nur ein menschenunwürdiges Vegetieren wäre, ja ohne den es gar nicht gedacht werden kann. Die Poesie ist nach Hamann die Muttersprache des menschlichen Geschlechts, und ein Volk, hat man gesagt, das keinen Dichter mehr hervorbringt, ist tot. Wahre Dichtung ist auch viel mehr als blosse Nachbildung der Wirklichkeit, als ein Lebensspiegel, Zeitausdruck und Gefäss der Lebensanschauung, sogar mehr noch als künstlerisch geformtes und damit auf eine höhere Ebene gehobenes Leben. Am farbigen Abglanz haben wir das Leben selbst, wesenhaft, nicht nur als schönen Schein. In diesem Sinne erklärte Hebbel, das Drama stelle den Lebensprozess an sich dar und das Tragische sei ein Weltgesetz, aus ihm heraus bezeichnet Gundolf die Kunst als eine primäre Form des Lebens und einen ursprünglichen Zustand der Menschheit, sieht Dilthey in der Dichtung ein wichtigstes Organ des Lebensverständnisses und erkennt ihr eine schlechthin unentbehrliche Funktion als Lebensdeuterin zu. Der Dichter schafft aus sich heraus in der Weise des Sehers gefühlsmässig-weltanschauliche Lebenserkenntnisse symbolischer, nicht begrifflicher Natur, die wir ohne ihn nicht besässen und ohne die

uns die innere Freiheit dem Leben gegenüber fehlte. Und .gerade von der deutschen Poesie stellt Ernst Troeltsch*) fest, sie sei "kein geist- und gemütvoller Luxus und keine klassische Regel, sondern die Klarwerdung über den ganzen wogenden Lebensgehalt überhaupt."**)

Nach diesen allgemeinen Vorbemerkungen über das Wesen der Dichtung lassen Sie uns nun an die von ihr handelnde Wissenschaft herantreten. Und zwar gebrauche ich den Begriff Literaturwissenschaft nicht wie die jüngere Forschergeneration***), die ihn als Bezeichnung für eine neue und höher gewertete Betrachtungsweise gegen die älteren Vertreter der Literaturgeschichte ausspielt, sondern lediglich als den umfassenderen. Denn die Literatur kann sowohl historisch wie systematisch betrieben werden, letzteres insbesondere auf den Gebieten der Poetik, Stilistik und Metrik.

Die Wissenschaft der deutschen Literatur ist gleich der deutschen Geschichtswissenschaft letztlich ein Kind der Romantik, genährt von Herderschen Ideen. In der Romantik wurzeln ihre psychologischen und ethischen Voraussetzungen. Unter dem schweren Druck der napoleonischen Gegenwart versenkte man sich mehr und mehr mit andächtig-sehnsüchtiger Liebe in eine schönere, freiere Vergangenheit und ihre geistigen Erzeugnisse. Man fand

sich zu seinem höheren nationalen Selbst zurück, tröstete sich daran und stärkte sich für eine bessere Zukunft. Aus dieser Selbstbesinnung auf deutsche Art und Kunst, wie sie in der romantischen Dichtung zum Ausdruck kam, erwuchs auch die wissenschaftliche Behandlung der Literatur. Dichter und Forscher vereinigten sich nicht selten sogar in derselben Persönlichkeit; es seien nur Wilhelm Schlegel, Uhland und Eichendorff genannt. Durchaus dem Geiste der Romantik entstammen die Brüder Grimm, die Väter und Meister strenger germanistischer Wissenschaft. Es war eine Selbstverständlichkeit, dass die junge germanische Philologie, ebenso wie ihre gleichalterige romanische Schwester, die Methoden der klassischen Philologie übernahm, die seit dem Altertum von grossen Gelehrten aller Nationen aus- und durchgebildet worden waren. Dazu stand sie unter dem entschiedenen Einfluss der deutschen historischen Schule, zumal Savignys, mit dem Jacob Grimm persönlich und wissenschaftlich verbunden war.

Die so gewonnene philologisch-historische Methode der deutschen Literaturwissenschaft ist durch mehrere Geschlechterfolgen die vorherrschende, ja fast alleinherrschende geblieben. Und es konnte und durfte gar nicht anders sein, da es galt, zunächst einmal die Fundamente zu legen und die weiteren Bausteine zum grossen Werk zusammenzutragen und zu bearbeiten.*) Gelehrte wie Karl Lachmann waren in erster Linie Diener am Wort. Die Texte zu sammeln und in ihrer vorn Dichter gewollten Reinheit herzustellen, war die dringendste und vornehmste Aufgabe, Empirie und Kritik die Forderung des Tages. Der Quellenforschung, der Stoffgeschichte wurde dieselbe exakte Untersuchung zu Teil wie den biographischen Zeugnissen und der Entstehungsgeschichte der dichterischen Werke, deren Form und Technik sauber zergliedernde Analysen erfuhren. Die Stilmittel der Dichter wurden erforscht, Einflüsse vom einen zum anderen beobachtet, Dichterschulen festgestellt und die einzelnen Erscheinungen in geschichtliche Kausalzusammenhänge gebracht. Diese philologisch-historische

Schule hat keineswegs nur Vorarbeit geliefert, die alles nachmalige weiter ausgreifende Schaffen überhaupt erst ermöglichte, sie hat durch ihre Häupter Wilhelm Scherer, Richard Heinze!, Erich Schmidt, Jacob Minor u. a. auch sollst grosse zusammenfassende Werke von bleibender Bedeutung hervorgebracht. Die meisten ihrer Mitglieder gelangten allerdings nicht zu der Weite und Höhe der Auffassung, die Erich Schmidts programmatische Wiener Antrittsvorlesung des Jahres 1880 forderte: "Literaturgeschichte soll ein Stück Entwicklungsgeschichte des geistigen Lebens eines Volkes mit vergleichenden Ausblicken auf die andern Nationalliteraturen sein. Sie erkennt das Sein aus dem Werden".*) Sie blieben in der Materialsammlung stecken und versandeten in Mikrologie. Scherer schalt das Küstenschiffahrt treiben, und Erich Schmidt rügte in der genannten Rede scharf die Gelehrten, welche "Kunstwerke wie Kadaver seziert, Dichter wie Schuldenmacher misshandelt und die 'philologisch-historische Methode' zum Mantel ihrer Schwung- und Gedankenlosigkeit gemacht haben"**); er hat auch in seiner Ur-Faust-Ausgabe ***) die "Parallelenseuche" kräftig gebrandmarkt und an anderer Stelle****) davor gewarnt, sich "vom philologisch-historischen Hochmutsteufel reiten" zu lassen. Sie sehen, die namhaftesten Führer waren sich vollkommen klar darüber, dass die Wort-Philologie in der Literaturwissenschaft zwar immer an erster Stelle zu sprechen habe, aber nicht auch das Letzte zu sagen vermöge. Nun aber drohte man im massenhaft aufgehäuften Stoff, der grossenteils Rohstoff geblieben war, zu ersticken, war über die Beschreibung der äusseren Erscheinungen und ihrer äusseren Aufeinanderfolge vielfach nicht hinausgekommen, hatte die Teile in der Hand und ermangelte des geistigen Bandes. Es wurde mehr Dichtergeschichte als Dichtungsgeschichte geschrieben, mehr Form-als Gehaltsästhetik geübt; das poetische Kunstwerk, das Allerwichtigste also, wurde ungebührlich vernachlässigt. Die historischen Darstellungen buchten oft nur Tatsächlichkeiten und verstanden es nicht, die treibenden geschichtlichen Kräfte zu erfassen, die tragenden Ideen zu erkennen. Die Methode war der Mechanisierung

verfallen und erging sich im Leerlauf; sie hatte ihre geschichtliche Sendung erfüllt und musste zurücktreten hinter anderen.

