ENTWICKLUNGSNOTWENDIGKEITEN DER HOCHSCHULE
Rektoratsrede
gehalten am 24. November 1945
von
Carl Henschen
Verlag Helbing &Lichtenhahn — Basel 1946
Hochansehnliche Versammlung!
Sechsmal mußten wir diesen Tag der Weihe und dankender
Rückschau auf ein Arbeitsjahr am stärkst bedrohten
Grenzgebiet unseres von völkermordenden Kriegsstürmen
umtobten Alpenréduits feiern, in welchem wir
uns über den Krieg anvertraute geistige und humanitäre
Schätze der europäischen Kultur hinter "Fortifikationslinien
unseres besonderen Daseins" zu schützen hatten.
Es war etwas Einzigartiges und ein neues Zeugnis der
Verbundenheit des Basler Volkes mit seiner Hochschule,
daß am Abend des 8. Mai an der landsgemeindeartigen, in
ihrer Schlichtheit eindrucksamen Friedenskundgebung auf
dem Marktplatz auch der Rektor der Universität als Wortträger
des geistigen Basel dem Ruf dieser Welt- und Schicksalsstunde
Ausdruck geben durfte.
Der Nachdenkliche, welcher nicht nur in das Bewußte
und Unbewußte der Seele des Einzelmenschen, sondern
auch in die Kollektivseele größerer Menschengemeinschaften,
ihre Vergangenheits- und Gegenwartsbindungen zu
sehen gelernt hat, beging diese Maistunde der Menschheit
mit jenem positiven Pessimismus, jenem Gefühl vom Provisorischen
aller Dinge, zu welchem der Völkerpsychologe
Jacob Burckhardt gelangte und der den großen englischen
Staatsmann, den Schildhalter eines freien Europa, an diesem
seinem Victory day erfüllte.
Aus der verglimmenden Trümmerasche des Krieges
sprühen immer noch Funken auf, welche zu neuen Feuerbränden
aufzuflackern drohen. Noch sprengen in rasendem
Ritt über die fiebernde kranke Nachkriegswelt die vier
apokalyptischen Reiter: versteckter und offener Krieg,
Pestilenz, nackteste Not und der Tod, deren visionäre
Gestalten uns aus Dürers Holzschnitt, Peter v. Cornelius'
Karton und Böcklins Allegorie des Krieges als verderbenbringende
Ausgeburten der Hölle schreckend und warnend
entgegensehen.
Der Geographieprofessor Oskar Peschel hatte 1866 in
der Zeitschrift "Das Ausland" den Sieg von Königgrätz
(Sadowa) als Erfolg der besseren Schulen gerühmt: "Wenn
die Preußen die Oesterreicher schlugen, so ist es ein Sieg der
preußischen Schulmeister über die österreichischen Schulmeister
gewesen, wobei selbst der Volksunterricht die Entscheidung
herbeiführte; der Unterricht in den sog. moralischen
Wissenschaften ist ganz gleichgültig, vielleicht sogar
der Schulung der militärischen Verstandeskräfte abträglich."
Der "Schulmeister von Sadowa" versagte aber gegenüber
den ideenpolitischen Kräften, welche im ersten und zweiten
Weltkrieg den Erfolg von Königgrätz zunichte geschlagen
hatten. Versagt hat aber nicht nur der "Schulmeister von
Sadowa", welcher die militärischen Gewinne zweier Kriege
nicht für die Charakter- und Geistesformung seines Volkes
und der europäischen Gemeinschaft auszuwerten verstand,
versagt hat die überspitzte Gescheitheit einer vertechnisierten
glaubenslosen Kultur, einer sich in äußerer Lebensform
immer mehr verlierenden Gesellschaft. J. Huizinga,
der standfeste Verfechter und Märtyrer der Menschenwürde,
hat das bittere Wort gesprochen, daß das Produkt
des industriellen Zeitalters der halbgebildete Mensch sei,
den allgemeiner Unterricht zusammen mit der äußerlichen
Nivellierung der Klassen und der Leichtigkeit des geistigen
und materiellen Verkehrs zur Dominante der Gesellschaft
gemacht habe. Mechanisierung und Technisierung des
Lebens, Verachtung des nicht einer doktrinären Staatsraison
sich beugenden Intellekts, die Entwertung und Entwürdigung
einer von Generationen mühsam aufgebauten
Volkskultur durch eine hemmungslose Staatsgewalt haben
ganze Völker so weit abgleiten lassen, daß Wahrheit und
Recht im verführerischen Anodynum packender Schlagworte
versanken, so wie der Mittelsüchtige aus der Welt
der Wirklichkeit in ein falsches Traumland gleitet.
Mit den Grundlagen unseres Seins muß das Erziehungs-System
der Völker, aber auch des Einzelnen irgendwie
versagt haben. Alle dafür Verantwortlichen sind damit zur
Selbstprüfung aufgerufen: "Wenn es je eine Zeit gab, wo
die Selbstbesinnung das unbedingt Nötige und einzig Richtige
war, so ist es unsere gegenwärtige katastrophale Epoche.
Wer aber immer sich auf sich selber besinnt, stößt an die
Schranken des Unbewußten, welches eben gerade das enthält,
was zu wissen vor allem not täte."Auch wenn wir bei
dieser Selbstprüfung an die Schranken des Unbewußten
stoßen, von denen C. G. Jung spricht, entkommen wir nicht
der Notwendigkeit, innerhalb des durch die Wirklichkeit
Gegebenen und Geforderten neue Ausgangsstellungen und
wirkungsvollere Möglichkeiten erzieherischen Einflußgewinnens
zu suchen.
Die Not der Zeit und mit ihr Frau Sorge schleichen sich
heute nicht mehr nur "durchs Schlüsselloch"ein, sie haben
die Tore der Hochschule weit aufgerissen und schreiten,
Antworten und Lösungen heischend, durch die Hörsäle. Die
Hochschule hat unserm Volke für entscheidende Bezirke
des Gemeinschaftslebens entschlußfähige und entschlußstarke
Menschen zu geben, wenn anders sie nicht bloße
Diplomfabrik sein will. Sie muß darum den an sie herantretenden
Aufgaben aufgeschlossen und lösungsbereit sein
und, aus dem platonischen Haine des Akademos heraustretend,
an Wirklichkeitsaufgaben herantreten.
