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JEAN DE PARIS

In der altfranzösischen Dichtung vom wackern Ritter Horn, die einen Meister Thomas zum Verfasser hat und vielleicht noch dem zwölften Jahrhundert angehört, wird erzählt, wie Horn am Hofe des Königs Hunlaf sich heimlich mit dessen Töchterlein Rimel verlobt. Sie gibt ihm einen Ring in die Verbannung mit und verspricht, ihm sieben Jahre treu zu bleiben. Als diese herum sind, vernimmt Horn, dass Hunlaf seine Tochter dem König Modin vermählen will. Als Pilger verkleidet, trifft er mit seinem mächtigen Nebenbuhler zusammen und sagt ihm, er habe vor sieben Jahren ein Netz ausgelegt; seien Fische darin, so habe er seine Liebe verloren; sei es leer geblieben, so wolle er es holen. Modin versteht das Rätsel nicht und hält den Pilger für verrückt. Beim Hochzeitsmahl kredenzt Rimel den Becher auch Horn, der den Ring hineinfallen lässt und sich ihr mit einem ähnlichen Rätsel, das nur sie deuten kann, zu. erkennen gibt: vor sieben Jahren habe er einen Habicht in einen Käfig gesteckt; finde er ihn in gutem Zustand wieder, so nehme er ihn mit; habe man ihm die Federn gebrochen, so verschmähe er ihn. Der Vogel ist natürlich intakt und Horn erwirbt die Geliebte mit Waffengewalt.

Diesen Stoff kann man in mehreren Literaturen verfolgen, besonders in England, wo er herstammt und am populärsten wurde.

In Frankreich arbeitete ihn Philippe de Remi, Herr von Beaumanoir (Dep. Oise) frei um und betitelte ihn nach dem neuen Liebespaar Jehan et Blonde. Es ist ein unterhaltender, gereimter Abenteuerroman aus der zweiten Hälfte des XIII. Jahrhunderts. Jehan tritt als Knappe in den Dienst des Grafen von Oxford. Während er täglich der schönen Blonde das Fleisch vorschneidet, wird er sterbenskrank vor Liebe. Das ahnungslose

Mädchen entreisst ihm mit Mühe sein Geheimnis. Es heilt ihn mit dem Versprechen, seine Geliebte zu werden. Sobald es ihn wieder gesund sieht, weiss es nichts mehr von seinem Vorhaben und Jehan erleidet einen schweren Rückfall. Endlich keimt auch in Blonde die Leidenschaft und sie tröstet ihn mit heimlichen, züchtigen Zärtlichkeiten. Als er heimgerufen wird, um das Erbe seines sterbenden Vaters anzutreten, verspricht sie, mit ihm zu fliehen, wenn er sie binnen eines Jahres holt. Warum nicht gleich? Weil sonst der Roman vorzeitig aufhörte.

Mittlerweile wirbt einer der reichsten Herren von England, der Graf von Clocestre, um Blondes Hand und ist dem Vater genehm. Sie hält ihn hin, um Jehan Zeit zu lassen. Im letzten Moment, als der Rivale schon mit prunkhaftem Gefolge auf dem Wege nach Oxford ist, stösst Jehan zu ihm, der über den "ruisseau", d. h. das Meer, gezogen ist, um sein Wort zu halten. Er hat in Dover einen Schiffer gedungen, der das Paar hinübersetzen soll. Unterwegs unterhält er seinen Nebenbuhler mit Scherzreden. Er will ihm seinen Zelter nur unter der Bedingung verkaufen, dass ihm gewährt wird, soviel als er wünsche, vom Gute des Grafen zu nehmen. Darauf kann dieser nicht eingehen. Jehan lacht darüber, dass diesem das Hochzeitskleid durch einen Regen vollständig durchnässt wird. Wäre ich so reich, wie Ihr, sagt er, so würde ich mein Haus mitnehmen als Dach. Die Engländer machen sich über den dummen Franzosen lustig. Beim Durchqueren eines Flusses wird der Graf von der Strömung mitgerissen und wäre beinahe ertrunken. Wenn ich solche Reichtümer besässe, wie Ihr, versetzt ihm Jehan, so würde ich eine Brücke mitnehmen, um sicher hinüberzukommen. Neues Gelächter der andern. Zuletzt gesteht Jehan dem Grafen, er habe eine Falle gelegt, um einen Sperber zu fangen und wolle nun nachsehen, ob er ihn erwischt habe. Der Verfasser karikiert seinen Engländer, indem er ihn ein schreckliches Französisch sprechen lässt. Er redet von einem "pourcel", einem Schweinchen, indem er darunter die "pucelle" versteht, die er heimführen will. Philippe de Remi war in England gewesen und kannte das Anglofranzösische aus Erfahrung, aber seine Satire ist plump geraten und auf den Lachreiz seiner Leser eingestellt.

