Die
Entwicklung der deutschen
Literaturwissenschaft
Rektoratsrede
gehalten am 13. November 1926,
den 92. Stiftungsfeste der Universität Bern
von
Harry Maync
PAUL HAUPT
Akademische Buchhandlung vorm. Max Drechsel
Bern 1927
HEINRICH FEDERER
dem Ehren-Doctor der Universität Bern
anlässlich seines 60. Geburtstages
in freundschaftlicher Verehrung dargebracht
Vorwort.
Die Rede erscheint hier in der ursprünglichen Fassung ihrer
ersten Niederschrift, nicht in der verkürzten Form, in der sie
gehalten wurde. Mit Rücksicht auf die Studierenden und alle, die
zu den Quellen steigen, sich selbständig mit den Problemen bekannt
machen und auseinandersetzen wollen, habe ich ihr reichlich bibliographische
Nachweise beigegeben.
Hochansehnliche Versammlung,
geehrte Kollegen, liebe Kommilitonen!Professor heisst Bekenner, und es ist nicht bloss üblich,
sondern in sich selbst begründet, dass ein akademischer Lehrer bei
einer Gelegenheit wie dem Antritt des Rektorats sein Glaubensbekenntnis
vorträgt, nicht sowohl als Einzelmensch, der sich der
Wissenschaft gewidmet hat, sondern vielmehr als ordentlicher
öffentlicher Vertreter des ihm anvertrauten Faches. So sei es
denn mir heute gestattet, mit der gebotenen Knappheit einige
grundsätzliche Fragen der Literaturwissenschaft und ihrer Entwicklung,
ihrer Problematik und ihrer Methodik vor Ihnen zu erörtern
und damit Zeugnis und Rechenschaft abzulegen vor denen,
welchen ich mich verantwortlich fühle, vor meinen Kollegen und
Schülern, aber auch vor einem weiteren Kreise solcher, die dieser
Disziplin, ohne ihr wissenschaftlich verbunden zu sein, Anteil entgegenbringen.
Und gerade im Hinblick auf die überwiegende Zahl
von Nichtfachleuten will ich nicht auf Einzelheiten eintreten, sondern
Ihren Blick auf die grossen allgemeinen Zusammenhänge zu
lenken suchen.
So viele Freunde und Gönner die Literaturwissenschaft hat,
nicht geringer ist die Zahl ihrer Widersacher. Vor Jahren habe
ich von ebendieser Stelle aus eine "Rechtfertigung der Literaturwissenschaft"*)
unternommen gegenüber Angriffen und Einwendungen,
die z. T. auf falschen Voraussetzungen, auf laienhaften
Ansichten von ihren Aufgaben beruhen. Gleich allen anderen
Wissenschaften strebt die Literaturwissenschaft nach reinen Erkenntnissen,
die "nicht zur Ergötzung und auch nicht für die
Notdurft des Lebens da sind" (Aristoteles), und zwar nach geschichtlichen
und ästhetischen Erkenntnissen. Es heisst sie mit
der Tageskritik verwechseln, wenn man von ihr die Verfolgung
praktischer Zwecke verlangt. Ihre Ergebnisse werden von Populärschriftstellern
aufgenommen und verbreitet, doch sie selbst dient
weder den Dichtern noch dem Publikum; nicht sie, die Presse
hat die Aufgabe, einen Rilke oder Unruh dem Publikum mundgerecht
zu machen und ihnen Leser zuzuführen. Als historische
Disziplin hat sie es grundsätzlich überhaupt nicht mit lebenden
Dichtern zu tun, sondern nur mit solchen, welche die Schwelle
der Geschichte bereits überschritten haben. Dass der Künstler von
der Geschichte seines Kunstgebiets, der gestaltende Praktiker vom
wissenschaftlichen Theoretiker nicht viel wissen will, ist ganz in
der Ordnung; er sollte nur folgerichtig auch nicht verlangen, dass
die Kunstwissenschaft seinen Schrittmacher und Herold abgebe.
Nicht minder verständnislos und falsch ist die Einstellung
derer, die literarhistorische Vorlesungen besuchen oder literarhistorische
Bücher lesen, um aus ihnen poetische Erbauung zu schöpfen.
Aesthetischen Genuss gewährt die Dichtung, nicht die ihr gewidmete
Wissenschaft als solche; sie tut es nur insofern, als die von
ihr behandelten Gegenstände und Inhalte einen solchen vermitteln,
als die Darstellung und Erläuterung von Dichtwerken deren ästhetische
Werte ins Licht rückt und damit Lustgefühle wach ruft.
Aber das ist nicht Zweck der Literaturwissenschaft, sondern bloss
eine in der Sache selbst liegende angenehme Beigabe; als Wissenschaft
soll sie nur das geistige Lustgefühl auslösen, das die Erkenntnis
gibt. Ein Literaturkolleg, in dem Schönseligkeit und begeisterte
Wohlredenheit herrschen, hat mit Wissenschaft nichts
zu tun, und für einen Salonprofessor ist auf einem Hochschulkatheder
kein Platz. Gerade die Kunstwissenschaftler, die so viel
Zulauf aus Laienkreisen haben und dem oberflächlichen Blick so
wenig vorauszusetzen und zu fordern scheinen, müssen besonders
streng darauf halten, im Gesamtbetrieb der Wissenschaft ihre
Stellung zu wahren, ihre Fächer nicht, mit Belletristik und Journalistik
wetteifernd, zu Liebhaber- und Nebenfächern zu machen
und ihre Hörsäle mit Unzünftigen zu füllen. Sie dürfen nicht
diesen zuliebe nur das behandeln, was der Masse für "interessant"
gilt. Wissenschaftlich ist die zweite schlesische Schule oder die
Anakreontik ebenso interessant wie das Schaffen der Klassiker
und Romantiker. Die Weltgeschichte berichtet auch nicht bloss von
Siegen und Blütezeiten, die Botanik nicht bloss von Rosen und
Orchideen, die Zoologie nicht bloss von Löwen und Paradiesvögeln;
an Algen und Pilzen, Würmern und Tiefseetieren kommt
man den Problemen oft am nächsten.
Natürlich will das nicht besagen, dass die Wissenschaft Bedeutendes
und Unbedeutendes gleich wichtig zu nehmen habe.
Möglichste Vollständigkeit war nur der Ehrgeiz unfruchtbarer
Polyhistorie. Die Literaturwissenschaft will nicht ein Linne'sches
System der Dichtung und nicht einen Bädeker für das Land der
Poesie ausarbeiten. Mit Aufzählung und Statistik, mit Sammlung
und Annalistik ist es nicht getan; das Ganze ist mehr als die
Summe seiner Teile. Die Synthese ist auch für die Literaturwissenschaft
Selbstzweck und verleiht ihr Eigenwert. Indem sie geistige
Entwicklungen und ihre Bedingungen aufzeigt, bietet sie
auch demjenigen Erkenntnisse, der in der behandelten Periode
wenig belesen ist. Kann und soll man doch auch über die Perserkriege
Bescheid wissen, ohne sie mitgemacht zu haben, und über
Amerika, ohne es aus eigener Anschauung zu kennen.
Selbstverständlich bilden die grossen geistigen Strömungen
und die grossen dichterischen Persönlichkeiten den wesentlichen
Stoff der Literaturwissenschaft; nur nebenher geht sie auch auf
die Leihbibliotheksbelletristik ein, mit der sich die Menge ihre
leeren Stunden verkürzt. Echte und hohe Dichtung ist viel mehr
als ein zur Not auch entbehrlicher Schmuck des Lebens; sie stellt,
wie die Religion, die Philosophie und die Wissenschaft, einen
Wert dar, ohne den das Leben nur ein menschenunwürdiges
Vegetieren wäre, ja ohne den es gar nicht gedacht werden kann.