Es ist nicht von ungefähr, daß aus dem staatspolitischen
Gedanken- und Gesetzgebungsbereich Solons die älteste
Keimzelle der Universitas litterarum, die Akademie Platons,
als edelste Geistesblüte einer freien Polis herauswuchs,
eine Schöpfung, welche selbst die Spartaner nach der siegreichen
Beendigung des peloponnesischen Feldzuges respektierten.
Es ist auch nicht von ungefähr, wenn das alte
Rom, mit seinem starreren und stärkeren politischen Gefüge,
dieser hohen Schule der Geister und der Seelen nichts
Gleiches an die Seite stellen konnte. Beides gibt dem Ausspruche
Fritz Fleiners recht, daß keine Staatsform der uneigennützigen
Pflege der geistigen Güter so sehr bedürfe
wie die reine Demokratie. In ihnen sind die starken Wurzeln
ihrer Kraft verankert; heute wie im Jahre 1534 gilt das
Wort des damaligen Stadtschreibers Ryhiner: "Die Hohe
Schule macht Basel nicht nur größer, ich möchte sagen, sie
macht Basel untödlich." Schöpfungen des Volkes und in
festgefügten demokratischen Traditionen verwurzelt, haben
die schweizerischen Hochschulen sich in ihren Wechselbeziehungen
zum Volke immer wieder zu erneuern verstanden.
Wissenschaft und wissenschaftliches Denken sind
als ordnende, zusammenfügende, aber auch erneuernde
Kräfte gerade in chaotischen Zeiten notwendig. Seit Universitäten
bestehen, ist bei großen geistigen und wirtschaftlichen
Umwälzungen und im Gefolge kriegerischer Volkszerrüttungen
immer wieder der Ruf nach einer Reform der
Universitäten gekommen. Mit den Kämpfen um die Reform
der Kirchen gingen im 16. Jahrhundert Bestrebungen einer
Studienreform fast gleichen Schritt, ja sie gingen ihr als
Boden- und Saatbereiter zum Teil voraus 1.
In einer anscheinend so stolz aufgebauten Menschenwelt
hatten die Universitäten bis vor dem Kriege das Gefühl,
daß ihre Wissenschafter im Triumphe eines Spezialistenzeitalters
und epochaler Entdeckungen eine Art
neuer Kolumbusfahrt vollbracht hatten, indem sie das
große Uhrwerk der Schöpfung in Stücke zerlegten und
damit zwar Wissen, aber nicht Weisheit, d. h. Freude an
staunendem Erleben und Verstehen gaben. Sie, die Mitbestimmer
der Haltung der Geister und Charaktere sein
sollten, stehen nun heute vor dem schmerzenden und
niederdrückenden gnothi tauton, daß sie mitschuldig waren
am Totsein der Seelen, am Unvermögen, Leben, d.h.
alles was wir sind, beständig in Licht und Flamme zu
verwandeln (Nietzsche), es vor allem in menschliches
Entwicklungsziel, in zusammenfassende Deutung, Lebens-
und Gemeinschaftsführung umzuwerten. Das ist letztlich
die wahre aurea apprehensio, der zauberhafte Stein der
Weisen, der lapis aethereus sive philosophicus, jene
schwer erreichbare Kostbarkeit, aus welcher "das heilmachende
Wasser, die Erlösung der im Stoff verlorenen und
schlafenden Gottheit" kommt. Für Carl Gustav Jung ist
im Drama der aurora consurgens, der Bewußwerdung der
Menschheit, dieser magische Lapis das Symbol des menschlichen
Dranges, die persönlichkeitsbildenden Zentrierungsvorgänge
im Unbewußten, in der zusammengeballten Welt
der Archetypen der Seele, der Mneme der Menschheitsgenerationen
seelisch bildhaft zu erfassen, auf daß das Erlebnis
uns in die Nähe des Verstehens und zu ihm führe.
Sehen wir, wieweit die Universität, die immer Ausdruck
ihres Zeitalters ist, den Forderungen der Gegenwartsnot
genügt! Darf sie einzig, was Abraham Flexner als Gesetz
von ihr verlangt, "Denker, Forscher, Erfinder, Lehrer und
Studenten aufnehmen und ausbilden, die ohne praktische
Verantwortung das Leben der Gesellschaft erforschen und
verstehen lernen wollen"? Gewiß sind Flexners vier Gebote
Grundgesetze der Hochschule: Die Erhaltung von Wissen
und Ideen, das Lehren dieser Güter, die Suche nach Wahrheit
und die Ausbildung von Studenten, die Praktiker oder
Gelehrte und Forscher werden wollen. Aber neue Ideen
und Erkenntnisse haben sich, wollen sie zu Früchten reifen,
an und in den Menschen und im Lebenskreis der Volksgemeinschaft
zu bewähren.
Die Mittel, die kranken Völker zu heilen, kommen aus
der Fähigkeit, einen gerechten Staat aufzubauen mit einer
den Menschen nicht zu einem mechanischen Roboter deformierenden,
sondern die Arbeit zur Freude und Bürgerleistung
machenden Volkswirtschaft, welche nicht Organisation
als Selbstwert predigt und den Götzen des Kolossalen
anstaunt, sie kommen namentlich aber aus der Kraft, die
Erziehungsprobleme anzupacken und zu lösen. Letzteres
ist im Grunde die Menschheitsfrage. Um sie sorgten sich
die großen Gesetzgeber, um sie ging Platons geistig-politisches
Vermächtnis in seiner Politeia, um sie Leben und
Mühen Pestalozzis.
Es ist ein neues Zeugnis des staatsbürgerlichen Sinnes
des englischen Volkes, daß es schon mitten im Kriege im
Education Act von 1944 ein Erziehungsgesetz vorlegte,
um eine entwurzelte ältere Jugend und die neuaufsteigenden
Generationen in einen wirklich sozialen Staat einzubauen.
Diese ebenso großzügige wie optimistische Magna
Charta über den "Dienst der Jugend nach dem Kriege"
verlangt vom Staat "die größte Verantwortung für die heranwachsende
Generation". Vieles von dem, was diese Great
Charter fordert, ist in dem vielfältigen dezentralisierten
System unserer 22 kantonalen Kulturzentren bereits
verwirklicht; was fehlt, können wir in Anpassung an die so
verschiedenartigen regionalen Bedürfnisse und Eigenarten
und den so kulturfördernden Charakter unseres föderalistischen
Staates über organische Entwicklungen vorkehren.
