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ENTSTEHUNG NEUER EIGENSCHAFTEN UND ERBANLAGEN

FESTREDE DES REKTORS

PROF. DR. ALFRED ERNST
GEHALTEN
AN DER 95. STIFTUNGSFEIER
DER UNIVERSITÄT
AM 27. APRIL 1928
ZÜRICH 1928
ART. INSTITUT ORELL FÜSSLI

FESTREDE DES REKTORS PROF. DR. ALFRED ERNST gehalten an der 95. Stiftungsfeier der Universität Zürich

am 27. April 1928

Entstehung neuer Eigenschaften und Erbanlagen

Das Problem der Evolution steht seit der Mitte des 19. Jahrhunderts im Mittelpunkt der biologischen Forschung. Durch Darwins Werk über die Entstehung der Arten 1) sind die Fragestellungen und. Ziele einer ganzen Anzahl von Teilgebieten der Biologie einheitlich gerichtet und bestimmt worden. Die Evolutionstheorie der gesamten organisierten Natur basiert zur Zeit auf einem gewaltigen, auch vom Spezialisten kaum mehr übersehbaren Tatsachenmaterial. Für den voraussetzungslos urteilenden Forscher ist der Nachweis in voller Klarheit und Eindeutigkeit erbracht, dass die Mannigfaltigkeit der organisierten Natur nicht von Anfang an gewesen ist, nicht auf einmal plötzlich geschaffen wurde, sondern sich erst allmählich entwickelt hat und die jetzige Organismenwelt das Resultat eines unendlich langen, vielfach verschlungenen und in sich oft rückläufigen Entwicklungsprozesses darstellt.

Die Entwicklungslehre hat sich in der Naturwissenschaft nicht kampflos durchgesetzt, und verständlich ist, dass sie auch nicht widerstandslos Bildungsgut weiterer Kreise werden konnte. Sie ist bis in die neueste Zeit, nach der Jahrhundertwende und vor allem in den ersten Jahren der europäischen Krise wieder lebhafter als zuvor, Gegenstand ungezählter Angriffe und Widerlegungsversuche geworden. Der Kampf gegen den Grundgedanken der Theorie allerdings ist in naturwissenschaftlich gebildeten Kreisen längst aufgegeben worden. Er wird dagegen weiter geführt gegen ihre Voraussetzungen und gegen den Umfang ihres Geltungsbereiches. Die Berechtigung der Kritik einer zu weitgehenden Auswertung und Übertragung des biologischen Entwicklungsgedankens auf das Leben des Einzelmenschen und

der menschlichen Gesellschaft ist nicht zu übersehen. Hier das richtige Mass zu weisen und die besonnene Auswirkung des Entwicklungsgedankens auf die menschliche Gesellschaft zu sichern, liegt ausserhalb der Reichweite des Biologen. Wichtiger ist für ihn die Auseinandersetzung mit den kritischen Einwänden und Zweifeln an der kausalen Begründung der Evolution, die Beantwortung der gestellten Fragen über das Wie und Warum der evolutiven Artenbildung.

Sehr weit gingen in dieser Hinsicht bis in die neueste Zeit auch die Ansichten überzeugter Anhänger der Entwicklungslehre auseinander. Zwei Prinzipien vor allem sind es, auf Grund welcher eine kausale Erklärung der Evolution für möglich gehalten worden ist, das Anpassungs- oder Bewirkungsprinzip und das Zuchtwahl- oder Selektionsprinzip.

Die Theorie, dass die Anpassungsfähigkeit der Organismen an die Umwelt, oder, wie auch umgekehrt gesagt werden kann, der Einfluss der Umwelt auf die Organismen, Ursache oder doch auslösender Faktor der Entwicklung sei, basiert auf der Voraussetzung, dass jedem Lebewesen die Fähigkeit zukommt, in dem Sinne auf Umweltsbedingungen zu reagieren, dass er zweckmässige, unter der gegebenen Lebenslage günstig wirkende Veränderungen erfährt. Diese Anpassungstheorie ist lange vor Darwin, von einem seiner bedeutendsten Vorläufer und Mitbegründer der Entwicklungstheorie, im Jahre 1809 von Lamarck 2) in seiner "Philosophie zoologique" begründet worden. Er hat als erster in voller Klarheit den Gedanken ausgesprochen, dass die zweckmässige Ausbildung der Organismen auf Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe und auf das erbliche Festhalten der einmal erworbenen Eigenschaften zurückzuführen sei. Die Lehren des Lamarckismus haben später in der "mechanisch-physiologischen Theorie der Abstammungslehre"Nägelis 3) eine tiefdurchdachte Begründung und Erweiterung gefunden. Der Zuchtwahl- oder Selektionstheorie hat Darwin 1859 in seinem berühmtesten Werk, "Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl", eine wuchtige Begründung gegeben. Seine Theorie hat zwei, durch vielfache Beobachtungen gesichert erscheinende Voraussetzungen:

Die Mannigfaltigkeit in der organisierten Natur erstreckt sich bis in die feinsten Einzelheiten der Form und Funktion. Die Individuen derselben systematischen Einheit sind niemals völlig gleichartig. Sie variieren und ihre kleinen Unterschiede sind erblich.

Die Organismen erzeugen zur Fortpflanzung immer viel mehr Keime, als zur Erhaltung der Art notwendig sind. Dies macht eine Selektion unter der Gesamtnachkommenschaft möglich und führt zum Überleben des Passendsten.

Bei den Kulturpflanzen und Haustieren trifft der Züchter mehr oder weniger bewusst und geschickt die Auswahl und wählt diejenigen Individuen zur Weiterzucht, die sich durch besondere, ihm wünschenswert erscheinende Merkmale von den anderen unterscheiden, er treibt künstliche Zuchtwahl. In der Natur findet nach Darwin ein ähnlicher Selektionsprozess, die natürliche Zuchtwahl, statt. Von der Unzahl der Keime aller Individuen einer jeden Organismenform geht die grosse Mehrzahl früher oder später im Entwicklungsgange zugrunde. In dem vielgenannten Kampf ums Dasein, biologisch besser ausgedrückt, in dem Wettbewerb der Keime um vorteilhafte Lebensbedingungen, bleiben in der Hauptsache diejenigen Varianten einer Stammform erhalten, welche den umgebenden Bedingungen am besten angepasst sind. Weniger günstig orgarnisierte Keime und Individuen gehen unter. Ein solcher Selektionsprozess wird zu einer fortschreitenden Entwicklung und zu immer zweckmässigerer Ausrüstung einer Organismenform für die Ausnützung der Bedingungen ihrer Standorte führen, sofern die Häufigkeit und Mannigfaltigkeit der kleinen Abänderungen gross genug ist und diese erblich sind. Die bevorzugten Individuen vererben ihre Eigenschaften auf die Nachkommen, und die Summierung günstiger kleiner Abweichungen führt bei andauernd gleichsinniger Selektion in aufeinanderfolgenden Generationen schliesslich zur Erwerbung neuer, zweckmässiger Merkmale.