Blonde, in grosser Angst, erwartet Jehan im Garten unter einem Birnbaum. Er befreit sie aus solcher Not und flieht mit ihr. Als sie vergeblich gesucht wird, geht ihrem Vater ein Licht auf und er erklärt, seltsam genug, dem Grafen von Clocestre die Rätselreden Jehan's. Den Zelter wollte er behalten, um die Geliebte zu entführen. Das schirmende Haus ist ein Regenmantel, wobei nicht gesagt worden war, dass Jehan einen solchen hatte. Die Brücke bedeutet, dass man jemand hätte vorausschicken sollen, um den Fluss zu untersuchen. Der Sperber ist Blonde. Also auf, um ihn zu haschen! Es fällt dem Grafen nicht schwer, dem eilenden Paare zuvorzukommen und alle Übergänge über den Kanal zu besetzen. Doch der Verfasser, als guter Romandichter seines Schlages, weiss die Liebenden durch wütende Kämpfe und Gemetzel und 1020 Verse hindurch auf das Schiff zu retten, das ihrer harrt. Ein langfädiger Schluss schildert das weitere Glück der Helden. Trotz seiner Schwächen ist das Werk mit Lebendigkeit und Grazie geschrieben und gewährt noch heute dem Kundigen Vergnügen. Sehr bekannt scheint es nicht geworden zu sein, obwohl es einen geschichtlich berühmten Verfasser hat; eine einzige Handschrift hat es uns aufbewahrt, die Suchier musterhaft herausgab; ein Inkunabeldruck ist nicht vorhanden.

Die dichterischen Stoffe gehen von Hand zu Hand, bis derjenige kommt, der sie zur Vollendung führt. Faust war Goethe, die Hölle Dante, Phaedra Racine vorbehalten; Schillers Tell kann nicht mehr überboten werden. Das Thema, das uns heute beschäftigt, fand im XV. Jahrhundert seine Krönung in Jean de Paris. Dieses Werklein, das bei jeder Lektüre erneute und erhöhte Freude bietet, das G. Paris "une charmante bluette" und Vossler "eine entzückende Novelle" nennt, ist durch die kritische Ausgabe von Frau Edith Wickersheimer, 1923, in den schmucken Bänden der Société des anciens textes, und durch ihre Pariser Doktordissertation von 1925 wieder in den Vordergrund wissenschaftlichen Interesses gerückt worden.

In seinen grossen Linien erinnert Jean de Paris unbedingt an Jehan et Blonde, ohne dass man sich zwar vorzustellen vermag, wie der zweite Autor vom ersten Kenntnis erhalten konnte.

,,Pour eviter oysiveté qui est seur de pechié" habe er sein Buch geschrieben, lesen wir in der auffallend kurzen Einleitung, kurz besonders, wenn man sie mit den verschnörkelten und langatmigen Vorreden der Zeit vergleicht. Darauf geht die Handlung, nach damaligem Geschmack, der noch lange Mode blieb, in kurzen Kapiteln mit zopfigen Überschriften vor sich, die meist mit ,,comment" beginnen.

Der König von Frankreich lebt in Paris, mit seiner Frau und seinem dreijährigen Sohne Jean. Eines Tages wirft sich ihm der König von Spanien zu Füssen, dessen Barone sich aufgelehnt haben. Der König von Frankreich zieht mit einem Heer dahin, bestraft die Übeltäter und verlässt das Land in Frieden. Gerührt bietet ihm das spanische Herrscherpaar die kleine Infantin an, die drei Monate zählt. Er möge sie einst vermählen mit wem er wolle. Huldvoll verspricht der Franzose ihr seinen Sohn zum Gatten. Bald darauf stirbt er und die Königin übernimmt die Regentschaft.