I.
Die Erziehung der Jugend kann nur ein geschlossenes
Ganzes sein 2. Dieser Satz muß Leitmotiv jedes erfolgreichen
Erziehungswerkes sein. Die natürliche Baueinheit
unseres Staates ist der kulturschaffende Kanton. Der
in dieser Grundfrage einheitlichen Auffassung unseres
Volkes gemäß sind in den Hochschulkantonen die Universitäten
mit den mittleren und unteren Schulen stets verbunden
geblieben. Der Zusammenhalt ist gegeben durch
den Erziehungsrat als administrativen Wächter und durch
die kantonale Schulsynode als das Magisterkonzil. Wem
das Glück wurde, auf seiner ersten Schulstufe wirkliche
Erzieher gehabt zu haben, der weiß, daß hier schon wichtige
Entwicklungssaat gelegt wird für die Keime der geistigen
Allgemeinausbildung, sofern man versteht, alle Zu- und
Ausgänge des Geistes und des Herzens aufzuspüren und
zu benützen. Wer diese Pforten findet, wird das Kind aus
dem Schutzgehege der Vorschuljahre schonend und sicher
an und in jene Welt heranführen, in welcher es in der
Klassenkameradschaft das Verbundenheitsgefühl mit der
Gemeinschaft lernt und an den aus den Familienbezirken
in den Klassenkreis kommenden verschiedenen Auffassungen
und Anschauungen Interesse gewinnt. Kinder sind
scharfe Beobachter. Sehen heißt gerade für sie innerlich
schauen und in ehrfürchtigem Staunen die vor ihnen sich
aufdeckende Welt erkennen lernen. Jeder Volksschulunterricht,
welcher die zum Aufsprossen bereite kindliche Individualität
zu entwickeln weiß, wird diese erste erzieherische
Modellierung des Kindes am schönsten erreichen; es verlangt
dies Verzicht auch auf bloße Ansätze einer Berufsschulung
und die Gabe, die aus Kopf, Herz und Hand
kommenden Interessen und Tätigkeitsimpulse zu einem
lebendigen Strom zusammenzubringen. Das aus Wissens-
und Beobachtungsneugier denkbereite Kind verlangt ein
Herausholen seiner Denkkraft. In einem Teil der Klassen
unserer baslerischen Volksschule ist ein Neupestalozzismus
tätig, welcher diese Instrumentation der geistig-seelischen
Entwicklungskräfte des Kindes mit erstaunlichem Erfolg zu
spielen weiß. Dieser Unterricht gibt an fesselnden Beobachtungs-
und Denkmodellen die ersten Verstehensansätze
für das Wunder der Natur, für Schöpfungen der Kunst
und Objekte des Denkens und Forschens.
Die Entscheidung für die Art und Verankerungstiefe
der Menschenbildung fällt in der Mittelschule. Auf ihr
"ruht die große Verantwortung heute, daß aus der fachlichen
Zersplitterung beim akademischen Studium kein
asoziales Konglomerat engstirniger Spezialisten entsteht,
die außerhalb ihres Fachgebietes jedem Schlagwort zum
Opfer fallen und die für die Spannweite menschlicher
Geistesbetätigung kein Sensorium besitzen" (P. Niggli).
Hier bestimmt sich die Aufgeschlossenheit und die Weite
des Blickfeldes, hier die Fähigkeit, das zu gewinnen, was
Meylan als "les humanités"bezeichnet, das heißt die zur
Harmonie gebrachte wissenschaftliche, berufliche und religiös-ethische
Erkenntnis; hier muß die Selbstprüfung heranreifen,
welche Berufs- und Lebensplan zu wählen vermag.
Die hohe Erziehungskunst der Mittelschule wird darin bestehen,
nicht eine Vorwegnahme von Bildungsstoff und
Bildungsart der Hochschule zu sein, sondern den Epheben
auf eine solche Stufe urteilsfähiger geistig-ethischer Kraft
zu bringen, daß seine Intelligenz in der spätem Lebensprüfung
möglichst wenig dem Zufall überliefert ist 3.
Homo ludens, welcher der strebende Mensch sein Leben
lang bleiben soll, hat der Zögling jene erste Vorreife erlangt,
welche ihn zum Philotheamon, zum Freund des Schauens
und damit zum wissenschaftlichen Menschen im Sinne Platons
machen hilft. Warum kommt nur ein Teil der in die
Hochschule eintretenden Epheben mit der von Platon verlangten
Fähigkeit des Schauens? Schon in der Mittelschule
wirkt das Uebermaß des Wissensstoffes in Bleischwere auf
ein erst sich entwickelndes Hirn, welches noch nicht die
nötige Reifekraft selbständiger Weiterbildung hat. Heute
überschneiden und überdecken sich weitgehend Unterricht
der Mittel- und Hochschule nicht bloß in der Art
der Darbietung, sondern auch in der Ausbreitung des
Wissensstoffes. Mangelnde geistige Flurbereinigung bedingt
ein Aneinandervorbeigehen von Mittel- und Hochschule,
dessen Opfer der Zögling ist. Um hier nach der
Forderung des englischen Education Act zur notwendigen
simplicity zu kommen, ist ein richtiges Abstecken der
Aufgabengrenzen notwendig. Es sollte aus kundigen geistigen
Flurwächtern, aus wenigen, aber pädagogisch weitsichtigen
Vertretern aller drei Schulstufen ein Gremium
geschaffen werden, welches in klärenden Aussprachen Umfang
und Lehrmethodik des Unterrichtsstoffes abgrenzt.
II.
Eine zweite Auseinandersetzung gilt der Frage, ob
die Universität als oberste Bildungsstufe ihre hohe Aufgabe
erfüllt. Nachdem die Decke von dem Bilde von Sais
gefallen ist, welche ein Inferno von grauenhaftestem
Geschehen verhüllte, wissen wir, welche schwere Schuld
gerade auf Trägern akademischer Bildung lastet. Diese
Schuld trifft mittelbar auch die Lehrer der Hochschulen,
wenn die aus ihrer Geistesschule gekommenen Treuhänder
der Gewissen, der Körper und des Rechtes ihren
Beruf und die ihnen damit anvertraute Sendung verrieten
und Wissen und Gewissen an eine die Menschenwürde
zerfetzende Staatsgewalt verkauften 4.