In der Einfachheit und geringen Zahl der Voraussetzungen steht diese Darwinsche Selektionstheorie, der Darwinismus im engeren Sinne, unerreicht da. Keine andere Theorie vermag den

Prozess der Evolution und die Entstehung der zahlreichen und oft unglaublich zweckmässigen Eigenschaften der Organismen auch nur annähernd so einfach und gut zu erklären. Die Frage ist nur, ob die Selektionslehre in der von Darwin geprägten Form genügt, um alles zu erklären, was erklärt werden soll und vor allem, ob sich die Richtigkeit ihrer Voraussetzungen erweisen lässt.

Eine experimentelle Grundlage liess sich vorderhand weder für die Richtigkeit der Selektions- noch für die Anpassungstheorie gewinnen. Alle Versuche, innerhalb einer gegebenen Population durch Selektion eine Veränderung bestimmter Eigenschaften zu erreichen und ebenso diejenigen zum Nachweis dauernder Umprägung einer Organismenform durch direkte Bewirkung, haben zu negativen oder doch niemals zu eindeutigen und allgemein als richtig anerkannten Ergebnissen geführt. Auch die experimentelle Genetik, die sich seit 1900 in raschem Aufschwunge befindet, trug mit ihren ersten Ergebnissen zunächst mehr zur weiteren Verwirrung als zur Klärung der älteren Ansichten bei. Vor allem gilt dies für die ersten Resultate der zwei gleichzeitig sich entwickelnden, in ihren Fragestellungen und Zielen aber weit auseinander gehenden Richtungen der Variabilitätsforschung. Von diesen beiden, gleicherweise sich mathematisch-statistischer Methoden bedienenden Forschungsrichtungen führte die eine zunächst zur scharfen Formulierung der Begriffe des Genotypus, des sich vererbenden Komplexes der Eigenschaftsanlagen und des Phänotypus, der Erscheinungsform des Individuums als eines Produktes seines Genotypus und äusserer Bewirkung, zur Aufstellung der Begriffe der Population als einer zufallsbedingten Individuengemeinschaft vielelterlicher Herkunft und der aus solchen Populationen durch Inzucht von Einzelindividuen isolierbaren reinen Linien, innerhalb welcher durch Auslese keine weiteren genotypisch verschiedenen Formen mehr nachzuweisen sind. Indem fortgesetzte Selektion die in einer Population enthaltenen Genotypen sondert, schafft sie nichts Neues und ist nach Johannsen 4), dem hervorragendsten Vertreter dieser Forschungsrichtung, überhaupt unfähig, etwas Neues zu erzeugen. /

Die ersten Resultate der von de Vries 5) durch seine Untersuchungen an Oenothera eingeleiteten Mutationsforschungen liessen sich ebenfalls, wenigstens teilweise, gegen die darwinistischen Ansichten des 19. Jahrhunderts ins Feld führen. Im Gegensatz zu Johannsen hat aber de Vries selbst von Anfang an versucht, seine neuen Resultate und Anschauungen mit der Selektionstheorie Darwins in Einklang zu bringen. Kommt der Selektion nach Darwin zugleich ausscheidende und aufbauende Kraft zu, indem sie Unpassendes ausschaltet und gleichzeitig die unabhängig von ihr selbst entstandenen erblichen Variationen durch Auslese häuft und dadurch allmählich die neuen Arten sich entwickeln lässt, so misst dc Vries der Selektion nur noch die eine, ausscheidende Tätigkeit zu.

Für einen Teil der von de Vries im Formenkreis von Oenothera gefundenen und als Mutationen aufgefassten Neuformen ist seither eine andere Art der Entstehung nachgewiesen worden. Seine Annahme, dass die erbliche Abweichung einer Mutation von der Stammart und diejenige von Mutationen derselben Stammart untereinander zumeist beträchtlich sei, hat sich als viel zu weitgehend erwiesen. Die Mutationstheorie unserer Tage ist wieder auf die ältere Annahme einer überwiegenden Bedeutung kleiner erblicher Abweichungen für den Evolutionsprozess zurückgekommen.

Auch eine dritte, seit 1900 zu ungeahnter Entwicklung gelangte Forschungsrichtung der Genetik, die auf Mendels Werk aufbauende Vererbungsforschung 6) durch Feststellung der Vererbung von Unterschieden gekreuzter Rassen, bedeutete in ihren Anfängen alles eher als eine Stütze darwinistischer Ideen. Erst ihr späterer Ausbau, die Verknüpfung ihrer empirischen Resultate mit denjenigen der mikroskopischen Zellforschung, der Einbezug der Fragestellung und der Methoden der Entwicklungsmechanik, der Übergang vom Kreuzungsversuch zwischen nahe verwandten und nur in wenigen Einzelmerkmalen differierenden Rassen zur Kreuzung von Varietäten, Arten und von Vertretern verschiedener Gattungen, hat zu Aufschlüssen geführt, die wieder zugunsten der Annahme einer Evolution unter Mitwirkung der Selektion sprechen.

Es ist nicht möglich, im engen Rahmen eines Festvortrages auch ein nur annähernd vollständiges Bild vom gegenwärtigen Stande der modernen Genetik zu geben. Ich begnüge mich mit dem Versuch, kurz darzulegen, wie auf Grund der Ergebnisse der eben genannten und anderer Forschungsrichtungen sich unsere Vorstellungen von der "Entstehung neuer Eigenschaften und Erbanlagen" entwickelt und verändert haben und welche neuen Beziehungen zum Evolutionsproblem sich aus ihnen ergeben. Auf eingehende Besprechung, ja selbst auf die Anführung von Einzelresultaten muss ich nahezu verzichten. Das mag auch entschuldigen, wenn ich die wenigen Beispiele dem Pflanzenreich und der botanischen Forschung entnehme, mit dem fast überflüssigen Hinweis darauf, dass botanische und zoologisch-anthropologische Forschungen auf genetischem Gebiete sich gegenseitig ergänzen und wie in den anderen Gebieten der allgemeinen Biologie, so auch in der Genetik, mit der Einheit des Lebens sich auch die Einheit des Lebensgeschehens überwältigend offenbart.

Für den Fernerstehenden besteht zwischen der Möglichkeit einer "Entstehung neuer Eigenschaften und Erbanlagen"und den allgemein bekannten Tatsachen der Vererbung ein auffallender Widerspruch. Es ist nicht leicht, denselben mit wenigen Sätzen zu beseitigen.