Es gibt keine Wissenschaft, die mit einer einzelnen und einzigen, alleinseligmachenden Methode dauernd ihr Leben fristen könnte, mit einer Methode, die a priori vorhanden wäre und für alle Zeiten bestände und ausreichte. Dass echte Wissenschaft ewig nur werden, nie vollendet sein könne, hat Friedrich Schlegel einmal nachdrücklich betont. Mit den Zielen aber verändern sich notwendig auch die Wege, die zu ihnen hinführen, mit den wissenschaftlichen Problemen wandeln sich auch die Möglichkeiten und die technischen Hilfsmittel, an sie heranzukommen und sie im glücklichen Falle zu lösen. Jede Wissenschaft, die allzulange unbedenklich mit einer einzigen übernommenen Methode arbeitet, gerät in Gefahr, die der jeweiligen Gegenwart gestellten besonderen Aufgaben zu übersehen, in Erstarrung und Schematismus zu verfallen und damit das eigentlich Schöpferische einzubüssen, mit dem wahre — d. h. lebendige und nicht tote — Wissenschaft steht und fällt. Es ist daher immer ein gutes Zeichen für ein Fach, wenn in ihm ein Methodenstreit entbrennt; er beweist, dass es von Stauung und Versumpfung weit entfernt, vielmehr bemüht ist, für in Aussicht stehende neue Aufgaben das Werkzeug zu vervollkommnen und zu schärfen. Auch in der Wissenschaft gilt das Wort des griechischen Weisen, dass der Kampf der Vater aller Dinge sei.*)

Methoden können blosse Modeströmungen darstellen, aber im Allgemeinen sind sie viel tiefer begründet, sind Erzeugnis des Geistes ihrer Zeit und der Ausdruck von deren Lebensgefühl, Weltbild und Weltanschauung. Zeitabschnitte der Empirie und der Spekulation, des Rationalismus und des Irrationalismus, des Materialismus und des Idealismus lösen einander ab und spiegeln sich deutlich wider auf allen Lebensgebieten, in Religion, Kunst und Wissenschaft. Die Poesie weist in ihrer Entwicklung einen Wandel und Wechsel von innerer Bedingtheit und einer gewissen geschichtlichen Zwangsläufigkeit auf, und ihm entspricht meist auch eine Literaturbetrachtung und Literaturgeschichtsschreibung von klassischer,

romantischer, realistischer, impressionistischer oder expressionistischer Haltung und Farbe. Als Hegels spekulative Aesthetik abgewirtschaftet hatte, traten — nach Friedrich Theodor Vischers derber Unterscheidung der Faust-Erklärer — an die Stelle der Sinnhuber die Stoffhuber; heute, da wir uns in einer Hegel-Renaissance befinden, ist das Gegenteil der Fall.

Auch die philologisch-historische Methode war geistesgeschichtlich ein Kind ihrer Zeit, des Historismus und Relativismus, des verstandesmässig-nüchternen Realismus und Positivismus. der Empirie und Technik, des Darwinismus und der Soziologie. Der immer stärker werdende Widerspruch gegen den Geist dieses unphilosophischen Zeitalters, der um die Jahrhundertwende zu einem völligen Umschwung führte, traf auch die wissenschaftlichen Methoden, die naturwissenschaftlichen und die geisteswissenschaftlichen, die literaturwissenschaftlichen so gut wie die kunstwissenschaftlichen.*) Die Geisteswissenschaften entzogen sich der Vormundschaft der Naturwissenschaften, und diese vertieften sich ihrerseits durch eine mehr geistige Einstellung ihren Problemen gegenüber. Nach einer Ueberschätzung des Realen wandte man sich wieder der Idee zu. In der Kunst wurde der Naturalismus und Impressionismus durch eine symbolistische Neuromantik abgelöst, in der Philosophie der positivistische Materialismus durch das, was von ihm am tiefsten verachtet und am heftigsten befehdet worden war, eine neue Metaphysik.

Es ist sehr verständlich, dass in dem gegen die philologische Methode in der Literaturwissenschaft einsetzenden Kampfe die Philosophie in der vordersten Reihe stand. Eine philosophische Literaturbehandlung von hohem Rang und auch bei der Scherer-Schule sehr angesehen hatte sich indessen bereits vor und neben dieser und z. T. von ihr mitbeeinflusst entwickelt. Ich nenne die Namen Hermann Hettner, Rudolf Haym, Wilhelm Dilthey. Vor allem Dilthey hat einer tiefergrabenden und weiterblickenden Literaturforschung die reichsten und fruchtbarsten Anregungen gegeben, auf ihn geht die ganze heutige geisteswissenschaftliche Richtung

zurück, obschon sie gelegentlich von ihm abrückt, ihn jedenfalls beträchtlich überholt zu haben glaubt.

Dilthey war viel mehr als ein Fachphilosoph, er war auch Historiker, Kulturhistoriker, Literarhistoriker, seine Philosophie eine Kulturphilosophie des gesamten menschlichen Geisteslebens in seiner Entwicklung. Mit einer seltenen Einfühlungsgabe erfasste er die Struktur von Einzelwesen und von ganzen Zeitaltern. Er hatte für das Individuelle und für das Ueberindividuelle, für das Sein und das Werden ein gleich feines Verständnis und legte seine Erkenntnisse in begrifflicher Systematik nieder.*) Als Literarhistoriker erhob er sich von der analysierenden Beschreibung zur geistigen Deutung, von der Betrachtung der äusseren Abfolge der Erscheinungen zur Einsicht in ihren inneren Rhythmus und über die geschichtlichen Begebenheiten zu den grossen Zusammenhängen und zur Bestimmung verschiedener Erlebnisformen und Persönlichkeitstypen. Erlebnis und Begriff in steter Wechselwirkung tätig zu erhalten, ist das Wesen seiner und der geisteswissenschaftlichen Methode überhaupt, die Georg Simmel, Rudolf Unger, Herbert Cysarz, um nur die bedeutendsten und einflussreichsten Vertreter zu nennen, weiter ausgebildet haben, auch von Nietzsche und zeitgenössischen Philosophen wie Rickert, Bergson,. Husserl, Scheler und neuerdings von Spengler mitbestimmt.