Die Poesie ist nach Hamann die Muttersprache des menschlichen
Geschlechts, und ein Volk, hat man gesagt, das keinen Dichter
mehr hervorbringt, ist tot. Wahre Dichtung ist auch viel mehr als
blosse Nachbildung der Wirklichkeit, als ein Lebensspiegel, Zeitausdruck
und Gefäss der Lebensanschauung, sogar mehr noch als
künstlerisch geformtes und damit auf eine höhere Ebene gehobenes
Leben. Am farbigen Abglanz haben wir das Leben selbst, wesenhaft,
nicht nur als schönen Schein. In diesem Sinne erklärte
Hebbel, das Drama stelle den Lebensprozess an sich dar und das
Tragische sei ein Weltgesetz, aus ihm heraus bezeichnet Gundolf die
Kunst als eine primäre Form des Lebens und einen ursprünglichen
Zustand der Menschheit, sieht Dilthey in der Dichtung ein wichtigstes
Organ des Lebensverständnisses und erkennt ihr eine
schlechthin unentbehrliche Funktion als Lebensdeuterin zu. Der
Dichter schafft aus sich heraus in der Weise des Sehers gefühlsmässig-weltanschauliche
Lebenserkenntnisse symbolischer, nicht
begrifflicher Natur, die wir ohne ihn nicht besässen und ohne die
uns die innere Freiheit dem Leben gegenüber fehlte. Und .gerade
von der deutschen Poesie stellt Ernst Troeltsch*) fest, sie sei "kein
geist- und gemütvoller Luxus und keine klassische Regel, sondern
die Klarwerdung über den ganzen wogenden Lebensgehalt überhaupt."**)
Nach diesen allgemeinen Vorbemerkungen über das Wesen
der Dichtung lassen Sie uns nun an die von ihr handelnde Wissenschaft
herantreten. Und zwar gebrauche ich den Begriff Literaturwissenschaft
nicht wie die jüngere Forschergeneration***), die ihn als
Bezeichnung für eine neue und höher gewertete Betrachtungsweise
gegen die älteren Vertreter der Literaturgeschichte ausspielt, sondern
lediglich als den umfassenderen. Denn die Literatur kann
sowohl historisch wie systematisch betrieben werden, letzteres
insbesondere auf den Gebieten der Poetik, Stilistik und Metrik.
Die Wissenschaft der deutschen Literatur ist gleich der deutschen
Geschichtswissenschaft letztlich ein Kind der Romantik, genährt
von Herderschen Ideen. In der Romantik wurzeln ihre
psychologischen und ethischen Voraussetzungen. Unter dem schweren
Druck der napoleonischen Gegenwart versenkte man sich mehr
und mehr mit andächtig-sehnsüchtiger Liebe in eine schönere,
freiere Vergangenheit und ihre geistigen Erzeugnisse. Man fand
sich zu seinem höheren nationalen Selbst zurück, tröstete sich daran
und stärkte sich für eine bessere Zukunft. Aus dieser Selbstbesinnung
auf deutsche Art und Kunst, wie sie in der romantischen
Dichtung zum Ausdruck kam, erwuchs auch die wissenschaftliche
Behandlung der Literatur. Dichter und Forscher vereinigten sich
nicht selten sogar in derselben Persönlichkeit; es seien nur Wilhelm
Schlegel, Uhland und Eichendorff genannt. Durchaus dem Geiste
der Romantik entstammen die Brüder Grimm, die Väter und Meister
strenger germanistischer Wissenschaft. Es war eine Selbstverständlichkeit,
dass die junge germanische Philologie, ebenso wie
ihre gleichalterige romanische Schwester, die Methoden der klassischen
Philologie übernahm, die seit dem Altertum von grossen
Gelehrten aller Nationen aus- und durchgebildet worden waren.
Dazu stand sie unter dem entschiedenen Einfluss der deutschen
historischen Schule, zumal Savignys, mit dem Jacob Grimm persönlich
und wissenschaftlich verbunden war.
Die so gewonnene philologisch-historische Methode der deutschen
Literaturwissenschaft ist durch mehrere Geschlechterfolgen
die vorherrschende, ja fast alleinherrschende geblieben. Und es
konnte und durfte gar nicht anders sein, da es galt, zunächst
einmal die Fundamente zu legen und die weiteren Bausteine zum
grossen Werk zusammenzutragen und zu bearbeiten.*) Gelehrte
wie Karl Lachmann waren in erster Linie Diener am Wort. Die
Texte zu sammeln und in ihrer vorn Dichter gewollten Reinheit
herzustellen, war die dringendste und vornehmste Aufgabe, Empirie
und Kritik die Forderung des Tages. Der Quellenforschung,
der Stoffgeschichte wurde dieselbe exakte Untersuchung zu Teil
wie den biographischen Zeugnissen und der Entstehungsgeschichte
der dichterischen Werke, deren Form und Technik sauber zergliedernde
Analysen erfuhren. Die Stilmittel der Dichter wurden
erforscht, Einflüsse vom einen zum anderen beobachtet, Dichterschulen
festgestellt und die einzelnen Erscheinungen in geschichtliche
Kausalzusammenhänge gebracht. Diese philologisch-historische
Schule hat keineswegs nur Vorarbeit geliefert, die alles nachmalige
weiter ausgreifende Schaffen überhaupt erst ermöglichte, sie hat
durch ihre Häupter Wilhelm Scherer, Richard Heinze!, Erich
Schmidt, Jacob Minor u. a. auch sollst grosse zusammenfassende
Werke von bleibender Bedeutung hervorgebracht. Die meisten ihrer
Mitglieder gelangten allerdings nicht zu der Weite und Höhe der
Auffassung, die Erich Schmidts programmatische Wiener Antrittsvorlesung
des Jahres 1880 forderte: "Literaturgeschichte soll ein
Stück Entwicklungsgeschichte des geistigen Lebens eines Volkes
mit vergleichenden Ausblicken auf die andern Nationalliteraturen
sein. Sie erkennt das Sein aus dem Werden".*) Sie blieben in der
Materialsammlung stecken und versandeten in Mikrologie. Scherer
schalt das Küstenschiffahrt treiben, und Erich Schmidt rügte in
der genannten Rede scharf die Gelehrten, welche "Kunstwerke
wie Kadaver seziert, Dichter wie Schuldenmacher misshandelt und
die 'philologisch-historische Methode' zum Mantel ihrer Schwung-
und Gedankenlosigkeit gemacht haben"**); er hat auch in seiner
Ur-Faust-Ausgabe ***) die "Parallelenseuche" kräftig gebrandmarkt
und an anderer Stelle****) davor gewarnt, sich "vom philologisch-historischen
Hochmutsteufel reiten" zu lassen. Sie sehen, die namhaftesten
Führer waren sich vollkommen klar darüber, dass die
Wort-Philologie in der Literaturwissenschaft zwar immer an erster
Stelle zu sprechen habe, aber nicht auch das Letzte zu sagen
vermöge. Nun aber drohte man im massenhaft aufgehäuften Stoff,
der grossenteils Rohstoff geblieben war, zu ersticken, war über die
Beschreibung der äusseren Erscheinungen und ihrer äusseren Aufeinanderfolge
vielfach nicht hinausgekommen, hatte die Teile in
der Hand und ermangelte des geistigen Bandes. Es wurde mehr
Dichtergeschichte als Dichtungsgeschichte geschrieben, mehr Form-als
Gehaltsästhetik geübt; das poetische Kunstwerk, das Allerwichtigste
also, wurde ungebührlich vernachlässigt. Die historischen
Darstellungen buchten oft nur Tatsächlichkeiten und verstanden
es nicht, die treibenden geschichtlichen Kräfte zu erfassen, die
tragenden Ideen zu erkennen. Die Methode war der Mechanisierung
verfallen und erging sich im Leerlauf; sie hatte ihre geschichtliche
Sendung erfüllt und musste zurücktreten hinter anderen.
Es gibt keine Wissenschaft, die mit einer einzelnen und einzigen,
alleinseligmachenden Methode dauernd ihr Leben fristen
könnte, mit einer Methode, die a priori vorhanden wäre und für
alle Zeiten bestände und ausreichte. Dass echte Wissenschaft
ewig nur werden, nie vollendet sein könne, hat Friedrich Schlegel
einmal nachdrücklich betont. Mit den Zielen aber verändern sich
notwendig auch die Wege, die zu ihnen hinführen, mit den wissenschaftlichen
Problemen wandeln sich auch die Möglichkeiten
und die technischen Hilfsmittel, an sie heranzukommen und sie im
glücklichen Falle zu lösen. Jede Wissenschaft, die allzulange unbedenklich
mit einer einzigen übernommenen Methode arbeitet,
gerät in Gefahr, die der jeweiligen Gegenwart gestellten besonderen
Aufgaben zu übersehen, in Erstarrung und Schematismus zu verfallen
und damit das eigentlich Schöpferische einzubüssen, mit
dem wahre — d. h. lebendige und nicht tote — Wissenschaft
steht und fällt. Es ist daher immer ein gutes Zeichen für ein Fach,
wenn in ihm ein Methodenstreit entbrennt; er beweist, dass es
von Stauung und Versumpfung weit entfernt, vielmehr bemüht ist,
für in Aussicht stehende neue Aufgaben das Werkzeug zu vervollkommnen
und zu schärfen. Auch in der Wissenschaft gilt das
Wort des griechischen Weisen, dass der Kampf der Vater aller
Dinge sei.*)
Methoden können blosse Modeströmungen darstellen, aber im
Allgemeinen sind sie viel tiefer begründet, sind Erzeugnis des
Geistes ihrer Zeit und der Ausdruck von deren Lebensgefühl, Weltbild
und Weltanschauung. Zeitabschnitte der Empirie und der Spekulation,
des Rationalismus und des Irrationalismus, des Materialismus
und des Idealismus lösen einander ab und spiegeln sich deutlich
wider auf allen Lebensgebieten, in Religion, Kunst und Wissenschaft.