Der biologische Begriff der Vererbung, nur von diesem kann hier die Rede sein, basiert auf der tausendfältigen Erfahrung, dass im ganzen Organismenreich die Merkmale und Eigenschaften der Eltern in ihren Nachkommen wiederkehren. Vererbung bedeutet das Zustandekommen einer weitgehenden Übereinstimmung zwischen Eltern und Kindern, Übertragung und Konservierung der Fähigkeit zur Ausprägung von äusseren Merkmalen, inneren Eigenschaften und Fähigkeiten auf und in der Nachkommenschaft. Formen-Neubildung hat die Möglichkeit der Entstehung von Unterschieden zwischen Eltern und Kindern zur Voraussetzung, bedeutet also eine Durchbrechung der durch die Vererbung gesicherten Formenkonstanz. Ohne

Vererbung also keine durchschnittliche Gleichartigkeit von Eltern und Kindern, ohne gelegentliche Durchbrechung dieser Gleichartigkeit keine neuen Formen, keine Evolution.

Der Gegensatz zwischen Evolution durch Abänderung und der durch die Vererbung garantierten Formenkonstanz ist also nur scheinbar und in der neueren Genetik sind die beiden Probleme derart eng verbunden, dass nur an den Objekten und mit den Methoden der experimentellen Vererbungsforschung einwandfreie Untersuchungen über Formen-Neubildung möglich sind. Beide Arbeitsgebiete haben die gleiche sorgfältige, bis in die feinsten Einzelheiten gehende Analyse von Form und Funktion des Ausgangsmateriales und seiner Beeinflussbarkeit durch die Aussenbedingungen zur Voraussetzung. Jedes Individuum, Mensch, Tier und Pflanze, ist nach Form und Funktion die Resultante seiner ererbten Anlagen und der Einwirkung äusserer Faktoren, seiner Lebenslage. Vererbt werden daher streng genommen auch nicht bestimmte Formen, Strukturen und Funktionsweisen, sondern vererbt wird die Fähigkeit, auf die Einflüsse der Umwelt in bestimmter Weise zu reagieren. Vollkommene Übereinstimmung zwischen Eltern und Nachkommen ist, sofern sie überhaupt jemals vorhanden sein sollte, nur in absolut gleicher Lebenslage zu erwarten. Diese Übereinstimmung kommt am weitgehendsten innerhalb reiner Linien und Klone, d. h. der auf sexuellem oder vegetativem Wege erzeugten Nachkommenschaft sich selbst fortpflanzender Individuen, also bei einelterlicher Fortpflanzung, zustande.

Bei zweielterlicher Fortpflanzung ist eine viel weniger weitgehende Übereinstimmung zwischen Eltern und Nachkommenschaft Regel, weil bei freier Wahl des Partners schon die sich paarenden Individuen wohl niemals vollkommen gleich sind. Tägliche Erfahrung und exakte Vererbungsversuche an Pflanzen und Tieren lehren weiter, dass bei zweielterlicher Fortpflanzung die Eltern nicht nur ihre gemeinsamen, arteigenen Merkmale auf die Nachkommenschaft übertragen, sondern diese auch ihre Unterschiede in gesetzmässiger Weise wieder zum Ausdruck bringt.

Zweckmässige Kombination von Linienzucht und Mendelforschung, also Analyse der Nachkommenschaften aus der Paarung zwischen Individuen derselben und verschiedener Rassen mit konstanten Unterschieden, lehren das Ausgangsmaterial genau kennen, von welchem aus eine Neubildung von Lebensformen spontan erfolgen oder experimentell versucht werden kann. Erst wenn durch solche kombinierte Vererbungsversuche sichersteht, was von einer Organismenform durch Generationen hindurch Bestand hat, können wir auch feststellen, was sich an einzelnen Individuen dieser Generationen dauernd verändert, was an denselben äusserlich in Form neuer Eigenschaften auftritt und was in Form neuer Erbanlagen auf ihre Nachkommenschaft übertragen wird. Dabei sind neue Eigenschaften in diesen Mutationsvorgängen etwas Sekundäres, blosse Anzeichen, und nicht einmal immer, für Änderungen der inneren Anlagen. Nur diese inneren Anlagen, die Gene, können vererbt werden, und nur durch Abänderung einzelner dieser Erbanlagen oder Änderungen des ganzen Anlagenbestandes sind vorläufig erbliche Änderungen von Organismen zu erzielen. Über die Neubildung von Erbanlagen aus belebtem oder unbelebtem Material, auch über ihr Wachstum und ihre Teilungsfähigkeit liegen wohl Hypothesen und Spekulationen, aber noch nicht die geringsten experimentellen Daten vor.

Dagegen sind zwei Wege für experimentelle Abänderung von Erbanlagenbeständen bekannt. Den einen Weg hat die Mendelforschung gewiesen. Durch geeignete Kreuzungen vermag sie den einheitlich erscheinenden Anlagenbestand eines Organismus zu analysieren, die Anlagen für die Ausprägung von Einzelmerkmalen voneinander zu lösen und mit Anlagen von anderen Rassen in neuen Kombinationen zu vereinigen. Auf diesem Wege lassen sich Lebensformen mit neuen erblichen Eigenschaften erzielen. Anlagenkombination zum Zwecke der Erzielung neuer Eigenschaften ist für die Pflanzen- und Tierzüchtung bereits von grösster Bedeutung geworden. Sind in irgendeinem Verwandtschaftskreis Formen mit verschiedenen vorteilhaften Eigenschaften vorhanden, wie z. B. rascher Entwicklungsfähigkeit und Frühreife, Widerstandsfähigkeit gegen

Witterungseinflüsse oder Infektionen, so vermag der Genetiker, diese zunächst auf verschiedene Rassen verteilten Eigenschaften durch Kreuzungen und Kreuzungsanalysen schliesslich in einer neuen Rasse zu vereinigen. Freilich erfordert diese planmässige Aufspaltung und Umkombination der Anlagenbestände die Ausführung zahlreicher Kreuzungen, die Aufzucht und sorgfältige Untersuchung von Tausenden von Individuen solcher Bastardzuchten. Noch lange nicht ausgeschöpft sind die Möglichkeiten, die der Pflanzen- und Tierzüchtung auf Grund dieser Rassenbildung durch Neukombination offenstehen. Dagegen ist nicht wahrscheinlich, dass diese Anlagenkombination in der natürlichen Evolution des Pflanzen- und Tierreiches eine entsprechend wichtige Rolle gespielt hat und noch spielt. Ihre Bedeutung dürfte sich hier auf .die Vermehrung der Rassen- und Varietätenzahl innerhalb formenreicher Arten beschränken. Für die Entstehung und Steigerung von Organisationsmerkmalen, in denen sich weitere systematische Einheiten, Arten und. Gattungen voneinander unterscheiden, reichen die durch sie gebotenen Möglichkeiten nicht aus, —sofern man sich nicht zu der Annahme entschliesst, dass die sämtlichen Anlagenbestände für die Vervollkommnung der Organisation schon in den primitiven Organisationstypen enthalten gewesen sind, wofür bis jetzt allerdings nicht die geringsten Anhaltspunkte sichergestellt sind.