Unger gehört zu den Mitbegründern der 1923 hervorgetretenen ausgezeichneten "Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte", Cysarz hat in seinem kürzlich erschienenen Buche "Literaturgeschichte als Geisteswissenschaft" zuerst eine umfassende Systematik der neuen Bestrebungen zu geben versucht, die nur leider ebenso wortschwelgerisch und unklar wie gedanken- und geistreich ausgefallen ist. Unger, der tiefgründigste und reifste unter den gegenwärtigen Vertretern der Ideengeschichte und Gehaltsästhetik, hat sich insbesondere der Problemgeschichte gewidmet. Ihm ist Geistesgeschichte eine spezifische Betrachtungsweise geistiger Dinge, die das einzelne Geistesgebiet als Auswirkung des Gesamtgeistes der jeweiligen Kultureinheit

fasst, und er stellt der geisteswissenschaftlichen Literaturforschung die Aufgabe, den Sinngehalt der dichterischen Werke herauszuarbeiten, im Hinblick auf die jeweilige Bewusstseinsstufe des Gesamtgeistes und auf deren Spiegelung in Religion und Philosophie.*)

Als einer der ersten schritt Oskar Walzel, der aus der philologisch-historischen Schule hervorgegangen ist, in den Bahnen Diltheys fort und gab der ideengeschichtlichen Literaturwissenschaft wertvolle Forschungen und Anstösse. Auch ihm sind Unger und die Jüngeren verpflichtet. Sein gewichtigstes Buch nennt sich "Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters"(Berlin-Neubabelsberg 1925); es ist bestrebt, diesen beiden Dichtungswerten gerecht zu werden, legt aber doch den Nachdruck auf die Aesthetik der, Form und ihre Probleme; "Das Wortkunstwerk" (Leipzig 1926) betitelt der rastlose Gelehrte sein jüngstes Buch. Dabei hat er sich im Sinne der Schererschen "wechselseitigen Erhellung" von der Kunstwissenschaft leiten lassen, von Heinrich Wölfflin und dem ebenfalls an diesen anknüpfenden Wilhelm Worringer. Wölfflins Meisterbuch "Kunstgeschichtliche Grundbegriffe" (München 1915) hat fünf Begriffspaare aufgestellt, die grundsätzliche polare Verschiedenheiten im Wollen und Gestalten der bildenden Kunst bezeichnen, und durch deren Anwendung auf einzelne typische Künstlerpersönlichkeiten und Kunstepochen höchst aufschlussreiche Erkenntnisse stilgeschichtlicher Art gewonnen. Walzel und ebenso Fritz Strich**) arbeiten daran, in enger Anlehnung an Wölfflins Betrachtungsweise auch für die Poesie solche Stilkategorien zu finden und für die Literaturwissenschaft nutzbar zu machen. Auf dem Grazer Philologentag von 1909 hielt Walzel einen

wissenschaftsgeschichtlich wichtigen Vortrag über "Analytische und synthetische Literaturforschung"*), in dem er die Forderungen der jüngsten Entwicklung zusammenfasste. Der Drang und Wille zur Synthese kommt, wie in den ideen-, problem- und stilgeschichtlichen Methoden, so auch in der ethnologischen und in der soziologischen Methode zum Ausdruck, deren sich die Gegenwart bedient. Die erstere wird hauptsächlich von Josef Nadler und seiner durch Geist und Kühnheit imponierenden "Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften"**) repräsentiert. Auch Nadler, Kulturhistoriker im weitesten Ausmass, ist geistesgeschichtlich und geschichtsphilosophisch eingestellt, auch er knüpft an Hegel an und lässt metaphysische Neigungen erkennen, auch er ist Typolog. Aber er leitet das Geistige biologisch ab und die Entwicklung in der Zeit aus den Bedingungen des Raumes. Er rückt damit bisher zweifellos zu wenig beachtete Probleme in den Vordergrund und hat auf seiner Neulandsuche denn auch bemerkenswerte Entdeckungen gemacht. Seine ethnologisch-genealogische Auffassung erklärt aus Erde und Blut, aus der Heimat- und Stammeseigentümlichkeit einerseits, aus Rasse und Blutmischung anderseits die charakteristischsten Besonderheiten aller geistigen Betätigung. Die Landschaft ist ihm der Nährboden, die Stammesindividualität die bestimmende Triebkraft auch der Poesie: das Volk, das stammhaft geschlossene Volkstum in seiner organischen Entwicklung und dynamischen Auswirkung, ist sein eigener Dichter, und nur als höchste Spitzen und Symbole sind die grossen Einzelnen anzusehen. Sie ordnen sich bei Nadler der Geschichte der Massen ein und unter; er verweilt gerade bei dem geistigen Werdegang des breiten Volkstums und in den Niederungen der Literatur, weil er hier ihren Ursprüngen, Grundlagen und Wesensformen besonders nahe zu kommen glaubt.

Ebenfalls kollektivistisch, nicht individualistisch, ist die Betrachtungsweise der sozialliterarischen Methode, wie sie namentlich

Paul Merker**) (in der Anglistik Ludwig Schücking)**) verficht. Weit mehr als die naturwissenschaftlich-materialistischen Denker Taine und Karl Marx haben hier die Geistesgeschichtler Max Weber und Ernst Troeltsch die Wegweiser abgegeben. Auch diese Methode fasst die Literatur als Erzeugnis und Ausdruck der Gesamtanschauung und des Gesamtwillens des Volkes in seinen verschiedenen Ständen und Gesellschaftsschichten während der verschiedenen Abschnitte seiner Entwicklung und sucht darzutun, in wie hohem Masse auch die Kunstschöpfungen der überragenden Geister auf den räumlichen und zeitlichen Verhältnissen ihrer Umwelt beruhen. Sie erblickt im Allgemein-Zeitgeschichtlichen die primäre, in dem durch sie bedingten und an sie gebundenen Individuum die sekundäre Erscheinung. Auch der grosse Eigenmensch ist ein Kind seiner Zeit und ihres Geistes, steht unter dem fortwirkenden Einfluss der sie bestimmenden überindividuellen Grundströmungen, ihrer religiösen, philosophischen, wirtschaftlichen und politischen Anschauungen, ihres besonderen Lebensgefühls und Stilempfindens. Wenngleich oft unbewusst, trägt der Dichter seinem Publikum Rechnung, berücksichtigt dessen Bildungsstand und Bildungsrichtung, dessen Aufnahmewilligkeit und Aufnahmefähigkeit und ist damit abhängig von dem jeweiligen Geschmack, von herrschenden ästhetischen Theorien und von Modeforderungen aller Art. Seine Leistung passt sich also absichtlich oder unwillkürlich auch der Nachfrage sowie den Gegebenheiten des Theaters, des Buchhandels, der Kritik an. Auch diese nicht kulturstatistisch, sondern kulturpsychologisch gemeinte sozialliterarische Methode strebt nach Synthese, nach typologisch-geistesgeschichtlichen, zumal stilgeschichtlichen Erkenntnissen, denen man bisher gleichfalls zu wenig nachgegangen ist. Dass sie besondere Aufschlüsse zu geben vermag, hat Herbert Schöfflers Buch "Protestantismus und Literatur" (Leipzig 1922) bewiesen.