Es deckt sich hier ein Riß auf, eine versteckte Wunde
der Hochschule, welche schon lange schmerzte. Die Entwicklung
der Menschheit als Ganzes und in den Einzelbezirken
ihres geistig-seelischen Wesens läuft in bald
großen, bald kleinen Epizykeln, welche frühere Epizykel
an Schnittpunkten immer wieder treffen, ohne daß
es Rückkehr zur alten Stelle ist. Dieses Gesetz gilt auch
für die Hochschulen. Am Beginn ihrer Epizykelkette
stoßen wir auf das Urbild der Universitas, auf die
große Bildungsquelle der Artistenfakultät; auf sie
wurde in Basel das stolze Wort geprägt: "in civitate
basiliense semper esse studium generale." Auf dieser
Faculté des arts, der "ceterarum facultatum pia nutrix",
bauten sich die drei höheren Fakultäten der Theologie,
der Jurisprudenz und der Medizin auf: Die Söhne der
Artistenfakultät, so behaupteten die Wiener Statuten,
sind auch für alle höheren Studien geeigneter, doch nur
dann, wenn sie sich nicht vor der Zeit von dieser ihrer
fürsorglichen Mutter zu trennen versuchen, weil sie dann
ohne Schwingen fliegen. Die damalige Universitas war
nicht die Universitas litterarum im heutigen Sinne, die
Gesamtheit einander gleichgeordneter Wissenschaften,
sondern die "universitas magistrorum et scolarium", die
Gemeinschaft der Lernenden und Lehrenden. Diese
Universität, "weniger als zuvor und hernach Berufsschule,
war seinerzeit die Stätte, an der sich die letzte
große Auseinandersetzung im deutschen Geistesleben
vor der Reformation entschied". Der nach Ursprung und
Tradition, nach Wesen und Zielsetzung zunächst rein
scholastisch. gerichteten sogenannten via moderna folgte
der in der via antiqua vertretene scholastische Idealismus,
in welchen, von Italien angeregt und von außen her,
die Sonne des Humanismus eindrang; mit ihm trat in
die Universität und in das allgemeine Kulturleben der
leitende Gedanke, die aus der gesamten geistigen und
äußeren Weltschau und Welterkenntnis kommende Bildung,
welche man "ad fontes", an "allen reinen Quellen"
holen konnte. Das damit zur Bildungsschule gewordene
studium generale machte die Universitäten unter dem
Einfluß von Staat und städtischem Bürgertum zu Erziehungsstätten,
in deren fruchtbarerem Boden Berufsschulung
und die auf dem Musarum collegium oder
Archigymnasium gewonnene Bildung zu einer höheren
Synthese gebracht werden konnten. Damals wie heute
wurden alle Fragen akademischer Bildung, geistiger
Wertung, pädagogischer Schulung und wissenschaftlicher
Zielsetzung in scharfer Auseinandersetzung aufgerollt.
Werner Naef hat im ersten Bande seiner prachtvollen
Vadianbiographie am Beispiele dieses großen St. Gallers
gezeigt, welchen Reichtum an Blüten und Früchten ein
solcher Saatboden ermöglichte: aus dem Zögling der
lateinischen Stadtschule St. Gallen wurde im Studium
generale vienense der Magister artium, der von Kaiser
Maximilian I. als Poeta laureatus gekrönte Dichter, der
von der Universität gestellte Redner, der Editor und
Scriptor litterarum; die in der Artistenfakultät erworbene
Aufgeschlossenheit führte ihn zu den Realien und
zur Medizin und, obschon er erst vor dem Examen
stehender Kandidat der Medizin war, als Vertreter der
Medizinischen Fakultät ins Rektoramt der Wiener
Universität. Der von den Artisten gestellte Rektor wurde
Oberhaupt der Gesamtuniversität; ihr Einfluß und ihr
Ansehen war wirksamster Schutz gegen universitätsgegnerische
Einmischungen von Kanzler und Kanzlei.
Es ist ein fast beispielhaftes Symbol, daß aus dieser
humanistischen Prägung der wissenschaftlichen Lehre
ein kluger Staatsmann hervorging, der mit Logik und
Ironie zu fechten wußte und während eines Vierteljahrhunderts
Bürgermeister der Stadt St. Gallen war, und
daß ein Historiograph und religiöser Reformator daraus
erwuchs, obschon er vorher keine theologischen Studien
oder priesterliche oder klösterliche Vorbildung gehabt
hatte. Für Vadian kam dieses "Jasagen zu sich selber,
diese ans Mark gehende Aufgabe", aus jener entscheidenden
Zeit seines Studium generale, aus seiner Jugend,
dieser Zeit der Vorherrschaft der Seele, die er selber
poetisch so schön zeichnete: "Est enim amor omnium
studiorum fomes" (denn die Liebe ist der zündende
Funke aller Studien), eine Variante des Spruches
Leonardo da Vincis: "Die große Liebe ist die Tochter
der Erkenntnis."
Das Imponierende dieses streng einheitlichen und
großzügig durchgeführten, methodisch wohlerwogenen
hochschulpädagogischen Lehrsystems war das schrittweise
Emporlernen des bloß lernenden Scolaris simplex zum
bereits lehrenden Altsemester (W. Naef). Die Lebensgemeinschaft
in der Bursa oder im Convivium vermittelte
eine Wechselbeziehung von Mensch zu Mensch,
wie sie sich auch heute so erfolgreich in den englischen
Colleges von Oxford und Cambridge auswirkt, deren
Tutoren den Magistri des ehemaligen Archigymnasiums
entsprechen. Oxford und Cambridge, Keimstätten des
besten wissenschaftlichen Forschernachwuchses Englands,
"sind — trotz mancher Fehler — Lehranstalten geblieben
im feinsten und höchsten Sinne des Wortes und ein nationales
Bollwerk gegen alles Seichte und Erbärmliche und
gegen jeden Kitsch im akademischen Leben"(A. Flexner).
Die bindenden Kräfte dieser allen Nationen offenen internationalen
Schulen, deren Grade und Prüfungen im
ganzen christlichen Abendland galten, waren Kirche, Kaisertum
und die lateinische Gemeinschaftssprache. Direkte
Tochter der Artistenfakultät ist die heutige Philosophische
Fakultät.
Der ihres Studium generale beraubten Universität
blieben nurmehr die gleichsam genossenschaftlich zusammengeschlossenen
vier Fakultäten, welche man poetisch
mit den vier Strömen des Paradieses verglich.