Der Mendelforschung verdanken wir also zunächst den einwandfreien Beweis der Bedingtheit aller Ausseneigenschaften von den Erbanlagen und der Möglichkeit der Entstehung neuer Eigenschaften und Eigenschaftenkombinationen durch veränderte Anlagenkombination. Vererbungsversuche in reinen Linien haben einen zweiten Weg der spontanen Entstehung und willkürlichen Erzeugung neuer erblicher Eigenschaften freigelegt. Im denkbar gleichmässigsten Untersuchungsmaterial, in den reinen Linien und Klonen, treten fast nicht weniger häufig als in den Populationen der freien Natur erblich konstante Neuformen, Mutationen, auf. Sie entstehen sprungweise, oft ohne deutliche Beziehung zu bestimmten Ursachen. Für einige Kategorien dieser Mutationen ist aber die ihre Entstehung auslösende Veränderung im Genbestand der Ausgangsform indirekt

feststellbar und damit auch eine Möglichkeit zur willkürlichen Erzeugung ähnlicher Mutationen aufgedeckt. Den Einblick in die Art und den Mechanismus dieser Veränderungen im Genbestand verdankt die experimentelle Genetik einem Spezialgebiete der Morphologie, der Plasma- und Kernforschung, deren Resultate uns die Pforten für das Verständnis der Vererbung und der Formenneubildung zugleich geöffnet haben.

Die Vererbung einer spontan, d. h. aus inneren Gründen oder unter dem Einfluss nicht übersehbarer Einflüsse der Aussenwelt zustandekommenden, dauernden Abweichung im Bau und der Reaktionsweise eines Organismus ist nur möglich, wenn der Lebensträger, das Protoplasma oder Bestandteile desselben, von denen die Vererbung abhängig ist, eine dauernde Veränderung erfahren haben. Man bezeichnet denjenigen Teil des Plasmas einer Zelle, also auch einer Geschlechtszelle, Gamete, in welchem ihre Arteigenheit begründet ist, als ihr Keimplasma oder Idioplasma. Plasma- und Kernforschung haben dieses zunächst hypothetische Idioplasma mit sichtbaren Strukturen und Organisationsverhältnissen des Protoplasmas identifiziert. Immer mehr hat sich die Überzeugung durchzusetzen vermocht, dass speziell Bestandteile des Zellkerns Träger des Vererbungsvermögens sind, Keimplasma sein müssen. Die extreme Ansicht vom Idioplasmamonopol des Kerns allerdings ist in neuester Zeit widerlegt worden 7) und es steht ausser Zweifel, dass gewisse Rassenunterschiede bei Pflanzen, wie z. B. das Auftreten der partiellen Weiss- und Gelbfärbung normal grüner Laubblätter, die Ausscheidungsform gewisser Stoffwechselprodukte, wie z. B. der Stärkesubstanz usw., auf vererbbaren Verschiedenheiten anderer Plasmateile, des Zytoplasmas und der Chromatophoren, beruhen müssen. Von den Organisationsmerkmalen, die grössere systematische Einheiten, Gattungen, Familien, charakterisieren, müssen wir annehmen, dass ihr Zustandekommen von dem Zusammenwirken des im gesamten Plasma verteilten Idioplasmas abhängig ist. Für die Vererbung des Geschlechts und für die grosse Zahl der bei Kreuzungen von Linien, Rassen und Varietäten den Mendelschen Gesetzen folgenden Merkmale und Unterschiede

liefert dagegen sicher der Zellkern die idioplasmatische Grundlage. In den Vorgängen der Kernteilung, der Befruchtung und der Reduktion sind die der Mendelvererbung zugrundeliegenden Verteilungs- und Kombinationsmechanismen der Erbanlagen gegeben. Ganz besonders ist die Annahme eines Verteilungsprozesses der Erbanlagen, nach Art der Reduktionsteilung der Kerne in Verbindung mit den Vorgängen der Gametenbildung, für die in der Nachkommenschaft von Bastarden festgestellte gesetzmässige Aufspaltung unerlässlich. Zellkern und Chromosomen entsprechen in ihrem ganzen Verhalten vollständig den Anforderungen, die zur Erklärung der Ergebnisse der Mendelforschung an den Kombinations- und Verteilungsapparat der Erbanlagen zu stellen sind. Es kann als ausserordentlich wahrscheinlich, ja als sicher betrachtet werden, dass die durch Vererbungsanalyse feststellbaren Einheiten des Keimplasmas, die als Faktoren, Gene, idioplasmatische Grundunterschiede bezeichnet werden, in den Chromosomen lokalisiert sind. Die Unterschiede in irgendeinem Aussenmerkmal verwandter Rassen beruhen auf idioplasmatischen Unterschieden und diese wiederum in Unterschieden im Bau sich sonst entsprechender Chromosomen.

Jede spontan oder unter experimentellem Einfluss entstandene Neuform wird sich also von ihrer Stammform durch eine erbliche Abänderung im Keimplasma unterscheiden, die als Strukturänderung des Zytoplasmas, der Chromatophoren oder des Zellkerns auftreten wird. Viele dieser Änderungen, im besonderen diejenigen im Zytoplasma, entziehen sich unserer Wahrnehmung. Handelt es sich dagegen um Änderungen des im Chromatin des Kerns lokalisierten Keimplasmas, so besteht die Möglichkeit, sie wenigstens in den Teilungsstadien des Kerns als Änderungen in der Zahl, Grösse, Gestalt oder Lagerung der Chromosomen feststellen zu können.

Von der Grösse, den Eigenschaften und der Konstitution der Erbanlagen wissen wir noch wenig Positives. Spekulationen in dieser Richtung sind vorderhand fast nutzlos, d. h. sie tragen zurzeit noch nichts oder nichts Wesentliches zum Verständnis der Vererbungs- und Artbildungsvorgänge bei. Dagegen ist für

deren Verständnis der Nachweis wichtig, dass die Gene zu Gruppen mit grösserer oder geringerer Affinität verbunden sein können und diese in morphologisch ebenfalls distinkten Strukturteilen der Chromosomen, in den Chromomeren, enthalten sind, deren reihenförmige Anordnung im Chromosom auch eine mehr oder weniger lineare Anordnung der Gene selbst zur Folge hat 8).