Wie Jean 18-jährig ist, zieht der König von England durch Paris, um die inzwischen herangewachsene Prinzessin von Spanien, mit der er durch Prokuration verlobt ist, heimzuführen. Er will sich in der Stadt aufhalten, weil er da am besten die Brautgeschenke zu kaufen hofft. Er sieht den schon gekrönten Jean nicht, der im Walde von Vincennes jagt. Er wird von Anfang an als unsympathisch geschildert. Die Infantin freut sich nicht auf die Heirat, denn der Engländer ist Witwer, dazu ,,desja fort vieulx et cassé". Die Königin von Frankreich, der er seine Pläne mitteilt, erinnert sich an das Abkommen mit ihrem Manne, das die spanischen Herrscher offenbar vergessen haben, und frägt Jean an, was er zu tun gedenke. Er will vorsichtig sein. Vielleicht will der König von Spanien das Wort, das er dem Engländer gegeben hat, nicht brechen; vielleicht gefällt ihm die Prinzessin nicht, wenn er sie sieht, und "c'est une longue chance que mariage". Er will sich also inkognito aufmachen, unter dem Namen eines Bürgers Jean de Paris, mit genügendem Aufwand, um den Nebenbuhler auszustechen, wenn er Lust hat. Sein grosses Gefolge geht auf verschiedenen Wegen nach Spanien, damit es dem Engländer nicht verdächtig wird.

Es kann aber nicht ausbleiben, dass er mit Jean und einem Teil seiner Reiterei zusammenstösst. Seine Herolde berichten ihm von Rittern, so schön wie die Engel vom Himmel, die einem Jean de Paris gehören. Er will ihn kennen lernen und wird sehr leutselig empfangen. "Je m'en vois, sagt der Engländer, marier en Espaigne a la fille du roy du pays."Bravo, bei Sainct Piquault, erwidert Jean. Dieser Heilige, der nicht im Kalender steht, soll aus der Beteuerungsformel bigott der Schweizer Söldner herstammen. Jean gibt ihm hier vielleicht einen schlimmen Nebensinn.

Sie reisen nun zusammen und da zeigt sich überall die Überlegenheit des Franzosen. Der Engländer hat schon in Paris bei den Goldschmieden nichts mehr gefunden, weil ihm Jean alles vorweggeschnappt hat. Er ist sehr schlecht ausgerüstet und der Franzose muss ihm mit Geschirr und Esswaren beispringen. Hier wiederholen sich die Scherzreden, aber sie sind mit äusserster Geschicklichkeit herbeigeführt. Der Engländer wundert sich immer mehr, wie ein Bürger so in Saus und Braus leben könne und hält Jean für einen leichtsinnigen und etwas tollen Kumpan. Er glaubt ihm weise Verhaltungsregeln geben zu sollen. Der Regen fällt in einer Gegend, die noch heute wegen ihrer Niederschläge berüchtigt ist. Die Franzosen ziehen ihre Mäntel an, die damals, wie uns erklärt wird, in England noch unbekannt gewesen seien. Auch pflegte man dort nicht mit Koffern zu reisen, so dass die Gesellschaft auf der ganzen Tour das Festgewand trägt. Unter der Brücke versteht Jean gute Pferde, auf denen man sicher hinüberschwimmt. Die Engländer haben schlechte und es ertrinken ihrer 60-80. Das wichtigste Rätsel lautet also: Vor 15 Jahren habe Jean's Vater einer Ente eine Schlinge gelegt und er wolle nachschauen, ob sie gefangen sei. Der Engländer, der, von allem nichts versteht und immer fester überzeugt ist, er habe es mit einem Übergeschnappten zu tun, antwortet: dann müsste sie längst verfault und von den Würmern gefressen sein. Nein, erwidert Jean, der ihn mit grosser Ritterlichkeit, aber immer etwas von oben herab behandelt, die spanischen Enten sind von anderer Rasse, als die englischen, und widerstehen der Fäulnis länger.

Je näher sie aber Burgos kommen, wo die Hochzeit stattfinden soll, desto unruhiger wird der Engländer. Er möchte wissen, ob Jean auch hingeht, was dieser ausweichend beantwortet. Wenn ja, so möchte er ihn in seinem Gefolge haben und ihn dafür bezahlen. Worauf Jean hochmütig sagt: "de vostre argent je n'en ay que faire, car j'en ay plus que vous."