Condorcet, geistiger Sohn der Enzyklopädisten, versuchte
eine Wiedervereinigung dieser "vier Paradiesströme" in
seinem 1792 der Assemblée Nationale vorgelegten Plan
einer "République des sciences". Der Widerstand gegen
die auf mittelalterliche Scholastik verdächtigen gelehrten
Körperschaften brachte unter Napoleon und Talleyrand
die systematische Entwicklung der "Ecoles spéciales",
deren Gefahren die französischen Wissenschafter durch
unmerkliches Wegweichen vom staatlichen Druck nicht
ohne Erfolg abzuwenden verstanden. Aber unter dem
III. Napoleon stellte der Historiker und Philologe Victor
Duruy, einziger populärer Minister des Zweiten Kaiserreiches,
den état lamentable des französischen Fakultätswesens
fest gegenüber den zu neuer Blüte aufstrebenden
deutschen Universitäten.
Der Eilschritt der analytischen Forschung und die
Ausdehnung der Wissenschaftsfelder haben uns heute
wieder nahe an die Ecoles spéciales Napoleons und
Talleyrands herangebracht. Körper und Seele sind heute
in verschiedene Fakultäten auseinandergerissen (C. G.
Jung); die Universität, Klassizismus geworden, versagt
vor den Bedürfnissen der gegenwärtigen Menschen und
gerät in Gefahr, keine geistige Macht mehr zu sein
(Ortega y Gasset). Daß der Mensch etwas ganz entschieden
verstehe und vorzüglich leiste, wie nicht leicht ein anderer
in der nächsten Umgebung, Forderung Kerschensteiners,
ist selbstverständlich, da er sonst nicht den
Lebenskampf zu bestehen vermag. Daß der Weg zur
höheren Allgemeinbildung über den Beruf und nur
über den Beruf führt, wie Eduard Spranger meint, ist
falsch; der Krieg hat den schlagenden Gegenbeweis
gebracht; er lehrte die Entartung eines nicht gleichzeitig
von Charakter, Standfestigkeit und Ethos getragenen
vergötzten Wissens. Die Hochschulen sind heute ein
Zusammensetzspiel der Fakultäten mit hochgezüchteten
Fachschulen, welche unbestreitbaren fachlichen Schulungsgewinn
mit Verlust an Originalität und allgemeiner
Bildung bezahlen mußten. Allenthalben, im alemannischen
wie im welschen Sprachgebiet, darum die Feststellung
eines mangelnden Interesses für allgemeine
Fragen, das Ueberwuchern des Nützlichkeitsstandpunktes
gegenüber dem reinen Erkenntnistrieb, die Ueberschätzung
fachlicher Detailausbildung gegenüber der fachlichen
Allgemeinschulung, mangelndes Gefühl der allgemeinen
Verantwortung und allzu realistische und
philisterhafte Einstellung der Studenten (P. Niggli).
Von den Lehrern der Hochschule erlebt der, welcher
das Rektoramt bekleidet, die Universität am schönsten
und tiefsten als ein Ganzes, als einen beglückend reichen
Geisterhof von anregenden und schöpferischen Intuitiven,
deren Werk aber nur dann zum Gravitationszentrum
gelangt, wenn sie die Einzelforschung zu einem
synthetischen Baustein auszugestalten vermögen. Wer
diese beglückende geistige Pilgerschaft machen durfte, der
möchte auch den im Labyrinth einseitigen Fachstudiums
sich verirrenden Studenten aus seiner Fakultätsklausur
in die so viel reichere Welt der Universitas und der aus
ihrer Psychologie vermittelten Erkenntnisse führen: "Was
wir in unserem Geiste, in unserem Herzen bewahren
müssen, ist der Wille zur Klarheit, der unbeirrte Blick
des Verstandes, das Gefühl für die Größe und das Wagnis,
für das Außerordentliche des Abenteuers, in das
das Menschengeschlecht sich eingelassen hat, von den
ursprünglichen, natürlichen Bedingungen der Art sich
vielleicht unermeßlich weit zu entfernen, unterwegs —
wer weiß, wohin!" Aus der Ergriffenheit des Erkennens
entspringt jene gewaltige innere Kraft, welche Sokrates
Jon gegenüber die göttliche nennt und dem Steine verglich,
"der von Euripides der Magnet, gewöhnlich aber
der Herakleische genannt wird; denn auch dieser Stein
zieht nicht nur selbst die eisernen Ringe, sondern er
teilt auch den Ringen die Kraft mit, daß sie eben dieses
tun können wie der Stein selbst, nämlich andere Ringe
ziehen". Die Lebensfracht, die ein solcher wahrer Artisten-Ephebe
von seiner Alma mater mitnähme, wäre köstlichstes
Weihgut wie das jener Griechen von Byzanz, die
bei ihrer Flucht vor der Türkenflut als Kostbarstes Homer
und Plato mit sich trugen.
Unbewußt oder laut meldet sich an den Universitäten
das Heimweh nach ihrem Archetypus, dem edlen Bildungskern
der Artistenfakultät, mit ihrem "üppigen,
leuchtenden fruchtbringenden Flor" und nach Condorcets
République des sciences. Zeugnisse dessen sind die an
unserer Universität eingeführten allgemeinbildenden Vorlesungen,
das an der Universität Genf in Versuchsform
aufgenommene Studium generale und das von der Zürcher
Hochschule in Kurzvorträgen von Dozenten aus allen
Fakultäten versuchte "Gespräch zwischen den Fakultäten 5".