Die Poesie weist in ihrer Entwicklung einen Wandel und
Wechsel von innerer Bedingtheit und einer gewissen geschichtlichen
Zwangsläufigkeit auf, und ihm entspricht meist auch eine Literaturbetrachtung
und Literaturgeschichtsschreibung von klassischer,
romantischer, realistischer, impressionistischer oder expressionistischer
Haltung und Farbe. Als Hegels spekulative Aesthetik abgewirtschaftet
hatte, traten — nach Friedrich Theodor Vischers
derber Unterscheidung der Faust-Erklärer — an die Stelle der
Sinnhuber die Stoffhuber; heute, da wir uns in einer Hegel-Renaissance
befinden, ist das Gegenteil der Fall.
Auch die philologisch-historische Methode war geistesgeschichtlich
ein Kind ihrer Zeit, des Historismus und Relativismus,
des verstandesmässig-nüchternen Realismus und Positivismus.
der Empirie und Technik, des Darwinismus und der Soziologie.
Der immer stärker werdende Widerspruch gegen den Geist dieses
unphilosophischen Zeitalters, der um die Jahrhundertwende zu einem
völligen Umschwung führte, traf auch die wissenschaftlichen Methoden,
die naturwissenschaftlichen und die geisteswissenschaftlichen,
die literaturwissenschaftlichen so gut wie die kunstwissenschaftlichen.*)
Die Geisteswissenschaften entzogen sich der Vormundschaft
der Naturwissenschaften, und diese vertieften sich
ihrerseits durch eine mehr geistige Einstellung ihren Problemen
gegenüber. Nach einer Ueberschätzung des Realen wandte man
sich wieder der Idee zu. In der Kunst wurde der Naturalismus
und Impressionismus durch eine symbolistische Neuromantik abgelöst,
in der Philosophie der positivistische Materialismus durch das,
was von ihm am tiefsten verachtet und am heftigsten befehdet
worden war, eine neue Metaphysik.
Es ist sehr verständlich, dass in dem gegen die philologische
Methode in der Literaturwissenschaft einsetzenden Kampfe die
Philosophie in der vordersten Reihe stand. Eine philosophische
Literaturbehandlung von hohem Rang und auch bei der Scherer-Schule
sehr angesehen hatte sich indessen bereits vor und neben
dieser und z. T. von ihr mitbeeinflusst entwickelt. Ich nenne die
Namen Hermann Hettner, Rudolf Haym, Wilhelm Dilthey. Vor
allem Dilthey hat einer tiefergrabenden und weiterblickenden Literaturforschung
die reichsten und fruchtbarsten Anregungen gegeben,
auf ihn geht die ganze heutige geisteswissenschaftliche Richtung
zurück, obschon sie gelegentlich von ihm abrückt, ihn jedenfalls
beträchtlich überholt zu haben glaubt.
Dilthey war viel mehr als ein Fachphilosoph, er war auch
Historiker, Kulturhistoriker, Literarhistoriker, seine Philosophie eine
Kulturphilosophie des gesamten menschlichen Geisteslebens in seiner
Entwicklung. Mit einer seltenen Einfühlungsgabe erfasste er die
Struktur von Einzelwesen und von ganzen Zeitaltern. Er hatte
für das Individuelle und für das Ueberindividuelle, für das Sein
und das Werden ein gleich feines Verständnis und legte seine
Erkenntnisse in begrifflicher Systematik nieder.*) Als Literarhistoriker
erhob er sich von der analysierenden Beschreibung zur geistigen
Deutung, von der Betrachtung der äusseren Abfolge der
Erscheinungen zur Einsicht in ihren inneren Rhythmus und über
die geschichtlichen Begebenheiten zu den grossen Zusammenhängen
und zur Bestimmung verschiedener Erlebnisformen und Persönlichkeitstypen.
Erlebnis und Begriff in steter Wechselwirkung tätig
zu erhalten, ist das Wesen seiner und der geisteswissenschaftlichen
Methode überhaupt, die Georg Simmel, Rudolf Unger, Herbert
Cysarz, um nur die bedeutendsten und einflussreichsten Vertreter
zu nennen, weiter ausgebildet haben, auch von Nietzsche und zeitgenössischen
Philosophen wie Rickert, Bergson,. Husserl, Scheler
und neuerdings von Spengler mitbestimmt.
Unger gehört zu den Mitbegründern der 1923 hervorgetretenen
ausgezeichneten "Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft
und Geistesgeschichte", Cysarz hat in seinem kürzlich erschienenen
Buche "Literaturgeschichte als Geisteswissenschaft"
zuerst eine umfassende Systematik der neuen Bestrebungen zu
geben versucht, die nur leider ebenso wortschwelgerisch und unklar
wie gedanken- und geistreich ausgefallen ist. Unger, der tiefgründigste
und reifste unter den gegenwärtigen Vertretern der
Ideengeschichte und Gehaltsästhetik, hat sich insbesondere der
Problemgeschichte gewidmet. Ihm ist Geistesgeschichte eine spezifische
Betrachtungsweise geistiger Dinge, die das einzelne Geistesgebiet
als Auswirkung des Gesamtgeistes der jeweiligen Kultureinheit
fasst, und er stellt der geisteswissenschaftlichen Literaturforschung
die Aufgabe, den Sinngehalt der dichterischen Werke herauszuarbeiten,
im Hinblick auf die jeweilige Bewusstseinsstufe des Gesamtgeistes
und auf deren Spiegelung in Religion und Philosophie.*)
Als einer der ersten schritt Oskar Walzel, der aus der philologisch-historischen
Schule hervorgegangen ist, in den Bahnen
Diltheys fort und gab der ideengeschichtlichen Literaturwissenschaft
wertvolle Forschungen und Anstösse. Auch ihm sind Unger
und die Jüngeren verpflichtet. Sein gewichtigstes Buch nennt sich
"Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters"(Berlin-Neubabelsberg
1925); es ist bestrebt, diesen beiden Dichtungswerten gerecht
zu werden, legt aber doch den Nachdruck auf die Aesthetik der,
Form und ihre Probleme; "Das Wortkunstwerk" (Leipzig 1926)
betitelt der rastlose Gelehrte sein jüngstes Buch. Dabei hat er
sich im Sinne der Schererschen "wechselseitigen Erhellung" von
der Kunstwissenschaft leiten lassen, von Heinrich Wölfflin und
dem ebenfalls an diesen anknüpfenden Wilhelm Worringer. Wölfflins
Meisterbuch "Kunstgeschichtliche Grundbegriffe" (München
1915) hat fünf Begriffspaare aufgestellt, die grundsätzliche polare
Verschiedenheiten im Wollen und Gestalten der bildenden Kunst
bezeichnen, und durch deren Anwendung auf einzelne typische
Künstlerpersönlichkeiten und Kunstepochen höchst aufschlussreiche
Erkenntnisse stilgeschichtlicher Art gewonnen. Walzel und ebenso
Fritz Strich**) arbeiten daran, in enger Anlehnung an Wölfflins
Betrachtungsweise auch für die Poesie solche Stilkategorien zu
finden und für die Literaturwissenschaft nutzbar zu machen.