Jean lässt ihn vorher einziehen. Die Infantin ist von der Figur des Engländers wenig entzückt "si se pensa en elle que ce n'estoit pas ce que luy faillait". Sie fügt sich aber, "pour l'honneur de ses pere et mere garder".

Der Einmarsch Jeans gehört zum Kostbarsten, was die Erzählungsliteratur hervorgebracht hat. Zwei Herolde verlangen Unterkunft. Der König von Spanien wird durch seinen Schwiegersohn in spe über Jean de Paris, seine Prachtentfaltung, seine sonderbaren Witze unterrichtet. Der englische König prahlt ein wenig mit seiner Bekanntschaft, sucht zugleich Jean etwas herunterzusetzen, indem er ihn als geistig nicht ganz normal hinstellt. "Il tient ung quartier de la lune." Die Narren haben ja das Privileg, die andern für dumm zu halten. Der gescheidte König von Portugal bemerkt, es gehöre doch Verstand dazu, um mit solchem Aufwand so weit zu reisen, und alle geben ihm recht. Man will Quartier für 300 Pferde bereiten — so viele hat der Engländer gesehen — es wird aber für 10,000 verlangt und ertrotzt, so dass ein Viertel der Stadt belegt wird. Die Damen werden immer begieriger, Jean zu sehen.

Am nächsten Morgen steht die Prinzessin sehr frühe auf, um ihn ja nicht zu verpassen. Die Wege sind abgesperrt, damit der Zug am Palast vorbeimarschiere. Welch unnütze Vorsicht! Schon den ersten ruft der König von Spanien zu: Seid willkommen; aber Jean ist noch nicht unter ihnen. Es folgen sich 500 Fouriere, 200 Krieger mit zwei Trompetern, zwei schweizerischen Trommlern und einem Pfeifer, ein unendlicher Train von viermal 25 Lastwagen, mit Teppichen, Wäsche, Gewändern, Küchengerät und Geschirr. Die Infantin fürchtet, Jean möchte sich in einem dieser gedeckten Wagen befinden. Der Einzug wickelt sich unaufhörlich ab. Am Morgen waren die Leute kaum in der Messe zu halten; mittags erklären die Damen, lieber auf

das Essen verzichten zu wollen. Man muss an den Fenstern Wächter aufstellen, die die Ankunft Jeans melden. Sechs Heroldstrompeter verkünden die Schützen der Leibwache. Ein Page namens Gabriel kommt herauf und gibt Auskunft über die Herrlichkeiten. Er hat kaum Zeit, alle Fragen der Infantin zu beantworten. Der Zeremonienmeister naht mit 100 blonden Pagen. Immer meint man, das sei nun Jean selber, aber es werden noch ein paar Stunden vergehen, bis er wirklich kommt. Die Spannung wächst und wächst. Die Pferde wiehern, ein grosser Lärm erfüllt die Stadt. Ein Junker trägt Jeans Degen vorbei. 600 Mann folgen auf gleichen, grauen Pferden, die mit silbernen Glocken behangen sind. Endlich gewahrt man in der Ferne Jean selber, der an einem kleinen weissen Stab in der Hand und einer goldenen Kette um den Hals erkennbar ist. Sein Haar ist blond wie seine Kette. Die Prinzessin errötet. "Quant la pucelle l'eut apparceu, eile devint si roge qu'il sembloit que le feu luy sortist du visage."Wie er vorbeireitet, schwenkt sie ihm ein langes Heimband entgegen. Er lässt sein Pferd einen hohen Sprung tun, fängt das Band und dankt. 500 Mann Nachhut beschliessen den Zug.

Das alles macht der Leser lebhaft mit; mit ausserordentlicher Kleinkunst werden die Farben, die Stoffe, die Bemerkungen der Zuschauer erzählt. Man macht dem Engländer Vorwürfe, weil er nur den kleinsten Teil von Jean's Pracht erwähnt habe. Der arme Alte kann nur beteuern, er habe nicht mehr gewusst. Er hat keine Gelegenheit mehr, mit der Prinzessin zu schäkern; niemand nimmt mehr Notiz von ihm.