Ist es letzter und höchster Zwecksinn einer Universität,
wenn der Rektor einer deutschen Hochschule 1927 von
ihr forderte, den "Typus des wissenschaftlichen Menschen"
zu erziehen, d. h. des Menschen, der, selber ergriffen von
Sinn und Wert des selbständigen Erkennens, einbezogen
ist in die Arbeit eigener Wissensfindung? Ist es wirklich
ihre Aufgabe, den Hörer nicht zu einer verfrühten Universalität,
sondern zunächst zu heilsam gewollter Einseitigkeit
in seinem Fachgebiet hinzuleiten? Das Gehör des
Universitätshörers aber bleibt nur bloßer "Empfangsraum
der Reden", wenn es nicht die geistig-seelische Emission
einer zu innerlicher Stärke heranreifenden Persönlichkeit
auszulösen vermag. In seinem schönen Buche "Biologische
Fragmente zu einer Lehre vom Menschen" sagt Adolf
Portmann, was uns heute als Rückfall in primitive Barbarei
und Brutalität erscheine, sei nur ein Extrem unseres
Verhaltens, dessen Möglichkeit in jedem von uns
schlummere (,,Hitler in uns"); das vertiefte Wissen von
den Ordnungen des irdischen Lebens, die Einsicht in
geordnetes Geschehen, wie sie alle Lebensforschungen
in überströmender Fülle vermitteln, könne nur zur Annahme
noch größerer Ordnungen führen. Wir wollen
hinzufügen, es muß uns zwingen zur Ordnung der Gemeinschaft,
wenn wir der Schöpfung und unserer Be-Stimmung
wert bleiben wollen. Wissenschaft kann nur
zu einem den Lebenssinn der Menschheit fördernden
Ferment werden, wenn wir wieder "Artisten"der wahren
menschlichen Bildung werden, wenn unsere Hochschulepheben
in jene geistig-ethischen Räume treten, in welchen
sich Charakter und Herz bilden, und wenn wir sie
gleichzeitig an jene Realien heranführen, mit welchen
der Lernende Kontakt zur Biologie und den lebenden
Bewegungskräften der Gemeinschaft gewinnt. Diese Neuerziehung
hat in erster Linie bei den Erziehern selbst
zu geschehen.
Zur praktischen Lösung, die nicht leicht ist und nach
Nietzsches Rezept die Kraft braucht, von Zeit zu Zeit
eine Vergangenheit zu zerbrechen, bieten sich mehrere
Möglichkeiten: Vorschaltung eines "Artistensemesters"
vor dem Beginn des Fachstudiums, Zwischenschaltung
eines solchen Semesters in einem für das betreffende
Fachstudium richtigen Zeitpunkt, Einfügung der passenden
und nötigen "Artistenvorlesungen" in die erstsemestrigen
Studienpläne der einzelnen Fakultäten, "Artisten"-Schaltsemester
in den großen Ferien. Das Schwebende und
Labile des akademischen Studium- und Kräftesystems
würde jede dieser Lösungsformen zulassen. Eine Studienberatung
durch den "Tutor" müßte dafür Sorge tragen,
dass der Plan des Erziehungsgebäudes nicht zu groß
angelegt wird; ansonsten besteht die Gefahr, "daß die
obere Etage nicht ausgebaut, ja nicht einmal das Dach
zugebracht werden kann, so daß am Ende nur ein paar
Dachstübchen verbleiben, in die es beim schlechten Wetter
hineinregnet". Der gleiche Georg Christoph Lichtenberg
gibt eine zweite sehr eindrückliche Warnung: "Sie hatten
bei dem jungen Menschen die eigentliche Pfropfzeit vorbeistreichen
lassen, und es wollte nichts mehr auf dem
wilden Stamme wachsen."
Der thematische Kreis der Vorlesungen und Kurse
müsste möglichst auswahlreich, das "Artesprogramm"in
der Durchführung nur auf den großen Linien gehalten
sein, auf daß jede Fakultät das ihr im Studium Wichtige
und Notwendige und sie Ergänzende bekäme. Erweiterung
des Kreises der Lehrenden durch Männer aus der
Praxis, aus Kreisen der Regierung, der Kunst, der Arbeiterbewegung,
des Handels und der Industrie und Exkursionen
in modellartige Zentren der praktischen Auswirkungsfelder
würden diesen Unterricht am und für das Leben
wirklichkeitsnahe machen.
Das Zusammenfinden und die Zusammenarbeit zwischen
den Scholaren der verschiedenen Länder war im
Mittelalter aktiver, da —im Gegensatz zum heutigen babylonischen
Sprachenwirrwarr der Hochschulen —das Latein
Einheits- und Gemeinschaftsausdruck höherer Bildung
war. Für unser Land, "cette grande ville divisée en
22 quartiers cantonaux", die wir drei Sprach- und Kulturpässe
zu hüten und zu pflegen haben, ist die praktische
Pflege der Hauptsprachen —neben der Muttersprache des
Französischen, Italienischen und Englischen —, aus nationalen
und internationalen Gründen Grundbedingung
einer schweizerischen Ideen- und Wirkungsmission. Aus
allen unsern Fakultäten kommt die Klage über mangelnde
Kultur unserer Muttersprache. Wer dies nicht
achtet, übersieht die Möglichkeiten und Kräfte, welche
die Sprache dem Geist bietet, wenn man sie mit der gleichen
Liebe pflegt wie der Geigenkünstler sein Instrument,
wenn man das Urgeheimnis der Bildung, die Klarheit, die
Fähigkeit, den Dingen Gestalt zu geben, mit den aus
der Schönheit des Sprachinstrumentes kommenden Heimlichkeiten
des innersten Lebens zu füllen weiß. Werden
die Hochschulen Europas so wieder zu geistigen Leuchtfeuern,
so kann dieser alte Kulturkontinent wieder zu
neuer Blüte kommen dank der ihm eigenen Vielartigkeit
seiner inneren Kräfte.
III.
Erziehungswerk ist Erziehung zur Arbeit: zu Arbeit
an und Arbeit für sich, zu Arbeit für andere und für
die Gemeinschaft. Von Mirabeau kommt ein Wort von
elementarer Wahrheit für den Einzelnen wie für Staaten:
"Je ne connais que trois manières d'exister dans la société;
il faut être mendiant, voleur ou salarié"; Arbeiten, Betteln
oder Stehlen! Daraus folgt, daß jeder Erwerb ohne
redliche Arbeit in die andern zwei Kategorien gehört;
die Errungenschaft aus denselben pflege aber weder von
göttlichem noch menschlichem Segen begleitet zu sein.
Aus unseren Hochschulen kommt ein nicht kleiner
Teil des Kaders unserer Wirtschaftspolitik. Die Bildungsqualität
dieses Kaders wird mitbestimmt durch den Stand
der Volkswirtschaftswissenschaft und den Rang, den wir
ihr in Hochschule und Staatsleben einräumen. Welche
Zeit hat vertieftes volkswirtschaftliches Denken nötiger
als die unsere mit ihren aus einer zerschlagenen Welt
uns entgegenschreienden spitzigsten ökonomischen und
sozialen Problemen?