Auf dem Grazer Philologentag von 1909 hielt Walzel einen
wissenschaftsgeschichtlich wichtigen Vortrag über "Analytische und
synthetische Literaturforschung"*), in dem er die Forderungen der
jüngsten Entwicklung zusammenfasste. Der Drang und Wille zur
Synthese kommt, wie in den ideen-, problem- und stilgeschichtlichen
Methoden, so auch in der ethnologischen und in der soziologischen
Methode zum Ausdruck, deren sich die Gegenwart bedient. Die
erstere wird hauptsächlich von Josef Nadler und seiner durch
Geist und Kühnheit imponierenden "Literaturgeschichte der deutschen
Stämme und Landschaften"**) repräsentiert. Auch Nadler,
Kulturhistoriker im weitesten Ausmass, ist geistesgeschichtlich und
geschichtsphilosophisch eingestellt, auch er knüpft an Hegel an und
lässt metaphysische Neigungen erkennen, auch er ist Typolog.
Aber er leitet das Geistige biologisch ab und die Entwicklung in
der Zeit aus den Bedingungen des Raumes. Er rückt damit bisher
zweifellos zu wenig beachtete Probleme in den Vordergrund und
hat auf seiner Neulandsuche denn auch bemerkenswerte Entdeckungen
gemacht. Seine ethnologisch-genealogische Auffassung erklärt
aus Erde und Blut, aus der Heimat- und Stammeseigentümlichkeit
einerseits, aus Rasse und Blutmischung anderseits die charakteristischsten
Besonderheiten aller geistigen Betätigung. Die Landschaft
ist ihm der Nährboden, die Stammesindividualität die
bestimmende Triebkraft auch der Poesie: das Volk, das stammhaft
geschlossene Volkstum in seiner organischen Entwicklung und
dynamischen Auswirkung, ist sein eigener Dichter, und nur als
höchste Spitzen und Symbole sind die grossen Einzelnen anzusehen.
Sie ordnen sich bei Nadler der Geschichte der Massen ein und
unter; er verweilt gerade bei dem geistigen Werdegang des breiten
Volkstums und in den Niederungen der Literatur, weil er hier
ihren Ursprüngen, Grundlagen und Wesensformen besonders nahe
zu kommen glaubt.
Ebenfalls kollektivistisch, nicht individualistisch, ist die Betrachtungsweise
der sozialliterarischen Methode, wie sie namentlich
Paul Merker**) (in der Anglistik Ludwig Schücking)**) verficht. Weit
mehr als die naturwissenschaftlich-materialistischen Denker Taine
und Karl Marx haben hier die Geistesgeschichtler Max Weber und
Ernst Troeltsch die Wegweiser abgegeben. Auch diese Methode
fasst die Literatur als Erzeugnis und Ausdruck der Gesamtanschauung
und des Gesamtwillens des Volkes in seinen verschiedenen
Ständen und Gesellschaftsschichten während der verschiedenen
Abschnitte seiner Entwicklung und sucht darzutun, in wie hohem
Masse auch die Kunstschöpfungen der überragenden Geister auf
den räumlichen und zeitlichen Verhältnissen ihrer Umwelt beruhen.
Sie erblickt im Allgemein-Zeitgeschichtlichen die primäre, in dem
durch sie bedingten und an sie gebundenen Individuum die sekundäre
Erscheinung. Auch der grosse Eigenmensch ist ein Kind seiner
Zeit und ihres Geistes, steht unter dem fortwirkenden Einfluss der
sie bestimmenden überindividuellen Grundströmungen, ihrer religiösen,
philosophischen, wirtschaftlichen und politischen Anschauungen,
ihres besonderen Lebensgefühls und Stilempfindens. Wenngleich
oft unbewusst, trägt der Dichter seinem Publikum Rechnung,
berücksichtigt dessen Bildungsstand und Bildungsrichtung, dessen
Aufnahmewilligkeit und Aufnahmefähigkeit und ist damit abhängig
von dem jeweiligen Geschmack, von herrschenden ästhetischen
Theorien und von Modeforderungen aller Art. Seine Leistung passt
sich also absichtlich oder unwillkürlich auch der Nachfrage sowie
den Gegebenheiten des Theaters, des Buchhandels, der Kritik
an. Auch diese nicht kulturstatistisch, sondern kulturpsychologisch
gemeinte sozialliterarische Methode strebt nach Synthese, nach
typologisch-geistesgeschichtlichen, zumal stilgeschichtlichen Erkenntnissen,
denen man bisher gleichfalls zu wenig nachgegangen ist.
Dass sie besondere Aufschlüsse zu geben vermag, hat Herbert
Schöfflers Buch "Protestantismus und Literatur" (Leipzig 1922)
bewiesen.
Der Anti-Individualismus und Anti-Biographismus, für den die
jüngere Schule sich so leidenschaftlich einsetzt, wird nicht geteilt
von Friedrich Gundolf, dessen Werke die glänzendsten und einflussreichsten
unseres Faches sind und auch in weite nichtwissenschaftliche
Kreise Eingang gefunden haben. Seine Bücher über Goethe,
Kleist, Stefan George behandeln grosse Einzelne, jedoch im ideengeschichtlichen
Sinne wie schon sein älteres Buch "Shakespeare
und der deutsche Geist" (Berlin 1911). In diesem bezeichnet es
Gundolf als seine "nach Absicht und Methode neue Aufgabe",,
eine Geschichte lebendiger Wirkungen und Gegenwirkungen zu
geben statt einer Chronik literarischer Fakten oder einer Psychologie
von Autoren. Das gleiche Ziel setzen sich seine "Biographien",
die nicht ein äusseres Leben und Wirken nacherzählen, sondern
Heroen der Kunst intuitiv erfassen und deuten. Das geschieht
in einer den grossen Menschen vergottenden Auffassungsweise
und in einer monumentalen und monumentalisierenden Formgebung,
für die der Dichter George vorbildlich ist. Die George-Schüler,
Gundolf sowohl wie Ernst Bertram, sind selbst Künstler und machen
sich anheischig, im Geiste Platos und Goethes auch die Wissenschaft
als Kunst zu betreiben; sie sind nicht sowohl Kunstwissenschaftler
als Wissenschaftskünstler. Wohl kennt und nutzt Gundolf die
von der Literaturforschung im Laufe der Zeiten beigebrachten
Ergebnisse, dazu ist er, besonders von Dilthey, Simmel und Bergson
angeregt, Philosoph und Historiker, aber das Ursprüngliche und
Ausschlaggebende bei ihm ist die seherische Schau einer dichterischen
Natur, die im Grunde immer nur sich selbst gibt und von
Exaktheit und Objektivität nichts wissen will. Er stellt die Dinge
dar, wie er sie in eigenem Seelenerlebnis sieht, synthetisch zusammensieht,
und verschmäht es, seine Anschauung durch sachliche
Zeugnisse und stützende Belege zu begründen; er verlangt den
Glauben an sich, der keiner Beweise bedarf. Das Absolute, Gesetzliche,
Ewige, Symbolische, nicht das Einmalige und zeitlich Bedingte
stellt Gundolf an "seinem" Goethe heraus und hat uns so ein
Werk geschenkt, das an Tiefe und Reichtum des Geistes in der
gesamten, fast unübersehbar grossen Goethe-Literatur nicht seines
gleichen hat. Es könnte denselben Untertitel tragen wie des geistesverwandten
Bertram "Nietzsche": Versuch einer Mythologie.
Wie Bertram steht auch Gundolf auf dem Standpunkt, dass alles
Gewesene nur ein Gleichnis sei, dass keine historische Methode
uns, wie ein naiver Realismus des 19. Jahrhunderts so oft zu
glauben scheine, zum Anblick leibhaftiger Wirklichkeit, "wie sie
eigentlich gewesen", verhelfe; Geschichte sei niemals gleichbedeutend
mit Rekonstruktion irgend eines Gewesenen, sondern vielmehr
gerade die Entwirklichung dieser ehemaligen Wirklichkeit; was
als Geschichte übrig bleibe von allem Geschehen, sei immer zuletzt
die Legende, der Mythos, die von keiner rationalen Erkenntnis,
von keiner Philologie und keiner analytischen Methode erfasst
werden könnten.*) Gundolfs "Goethe" ist weniger eine Fach- als
eine Persönlichkeitsleistung, ist wie der Simmelsche "Goethe" in
erheblichem Masse auch eine Konfession des Deutenden".