Der Anti-Individualismus und Anti-Biographismus, für den die jüngere Schule sich so leidenschaftlich einsetzt, wird nicht geteilt

von Friedrich Gundolf, dessen Werke die glänzendsten und einflussreichsten unseres Faches sind und auch in weite nichtwissenschaftliche Kreise Eingang gefunden haben. Seine Bücher über Goethe, Kleist, Stefan George behandeln grosse Einzelne, jedoch im ideengeschichtlichen Sinne wie schon sein älteres Buch "Shakespeare und der deutsche Geist" (Berlin 1911). In diesem bezeichnet es Gundolf als seine "nach Absicht und Methode neue Aufgabe",, eine Geschichte lebendiger Wirkungen und Gegenwirkungen zu geben statt einer Chronik literarischer Fakten oder einer Psychologie von Autoren. Das gleiche Ziel setzen sich seine "Biographien", die nicht ein äusseres Leben und Wirken nacherzählen, sondern Heroen der Kunst intuitiv erfassen und deuten. Das geschieht in einer den grossen Menschen vergottenden Auffassungsweise und in einer monumentalen und monumentalisierenden Formgebung, für die der Dichter George vorbildlich ist. Die George-Schüler, Gundolf sowohl wie Ernst Bertram, sind selbst Künstler und machen sich anheischig, im Geiste Platos und Goethes auch die Wissenschaft als Kunst zu betreiben; sie sind nicht sowohl Kunstwissenschaftler als Wissenschaftskünstler. Wohl kennt und nutzt Gundolf die von der Literaturforschung im Laufe der Zeiten beigebrachten Ergebnisse, dazu ist er, besonders von Dilthey, Simmel und Bergson angeregt, Philosoph und Historiker, aber das Ursprüngliche und Ausschlaggebende bei ihm ist die seherische Schau einer dichterischen Natur, die im Grunde immer nur sich selbst gibt und von Exaktheit und Objektivität nichts wissen will. Er stellt die Dinge dar, wie er sie in eigenem Seelenerlebnis sieht, synthetisch zusammensieht, und verschmäht es, seine Anschauung durch sachliche Zeugnisse und stützende Belege zu begründen; er verlangt den Glauben an sich, der keiner Beweise bedarf. Das Absolute, Gesetzliche, Ewige, Symbolische, nicht das Einmalige und zeitlich Bedingte stellt Gundolf an "seinem" Goethe heraus und hat uns so ein Werk geschenkt, das an Tiefe und Reichtum des Geistes in der gesamten, fast unübersehbar grossen Goethe-Literatur nicht seines gleichen hat. Es könnte denselben Untertitel tragen wie des geistesverwandten Bertram "Nietzsche": Versuch einer Mythologie. Wie Bertram steht auch Gundolf auf dem Standpunkt, dass alles Gewesene nur ein Gleichnis sei, dass keine historische Methode uns, wie ein naiver Realismus des 19. Jahrhunderts so oft zu glauben scheine, zum Anblick leibhaftiger Wirklichkeit, "wie sie

eigentlich gewesen", verhelfe; Geschichte sei niemals gleichbedeutend mit Rekonstruktion irgend eines Gewesenen, sondern vielmehr gerade die Entwirklichung dieser ehemaligen Wirklichkeit; was als Geschichte übrig bleibe von allem Geschehen, sei immer zuletzt die Legende, der Mythos, die von keiner rationalen Erkenntnis, von keiner Philologie und keiner analytischen Methode erfasst werden könnten.*) Gundolfs "Goethe" ist weniger eine Fach- als eine Persönlichkeitsleistung, ist wie der Simmelsche "Goethe" in erheblichem Masse auch eine Konfession des Deutenden".

Noch andere neuere Methoden kann ich in diesem raschen Abriss**) nur eben streifen. Schon vor der Jahrhundertwende trat Ernst Elster mit seinen "Prinzipien der Literaturwissenschaft" (Halle 1897 ff.) hervor, die auch heute noch nicht abgeschlossen sind; der Verfasser stellt vielmehr eine Neubearbeitung des grundlegenden 1. Bandes in Aussicht. Elster wollte den philologisch-historischen Betrieb durch die Verwertung der Wundtschen Psychologie vertiefen und geht vornehmlich auf psychologisch-ästhetische Stilanalyse aus. Vergeblich unternahm es um dieselbe Zeit die vergleichende Literaturgeschichte, die doch nur eine einzelne Betrachtungsweise ist, sich als selbständige literaturwissenschaftliche Disziplin aufzuspielen.***) Nur erwähnt sei ferner die von Eduard Sievers unablässig ausgebaute Schallanalyse —ebenfalls eine Typenlehre — und die von Sigmund Freud begründete Psychoanalyse, die sich neuerdings vom Materialistisch-Triebhaften mehr

ins Geistig-Seelische erhebt; beide vermögen uns zu helfen, individuelle Kunstleistungen tiefer zu erfassen und richtiger zu verstehen. Fritz Brüggemann fordert soeben eine "psychogenetische Literaturwissenschaft"*), die sich auf die Lamprechtsche Kulturgeschichtsbehandlung stützt.

Die besprochenen Hauptrichtungen lassen erkennen, dass unser Fach seinen jüngeren Vertretern ungemein fruchtbare Ideen und hervorragende Leistungen zu danken hat. Die neuen Problemstellungen und Methoden von vornherein zu verwerfen und abzulehnen, ist ebenso kurzsichtig wie aussichtslos, und diejenigen Abkömmlinge der älteren Schule, die sich so verhalten, verlieren unbedingt den Zusammenhang mit der fortschreitenden Wissenschaft und werden rückständig. Ein Goethescher Sinnspruch lautet: "Jeder, der eine Zeitlang auf dem redlichen Forschen verharrt, muss seine Methode irgendeinmal umändern."**) Bei mir, der ich, ein Schüler Erich Schmidts, während meines Studiums auch ein dankbarer Hörer von Dilthey, Wundt, Simmel, Lamprecht, Wölfflin war und die weitere Entwicklung meiner Wissenschaft mitgemacht habe, hat sich das von selbst ergeben. Ohne den Urgrund der Philologie und Geschichte je zu verlassen, bin ich mit den Jüngeren mannigfach auf halbem Wege zusammengetroffen. Ich bringe ihnen hohe Achtung und in vielem lebhafte Zustimmung entgegen, halte es aber für meine Pflicht, nach meiner anerkennenden Darlegung ihrer Wege und Ziele auch mit meinen grundsätzlichen Einwendungen nicht zurückzuhalten. ***)

Dass die jungen Neuerer zunächst ein Kesseltreiben gegen die Philologie anstellten und kaum ein gutes Haar an ihr liessen, ist nicht tragisch zu nehmen. "Die Generationen, die einander folgen", lesen wir in Romain Rollands "Jean Christoph", "empfinden immer lebhafter das, was sie trennt, als das, was sie eint; sie fühlen das Bedürfnis, die Wichtigkeit ihres Daseins zu betonen, sei es auch um den Preis einer Ungerechtigkeit oder einer Lüge gegen sich

selbst." Manch ein Baccalaureus "von den Neu'sten" hat sich auch in diesem Falle "grenzenlos erdreustet" und alle mehr als Dreissigjährigen für überlebt, für tot erklärt. Der Ueberschwang solcher Stürmer und Dränger wird sich schon von selbst klären, und die besten und echtesten Vertreter des Neuen haben ihn, wie gern anerkannt sei, niemals mitgemacht.

Genauer besehen sind übrigens die Jüngeren und ihre Forderungen keineswegs so neu und unerhört, wie sie wohl zu sein glauben. Sie stehen doch schliesslich alle auf den Schultern ihrer Vorgänger und sind ohne deren gediegene Vorarbeit gar nicht zu denken.