Wenn man die Geschichte der Nationalökonomie
zurückblättert und die Bedeutung wahrnimmt, die sie
im 18. und 19. Jahrhundert in England hatte, wo sie wie
die Rechtswissenschaft eine imponierende organische Entwicklung
nehmen konnte, so ist die Stellung, die ihr in
der Schweiz unter den andern akademischen Lehrfächern
eingeräumt wird, doch etwas zweitrangig und ihrem maßgeblichen
Einfluß auf die Gestaltung der wirtschaftlichen
und politischen Systeme zu wenig angemessen. Zweifellos
liegt hier noch ein Fehler des Systems und der
Wertung dieser Wissenschaft im Rahmen der Fakultäten,
die z. B. in Oxford "natürlich auf höchstem Niveau steht"
(Straumann). Der große Jurist Jhering (,,Geist des römischen
Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung")
erkannte als tiefsten Grund der Meisterschaft
der römischen Juristen, die sie zu Klassikern des Rechts
machte, daß sie sich bei allen Entscheidungen vom praktischen
Zwecke der Rechtsordnung bestimmen ließen und
daher Rechtsprechung und Rechtswissenschaft zu einer
Kunst machten und nicht in doktrinär-scholastischer
Begriffsklitterung zerfaserten. Gleiches gilt für die Volkswirtschaftslehre.
Man wird den Eindruck nicht los, daß
an manchen Hochschulen des Kontinents, auch an dieser
oder jener schweizerischen, die Volkswirtschaftslehre
ein etwas verschupftes Kind ist, verschupft in der Wertung
gegenüber den andern, insbesondere den juristischen
Wissensgebieten, verschupft aber auch in der Beheimatung.
England ist das Geburtsland der Volkswirtschaftswissenschaft;
in dankbarer und begeisterter Rückerinnerung
gedenke ich der Vorlesung Platters au der E. T. H.
über die Geschichte der englischen Nationalökonomie,
welche ich in meinen Studentenjahren hören durfte.
England hat es verstanden, die Pflege dieser als eines
"nationalen Geistesbesitzes"hoch gewerteten Wissenschaft
zu einer festen Tradition zu machen und mit dem Geistesleben
seines so vielfältigen Wirtschafts-Empires zu verbinden.
Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftspraxis
blieben nicht einander fremd und feindlich; Politiker
und Geschäftsleute mußten sich mit ihren Lehren auseinandersetzen,
wollten sie nach dem Rate von John
Stuart Mill sich freihalten von dem narrenden Labyrinth
"of the noisy conflict of half-truths, angrily denying one
another". Die Volkswirtschaftslehre hatte sich hier über
volkswirtschaftliche Gesellschaften, namentlich über die
Royal Economic Society, früher ihren sicheren Platz in
der Wirtschaft errungen als in den Lehrgebäuden von
Oxford und Cambridge. Lord J. M. Keynes ist das große
englische Beispiel, wie im Umbruch einer Zeit und in
Entscheidungsstunden eines Empireschicksals ein mit
Schöpferkraft, Verantwortungsbewußtsein, diagnostischem
und therapeutischem Sinn und Realisierungsgenie begabter
Volkswissenschafter der Starke wurde, welcher
das Schicksalsschiff und das Glück seines Volkes mit
sicherer Hand durch den Sturm einer an allem Bestehenden
rüttelnden Kriegswirtschaft steuerte. Die schweizerische
Fachwelt rühmt ihn als ungewöhnlich geschickten
Finanztechniker, dem England den unbestreitbaren
Erfolg seiner Kriegsfinanzierung verdankt; als entscheidenden
Förderer der Wirtschaftswissenschaft; als ketzerischen
Aufrüttler, der mit der Schärfe seines Geistes,
seiner Ironie und seines Witzes immer intellektueller
Revolutionär von irgend jemand und irgend etwas war:
als sozialen Reformer, der frei von jeder politischen
Orthodoxie und starren gegenwartsfremden nationalökonomischen
Doktrinen in hoher geistiger Fairneß Wahrheits-
und Lösungensucher in seiner Wissenschaft war.
Der sog. Beveridge-Plan umreißt einen andern großartigen
sozialpolitischen und sozialökonomischen Lösungsversuch
des Heimatlandes von Adam Smith.
Inzwischen ist auch hier Amerika mit an die Spitze
gerückt, wo die berühmtesten Volkswirtschafter nicht
nur auf den Lehrstühlen ihre einflußreiche Tätigkeit
ausüben, sondern gleichermaßen in Verbindung mit der
Regierung, besser gesagt, als die ständigen Berater der
Regierung und des Präsidenten ("no other academic
discipline gained more in popular esteem"). Im nunmehrigen
Besitze der "workship of the world"wird hier
nicht nur Versäumtes nachgeholt, sondern bisher Ungenutztes
entwickelt. Dementsprechend die Nachfrage nach
wirtschaftswissenschaftlichen Qualitätsarbeitern; als letztes
Ziel gilt, eine über Staat, Arbeitgeber und Arbeitsnehmer
ausgleichende Wirkung des Wettbewerbs zu gewinnen
(,,The establishment and maintenance of sound economic
standards, i.e. proper competitive standards and industrial
peace").
Auch die Nordamerikanische Union hatte ihre "Keynes-Tat":
Der New Deal von Franklin D. Roosevelt hatte nach
des Präsidenten eigenen Worten die Aufgabe, eine Charter
der wirtschaftlichen Menschenrechte zu fördern, eine
neue Wirtschaftsgesinnung und eine konstitutionelle Wirtschaftsordnung,
eine neue Wirtschafts- und Währungspolitik
aufzubauen. Diese Planierung, welche nach einem
Urteil der hervorragendsten nationalökonomischen Zeitschrift
der Welt, des "Economist", noch heute nicht
in einer genauen Formulierung festzulegen ist, war das
Werk eines Brain-Trust, politisch ungebundener, darum
völlig freier Männer, welche, einzig ihrer Bürgeraufgabe
verpflichtet, ehrenamtlich an die Aufgabe herantraten;
neben Juristen und Geschäftsleuten wirkten Wirtschaftswissenschafter
maßgebend mit. Es ist wie eine posthume
Offenbarungsbotschaft dieses großen Präsidenten,
wenn heute die Einsicht dämmert, daß der Weltfrieden
nicht aus politischen Formulierungen, sondern aus einer
Regelung der Weltwirtschaft kommen muß. Volkswirtschaftslehre
ist ihrem tiefsten Sinne nach erkennendes
Ringen um die "conditions humaines", um Mittel und
Wege zu menschenwürdigen Daseinsmöglichkeiten 6. Die
wirklich freie "Politeia" ist Kräfte- und Willenssammlung
aus ihren politischen, sozialen und religiösen, aber
auch aus ihren wirtschaftlichen Freiheiten; ihrer jede
bleibt ohne die andern drei bloßes Bruchstück.