Noch andere neuere Methoden kann ich in diesem raschen
Abriss**) nur eben streifen. Schon vor der Jahrhundertwende trat
Ernst Elster mit seinen "Prinzipien der Literaturwissenschaft"
(Halle 1897 ff.) hervor, die auch heute noch nicht abgeschlossen
sind; der Verfasser stellt vielmehr eine Neubearbeitung des grundlegenden
1. Bandes in Aussicht. Elster wollte den philologisch-historischen
Betrieb durch die Verwertung der Wundtschen Psychologie
vertiefen und geht vornehmlich auf psychologisch-ästhetische
Stilanalyse aus. Vergeblich unternahm es um dieselbe Zeit
die vergleichende Literaturgeschichte, die doch nur eine einzelne
Betrachtungsweise ist, sich als selbständige literaturwissenschaftliche
Disziplin aufzuspielen.***) Nur erwähnt sei ferner die von
Eduard Sievers unablässig ausgebaute Schallanalyse —ebenfalls eine
Typenlehre — und die von Sigmund Freud begründete Psychoanalyse,
die sich neuerdings vom Materialistisch-Triebhaften mehr
ins Geistig-Seelische erhebt; beide vermögen uns zu helfen, individuelle
Kunstleistungen tiefer zu erfassen und richtiger zu verstehen.
Fritz Brüggemann fordert soeben eine "psychogenetische Literaturwissenschaft"*),
die sich auf die Lamprechtsche Kulturgeschichtsbehandlung
stützt.
Die besprochenen Hauptrichtungen lassen erkennen, dass unser
Fach seinen jüngeren Vertretern ungemein fruchtbare Ideen und hervorragende
Leistungen zu danken hat. Die neuen Problemstellungen
und Methoden von vornherein zu verwerfen und abzulehnen, ist
ebenso kurzsichtig wie aussichtslos, und diejenigen Abkömmlinge
der älteren Schule, die sich so verhalten, verlieren unbedingt den
Zusammenhang mit der fortschreitenden Wissenschaft und werden
rückständig. Ein Goethescher Sinnspruch lautet: "Jeder, der eine
Zeitlang auf dem redlichen Forschen verharrt, muss seine Methode
irgendeinmal umändern."**) Bei mir, der ich, ein Schüler Erich
Schmidts, während meines Studiums auch ein dankbarer Hörer
von Dilthey, Wundt, Simmel, Lamprecht, Wölfflin war und die
weitere Entwicklung meiner Wissenschaft mitgemacht habe, hat
sich das von selbst ergeben. Ohne den Urgrund der Philologie und
Geschichte je zu verlassen, bin ich mit den Jüngeren mannigfach
auf halbem Wege zusammengetroffen. Ich bringe ihnen hohe Achtung
und in vielem lebhafte Zustimmung entgegen, halte es aber
für meine Pflicht, nach meiner anerkennenden Darlegung ihrer
Wege und Ziele auch mit meinen grundsätzlichen Einwendungen
nicht zurückzuhalten. ***)
Dass die jungen Neuerer zunächst ein Kesseltreiben gegen die
Philologie anstellten und kaum ein gutes Haar an ihr liessen, ist
nicht tragisch zu nehmen. "Die Generationen, die einander folgen",
lesen wir in Romain Rollands "Jean Christoph", "empfinden immer
lebhafter das, was sie trennt, als das, was sie eint; sie fühlen das
Bedürfnis, die Wichtigkeit ihres Daseins zu betonen, sei es auch
um den Preis einer Ungerechtigkeit oder einer Lüge gegen sich
selbst." Manch ein Baccalaureus "von den Neu'sten" hat sich
auch in diesem Falle "grenzenlos erdreustet" und alle mehr als
Dreissigjährigen für überlebt, für tot erklärt. Der Ueberschwang
solcher Stürmer und Dränger wird sich schon von selbst klären,
und die besten und echtesten Vertreter des Neuen haben ihn, wie
gern anerkannt sei, niemals mitgemacht.
Genauer besehen sind übrigens die Jüngeren und ihre Forderungen
keineswegs so neu und unerhört, wie sie wohl zu sein
glauben. Sie stehen doch schliesslich alle auf den Schultern ihrer
Vorgänger und sind ohne deren gediegene Vorarbeit gar nicht
zu denken.
Die Losung "Synthese" ist, wie Walzel, der sie ausgab, selbst
später erklärt hat*), ein "missverständliches Wort", ein blosses
Schlagwort. Analyse und Synthese sind nicht Gegensätze, sondern
ergänzen sich notwendig. Das Ziel jeder Analyse ist die Synthese**),
und es gibt keine wahre Synthese, der nicht eine Analyse (wenn
auch eine ungeschriebene) voraufgegangen wäre. Eine Analyse ohne
Synthese ist ein Haus, dem der krönende Giebel seht, eine Synthese
ohne Analyse eines, das auf Sand gebaut ist. Die Aelteren haben
niemals die Synthese verworfen***), noch sind sie in ihren besten
Leistungen sie schuldig geblieben. Synthesen grossen Stils sind
die Literaturgeschichte von Koberstein, Gervinus, Hettner, Scherer,
die Werke eines Haym und Burdach, und sie sind auch schon
geisteswissenschaftlich gerichtet. Wie keine schöpferische Leistung
ohne Mithilfe der Intuition zustande kommt, so auch keine wissenschaftliche;
und intuitiv-synthetische Persönlichkeiten waren sowohl
Jacob Grimm wie sein Neffe Herman Grimm. Der letztere
und Kuno Fischer haben sogar mit der Art Gundolfs manches
gemein und können in gewissem Sinne als dessen Vorläufer betrachtet
werden. Sozialliterarische Gesichtspunkte waren bereits
von den Positivisten aufgestellt und finden sich z. B. in Scherers
"Poetik" so gut wie schon bei Hettner. Die ethnologische Methode
wird von Nadler selbst auf seinen kürzlich verstorbenen Lehrer,
den Scherer-Schüler August Sauer zurückgeführt, und wir danken
einem anderen Scherer-Schüler, Jacob Minor, wertvolle ideengeschichtliche
Untersuchungen. Die jüngere Richtung verfolgt diese
Bahnen jedoch viel zielbewusster und tatkräftiger. Sie ergreift die
Probleme mit grösserer Erlebniskraft und Einfühlungsfähigkeit, ja
im einzelnen Fall mit fast religiöser Innerlichkeit. Ueberall ringt
sie darum, statt verstandesmässig die Phänomene zu beschreiben,,
die in der Geschichte lebendigen Kräfte selbst zu erfassen und zu
deuten. Noch aber steckt sie tief in theoretisch-methodologischen
Auseinandersetzungen, und manchem ihrer Anhänger möchte man
zurufen: "Der Worte sind genug gewechselt, lasst mich auch endlich
Taten sehn!"
Eine Würdigung und Kritik der neuen Gesamtrichtung wird
dadurch erschwert, dass diese in sich selbst nicht einstimmig ist,
ja sich in ihren einzelnen Gliedern bekämpft; nach den Jüngeren
sind schon wieder Jüngste aufgestanden, die jene bereits hinter
sich gelassen zu haben meinen.
Es zeugt von innerer Unsicherheit, dass die neue Schule sich
so eng an andere Wissenschaften anlehnt und sich deren Methoden
zu eigen macht. Sie ist damit demselben Fehler verfallen, den
sie der von ihr bekämpften älteren Generation im Hinblick auf
deren Abhängigkeit von der Naturwissenschaft vorgeworfen hat
Philosophie, Psychologie, Kulturgeschichte, Soziologie, Kunstgeschichte
sind Nachbarwissenschaften, mit denen der Literarhistoriker
vertraut sein soll, aber sie müssen ihm immer Hilfswissenschaften
bleiben. Er darf ihre Methoden nicht einfach auf sein Fach übertragen
oder gar mit blossen Analogien*) arbeiten, anstatt seine
Wissenschaft aus ihrem eigenen Wesen, aus ihren besonderen
Bedingungen und nach den ihr immanenten Gesetzen aufzubauen.
Fachphilosophen, die sich mit der schönen Literatur befassen, begegnet
es, dass sie deren Hauptwerte, die künstlerischen, mehr
und mehr übersehen, zu ausschliesslich auf den gedanklichen
und Weltanschauungsgehalt abstellen**) und dabei, wie einst die
Aesthetiker der Hegelschen Schule, in die Dichtung ihr fremde
Probleme hineintragen, mehr unter- als auslegend. Und unsere
Ideenhistoriker haben sich davor zu hüten, im Grunde Philosophie-
und Weltanschauungsgeschichte zu schreiben und die poetischen
Werke dabei nur als Mittel und Belege zu verwenden. Die Literaturgeschichte
darf niemals Literaturphilosophie werden und des
Guten, das man früher zu wenig tat, nun zu viel tun. Simmels
Buch, das "die zeitlose Idee Goethe", das "Urphänomen Goethe"
herausgearbeitet hat, ist eine hervorragende und sehr fördernde
Leistung, aber auch eine einseitige, denn gerade die Persönlichkeit
des Künstlers Goethe kommt dabei stark zu kurz. Mit Recht warnt
Unger*) vor Irrwegen und Ueberspannungen in dieser Hinsicht,
vor einer Intellektualisierung der Dichtung, vor einer Verkennung
ihres Wesens als Kunst, vor einer Vernachlässigung der Gestaltungsprobleme.