Die Losung "Synthese" ist, wie Walzel, der sie ausgab, selbst später erklärt hat*), ein "missverständliches Wort", ein blosses Schlagwort. Analyse und Synthese sind nicht Gegensätze, sondern ergänzen sich notwendig. Das Ziel jeder Analyse ist die Synthese**), und es gibt keine wahre Synthese, der nicht eine Analyse (wenn auch eine ungeschriebene) voraufgegangen wäre. Eine Analyse ohne Synthese ist ein Haus, dem der krönende Giebel seht, eine Synthese ohne Analyse eines, das auf Sand gebaut ist. Die Aelteren haben niemals die Synthese verworfen***), noch sind sie in ihren besten Leistungen sie schuldig geblieben. Synthesen grossen Stils sind die Literaturgeschichte von Koberstein, Gervinus, Hettner, Scherer, die Werke eines Haym und Burdach, und sie sind auch schon geisteswissenschaftlich gerichtet. Wie keine schöpferische Leistung ohne Mithilfe der Intuition zustande kommt, so auch keine wissenschaftliche; und intuitiv-synthetische Persönlichkeiten waren sowohl Jacob Grimm wie sein Neffe Herman Grimm. Der letztere und Kuno Fischer haben sogar mit der Art Gundolfs manches gemein und können in gewissem Sinne als dessen Vorläufer betrachtet werden. Sozialliterarische Gesichtspunkte waren bereits von den Positivisten aufgestellt und finden sich z. B. in Scherers "Poetik" so gut wie schon bei Hettner. Die ethnologische Methode wird von Nadler selbst auf seinen kürzlich verstorbenen Lehrer, den Scherer-Schüler August Sauer zurückgeführt, und wir danken

einem anderen Scherer-Schüler, Jacob Minor, wertvolle ideengeschichtliche Untersuchungen. Die jüngere Richtung verfolgt diese Bahnen jedoch viel zielbewusster und tatkräftiger. Sie ergreift die Probleme mit grösserer Erlebniskraft und Einfühlungsfähigkeit, ja im einzelnen Fall mit fast religiöser Innerlichkeit. Ueberall ringt sie darum, statt verstandesmässig die Phänomene zu beschreiben,, die in der Geschichte lebendigen Kräfte selbst zu erfassen und zu deuten. Noch aber steckt sie tief in theoretisch-methodologischen Auseinandersetzungen, und manchem ihrer Anhänger möchte man zurufen: "Der Worte sind genug gewechselt, lasst mich auch endlich Taten sehn!"

Eine Würdigung und Kritik der neuen Gesamtrichtung wird dadurch erschwert, dass diese in sich selbst nicht einstimmig ist, ja sich in ihren einzelnen Gliedern bekämpft; nach den Jüngeren sind schon wieder Jüngste aufgestanden, die jene bereits hinter sich gelassen zu haben meinen.

Es zeugt von innerer Unsicherheit, dass die neue Schule sich so eng an andere Wissenschaften anlehnt und sich deren Methoden zu eigen macht. Sie ist damit demselben Fehler verfallen, den sie der von ihr bekämpften älteren Generation im Hinblick auf deren Abhängigkeit von der Naturwissenschaft vorgeworfen hat Philosophie, Psychologie, Kulturgeschichte, Soziologie, Kunstgeschichte sind Nachbarwissenschaften, mit denen der Literarhistoriker vertraut sein soll, aber sie müssen ihm immer Hilfswissenschaften bleiben. Er darf ihre Methoden nicht einfach auf sein Fach übertragen oder gar mit blossen Analogien*) arbeiten, anstatt seine Wissenschaft aus ihrem eigenen Wesen, aus ihren besonderen Bedingungen und nach den ihr immanenten Gesetzen aufzubauen. Fachphilosophen, die sich mit der schönen Literatur befassen, begegnet es, dass sie deren Hauptwerte, die künstlerischen, mehr und mehr übersehen, zu ausschliesslich auf den gedanklichen und Weltanschauungsgehalt abstellen**) und dabei, wie einst die

Aesthetiker der Hegelschen Schule, in die Dichtung ihr fremde Probleme hineintragen, mehr unter- als auslegend. Und unsere Ideenhistoriker haben sich davor zu hüten, im Grunde Philosophie- und Weltanschauungsgeschichte zu schreiben und die poetischen Werke dabei nur als Mittel und Belege zu verwenden. Die Literaturgeschichte darf niemals Literaturphilosophie werden und des Guten, das man früher zu wenig tat, nun zu viel tun. Simmels Buch, das "die zeitlose Idee Goethe", das "Urphänomen Goethe" herausgearbeitet hat, ist eine hervorragende und sehr fördernde Leistung, aber auch eine einseitige, denn gerade die Persönlichkeit des Künstlers Goethe kommt dabei stark zu kurz. Mit Recht warnt Unger*) vor Irrwegen und Ueberspannungen in dieser Hinsicht, vor einer Intellektualisierung der Dichtung, vor einer Verkennung ihres Wesens als Kunst, vor einer Vernachlässigung der Gestaltungsprobleme. Eine solche Intellektualisierung verführt nur allzu leicht zu Konstruktion und Schema, zu These und Formel, die der Fülle des Seins Gewalt antun. Wer alles auf einen Generalnenner zu bringen sucht, neigt dazu, auch Wesentliches, das diesem Bestreben im Wege steht, über Bord zu werfen und damit die Dinge

zu fälschen; sie sollen und müssen glatt ineinander aufgehen, als handelte es sich bei Problemen der Kunst um die Lösung von Rechenexempeln, als könnten diese Probleme überhaupt restlos gelöst werden. Gundolf wie Korff*) lassen mit Vorliebe die geistigen Erscheinungen sich in einem triadischen Rhythmus von verblüffender Regelmässigkeit abspielen, der nicht zufällig stark an Hegel gemahnt. Am schlimmsten steht es natürlich dann, wenn Literarhistoriker, die zur Philosophie kein inneres Verhältnis haben, sich nach ihr als einer neuen Mode orientieren; im Hinblick auf sie haben Philosophen von Fach bereits erklärt. dass sie einer solchen philosophischen Literaturwissenschaft eine unphilosophische entschieden vorziehen.

So heilsam die Hinwendung unseres Faches zur Philosophie war, so begründet war auch seine Abwendung von dem Irrwege des Historismus. Aber es heisst das Kind mit dem Bade ausschütten und nach der Gegenseite überspannen, wenn man nun der Historie an sich absagt, die Möglichkeit geschichtlicher Reproduktion überhaupt verneint und zu Legende und Mythos schwört. Wer Goethe aus den geschichtlichen Zusammenhängen herauszulösen unternimmt, wird ihn niemals richtig erfassen, und wer übergeschichtlich zu urteilen vermeint, urteilt sehr leicht ungeschichtlich. In Wahrheit sind die überzeitlich gedachten Methoden viel mehr zeitgebunden als die objektiv-historischen, weil sie nicht von den geschichtlichen Gegebenheiten ausgehen, sondern von der subjektiven Weltanschauung, welche durch die Gegenwart bedingt ist und sie kennzeichnet. Und was die Vertreter dieser Methoden uns bieten, ist denn auch nur zu oft "der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln", ist Geschichtskonstruktion und metaphysisch geartete Geschichtsphilosophie. Wir haben es aber nun einmal in erster Linie mit historischen Abfolgen von Persönlichkeitsschöpfungen und geformten Kunstgebilden zu tun, nicht mit gestaltlosen Inhalten und abstrakten Problemen, und darum muss unser Fach immer sowohl Kunstwissenschaft wie Geschichtswissenschaft bleiben. Und gerade weil der Gegenwart der geschichtliche Sinn in so bedenklichem Mass abhanden gekommen ist, haben wir die Pflicht, an seiner Wiederbelebung mit aller Kraft zu arbeiten.