Nachdem die hohen Herren zu Jean gezogen sind, um ihn zum Hochzeitsmahl einzuladen, erscheint er, nimmt am besten Platze Sitz, sagt der Infantin einige Anzüglichkeiten, die wir ihm gerne schenken würden — aber es ist das Jahrhundert, in dem die Königin Marguerite de Navarre ihren Heptaméron schreibt. Diese Reden, auf die die gar nicht blöde Prinzessin artig zu antworten weiss, bereiten übrigens auf die Lösung der bekannten Rätsel vor, die Jean zum besten gibt, zum grössten Vergnügen aller Anwesenden, mit Ausnahme des Engländers, dessen Gesicht immer länger wird. Nach der Mitteilung, dass

die Prinzessin die Ente ist, nach der Jean nun geschaut hat und die er sehr appetitlich gefunden, stülpt er seine Ärmel zurück und zeigt das mit der französischen Lilie besetzte Futter. Die Infantin ist beschämt und glücklich, einen solchen Mann zu bekommen. Dem Engländer bleibt nichts übrig, als schleunigst abzuziehen. Die Hochzeit wird mit Pomp gefeiert und das Paar mit zwei schönen Knaben gesegnet, was in aller Kürze berichtet wird.

Die Verwandtschaft dieser Novelle mit Jehan et Blonde, auf die G. Paris zuerst aufmerksam machte, ist unverkennbar. Beide Male prellt ein schlauer Franzose namens Jean einen vornehmen Engländer. In beiden Werken treffen sich die Bewerber auf der Brautfahrt und es entspinnen sich die Rätselreden. Während diese aber im ältern Roman nur äusserer Aufputz sind, wird in Jean de Paris die der Ente gelegte Schlinge zum eigentlichen Ausgangspunkt der Geschichte und bringt ihre Lösung. Es erscheint fast unbegreiflich, dass dieser wohlgefügte Aufbau erst dem letzten Bearbeiter gelang. Das neue Werk ist kein Abenteuerroman mehr: Jean braucht mit seinem Nebenbuhler nicht zu kämpfen; es genügt, dass er sich als König von Frankreich entpuppt. Die eigentliche Handlung ist auf die Reise und den Einzug in Burgos, auf den dramatischen Augenblick, beschränkt. Der Aufmarsch füllt den fünften Teil des Büchleins. Alles übrige ist nur Rahmen, Vor- und Nachgeschichte. Daher hat auch Söderhjelm, der das Werk in seinem Buche La nouvelle française au XVme siècle mit besonderer Liebe behandelt, es für eine Novelle erklärt. Hier ist vor allem ein bewusst schaffender Künstler am Werk, während sich Philippe de Remi vom Stoffe treiben liess. Sprachlich wird die Verlegenheit des Engländers nicht mehr ausgeschlachtet, da dies mit dem vornehmen Ton der Erzählung im Widerspruch gewesen wäre.

Aber eine verhaltene, schalkhafte Lustigkeit ist über dem ganzen Jean de Paris ausgebreitet, die heute so frisch geblieben ist, wie vor 400 Jahren. Dieser Humor hatte einst G. Paris gewonnen, der dem Büchlein seinen Ehrenplatz in der Literatur anwies. Es ist ein echt französischer Zug, der bedeutend zu seiner Popularisierung beitrug.

Jean de Paris besitzt noch einen andern Reiz. Der König von England, der doch auch gelegentlich ein gutes Wort spricht, bemerkt: "Je vous affie qu'il semble mieulx a ung songe ou fantasie qu'a aultre chose." So ergeht es auch dem Leser, der in dieser aristokratischen Luft, bei der Entfaltung dieses fast orientalischen Gepränges wie im Traume lebt. Und doch ist alles glaubhaft, sind alle Einzelheiten einer damals nahen Realität abgelauscht. Selten wird man eine so feine Mischung von Märchenzauber und robuster Wirklichkeit finden.

Wie der Verfasser alles meidet, was als nicht dazugehörig empfunden werden könnte, wie er gerade auf sein Ziel ausgeht und an fünf Stellen, offenbar mit Rücksicht auf die Leser des XV. Jahrhunderts, die es anders gewöhnt waren, seine Kürze entschuldigt, so ist auch sein Stil einfach und ungezwungen, von der damals herrschenden Rhetorik nicht angekränkelt. Ein Volksbuch, wie Suchier einst meinte, ist es keineswegs, wie wir sehen werden. Die Sprache scheint keine dialektalen Züge zu zeigen; aber ich möchte mir hierin eine genauere Untersuchung vorbehalten.