Eine solche Intellektualisierung verführt nur allzu
leicht zu Konstruktion und Schema, zu These und Formel, die der
Fülle des Seins Gewalt antun. Wer alles auf einen Generalnenner
zu bringen sucht, neigt dazu, auch Wesentliches, das diesem Bestreben
im Wege steht, über Bord zu werfen und damit die Dinge
zu fälschen; sie sollen und müssen glatt ineinander aufgehen, als
handelte es sich bei Problemen der Kunst um die Lösung von
Rechenexempeln, als könnten diese Probleme überhaupt restlos
gelöst werden. Gundolf wie Korff*) lassen mit Vorliebe die geistigen
Erscheinungen sich in einem triadischen Rhythmus von verblüffender
Regelmässigkeit abspielen, der nicht zufällig stark an
Hegel gemahnt. Am schlimmsten steht es natürlich dann, wenn
Literarhistoriker, die zur Philosophie kein inneres Verhältnis haben,
sich nach ihr als einer neuen Mode orientieren; im Hinblick auf
sie haben Philosophen von Fach bereits erklärt. dass sie einer
solchen philosophischen Literaturwissenschaft eine unphilosophische
entschieden vorziehen.
So heilsam die Hinwendung unseres Faches zur Philosophie
war, so begründet war auch seine Abwendung von dem Irrwege
des Historismus. Aber es heisst das Kind mit dem Bade ausschütten
und nach der Gegenseite überspannen, wenn man nun der Historie
an sich absagt, die Möglichkeit geschichtlicher Reproduktion überhaupt
verneint und zu Legende und Mythos schwört. Wer Goethe
aus den geschichtlichen Zusammenhängen herauszulösen unternimmt,
wird ihn niemals richtig erfassen, und wer übergeschichtlich
zu urteilen vermeint, urteilt sehr leicht ungeschichtlich. In
Wahrheit sind die überzeitlich gedachten Methoden viel mehr zeitgebunden
als die objektiv-historischen, weil sie nicht von den
geschichtlichen Gegebenheiten ausgehen, sondern von der subjektiven
Weltanschauung, welche durch die Gegenwart bedingt ist
und sie kennzeichnet. Und was die Vertreter dieser Methoden uns
bieten, ist denn auch nur zu oft "der Herren eigner Geist, in dem
die Zeiten sich bespiegeln", ist Geschichtskonstruktion und metaphysisch
geartete Geschichtsphilosophie. Wir haben es aber nun
einmal in erster Linie mit historischen Abfolgen von Persönlichkeitsschöpfungen
und geformten Kunstgebilden zu tun, nicht mit
gestaltlosen Inhalten und abstrakten Problemen, und darum muss
unser Fach immer sowohl Kunstwissenschaft wie Geschichtswissenschaft
bleiben. Und gerade weil der Gegenwart der geschichtliche
Sinn in so bedenklichem Mass abhanden gekommen ist, haben wir
die Pflicht, an seiner Wiederbelebung mit aller Kraft zu arbeiten.
Auch die Verwerfung der individualistischen Betrachtungsweise
zu Gunsten der kollektivistischen ist ein Zeichen unserer Zeit,
und auch hier droht Gefahr durch einseitige Uebertreibung. Die
Literaturgeschichte ohne Namen, die man entsprechend der von
Wölflin einmal geforderten Kunstgeschichte ohne Namen theoretisch
ersehnt, ist allerdings noch immer eine ideale Forderung
geblieben und wird es bleiben. Viëtors im Erscheinen begriffene
"Geschichte der deutschen Literatur nach Gattungen" stellt einen
Versuch ihrer Verwirklichung dar; das Werk ist sehr willkommen
und nützlich, macht aber die monographische Behandlung der
bedeutenden Einzelnen nicht entbehrlich.*) Merkers und Stammlers
"Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte" erhebt gleichfalls
den sach- und formgeschichtlichen Gesichtspunkt zum herrschenden
Grundsatz und geht biographischen Artikeln ängstlich aus
dem Wege; wir begrüssen auch in ihm eine dankenswerte Leistung,
begrüssen jedoch nicht minder, und zwar als ein Zeugnis kritischer
Selbstbesinnung, die Ankündigung der Herausgeber, ein
Personallexikon folgen zu lassen.
Auf alle Fälle schiesst der heutige Antibiographismus weit über
das Ziel hinaus. Niemand wird geschichtsklitternden Biographien
gleich den Düntzerschen nachtrauern, die, äussere Daten häufend,
blosse Dichterlebensläufe geben ohne geistige Durchdringung des
Stoffes; aber das Wort Goethes, auf das sich Bielschowsky im
Vorwort seiner Goethe-Biographie beruft, behält seinen guten Sinn:
"Alle pragmatische biographische Charakteristik muss sich vor dem
naiven Detail eines bedeutenden Lebens verkriechen". Biographie
und Biographie ist doch nicht dasselbe. Jede rechte Biographie
ist auch eine geistesgeschichtliche Synthese, ist vor allem Seelenbiographie,
selbst wenn sie die realen Tatsächlichkeiten dieses
Lebens nicht vornehm bei Seite wirft. Goethes "Dichtung und
Wahrheit", Justis "Winckelmann", Diltheys "Schleiermacher", Hayms
"Herder", Kosers "Friedrich der Grosse" sind Biographien, aber
zugleich grosse zeit- und geistesgeschichtliche Darstellungen. Ob
man im Hinblick auf die führende Persönlichkeit deren ganzes
Zeitalter abschildert oder, von diesem ausgehend, jene in den ihr
gebührenden Mittelpunkt rückt, ist in den meisten Fällen eine
Sache der schriftstellerischen Begabung und Formgebung. Eine
wahre Biographie Cäsars oder Napoleons kann gar nichts anderes
sein als ein Stück Weltgeschichte. Heutzutage droht der lebensvollen
Schöpfergestalt die Verflüchtigung in eine Ideenformel. Die
Biographie ist durch die Mythographie und ihren Subjektivismus
nicht zu ersetzen, ein so sinnvoller Kern in der Legendenthese steckt.
Solcher Subjektivismus bildet auch die Klippe der intuitiven
Wissenschaftskünstler. Der Intuition des einen kann der andere
eine andere entgegenstellen, die ebenso unbeweisbar ist. Alle diese
Schriftsteller sind vornehmlich Künstler und die Wissenschaft
nur ihr Kunststoff. Der ästhetische Formwille hebt den darstellerischen
Wert ihrer Bücher, beeinträchtigt aber zugleich den sachlichen.
Was in den Quellen der Formung des geschauten Bildes
widerstrebt, wird bei Seite gelassen oder vergewaltigt; um eines
Aperçu's (mit Goethe zu reden), ja einer vorgefassten Meinung willen
werden empirisch-geschichtliche Tatsachen unterschlagen oder umgebogen.
Das zu schaffende literaturwissenschaftliche Kunstwerk
verlangt um jeden Preis künstlerische Einheit und Geschlossenheit,
und ist sie nicht vorhanden, so wird sie konstruiert, entweder durch
unerlaubte Ausscheidung der irrationalen Bestandteile der Individualität,
die schliesslich doch immer eine unbekannte Grösse bleibt,
oder durch eine auch das Letzte gewaltsam rationalisierende Dialektik.