Die Richtigkeit dieser Vorstellungen ergibt sich nicht nur indirekt aus den Resultaten der Mendelforschung, sondern ist auch direkt nachweisbar. Sind in den Chromosomen die stofflichen Grundlagen der Vererbung, die Gene, enthalten und in bestimmter Weise geordnet, so müssen mit der Entfernung eines Chromosomenstückes oder eines ganzen Chromosoms auch die Gene verschwinden, deren Sitz das betreffende Chromosom ist. Dieser Nachweis ist allerdings erst für ein Versuchsobjekt, fur die im besondern durch die Schule Morgans 9) so eingehend untersuchte Fruchtfliege Drosophila mit aller wünschenswerten Sicherheit geleistet. Für andere Objekte sind entsprechende Ausfallerscheinungen bei Änderung des Chromosomenbestandes sehr wahrscheinlich gemacht worden. Alle spontan auftretenden oder experimentell hervorgerufenen Veränderungen des Chromatingehaltes und des Chromosomenbestandes der Kerne eines Organismus und die damit einhergehenden Änderungen des Genbestandes haben also auch Änderungen in den morphologisch-physiologischen Aussenmerkmalen zur Folge. Sie bedeuten Änderung des Genotypus, Mutation.

Möglichkeiten, den Chromosomenbestand der Kerne und damit auch den Genbestand zu ändern, sind in grösserer Zahl bekannt und erprobt. Nur einige wenige seien hier aufgeführt.

Verhältnismässig leicht zu erzielen ist in verschiedenen pflanzlichen Stämmen eine auch in der Natur nicht allzu selten spontan erfolgende Vermehrung des gesamten Chromosomen- und damit auch des Genbestandes 10). Der Effekt einer Verdoppelung und der allerdings nur selten erfolgreichen Vervierfachung des normalen Chromosomenbestandes ist meistens eine harmonische Abänderung aller von den Kerngenen abhängigen Eigenschaften, eine Vergrösserung der Zellen, Kräftigung ihrer lebenden und unbelebten Strukturen und ein der Zeilvergrösserung

parallel gehender Riesenwuchs des Individuums. In der Blumenzüchterei sind auf dieser Grundlage in den letzten Jahrzehnten bedeutende Erfolge erzielt worden. Viele besonders gross und reich blühende Hyazinthen, Narzissen, Alpenveilchen. Primeln sind als solche Riesen- oder Gigasformen aus einfachen, viel kleineren Stammformen durch Verdoppelung des Chromosomenbestandes hervorgegangen. Weiter hat sich erwiesen, dass auch die wichtigsten Kulturpflanzen, Getreidearten, Baumwoll-, Zuckerrohr- und Bananenrassen in jedenfalls identischer Weise bereits in früheren Perioden der Menschheitsgeschichte hochgezüchtet worden sind.

Zu weitgehenden Abänderungen des Chromosomenbestandes führen auch Kreuzungen zwischen Formen mit ungleicher Chromosomenzahl. Von ganz besonderem Interesse sind dabei die Triploidformen, deren Kerne einen über die normale Zweizahl hinausgehenden dritten Chromosomensatz aufweisen, der sodann bei der Gametenbildung dieser Formen eine verschiedenartige Verteilung erfährt. Von den Nachkommen solcher Triploide haben sich besonders diejenigen lebensfähig erwiesen, welche über die normale doppelte Chromosomengarnitur hinaus 1-2 akzessorische Chromosomen aufweisen. Am eingehendsten ist die Bedeutung dieser überzähligen Chromosomen für die Ausprägung der Aussenmerkmale bei Oenothera und Datura 11) studiert worden. Bei Datura Stramonium, dem Stechapfel, z. B. kommt den Gametenkernen normal ein einfacher zwölfzähliger Chromosomensatz zu. Werden die Chromosomen eines dritten Satzes ungleich auf zwei Gametenkerne verteilt, so entstehen u. a. 12 verschiedene Kombinationen eines vollständigen Satzes, Genoms, mit je einem der 12 Chromosomen als akzessorischem Chromosom. Diesen 12 verschiedenen Gametentypen entsprechen sodann auch 12 Typen der Nachkommenschaft, die in den verschiedensten Merkmalen, im besonderen in Grösse, Form und Bestachelung der Früchte, deutlich voneinander verschieden sind.

Weitere Abänderungen des Genbestandes sind möglich durch Veränderung der Einzelchromosomen bei unveränderter Gesamtzahl des Genoms, z. B. durch Abtrennung oder Hinzutreten von Chromomeren.

Im Gegensatz zu den genannten drei Gruppen von Abänderungen des Chromosomenbestandes haben die Versuche zur Veränderung der Konstitution des einzelnen Gens noch nicht zu entsprechend häufigen und sicheren Resultaten geführt. Ihre willkürliche Auslösung durch kräftige Ausseneinflüsse, wie extrem hohe und tiefe Temperaturen, Bestrahlungen steht sicher, ohne dass es aber bis jetzt öfters gelungen wäre, die optimale Dosierung der beeinflussenden Reize und das für die Beeinflussung empfindlichste oder doch am leichtesten reagierende Entwicklungsstadium ausfindig zu machen 12). In der freien Natur aber und im Kulturexperiment entstehen solche Gen-Mutationen, soweit wir jetzt wissen, verhältnismässig leicht und häufig, so dass in den allerletzten Jahren diesen auf kleinsten Abänderungen des Keimplasmas beruhenden Mutationen für das Problem der Artbildung die grösste Bedeutung zuerkannt wird. Ihre Häufigkeit ist lange bedeutend unterschätzt worden und auch jetzt noch zahlenmässig überhaupt nicht genau feststellbar. Damit hat es folgende Bewandtnis. Die Zellkerns des Körpersomas höher differenzierter Pflanzen und Tiere sind digenomatisch. Sie führen zweimal denselben Chromosomensatz, den einen väterlichen, den anderen mütterlichen Ursprunges. Jede im Kern lokalisierte Erbanlage ist ebenfalls zweimal vertreten und in je einem väterlichen und einem mütterlichen Chromosom enthalten. Mutative Abänderung sich entsprechender Gene homologer Chromosomen wird wohl nur ausnahmsweise gleichzeitig und in gleicher Art erfolgen. In der Regel wird sich die Abänderung auf ein Gen eines solchen Genpaares der mutierenden Zelle beschränken. Sie führt sodann neben einem mutierten ein diesem entsprechendes, unmutiertes Gen. Ihr Genbestand ist durchaus vergleichbar demjenigen einer Bastardzelle nach einer monohybriden Kreuzung, er ist heterozygot.