In ihrer Dissertation ist Frau Wickersheimer zum ersten Male genau auf die Technik der Novelle eingegangen. Die Rätselreden, die devinettes, hat sie, ausser in den heute angeführten Dichtungen, in einer der viel verbreiteten und ungemein fruchtbaren, mittelalterlichen Erzählungen der Gesta Romanorum gefunden, in einer Novelle von Sercambi, im mittelhochdeutschen Gedichte Der Busant, besonders aber in französischen, schottischen, deutschen und russischen Märchen. Das Rätsel vom Netz oder der Schlinge wiederholt sich am meisten und wird das ursprünglichste sein. Teilweise ist der Einfluss des Jean de Paris erkennbar.

Die grosse Steigerung der Effekte beim Einzug in Burgos hat in der Literatur viele Vorläufer. Man trifft sie, mit gewaltiger Wirkung, beim Anmarsch Karls des Grossen vor Pavia, in der Gesta Karoli Magni des IX. Jahrhunderts, die die neuere Kritik Notker dem Stammler zuschreibt. Joseph Bédier hat die Stelle im zweiten Bande seiner Légendes épiques übersetzt, Singer in seinem reizenden Büchlein über die Dichterschule von St. Gallen.

Das Motiv ist in der Gesta noch ein zweitesmal verwertet. Man findet es auch im altirischen Sagenkreis, in den Kreuzzugsepen, im altfranzösischen Tristan und seinen deutschen Nachahmungen. Bédier nennt es in seiner Ausgabe des Tristan von Thomas "émerveillement croissant". Am lieblichsten ist es wohl im Märchen Lanval der Marie de France verwendet. Da so viele keltische Stoffe diese Technik zeigen, möchte Frau Wickersheimer ihren Ursprung bei dieser Nation suchen. Aber Notker brauchte sie nicht von seinem irischen Lehrer zu übernehmen. Sie kommt auch in einem Leben Mohammeds vor. Auch glaube ich kaum, dass der Verfasser des Jean de Paris hier ein Anleihen beim Epos über Gottfried von Bouillon gemacht habe. Die Rätsel sind zweifellos als präzises poetisches Mittel entlehnt, aber das gewaltige Crescendo beim Einzug in Burgos lag ganz in der Linie seiner Erfindung.

Längst hat man erkannt, dass man es mit einem Schlüsselromänchen zu tun hat, dass dahinter bestimmte Vorgänge stehen! Die Geschichte kennt viele Jean de Paris. Dieser vulgäre Name wurde offenbar gewählt, weil er wenig Transparenz besitzt. Da man früher das Buch ins XVI. Jahrhundert versetzte, glaubte man im Helden, der in seinem Inkognito seine ganze Grandezza behält, den König Franz I., im Engländer Heinrich VIII. und im spanischen König Karl V. zu erkennen. So Le Roux de Liney und noch Mabille in der Einleitung seiner hübschen Elzevir-Ausgabe (1855). Aber der furchtbare Antagonismus, der zwischen Franz I. und Karl V. herrschte, passt schlecht zu den Beziehungen freundlicher Art, die im Werke die Könige von Frankreich und Spanien unterhalten. Seit der Ausgabe von Montaiglon (1867) hat sich die Überzeugung immer weiter verbreitet, dass hinter Jean de Paris Karl VIII. steckt. Der Engländer wäre Maximilian von Österreich und die spanische Infantin die Herzogin Anne de Bretagne. Sie wird in der Tat in der Überschrift eines Kapitels beiläufig Anne genannt. Maximilian war mit Anne verlobt und wurde durch Karl ausgestochen. In einem Artikel der Revue critique von 1867 pflichtete G. Paris sofort bei. Eine der Hauptaufgaben von Frau Wickersheimer bestand darin, diese Identifikationen genauer nachzuprüfen.