Durch beides wird die freie Fülle sich auswirkenden Lebens
gefälscht. Gundolf erklärt Goethe für den gestalterischen Deutschen
schlechthin und das für den einzigen Begriff, unter den er Goethes
Gesamtschaffen zu bringen wisse; gegen solche Einengung. ist von
vielen Seiten Einspruch erhoben worden. Benedetto Croce*) hat
sich gegen die "mystische Einheit" von Goethes Leben und Werk
in Gundolfs Betrachtungsweise verwahrt, Burdach**) die Goethe-Gnostik
der Gundolf und Simmel angefochten. Konstruktion, Schema
und Formel werden um so bedrohlicher, je mehr die Autoren
darauf bedacht sind, geistreich und neu zu sein; sie müssen die
Dinge unter allen Umständen anders sehen, als sie vor ihnen
gesehen worden sind. Unter Friedrich Gundolfs Büchern zeigt
solche vorgefasste Einstellung und Eigenwilligkeit namentlich der
"Kleist". Der Verfasser konstruiert Kleist zum Gegentypus des
für ihn selbst unbedingt vorbildlichen Dichtertypus Stefan George
und gibt nun nicht eine rein geschichtliche Wiedergabe von Kleists
Sein, sondern bemüht sich zu beweisen, dass dieses Sein nicht
daseinsberechtigt, dass es ungesetzlich und verwerflich sei. Der
Strahl geht bei den Wissenschaftskünstlern eben nicht durch ein
einfaches, klares Glas, sondern durch ein brechendes Prisma, er
wird. nicht von einem Planspiegel, sondern von einem künstlich
facettierten Spiegel aufgenommen und zurückgeworfen. Der Darsteller
ist selbst eine zu stark ausgeprägte Natur, um blosser Vermittler
und Erklärer sein zu können; er ist mehr formender Künstler
als forschender Gelehrter, mehr fordernder Dogmatiker als
überzeugender Historiker. Man hat es scharf bestritten, dass diese
aus der Schau geborene Mythographie überhaupt noch Wissenschaft
sei. Sie ist es selbstverständlich nicht im Sinne der objektiven
systematischen Untersuchung und der unzweideutigen Bewältigung
und Lösung von Problemen, sondern lediglich insofern, als wir
auch dieser unmethodischen Methode im einzelnen höchst schätzbare
Erkenntnisse danken, die freilich nur dem kritischen Wissenschaftler
fassbar sind. Diese "Methode" hat auch der exakten
Forschung sehr wesentliche Anregungen gegeben, aber übertragbar,
lehr- und lernbar ist sie nicht. Gundolf hat denn auch weniger
eigentliche Schüler, als einen Tross meist unberufener Nachahmer,
die es ihm abgesehen haben, wie er räuspert und wie er spuckt,
und die ihm selbst äusserst lästig sind. Der schöpferische Geist
und die Kunst der Darstellung dieser Gestalter, also gerade das,
was man ihnen nicht ablernen kann, wirkt mit gefährlicher Suggestivkraft*)
besonders auf die so leicht allem Neuen und Blendenden
verfallende, zur Nachprüfung und Kritik noch nicht befähigte
Jugend. Das windigste Studentlein glaubt sich unter Hinweis
auf sie der ehrlichen harten Arbeit entschlagen und auf seine
vermeintliche Intuition pochen zu dürfen: das Forschen ist ja so
mühsam und das Schauen so grossartig!
Die sozialliterarische Methode weiterhin muss sich stets dessen
bewusst bleiben, dass sie doch nur allgemeine Vorbedingungen und
Einflüsse feststellen kann. Sie hat sich, "im vollen Bewusstsein
ihrer Einseitigkeit"*), davor zu hüten, als das schlechthin Massgebende
den jedesmaligen Durchschnitts- und Massengeschmack
anzusehen, eine Geschichte der blossen Unterhaltungsliteratur zur
Grundlage für eine eigentliche Geschichte der Literatur zu nehmen
und damit der Dichtung hohen Stils vieles schuldig zu bleiben.
Aehnlich weiss der Ethnolog gerade mit den übervölkischen und
überzeitlichen Genies, deren Bestes nun einmal nicht ererbt ist,
nichts Rechtes anzufangen und lässt sich bei Dichtern (besonders
des Mittelalters), über deren Stammeszugehörigkeit und Familiengeschichte
wir wenig oder gar nichts wissen, leicht zu gewagten
Hypothesen verführen. Dem Ausnahmeindividuum und seinem geistig-seelischen
Gehalt tut auch der Formästhetiker nicht genug,
wenn er nur auf die dichterische Technik abstellt und sich dabei
in Formalismus und Schematismus verliert. Dem Psychoanalytiker
aber, der mit starker Uebertreibung alle Dichtung aus erotischen
Trieben und ihrer Verdrängung ableitet und den Künstler zum
Sklaven seines Trieblebens herabdrückt, werden Dichteranalysen
meist zu Krankheitsgeschichten von Neurotikern.
So stehen dem neueren Betrieb der Literaturwissenschaft auch
ernste Bedenken entgegen, und seine Alleinherrschaft wäre ebenso
verhängnisvoll, wie es früher die des älteren war. Als Gegengewicht
war er geschichtlich notwendig und hat vortrefflich gewirkt,
aber jetzt ist es an der Zeit, die Gewichte auszugleichen, auf dass
nicht eine Einseitigkeit an die Stelle der anderen trete. Die älteren
Methoden sollen nicht aufgegeben, sondern durch die neueren
bereichert und vertieft werden; nicht eine Revolution, sondern
eine Reformation der Literaturwissenschaft ist das zu erreichende
Ziel. Die Aelteren liessen es an Synthese, die Jüngeren lassen es
an Analyse fehlen; boten jene zu viel Substanz und zu wenig
Geist, so steht es bei diesen umgekehrt.**)
Schon dass die neueren Methoden, so verschieden sie sind,
alle ihre grundsätzliche Berechtigung haben, beweist, dass keine
von ihnen allein berechtigt sein kann, und manche ihrer Vertreter
geben auch ihre Einseitigkeit ehrlich zu.*)
Heinemanns Goethe-Buch schildert den äusseren Lebensverlauf,
das Simmelsche entwickelt die Idee Goethe, Gundolf stellt auf
den Gestalter ab, der Psychiater Möbius nimmt den Dichter pathologisch,
der Ethnolog fusst auf Stammesart und Blutmischung,
der Soziolog zeigt gewisse kultur- und geschmacksgeschichtliche
Komponenten seines Schaffens und Wirkens u. s. f. — wir
gedenken des Wortes, das der junge Goethe im Jahre 1774 an
seine Züricher Freunde Lavater und Pfenninger schrieb: "Im einzelnen
sentierst du kräftig und herrlich, das Ganze ging in euern
Kopf so wenig als in meinen."**) Man kann die Dinge von veschiedenen
einzelnen Seiten aus ansehen***), aber das Ideal ist,
sie von allen her zu betrachten. Die Hypertrophie einer einzelnen
Methode oder Methodengruppe ist immer vom Uebel, und ob
der Magen oder das Herz an einer Erweiterung leidet, beides ist
Krankheit. Die Aufgabe besteht darin, alle Teilmethoden oder Methodenteile
zu verschmelzen zu einer höheren organischen Einheit,
zu einer allgemeinen Literaturwissenschaft, die nicht in Sekten
auseinanderfällt. Es geht hier nicht um ein Entweder — oder,
sondern um ein Sowohl — als auch. Nichts weniger als eine der
Kompromissnaturen, die überall die Gegensätze zu verkleistern und
zu verwischen bemüht sind, vertrete ich seit langen Jahren theoretisch
wie praktisch****) diese Ueberzeugung und freue mich, dass sie
von Fachgenossen wie Julius Petersen*****) und Emil Ermatinger
geteilt wird.
Die Aelteren wie die Jüngeren können durch eine innerliche
Verbindung des guten Alten und des guten Neuen nur gewinnen,
indem sie sich aneinander prüfen und ergänzen; jene werden höher,
diese gründlicher bauen. Keine Erkenntnisse ohne selbständig erarbeitete
Kenntnisse. Die Analytik philologisch-historischer Forschung
kann durch die intuitive Synthetik bedeutender Künstlerbegabungen
niemals aufgewogen oder gar entbehrlich gemacht
werden.*)
Auch die jüngsten und radikalsten Neutöner zehren von den
gesicherten Leistungen der älteren Schule, mögen sie noch so sehr
bemüht sein, es nicht merken zu lassen. Gundolf hätte seinen
"Goethe" nie und nimmer schaffen können, wenn ihm nicht die
Goethe-Philologie von Generationen, auf die er sich freilich nie
beruft, das Material geboten hätte**), und Walther Harich bekennt
offen, er hätte sein (expressionistisches) Werk über E. T. A. Hoffmann
nicht zu schreiben vermocht ohne die gewissenhafte Philologenarbeit,
die Hans v. Müller zwei Jahrzehnte hindurch seinem Dichter
gewidmet hat. Aber wenn dieser Schatz der guten Werke, den
die Aelteren gehäuft haben, nun einmal erschöpft ist? Wenn die
Söhne die Fühlung mit den Vätern verloren haben? Wenn niemand
mehr tragkräftige Grundmauern, jeder nur kühne Fassaden aufführen
will? Dann muss den Jüngeren notwendig immer mehr der Boden
unter den Füssen schwanken und schwinden, dann laufen sie
immer mehr Gefahr, in hemmungslosem Subjektivismus, in luftigen
Konstruktionen, in leerem Aesthetisieren aufzugehen. Dann kann
es kommen, dass man ihrer substanzarmen Ideologie übersatt wird
und das nahrhafte, wenn auch zuweilen etwas trockene Brot
strenger Sachlichkeit zurückbegehrt, dass die neue Regierung eines
schönen Tages gestürzt wird und die alte mit Pauken und Trompeten
wieder den Thron besteigt. Eine solche einfache Reaktion
und Restauration liegt durchaus im Bereich des Möglichen, ja ist
vielleicht schon im Anzug, aber wünschenswert wäre sie mit
nichten. Vielmehr wollen wir hoffen, dass auch in unserem Falle
aus Thesis und Antithesis eine neue Synthesis hervorgehe, die
beide übergipfelt. Denn wir brauchen beides: Analyse und Synthese,
Dichtergeschichte und Dichtungsgeschichte, Längsschnitte und
Querschnitte.