Ein mutiertes Gen wird sich in der Erscheinungsform des betreffenden Organismus auswirken, sofern es so übermächtig ist, dass das entsprechende unmutierte Gen trotz seiner Anwesenheit gar nicht zur Geltung kommt. Die betreffende Zelle und der gesamte Organismus erfahren dagegen keine Änderung, wenn das mutierte Gen gegenüber dem unmutierten Paarling wirkungslos

los bleibt, wenn es sich also nicht dominant, sondern rezessiv verhält. Alle Änderungen im Genbestande also, die rezessiven Charakter haben, kommen im Phänotypus nicht unmittelbar zur Auswirkung, so dass bei Annahme einer gleichen Häufigkeit mutierter Gene mit Dominanz und Rezessivität zum mindesten die Hälfte aller Mutationen nicht sofort erkennbar ist. Rezessive Gen-Mutationen können eine oder mehrere Generationen hindurch latent bleiben, ohne dass wir von ihrer Existenz die geringste Ahnung haben. Sie wirken sich erst dann, früher oder später, in der Erscheinungsform aus, wenn sich zufälligerweise Gameten mit denselben mutierten rezessiven Anlagen zur Zeugung von homozygoten Individuen mit gepaarten rezessiven Anlagen vereinigen.

Auch von den unter dem Einfluss der Aussenbedingungen zustande kommenden nicht erblichen Abänderungen, den Modifikationen, sind die Genmutanten nicht ohne weiteres, vielfach ohne weitläufige Untersuchung der Nachkommenschaft überhaupt nicht zu unterscheiden. Verwechslungen von Modifikationen und Mutationen sind auch aus dem Grunde möglich, weil nicht selten der eine Mutation auslösende Änderungsvorgang im Keimplasma reversibel ist. Aus der mutierten Form kann durch erneute Mutation wiederum die frühere Ausgangsform hervorgehen. Häufigeres Vorkommen solcher rückläufiger Mutationen erschwert die sichere Trennung von Mutationen und Modifikationen bedeutend und macht überdies wahrscheinlich, dass zwischen diesen beiden Möglichkeiten der Änderung in der Erscheinungsform, Modifikation und Mutation, vielleicht überhaupt nicht die scharfe Grenze existiert, die zur Zeit noch fast allgemein angenommen wird.

Über die Abhängigkeit der Entstehung neuer Eigenschaften und Erbanlagen von der Lebenslage mutierender Organismen ist noch kein eindeutiges Urteil möglich. Viele Mutationen erfolgen in der freien Natur und in Grosskulturen spontan, ohne ersichtliche Abhängigkeit von einzelnen, besonders hervortretenden Faktoren der Umwelt. Dies erweckt den Eindruck, es sei die Mutabilität eine autonome Funktion der lebenden Substanz.

Der Nachweis vermehrter Häufigkeit von Mutanten in durchgezüchteten Pflanzen- und Tierstämmen, sowie die Parallelmutationen in der freien Natur sprechen dagegen in starkem Grade für die Abhängigkeit einzelner Genänderungen von den Einflüssen besonders günstiger und besonders ungünstiger Lebenslagen. Fur die experimentelle Auslösung von Mutationen 13) kommen auch zahlreiche spezifische Reize, so z. B. chemische Reize (erhöhte Konzentration einzelner Nährstoffe, Narkotika, Gifte) mechanische Reize, wie Druck, Zug, Verletzung und Strahlungen aller Art in Frage. Weitgehend ist offenbar auch der Einfluss von Abänderungen der natürlichen Lebensbedingungen durch Wechsel der Temperaturverhältnisse, des Wassergehaltes der Umgebung usw. Ebenso lösen verschiedenartige biologische Reize, wie unharmonische Kreuzungen zwischen Rassen mit verschiedener Chromosomenzahl, Kreuzungen zwischen verschiedenen Arten, Pfropfungen, Symbiose und Parasitismus häufig Mutationen aus. Als eine durch Parasitismus ausgelöste Mutation ist, um nur ein Beispiel zu erwähnen, vor kurzem der Pflanzenkrebs 14) erkannt worden. Bacillus tumefaciens, eine Bodenbakterie, ruft an Zuckerrüben Wucherungen nach Art der Krebsgeschwülste hervor. Sie unterscheiden sich in ihrem Bau vom normalen Rübengewebe wesentlich; nicht dadurch etwa, dass die Zellen des Krebsgewebes von den krankheitserregenden Bakterien bewohnt wären, sondern durch die Tetraploidie ihrer Kerne. Infolge parasitärer Reizwirkung kommt in den embryonalen Zellen des Infektionsherdes —auf diesen bleibt in der Folge das Vorkommen der Bakterien beschränkt —eine Verdoppelung der Chromosomenzahl der Kerne und damit Riesenwuchs der Zellen in Kombination mit üppiger Vermehrungstätigkeit und all den morphologisch-physiologischen Merkmalen zustande, die von anderen Tetraploidformen her bekannt sind. So kann der Rübenkrebs auch auf andere Individuen transplantiert werden, ohne dass für das Gedeihen auf der neuen Unterlage eine Mitwirkung der die Krebsbildung auslösenden Bakterien irgendwie notwendig wäre. Der Rübenkrebs ist also eine Mutation auf veränderter chromosomaler Grundlage. Wäre das normale Rübengewebe zur Bildung von Regeneraten mit neuen Vegetationspunkten

befähigt, so wurde wohl auch das auf ihm parasitierende, tetraploide Krebsgewebe als Ausgangsmaterial zur Erzeugung von Riesenformen Verwendung finden können, vergleichbar etwa den Regeneraten an den Pfropfstellen von Nachtschatten und Tomaten, aus welchen die ersten Gigasformen auf experimentellem Wege hervorgegangen sind.

Mutation erzeugt, wie gerade aus dem vorbesprochenen Beispiel ersichtlich ist, in der Regel nicht sofort vollständig mutierte Individuen, sondern sehr viel häufiger nur mutierte Einzelzellen, Zellgruppen, Gewebe, Einzelorgane. Am Tierkörper auftretenden mutierten Teilen wird im allgemeinen für die Formenneubildung keine grosse Bedeutung zukommen, während sie natürlich auf den Lebensablauf des betroffenen Individuums durch Korrelationsstörungen in Geweben und Organen, infolge leichterer Beeinflussbarkeit durch Ausseneinflüsse und Infektionen usw., von wesentlichem Einfluss sein und zu förmlichen Krankheitsherden werden können. Bei Pflanzen und bei niederen Tierformen mit den Möglichkeiten vegetativer Vermehrung werden lokale Mutationen im Soma dagegen auch Ausgangspunkte für die Bildung entsprechend mutierter Sprosse, der sogenannten Knospenmutationen. Ihre Bildung kann bei Blütenpflanzen vom mutierten Soma regenerationsfähiger Sprosse und Wurzeln, in selteneren Fällen selbst von Blättern ausgehen. Zahlreiche Kulturformen, die sich von ihren Stammarten durch abweichende Blattfärbungen, Blattformen, durch die Hängeform der Äste und Zweige, Zwergwuchs und ähnliche Eigenschaften auszeichnen, sind spontan als Knospenmutationen aufgetreten und sodann vegetativ und durch Samen vermehrt worden. Am günstigsten sind aber die Chancen für die Erhaltung einer Mutation, wenn sie in den direkt zur Bildung der Fortpflanzungsorgane und der Gameten führenden Organen und Geweben auftritt. Bei den Tieren sind überhaupt nur diejenigen Mutationen über die individuelle Existenz des Mutanten hinaus erhaltungsfähig, die direkt in den zur Bildung der Gameten führenden Keimbahnen, in den Mutterzellen der Gameten, in diesen selbst, oder in ihrem Verschmelzungsprodukt, der Zygote, ausgelöst worden sind.