Sie hat den Nachweis durchaus erbracht, dass das Kostüm und das Zeremoniell die der Regierungszeit Karls VIII. sind. Er wohnte in Paris und verlegte seine Residenz erst nach seiner Verheiratung nach Amboise. Er war vielleicht blond oder blond gefärbt, er trug wirklich eine goldene Kette um den Hals, seine Lieblingsfarben waren Weiss und Violett, wie in der Novelle, und haben symbolische Bedeutung. Einer seiner Mignons hiess Gabriel, wie der Page, der den Festzug erklärt. Ich kann die Menge von Einzelheiten, die übereinstimmen, nicht aufzählen. Auf sie kommt es mehr an, als auf die grossen Linien, die der Autor, als Zeitgenosse der Ereignisse, geschickt verhüllen musste, während sich die Nebenumstände von selbst in das Gesamtbild einfügten. Anne und der Engländer haben nicht Porträtcharakter. Für die damaligen Leser war das nicht nötig. Einen König von Spanien gab es noch nicht, da das Land in Reiche aufgelöst war, und Burgos war nie Residenzstadt. Also Wahrheit und Dichtung; und da liegt das Geheimnis einer Kunst, die aus realen Zügen ein Märchen baut. Ob Jeanroy nun überzeugt wurde, der noch kürzlich im Band XII der Histoire de la nation française von Hanotaux diese geschichtliche Grundlage bestritt und behauptete, die Novelle enthalte "de claires allusions à des faits et à des hommes du jour, dont la portée et le sel nous échappent?"

Für den Einzug in Burgos macht Frau Wickersheimer sehr wahrscheinlich, dass ihm der Einzug Karls VIII. in Florenz, der von Chronisten eingehend beschrieben wird und in der Tat grosse Ähnlichkeit aufweist, als Modell gedient habe. Ein Grund mehr, um ihn nicht als rein literarisches Motiv zu betrachten. Diese Aufzüge wurden mit ungeheurem Pomp durchgeführt. Die Wirklichkeit steht hier kaum hinter der Dichtung zurück.

So erhalten wir für Jean de Paris Daten: die Hochzeit Karls mit Anne fand 1491, der Einzug in Florenz 1494 statt; die Novelle muss unmittelbar nachher entstanden sein. Ihr Zweck war die Verherrlichung Karls und Frankreichs. Schon deswegen muss die Angabe, die der Verfasser in seiner Einleitung macht, er übersetze aus dem Spanischen, als Finte bezeichnet werden. Es ist auch nichts Ähnliches in den Literaturen der pyrenäischen Halbinsel entdeckt worden. Unter der Herrschaft der Bürgerkönige

Ludwig XI. und seines Sohnes Karl konnte man es wagen, einen Herrscher als Bürger Jean de Paris reisen zu lassen. Die Dichtung ist zugleich ein Loblied auf die Pariser Bürgerschaft.

Dieses späte Datum gibt denjenigen recht, die unser Werk nicht als Ausfluss der Stimmung anerkennen, die im XV. Jahrhundert in Frankreich gegen England geherrscht hatte. Ganz richtig sagt Foulet in der neuen, illustrierten Literaturgeschichte Bédiers: "le ton de raillerie narquoise qui est adopté à l'égard des Anglais prouve que ce ne sont plus des adversaires redoutés ni haïs. On est sorti du cauchemar de la guerre de Cent ans." Von dem Opfertod der Jeanne d'Arc (1431) bis 1495 verstreicht eine lange Zeit. Wenn ich auch nicht glaube, dass die Figur des Königs von England einfach aus Jehan und Blonde übernommen ist, so halte ich es doch für unrichtig, in ihr irgendeine politische Spitze zu erblicken. Sie ist vor allem literarische Kontrasterscheinung. Langlois hat in einem amüsanten und taktvollen Artikel der Revue historique (1893) über Les Anglais du moyen âge d'après les sources françaises geschrieben. Der Engländer, den Jean de Paris übertrumpft, trägt nicht die Züge, die man ihnen gewöhnlich lieh und noch leiht.

Die Frage, die auf Ihren Lippen schwebt, wer denn der Autor von Jean de Paris sei, kann ich nicht beantworten. Alle Versuche, ihn zu ermitteln, sind gescheitert. Ein Bürger von Paris? Ein Hofmann Karls oder der Anne de Bretagne? Gewisse Anzeichen weisen eher nach Lyon. Wir wissen nichts Positives.