Manche der Jüngeren machen der Philologie nur noch der
Form halber eine kühle Verbeugung. Nicht alle meinen es mit ihrer
Anerkennung so ernst und ehrlich wie Ermatinger*): "Wir können
Scherer und seiner Schule nicht genug dankbar sein dafür, dass
sie den festen Grund gelegt haben und weiter legen, auf dem
Literaturgeschichte als Geistesforschung aufbauen kann. Hätten sie
das nicht getan, alle Beschäftigung mit den Dichtern und ihren
Werken wäre heute nur ein Spiel mit Seifenblasen." Nicht alle
wissen wie Merker**) "als dankbar hingenommene und wohl zu
verwahrende Erbschaft" zu schätzen "jene streng solide Arbeitsweise,
jene philologische Akribie und jenen wissenschaftlichen
Ernst", der nach Jacob Grimms schönem Wort die Andacht auch
vor dem Kleinen und Kleinsten lehre und vor vagem Literatentum
gleichermassen wie vor blossem Aesthetentum bewahre.***)
Hörte man einmal auf, philologisch zu arbeiten, so hörte die
Literaturforschung auf eine Wissenschaft zu sein. Denn bloss die
Philologen haben versagt, nicht die Philologie. Man muss ihr nur
den umfassenden Aufgabenkreis zurückgewinnen, den Männer wie
Friedrich August Wolf und Böckh, Friedrich Schlegel und Schelling
ihr zuerkannt haben. Dann ist sie nicht mehr gleichbedeutend
mit Kärrnertum und gelehrtem Handwerk, nicht die Wissenschaft
des Nichtwissenswerten ****), wie man sie boshaft umschrieben hat,
sondern eine mit Philosophie und Kunst verschwisterten königliche
Wissenschaft und vermag auch alle die ihr entgegengestellten neuen
Methoden in sich zu begreifen. Dann ist der Philolog Liebhaber
und Deuter des Logos in jenem höchsten Sinne, in dem dieser
Begriff von dem bibelübersetzenden Faust als Wort, Sinn, Kraft
und Tat gefasst wird.
Die deutsche Schweiz, deren Mitwirkung am gesamt-deutschen
Geistesleben ja so beträchtlich ist, hat auch in der deutschen
Literatur- und Geisteswissenschaft eine ansehnliche Rolle gespielt,
und nicht nur in den Tagen Bodmers und Breitingers. Auch an den
belebenden geistigen Auseinandersetzungen, die ich Ihnen vorgeführt
habe, hat sie ihren Anteil. Wie grosse deutsche Dichter gleich
Wieland, Goethe, Heinrich v. Kleist, so sind auch führende deutsche
Literaturforscher dem schweizerischen Boden verpflichtet. Dilthey,
Unger, Petersen haben an den Universitäten Basel und Zürich
gelehrt und geschrieben, Nadlers grosses Werk ist im schweizerischen
Freiburg entstanden, mein Vorgänger Walzel hat sich
während der Jahre seiner Berner Lehrtätigkeit ein gut Teil der
Einsichten. erarbeitet, die er in seinen späteren Büchern niedergelegt
hat, und Worringers aufsehenerregende Schriften sind von
Bern auslangen. Selbst ein Schweizer aber ist das ragende
Haupt der deutschen Kunstwissenschaft, Heinrich Wölfflin, der unser
Fach so kräftig befruchtet hat. Und auch unmittelbar haben Schweizer
an der deutschen Literaturforschung ehrenvoll mitgearbeitet.
Ich nenne vor allem Jacob Bächtold, dessen grossangelegte und
grundgediegene, leider ein Torso gebliebene "Geschichte der deutschen
Literatur in der Schweiz" nach mehr als einem Menschenalter
nur in Einzelheiten überholt ist, und meinen zweiten Vorgänger
auf dem Berner Lehrstuhl, Ludwig Hirzel, dessen Bild unter wenigen
Auserwählten unsere Aula ziert, den musterhaften Herausgeber
und Biographen Albrecht v. Hallers. Auch einige lebende schweizerische
Literarhistoriker leisten Vollwertiges. Fehlte es nur nicht
so empfindlich an dem erforderlichen Nachwuchs! Dieser Mangel
ist ja die Ursache der viel erörterten geistigen Ueberfremdung an
den schweizerischen Hochschulen. Wollten sich doch — und damit
wende ich mich an unsere Kommilitonen und nicht nur an diejenigen
meines Faches — in Zukunft mehr von wahrhaft wissenschaftlichem
Geist und Ernst beseelte junge Forscher, aber auch
lediglich solche, auf den hohen und schönen Beruf des akademischen
Lehrers vorbereiten!
Und zweierlei möchte ich zum Schluss der studierenden Jugend
dringend ans Herz legen. Das erste ist eine Tatsache. Nicht die
Methode macht den Meister, sondern der Meister macht die
Methode. Gerade die bedeutendsten Geister schaffen viel weniger
im bewussten Besitz objektiver Methoden, als vermöge angeborener
Begabung mit einem sicheren Instinkt und glücklichen Takt
ihre Werke, die dann den anderen als Muster dienen und ihnen
in eigener praktischer Arbeit zu einer Methode verhelfen. Und
das zweite ist eine Mahnung und Warnung. Was für eine Philosophie
man wähle, sagt Fichte, hänge davon ab, was für ein Mensch
man sei. So steht es auch mit den wissenschaftlichen Arbeitsmethoden.
Entscheidend ist, dass man die "wählt", für die man am
besten geeignet und vorbereitet ist; nicht jede ist jedem erreichbar,
wenigstens von den höheren Methoden, die es nicht mit gelehrter
Kleinarbeit, sondern mit produktiver Wissenschaft zu tun haben.
Methode sei Erlebnis, erklärt Gundolf*), und vollends zur geisteswissenschaftlichen
Methode muss man nach Cysarz geboren
sein. Kein Volksreferendum kann über Annahme oder Ablehnung
einer wissenschaftlichen Methode entscheiden, und niemand
kann sich eine Methode anzüchten, zu der er nicht berufen
ist. Denn die rechte Methode ist Persönlichkeitsausdruck, und
nicht die Zugehörigkeit zu einer noch so angesehenen Schule
verbürgt das Gelingen, sondern einzig die eigene Kraft und
Fähigkeit. Nur ja sich nicht vorübergehenden Schuldoktrinen zuliebe
ausserhalb der natürlichen Richtung liegende Leistungen abzwingen
wollen, aus einer törichten Besorgnis, sonst nicht auf der Höhe
der Zeit zu stehen, und nun gar unserer Zeit, die wahrlich keine
Höhe darstellt! Das schlimmste sind heutzutage mehr als je die
Nachtreter, welche die Methoden der begabten Führer mit unzulänglichen
Mitteln nachäffen, überspitzen und damit in Missachtung
bringen. Kein Forscher hat die Verpflichtung, ein Bahnbrecher
zu sein, aber jeder kann und soll nach Massgabe und mit Aufbietung
seiner besten Kräfte selbständig seiner Wissenschaft erspriesslich
dienen und damit zugleich des idealen Lohnes teilhaftig
werden, den alle redliche Arbeit, namentlich die geistige, als sachliche
wie als sittliche Leistung in sich selbst trägt.