Mutationen im Soma wurden, bei Pflanzen und bei Tieren,

auch dann zu mutierten Nachkommen führen, wenn gleichzeitig mit der Mutation im Soma eine dieselbe Abänderung im Soma der Nachkommen hervorrufende Mutation in den Keimbahnen erfolgen würde oder wenn die im Soma durch Mutation erworbene Eigenschaft nachträglich im Idioplasma der Zellen der Keimbahnen Mutation induzieren würde, wofür aber bis jetzt weder an pflanzlichen noch an tierischen Objekten die geringsten Anhaltspunkte gefunden worden sind.

Dadurch und auch in einer zweiten Richtung sprechen die bisherigen Erfahrungen über die Mutation gegen das Anpassungsprinzip des Lamarckismus. Die Mutationen erfolgen richtungslos, zum mindesten in Beziehung auf die spezifischen, sie auslösenden Umweltsfaktoren. Regellos sind sie natürlich nicht, denn ein jeder Organismus ist in allen Äusserungen seiner Variabilität durch die Konstitution seines Keimplasmas, durch die an demselben in der Vergangenheit bereits erfolgten Abänderungen eingeschränkt, sodass sich seine gesamte Variabilität und damit auch seine Mutation mir in bestimmten Bahnen weiter auswirken kann. Den mutierten Anlagen und den durch sie bedingten Aussencharakteren kommt wohl nur ausnahmsweise eine bessere Angepasstheit an den beeinflussenden Faktor zu. In der Regel sind sie nicht nur durchaus belanglos, sondern wirken vielfach direkt schädigend und hemmend. Viele Mutationsvorgänge rufen der Entstehung sogenannter Letalfaktoren, das heisst Organisationsabänderungen, die sich durch erhöhte Sterblichkeit, kümmerliche oder krüppelhafte Entwicklung, hochgradige Sterilität auszeichnen. Sind also in bezug auf den auslösenden Faktor die Mutationen zumeist richtungslos, so ist damit nicht ausgeschlossen, dass einzelne derselben nicht nur erhaltungsfähig sind, sondern den umgebenden Aussenbedingungen gegenüber sich vorteilhafter als die Ausgangsform verhalten, den Aussenbedingungen besser angepasst erscheinen. So kann also Angepasstheit, wenn auch nicht durch aktive Bestimmung der Mutationsrichtung, so doch passiv und indirekt, auf dem Umwege durch Selektion zustande kommen, die in diesem Falle eben nicht formbildend, sondern nur ausmerzend wirkt. In diesem Sinne werden in den letzten Jahren mehr und mehr die Mutationen und ganz speziell

die Genmutationen als das wichtigste der Selektion sich darbietende Auswahlmaterial aufgefasst. Einige Hinweise auf die Stellungnahme führender Genetiker mögen dies belegen.

Johannsen, dessen frühere ablehnende Stellung zur Darwinschen Selektionslehre bereits erwähnt worden ist, fasst in einer seiner letzten Veröffentlichungen die Resultate der neueren Untersuchungen über die Mutationen in dem Satze zusammen: "Es zeigt sich immer mehr, dass die relativ kleinen Mutationen das wichtigste Material der Vererbungsstudien bei Menschen, Tieren und Pflanzen bilden, weil allerhand Abweichungen vom ,normalen' Typus der betreffenden Spezies oft sehr wichtig für Wohlfahrt, Verwendung und ökonomischen Wert der Organismen sind" und daher, was er nicht mehr beifügt, beim Vorkommen in der freien Natur wohl auch Selektionswert besitzen dürften. R. Hertwig 15) hält auch zahlenmässig die kleinen erblichen Abweichungen, die Kleinmutationen, im besondern auf Grund der Erfahrungen an den genetisch bestuntersuchten Objekten Drosophila und Antirrhinum für häufig genug, um den wechselnden Existenzbedingungen der Natur immer das zur Selektion geeignete Auslesematerial bieten zu können, und er kommt zum Schluss, "dass die neuzeitlichen Untersuchungen, die unter Anwendung der von de Vries und Johannsen angewandten exakten Methoden, aber in viel weiterem Umfange angestellt und über lange Zeiträume ausgedehnt wurden, nicht, wie es vorübergehend den Anschein hatte, zu einem die Selektionslehre von vornherein ausschliessenden Ergebnis, sondern zu einer vollkommenen Bestätigung von Darwins Grundanschauungen und Voraussetzungen geführt haben". Auch die weitere Teilfrage des Artbildungsproblems: Können kleine Unterschiede und damit ihr Selektionswert im Laufe längerer Zeitabschnitte derart gesteigert oder summiert werden, dass die mutierten Formen zu Varietäten und schliesslich zu guten Arten werden, wird von kompetentester Seite zuversichtlich bejaht. Morgan und Baur 16), Zoologe und Botaniker, die auf diesem Arbeitsgebiete die grösste Erfahrung besitzen, sehen das Wesentliche der Artbildung in der Summation kleiner Mutanten gegeben. Summation von Kleinmutationen ist nach

Baur auch der wesentliche Unterschied zwischen der in der Natur sich spontan vollziehenden Artenbildung und der künstlichen Erzeugung von Rassen in Pflanzen- und Tierzucht. Bei der künstlichen Zuchtwahl spielen die starken Mutationen eine sehr wichtige Rolle, und die meist sehr auffälligen Unterschiede der von Baur eingehend studierten Löwenmäulchen sind nicht Summationen von Kleinmutationen, sondern gehen jeweils auf nur wenige aber sehr ausgiebige Faktormutationen zurück. Die künstliche Zuchtwahl des Menschen arbeitet, da sie nach möglichst raschem und auffallendem Erfolg trachtet, wie Baur sich ausdrückt, "mit einem sehr viel gröberen Sieb als die natürliche Zuchtwahl, d. h. der züchtende Mensch findet und beobachtet eben im allgemeinen nur die auffälligen Mutanten, diejenigen Mutanten, die durch die natürliche Zuchtwahl grösstenteils glatt ausgemerzt würden."