Auch die Verwerfung der individualistischen Betrachtungsweise

zu Gunsten der kollektivistischen ist ein Zeichen unserer Zeit, und auch hier droht Gefahr durch einseitige Uebertreibung. Die Literaturgeschichte ohne Namen, die man entsprechend der von Wölflin einmal geforderten Kunstgeschichte ohne Namen theoretisch ersehnt, ist allerdings noch immer eine ideale Forderung geblieben und wird es bleiben. Viëtors im Erscheinen begriffene "Geschichte der deutschen Literatur nach Gattungen" stellt einen Versuch ihrer Verwirklichung dar; das Werk ist sehr willkommen und nützlich, macht aber die monographische Behandlung der bedeutenden Einzelnen nicht entbehrlich.*) Merkers und Stammlers "Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte" erhebt gleichfalls den sach- und formgeschichtlichen Gesichtspunkt zum herrschenden Grundsatz und geht biographischen Artikeln ängstlich aus dem Wege; wir begrüssen auch in ihm eine dankenswerte Leistung, begrüssen jedoch nicht minder, und zwar als ein Zeugnis kritischer Selbstbesinnung, die Ankündigung der Herausgeber, ein Personallexikon folgen zu lassen.

Auf alle Fälle schiesst der heutige Antibiographismus weit über das Ziel hinaus. Niemand wird geschichtsklitternden Biographien gleich den Düntzerschen nachtrauern, die, äussere Daten häufend, blosse Dichterlebensläufe geben ohne geistige Durchdringung des Stoffes; aber das Wort Goethes, auf das sich Bielschowsky im Vorwort seiner Goethe-Biographie beruft, behält seinen guten Sinn: "Alle pragmatische biographische Charakteristik muss sich vor dem naiven Detail eines bedeutenden Lebens verkriechen". Biographie und Biographie ist doch nicht dasselbe. Jede rechte Biographie ist auch eine geistesgeschichtliche Synthese, ist vor allem Seelenbiographie, selbst wenn sie die realen Tatsächlichkeiten dieses Lebens nicht vornehm bei Seite wirft. Goethes "Dichtung und Wahrheit", Justis "Winckelmann", Diltheys "Schleiermacher", Hayms

"Herder", Kosers "Friedrich der Grosse" sind Biographien, aber zugleich grosse zeit- und geistesgeschichtliche Darstellungen. Ob man im Hinblick auf die führende Persönlichkeit deren ganzes Zeitalter abschildert oder, von diesem ausgehend, jene in den ihr gebührenden Mittelpunkt rückt, ist in den meisten Fällen eine Sache der schriftstellerischen Begabung und Formgebung. Eine wahre Biographie Cäsars oder Napoleons kann gar nichts anderes sein als ein Stück Weltgeschichte. Heutzutage droht der lebensvollen Schöpfergestalt die Verflüchtigung in eine Ideenformel. Die Biographie ist durch die Mythographie und ihren Subjektivismus nicht zu ersetzen, ein so sinnvoller Kern in der Legendenthese steckt.

Solcher Subjektivismus bildet auch die Klippe der intuitiven Wissenschaftskünstler. Der Intuition des einen kann der andere eine andere entgegenstellen, die ebenso unbeweisbar ist. Alle diese Schriftsteller sind vornehmlich Künstler und die Wissenschaft nur ihr Kunststoff. Der ästhetische Formwille hebt den darstellerischen Wert ihrer Bücher, beeinträchtigt aber zugleich den sachlichen. Was in den Quellen der Formung des geschauten Bildes widerstrebt, wird bei Seite gelassen oder vergewaltigt; um eines Aperçu's (mit Goethe zu reden), ja einer vorgefassten Meinung willen werden empirisch-geschichtliche Tatsachen unterschlagen oder umgebogen. Das zu schaffende literaturwissenschaftliche Kunstwerk verlangt um jeden Preis künstlerische Einheit und Geschlossenheit, und ist sie nicht vorhanden, so wird sie konstruiert, entweder durch unerlaubte Ausscheidung der irrationalen Bestandteile der Individualität, die schliesslich doch immer eine unbekannte Grösse bleibt, oder durch eine auch das Letzte gewaltsam rationalisierende Dialektik. Durch beides wird die freie Fülle sich auswirkenden Lebens gefälscht. Gundolf erklärt Goethe für den gestalterischen Deutschen schlechthin und das für den einzigen Begriff, unter den er Goethes Gesamtschaffen zu bringen wisse; gegen solche Einengung. ist von vielen Seiten Einspruch erhoben worden. Benedetto Croce*) hat sich gegen die "mystische Einheit" von Goethes Leben und Werk in Gundolfs Betrachtungsweise verwahrt, Burdach**) die Goethe-Gnostik der Gundolf und Simmel angefochten. Konstruktion, Schema

und Formel werden um so bedrohlicher, je mehr die Autoren darauf bedacht sind, geistreich und neu zu sein; sie müssen die Dinge unter allen Umständen anders sehen, als sie vor ihnen gesehen worden sind. Unter Friedrich Gundolfs Büchern zeigt solche vorgefasste Einstellung und Eigenwilligkeit namentlich der "Kleist". Der Verfasser konstruiert Kleist zum Gegentypus des für ihn selbst unbedingt vorbildlichen Dichtertypus Stefan George und gibt nun nicht eine rein geschichtliche Wiedergabe von Kleists Sein, sondern bemüht sich zu beweisen, dass dieses Sein nicht daseinsberechtigt, dass es ungesetzlich und verwerflich sei. Der Strahl geht bei den Wissenschaftskünstlern eben nicht durch ein einfaches, klares Glas, sondern durch ein brechendes Prisma, er wird. nicht von einem Planspiegel, sondern von einem künstlich facettierten Spiegel aufgenommen und zurückgeworfen. Der Darsteller ist selbst eine zu stark ausgeprägte Natur, um blosser Vermittler und Erklärer sein zu können; er ist mehr formender Künstler als forschender Gelehrter, mehr fordernder Dogmatiker als überzeugender Historiker. Man hat es scharf bestritten, dass diese aus der Schau geborene Mythographie überhaupt noch Wissenschaft sei. Sie ist es selbstverständlich nicht im Sinne der objektiven systematischen Untersuchung und der unzweideutigen Bewältigung und Lösung von Problemen, sondern lediglich insofern, als wir auch dieser unmethodischen Methode im einzelnen höchst schätzbare Erkenntnisse danken, die freilich nur dem kritischen Wissenschaftler fassbar sind. Diese "Methode" hat auch der exakten Forschung sehr wesentliche Anregungen gegeben, aber übertragbar, lehr- und lernbar ist sie nicht. Gundolf hat denn auch weniger eigentliche Schüler, als einen Tross meist unberufener Nachahmer, die es ihm abgesehen haben, wie er räuspert und wie er spuckt, und die ihm selbst äusserst lästig sind. Der schöpferische Geist und die Kunst der Darstellung dieser Gestalter, also gerade das, was man ihnen nicht ablernen kann, wirkt mit gefährlicher Suggestivkraft*) besonders auf die so leicht allem Neuen und Blendenden verfallende, zur Nachprüfung und Kritik noch nicht befähigte Jugend. Das windigste Studentlein glaubt sich unter Hinweis auf sie der ehrlichen harten Arbeit entschlagen und auf seine

vermeintliche Intuition pochen zu dürfen: das Forschen ist ja so mühsam und das Schauen so grossartig!