Der Erfolg war gross. Das Buch drang in die Massen. Die Bibliothèque bleue, die den deutschen Volksbüchern entspricht, bemächtigte sich seiner. Der Text wurde umgestaltet, neuen Moden angepasst, verstümmelt. Der erste französische Druck war von 1533; 1549 war die Novelle in England bekannt; 1670 wurde in Nürnberg eine deutsche Übersetzung herausgegeben. Die neue, kritische Ausgabe der Société des anciens textes unterscheidet sich wenig von der Montaiglons. Früher stützte man sich eher auf die Handschrift, die jetzt in Louvain aufbewahrt wird und früher dem Genfer Gaullieur gehörte. Frau Wickersheimer sieht die Pariser Handschrift als besser an und verwertet

geschickt die ältesten Drucke. Die beiden Handschriften und die Drucke weichen nur unerheblich voneinander ab.

Der Stoff sollte im XIX. Jahrhundert eine Nachblüte erleben. In erzählender Form war es nicht denkbar, da hier das XV. alle Möglichkeiten ausgeschöpft hatte, wohl aber in einer Oper. Als Boieldieu von Russland heimkehrte, wo sein gefälliges Talent grössere Sicherheit und Straffheit erworben hatte, stellte er sich dem geliebten Pariser Publikum am 4. April 1812 mit Jean de Paris vor, der, von den besten Kräften der damaligen Opéra comique dargestellt, zu einem grossen Triumphe wurde. Unsere Zentralbibliothek besitzt in ihrer kostbaren Sammlung Comédies françaises das Libretto, das im Théâtre Feydeau verkauft wurde. Es stammt von Samt-Just, der Boieldieu schon mehrere Textbücher verschafft hatte, unter andern das des Kalifen von Bagdad, einem mittelmässigen Literaten, der nicht mit dem Revolutionsmann gleichen Namens zu verwechseln ist. Der Komponist hatte noch nicht den idealen, bühnengewandten Mitarbeiter gefunden, Scribe, der für ihn 1825 die Dame blanche schrieb, das köstliche und liebliche Werk, in dem Boieldieu sich selber überbot und erschöpfte.

Der alte Jean de Paris ist im neuen kaum wieder zu erkennen. Die Prinzessin von Navarra und Jean, die sich gegenseitig sondieren wollen, treffen zufällig in einem elenden Wirtshaus zusammen und finden an einander Gefallen. Rivalen sind nur supponiert. Der Einzug in Burgos fehlt. Da würde eine moderne Ausstattungsoper einsetzen. Die alte Spieloper hat nur die üblichen Chorgefolge zur Verfügung. Das Théâtre Feydeau bot auch keinen Platz dazu. Die Komik besteht im Kampf um das bisschen Raum im Wirtshaus, das beide Parteien beanspruchen, und liegt mehr im verbindenden Prosadialog als in den sehr konventionellen Arientexten. Der Zauber ging allein von der Musik aus. Der grosse Zeitgenosse Karl Maria von Weber lobt an ihr die leichte Flüssigkeit der Melodie, den wirkungsvollen Aufbau und die gewandte Instrumentierung.

Die alte Spieloper ist ein Kind Frankreichs. Es gewährt ein ergötzliches Schauspiel, diese heitere Gattung in den düsteren Zeiten der Revolution und den geräuschvollen Jahren Napoleons

aufblühen zu sehen. Grössere Genien, wie Cherubini und Rossini neigen und beugen sich vor ihr. Boieldieu, als sorgenloser Liebling des Schicksals, geht sicher seinen blumigen Weg. Als Rossini ihm wegen seiner weissen Dame Komplimente machte, antwortete ihm der Franzose: ich bin Ihnen nur überlegen, wenn ich mich schlafen lege. Er wohnte nämlich einen Stock höher, in der Nähe des Passage Jouffroy.

Das Beispiel von Paris reizte drei italienische Komponisten, einen Gianni di Parigi zu schreiben: Morlacchi (Scala, 1818), Speranza (Neapel, 1836), Donizetti (Scala, 1839). Allen dreien hatte der Vielschreiber Romani den Text geliefert. Boieldieu hat sie überdauert. Unser Stadttheater machte unlängst einen Versuch mit seinem Johann von Paris, der ihm zwar nur einen moralischen Erfolg eintrug.

Wir sind jetzt anders eingestellt. Aber diejenigen, die noch die göttliche, künstlerische Einfühlungskraft für ältere Werke besitzen, geniessen mit Wonne den Jean de Paris als Oper und noch mehr sein literarisches Vorbild des XV. Jahrhunderts. Beide ziert echt französische Anmut und Heiterkeit.