Wir sehen also in der vordersten Linie der Genetiker ein bewusstes Festhalten und soweit notwendig eine Rückkehr zu den alten darwinistischen Vorstellungen auf Grund der neuen, gesicherten Resultate. Die der natürlichen Artbildung dienenden Mutanten sind also, wie Darwin angenommen hat, wirklich vorwiegend geringfügiger Natur. Erst durch Kombination mit anderen gewinnen sie in der Regel Selektionswert und erzeugen neue Artcharaktere entsprechend der bekannten Tatsache, dass Arten sich nicht nur in einem Merkmal, sondern vielmehr in zahlreichen geringfügigen Merkmalen voneinander unterscheiden. Für das Vorkommen auffallend starker Abweichungen in einem einzigen Merkmal ist der durch verschiedene Untersuchungen geleistete Nachweis wichtig, dass Mutationen nicht nur durch Selektion erhalten, sondern in gewissem Sinne auch gesteigert werden können, durch eine erstmalige Mutation also gewissermassen die Richtung weiterer Mutationen, wenn auch nicht absolut, so doch ungefähr bestimmt werden kann.

Was bedeuten aber die neuen Ergebnisse der experimentellen Genetik über den Vorgang der Artenbildung hinaus für das Gesamtproblem der natürlichen Evolution? Neukombination von Genen im Gefolge von Kreuzungen, Entstehung von Kreuzungsnova,

Mutationen mit Abänderung des Chromosomenbestandes, Genmutationen sind bis jetzt sicher nachgewiesene Möglichkeiten für die Entstehung neuer Eigenschaften und Erbanlagen im Kulturversuch, und wir wissen, dass entsprechend mutierte Neuformen auch in der freien Natur spontan auftreten. In der Kultur sind die Mutationen erhaltungsfähig. Beliebig grosse, in sich konstante Sippen können aus einem einzigen mutierten Individuum herangezogen werden, und was die künstliche Zuchtwahl mit den Mitteln der Kreuzung und der Mutation zu erreichen vermag, das lehrt allein schon die Blumenpracht unserer Gärten. Gewiss übersehen wir die zurzeit bekannten Möglichkeiten der Formen-Neubildung im Experiment noch nicht mit der für das Verständnis des gegenwärtigen natürlichen Geschehens wünschenswerten Klarheit. Um so weniger sind wir in der Lage, die Bedeutung dieser Faktoren für das vergangene Geschehen der Evolution auch nur annähernd würdigen und uns ein Bild von den Vorgängen vergangener Phasen der Evolution machen zu können. Man wird gut tun, die Anforderungen an die experimentelle Genetik in dieser Hinsicht nicht allzu hoch zu spannen und mit Erwartungen auf grundsätzlich viel weitergehende Erkenntnisse für absehbare Zeit zurückzuhalten. Die experimentelle Erzeugung einer neuen Lebensform, z. B. einer Art, die von den bekannten natürlichen Arten des betreffenden Verwandtschaftskreises ebenso verschieden ist, wie diese untereinander, die experimentelle Erzeugung einer Neuform durch Artkreuzung, die mit einer bestehenden dritten Art, soweit wir es durch Kulturversuche und minutiöse statistische Untersuchungen feststellen können, durchaus übereinstimmt, geben uns wohl Vorstellungen von den Entstehungsmöglichkeiten der Arten, aber keine Beweise dafür, dass in der Vergangenheit auch nur eine Art wirklich in der von uns vermuteten Weise entstanden ist. Den Werdegang der Lebewesen in der Vergangenheit zu rekonstruieren wird niemals möglich sein, und an die experimentelle Bestätigung der Realität der durch vergleichend biologische Untersuchungen verschiedener Art aufgestellten Stammbäume des Tier- und Pflanzenreichs, an experimentelle Aufschlüsse hinsichtlich der Abstammung des Menschengeschlechtes und ähnliches

mehr ist in keiner Weise zu denken. Begnügen wir uns damit, aus dem Verständnis des jetzigen Geschehens wenn nicht Beweise, so doch begründete Vorstellungen von den Möglichkeiten der Evolution zu gewinnen. Das bedeutet keinen Verzicht, sondern einen Ansporn zur weiteren Forschung. Die Früchte der genetischen Forschung sind nicht blosse Kenntnisse geblieben, sondern wirkliche Erkenntnisse geworden, und diese tragen die Keime eines fast unendlichen Wachstums in sich. Zuversichtlich dürfen wir uns des mutigen Wortes erinnern, mit dem der Züricher Botaniker Carl Nägeli 1877 seinen Vortrag über die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis beschloss: "Wenn wir eine vernünftige Entsagung üben, wenn wir als endliche und vergängliche Menschen, die wir sind, uns mit menschlicher Einsicht bescheiden, statt göttliches Erkennen in Anspruch zu nehmen, so dürfen wir mit voller Zuversicht sagen: Wir wissen und wir werden wissen."

Literaturhinweise

1) Darwin Ch., Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, 1859. 2) Lamarck J., Philosophie zoologique, 1809. 3) Nägeli C., Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre, 1884. 4) Johannsen W., Elemente der exakten Erblichkeitslehre, 1. deutsche Aufl. 1909, 3. Aufl. 1926. 5) Vries H. de, Die Mutationstheorie, 1. Bd. 1901, 2. Bd. 1903. 6) Iltis H., Gregor Johann Mendel, Leben, Werk und Wirkung, 1924. Bateson W., Mendel's Principles of Heredity, 1909. 7) Winkler H., Über die Rolle von Kern und Protoplasma bei der Vererbung, 1924. Wettstein F., Über plasmatische Vererbung, sowie Plasma und Genwirkung, 1926. Wettstein F., Wie entstehen neue vererbbare Eigenschaften, 1926. 8) Ernst A., Über Vererbung mit Faktorenkoppelung und Faktorenaustausch, 1925. 9) Morgan Th., Die stoffliche Grundlage der Vererbung, deutsche Ausgabe von H. Nachtsheim, 1921. 10) Ernst A., Chromosomenzahl und Rassenbildung, 1922. Wettstein F., Die Erscheinung der Heteroploidie, besonders im Pflanzenreich, 1927. Karpechenko G. D., Polyploid hybrids of Raphanus sativus L. Brassica oleraceus L., 1927. Jorgensen C. A., The experimental formation of heteroploid plants in the genus Solanum, 1928. 11) Oehlkers F., Erblichkeitsforschung an Pflanzen, ein Abriss ihrer Entwicklung in den letzten 15 Jahren, 1927. 13) Muller H. J., Artificial Transmutation of the Gene, 1927. 13) Just G., Die Entstehung neuer Erbanlagen, 1927. Riede W., Beiträge zu den Grundlagen der Pflanzenzucht, 1927. 14) Winge O., Zytologische Untersuchungen über die Natur maligner Tumoren. I. "Crown gall"der Zuckerrübe, 1927. 15) Hertwig R., Abstammungslehre und neuere Biologie, 1927. 16) Baur E., Untersuchungen über das Wesen, die Entstehung und die Vererbung von Rassenunterschieden bei Antirrhinum majus, 1924.