Die sozialliterarische Methode weiterhin muss sich stets dessen bewusst bleiben, dass sie doch nur allgemeine Vorbedingungen und Einflüsse feststellen kann. Sie hat sich, "im vollen Bewusstsein ihrer Einseitigkeit"*), davor zu hüten, als das schlechthin Massgebende den jedesmaligen Durchschnitts- und Massengeschmack anzusehen, eine Geschichte der blossen Unterhaltungsliteratur zur Grundlage für eine eigentliche Geschichte der Literatur zu nehmen und damit der Dichtung hohen Stils vieles schuldig zu bleiben. Aehnlich weiss der Ethnolog gerade mit den übervölkischen und überzeitlichen Genies, deren Bestes nun einmal nicht ererbt ist, nichts Rechtes anzufangen und lässt sich bei Dichtern (besonders des Mittelalters), über deren Stammeszugehörigkeit und Familiengeschichte wir wenig oder gar nichts wissen, leicht zu gewagten Hypothesen verführen. Dem Ausnahmeindividuum und seinem geistig-seelischen Gehalt tut auch der Formästhetiker nicht genug, wenn er nur auf die dichterische Technik abstellt und sich dabei in Formalismus und Schematismus verliert. Dem Psychoanalytiker aber, der mit starker Uebertreibung alle Dichtung aus erotischen Trieben und ihrer Verdrängung ableitet und den Künstler zum Sklaven seines Trieblebens herabdrückt, werden Dichteranalysen meist zu Krankheitsgeschichten von Neurotikern.

So stehen dem neueren Betrieb der Literaturwissenschaft auch ernste Bedenken entgegen, und seine Alleinherrschaft wäre ebenso verhängnisvoll, wie es früher die des älteren war. Als Gegengewicht war er geschichtlich notwendig und hat vortrefflich gewirkt, aber jetzt ist es an der Zeit, die Gewichte auszugleichen, auf dass nicht eine Einseitigkeit an die Stelle der anderen trete. Die älteren Methoden sollen nicht aufgegeben, sondern durch die neueren bereichert und vertieft werden; nicht eine Revolution, sondern eine Reformation der Literaturwissenschaft ist das zu erreichende Ziel. Die Aelteren liessen es an Synthese, die Jüngeren lassen es an Analyse fehlen; boten jene zu viel Substanz und zu wenig Geist, so steht es bei diesen umgekehrt.**)

Schon dass die neueren Methoden, so verschieden sie sind, alle ihre grundsätzliche Berechtigung haben, beweist, dass keine von ihnen allein berechtigt sein kann, und manche ihrer Vertreter geben auch ihre Einseitigkeit ehrlich zu.*)

Heinemanns Goethe-Buch schildert den äusseren Lebensverlauf, das Simmelsche entwickelt die Idee Goethe, Gundolf stellt auf den Gestalter ab, der Psychiater Möbius nimmt den Dichter pathologisch, der Ethnolog fusst auf Stammesart und Blutmischung, der Soziolog zeigt gewisse kultur- und geschmacksgeschichtliche Komponenten seines Schaffens und Wirkens u. s. f. — wir gedenken des Wortes, das der junge Goethe im Jahre 1774 an seine Züricher Freunde Lavater und Pfenninger schrieb: "Im einzelnen sentierst du kräftig und herrlich, das Ganze ging in euern Kopf so wenig als in meinen."**) Man kann die Dinge von veschiedenen einzelnen Seiten aus ansehen***), aber das Ideal ist, sie von allen her zu betrachten. Die Hypertrophie einer einzelnen Methode oder Methodengruppe ist immer vom Uebel, und ob der Magen oder das Herz an einer Erweiterung leidet, beides ist Krankheit. Die Aufgabe besteht darin, alle Teilmethoden oder Methodenteile zu verschmelzen zu einer höheren organischen Einheit, zu einer allgemeinen Literaturwissenschaft, die nicht in Sekten auseinanderfällt. Es geht hier nicht um ein Entweder — oder, sondern um ein Sowohl — als auch. Nichts weniger als eine der Kompromissnaturen, die überall die Gegensätze zu verkleistern und zu verwischen bemüht sind, vertrete ich seit langen Jahren theoretisch wie praktisch****) diese Ueberzeugung und freue mich, dass sie von Fachgenossen wie Julius Petersen*****) und Emil Ermatinger geteilt wird.

Die Aelteren wie die Jüngeren können durch eine innerliche Verbindung des guten Alten und des guten Neuen nur gewinnen, indem sie sich aneinander prüfen und ergänzen; jene werden höher, diese gründlicher bauen. Keine Erkenntnisse ohne selbständig erarbeitete Kenntnisse. Die Analytik philologisch-historischer Forschung kann durch die intuitive Synthetik bedeutender Künstlerbegabungen niemals aufgewogen oder gar entbehrlich gemacht werden.*)

Auch die jüngsten und radikalsten Neutöner zehren von den gesicherten Leistungen der älteren Schule, mögen sie noch so sehr bemüht sein, es nicht merken zu lassen. Gundolf hätte seinen "Goethe" nie und nimmer schaffen können, wenn ihm nicht die Goethe-Philologie von Generationen, auf die er sich freilich nie beruft, das Material geboten hätte**), und Walther Harich bekennt offen, er hätte sein (expressionistisches) Werk über E. T. A. Hoffmann nicht zu schreiben vermocht ohne die gewissenhafte Philologenarbeit, die Hans v. Müller zwei Jahrzehnte hindurch seinem Dichter gewidmet hat. Aber wenn dieser Schatz der guten Werke, den die Aelteren gehäuft haben, nun einmal erschöpft ist? Wenn die Söhne die Fühlung mit den Vätern verloren haben? Wenn niemand mehr tragkräftige Grundmauern, jeder nur kühne Fassaden aufführen will? Dann muss den Jüngeren notwendig immer mehr der Boden unter den Füssen schwanken und schwinden, dann laufen sie immer mehr Gefahr, in hemmungslosem Subjektivismus, in luftigen Konstruktionen, in leerem Aesthetisieren aufzugehen. Dann kann es kommen, dass man ihrer substanzarmen Ideologie übersatt wird und das nahrhafte, wenn auch zuweilen etwas trockene Brot strenger Sachlichkeit zurückbegehrt, dass die neue Regierung eines schönen Tages gestürzt wird und die alte mit Pauken und Trompeten wieder den Thron besteigt. Eine solche einfache Reaktion und Restauration liegt durchaus im Bereich des Möglichen, ja ist vielleicht schon im Anzug, aber wünschenswert wäre sie mit nichten. Vielmehr wollen wir hoffen, dass auch in unserem Falle aus Thesis und Antithesis eine neue Synthesis hervorgehe, die beide übergipfelt. Denn wir brauchen beides: Analyse und Synthese,

Dichtergeschichte und Dichtungsgeschichte, Längsschnitte und Querschnitte.

Manche der Jüngeren machen der Philologie nur noch der Form halber eine kühle Verbeugung. Nicht alle meinen es mit ihrer Anerkennung so ernst und ehrlich wie Ermatinger*): "Wir können Scherer und seiner Schule nicht genug dankbar sein dafür, dass sie den festen Grund gelegt haben und weiter legen, auf dem Literaturgeschichte als Geistesforschung aufbauen kann. Hätten sie das nicht getan, alle Beschäftigung mit den Dichtern und ihren Werken wäre heute nur ein Spiel mit Seifenblasen." Nicht alle wissen wie Merker**) "als dankbar hingenommene und wohl zu verwahrende Erbschaft" zu schätzen "jene streng solide Arbeitsweise, jene philologische Akribie und jenen wissenschaftlichen Ernst", der nach Jacob Grimms schönem Wort die Andacht auch vor dem Kleinen und Kleinsten lehre und vor vagem Literatentum gleichermassen wie vor blossem Aesthetentum bewahre.***)

Hörte man einmal auf, philologisch zu arbeiten, so hörte die Literaturforschung auf eine Wissenschaft zu sein. Denn bloss die Philologen haben versagt, nicht die Philologie. Man muss ihr nur den umfassenden Aufgabenkreis zurückgewinnen, den Männer wie Friedrich August Wolf und Böckh, Friedrich Schlegel und Schelling ihr zuerkannt haben. Dann ist sie nicht mehr gleichbedeutend mit Kärrnertum und gelehrtem Handwerk, nicht die Wissenschaft des Nichtwissenswerten ****), wie man sie boshaft umschrieben hat, sondern eine mit Philosophie und Kunst verschwisterten königliche Wissenschaft und vermag auch alle die ihr entgegengestellten neuen

Methoden in sich zu begreifen. Dann ist der Philolog Liebhaber und Deuter des Logos in jenem höchsten Sinne, in dem dieser Begriff von dem bibelübersetzenden Faust als Wort, Sinn, Kraft und Tat gefasst wird.

Die deutsche Schweiz, deren Mitwirkung am gesamt-deutschen Geistesleben ja so beträchtlich ist, hat auch in der deutschen Literatur- und Geisteswissenschaft eine ansehnliche Rolle gespielt, und nicht nur in den Tagen Bodmers und Breitingers. Auch an den belebenden geistigen Auseinandersetzungen, die ich Ihnen vorgeführt habe, hat sie ihren Anteil. Wie grosse deutsche Dichter gleich Wieland, Goethe, Heinrich v. Kleist, so sind auch führende deutsche Literaturforscher dem schweizerischen Boden verpflichtet. Dilthey, Unger, Petersen haben an den Universitäten Basel und Zürich gelehrt und geschrieben, Nadlers grosses Werk ist im schweizerischen Freiburg entstanden, mein Vorgänger Walzel hat sich während der Jahre seiner Berner Lehrtätigkeit ein gut Teil der Einsichten. erarbeitet, die er in seinen späteren Büchern niedergelegt hat, und Worringers aufsehenerregende Schriften sind von Bern auslangen. Selbst ein Schweizer aber ist das ragende Haupt der deutschen Kunstwissenschaft, Heinrich Wölfflin, der unser Fach so kräftig befruchtet hat. Und auch unmittelbar haben Schweizer an der deutschen Literaturforschung ehrenvoll mitgearbeitet. Ich nenne vor allem Jacob Bächtold, dessen grossangelegte und grundgediegene, leider ein Torso gebliebene "Geschichte der deutschen Literatur in der Schweiz" nach mehr als einem Menschenalter nur in Einzelheiten überholt ist, und meinen zweiten Vorgänger auf dem Berner Lehrstuhl, Ludwig Hirzel, dessen Bild unter wenigen Auserwählten unsere Aula ziert, den musterhaften Herausgeber und Biographen Albrecht v. Hallers. Auch einige lebende schweizerische Literarhistoriker leisten Vollwertiges. Fehlte es nur nicht so empfindlich an dem erforderlichen Nachwuchs! Dieser Mangel ist ja die Ursache der viel erörterten geistigen Ueberfremdung an den schweizerischen Hochschulen. Wollten sich doch — und damit wende ich mich an unsere Kommilitonen und nicht nur an diejenigen meines Faches — in Zukunft mehr von wahrhaft wissenschaftlichem Geist und Ernst beseelte junge Forscher, aber auch lediglich solche, auf den hohen und schönen Beruf des akademischen Lehrers vorbereiten!

Und zweierlei möchte ich zum Schluss der studierenden Jugend dringend ans Herz legen. Das erste ist eine Tatsache. Nicht die Methode macht den Meister, sondern der Meister macht die Methode. Gerade die bedeutendsten Geister schaffen viel weniger im bewussten Besitz objektiver Methoden, als vermöge angeborener Begabung mit einem sicheren Instinkt und glücklichen Takt ihre Werke, die dann den anderen als Muster dienen und ihnen in eigener praktischer Arbeit zu einer Methode verhelfen. Und das zweite ist eine Mahnung und Warnung. Was für eine Philosophie man wähle, sagt Fichte, hänge davon ab, was für ein Mensch man sei. So steht es auch mit den wissenschaftlichen Arbeitsmethoden. Entscheidend ist, dass man die "wählt", für die man am besten geeignet und vorbereitet ist; nicht jede ist jedem erreichbar, wenigstens von den höheren Methoden, die es nicht mit gelehrter Kleinarbeit, sondern mit produktiver Wissenschaft zu tun haben. Methode sei Erlebnis, erklärt Gundolf*), und vollends zur geisteswissenschaftlichen Methode muss man nach Cysarz geboren sein. Kein Volksreferendum kann über Annahme oder Ablehnung einer wissenschaftlichen Methode entscheiden, und niemand kann sich eine Methode anzüchten, zu der er nicht berufen ist. Denn die rechte Methode ist Persönlichkeitsausdruck, und nicht die Zugehörigkeit zu einer noch so angesehenen Schule verbürgt das Gelingen, sondern einzig die eigene Kraft und Fähigkeit. Nur ja sich nicht vorübergehenden Schuldoktrinen zuliebe ausserhalb der natürlichen Richtung liegende Leistungen abzwingen wollen, aus einer törichten Besorgnis, sonst nicht auf der Höhe der Zeit zu stehen, und nun gar unserer Zeit, die wahrlich keine Höhe darstellt! Das schlimmste sind heutzutage mehr als je die Nachtreter, welche die Methoden der begabten Führer mit unzulänglichen Mitteln nachäffen, überspitzen und damit in Missachtung bringen. Kein Forscher hat die Verpflichtung, ein Bahnbrecher zu sein, aber jeder kann und soll nach Massgabe und mit Aufbietung seiner besten Kräfte selbständig seiner Wissenschaft erspriesslich dienen und damit zugleich des idealen Lohnes teilhaftig werden, den alle redliche Arbeit, namentlich die geistige, als sachliche wie als sittliche Leistung in sich selbst trägt.

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Rektorats Reden © Prof. Schwinges
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