Der natürliche nationale Entwicklungsboden Englands
und seines Empires und das so saatgierige junge Ackerfeld
Amerikas fehlt der Großzahl der Länder, weswegen
trotz Eroberung von Universitätssitzen die volle
Parität der Volkswirtschaftslehre gegenüber den älteren
Wissenschaften mit ihrer ehrwürdigen säkularen Entwicklungsgeschichte
noch nicht erreicht ist. Vielleicht ist
es eine Folge der vorhin angedeuteten Zurücksetzung
dieser Wissenschaft, daß in der Schweiz die bahnbrechenden
Nationalökonomen nicht so zahlreich sind wie
anderwärts. Die Volkswirtschaftswissenschaft ist bei uns
mehr zu einer beschreibenden und das Gewesene erklärenden
Disziplin geworden an Stelle einer bahnbrechenden
und schöpferischen Gestaltungskraft. Man spricht
herabsetzend vom "Verwaltungs- und Wirtschaftsakademiker".
Auf diese Weise erhalten die Studierenden auch
einen unrichtigen Eindruck über dieses Wissensgebiet,
nicht zuletzt deshalb, weil die Doctores rer. cam. oder
rer. pol. von ihren juristischen Kollegen von oben herab
angesehen werden. Möglicherweise ist daran auch der
Umstand schuld, daß sich an den volkswirtschaftlichen
Fakultäten etwas viele intellektuelle und geistige Mittelmäßigkeiten
sammeln, welche mit Ach und Krach noch
durchkommen, wobei allerdings ihre Unterbringung im
praktischen Leben sehr oft große Schwierigkeiten bietet.
Sie müssen sich in Verwaltung und Privatwirtschaft auch
nicht selten mit hinteren Rängen und Posten begnügen.
Der Genfer Jean Charles Léonard Simonde dc Sismondi,
Mitglied der Handelskammer des Departement Léman der
französischen Revolutionsrepublik, einer der frühesten
Schüler Adam Smiths auf dem Kontinent und großer
Begründer einer schweizerischen Nationalökonomie (1803
und 1819), warnte vor der Verwechslung der Volkswirtschaftslehre
mit dem, was er Chrematistik (Chrema
Reichtum), d. h. bloße habsüchtige Reichtumsaufstapelung
oder Profitwirtschaftslehre nannte; ansonst wird sie
nicht zu einer Volks-, sondern zu einer Millionärwirtschaftslehre.
Einer unserer Nationalökonomen hat mit
Recht die These aufgestellt: Das volkswirtschaftliche
Wissen und Können ist weit eher eine Berufung als ein
eindeutiger Erwerbsberuf; im Begriff "Volkswirtschaft"
schwinge nämlich jederzeit auch der Begriff Volkswohlfahrt
mit, ähnlich wie im Begriff des Rechts jederzeit
auch der der Gerechtigkeit mitschwingt oder doch mitschwingen
sollte. Tatsächlich ist die Rolle des Volkswirtschafters
die eines Arztes im sozialen Körper: er hat die
Biologie und Pathologie der Wirtschaft zu untersuchen,
bei krankhaften Störungen über eine sorgfältige Anamnese
die Aetiologie zu ergründen, den Krankheitsbefund
aufzunehmen, Diagnose, Prognose und therapeutische
Abhilfemöglichkeiten aufzuzeigen; wie die Erforschung
des gesunden und kranken Menschen nur aus Ganzheitsbetrachtung
kommt, so wird auch der Volkswirtschafter
aus der bloßen Analyse des hauptbetroffenen Organes
eines gestörten Wirtschaftskörpers zur korrelativen Ganzheitsbetrachtung
kommen müssen, wenn er Aetiologie,
Befund, Diagnose, Prognose und Therapie zu wirkender
Erkenntnis bringen will 7.
Volkswirtschaftswissenschaft muß sich, will sie nicht
abseits vom immerwechselnden Strom des Lebens, der
Wirklichkeiten und der Zeitnotwendigkeiten "an Stelle
freier Entwicklung wissenschaftlicher Kräfte nur billige
Dressur für konkrete Zwecke treiben" und "auf abgelegenen
Posten über bloße Begriffsdefinitionen und Abstraktionen
meditieren"(F. Marbach), als Ferment in die
Zwecke der Wirtschaft einordnen; dann wird sie media
in vita wirkliche Richtungsweiserin und Künderin. Um
dieses Einfluß- und Wirkungspotential unserer schweizerischen
Volkswirtschaftswissenschaft voll nutzbar zu
machen, scheinen mir zwei Dinge notwendig: 1. eine —
anscheinend nur äußere —Aufwertung, welche aber gleichzeitig
ein starkes inneres Entwicklungszentrum schüfe,
indem man sie im akademischen Bereich richtig einstellt
durch Schaffung einer volkswirtschaftlichen Fakultät;
2. durch noch stärkere Verankerung der volkswirtschaftlichen
Lehre und Forschung im ständig sich erneuernden
Flusse der Wirtschaft; unser Land hat keinen Mangel an
Männern, welche, selber beispielgebend, hier lehrend und
ratend zur Verfügung ständen.
Einige holländische Universitäten tragen sich denn
auch mit dem aus der Notwirtschaft der Nachkriegszeit
entsprungenen Plan der Schaffung einer eigenen staatswirtschaftlichen
Fakultät (social and political economics).
Sismondi, Nationalökonom und Staatsmann in Personalunion,
definiert die Nationalökonomie als einen besonderen
Zweig der Wissenschaft von der Regierung, der
Staatswissenschaft, die sich mit der auf das Wohl der
Völker gerichteten Regententätigkeit zu befassen hat.
Wem tritt hier nicht die Politeiawelt Platons vor die Gedankenschau,
in der sich die Einsicht emporringt, daß nur
gründlicher Bruch mit dem Abgelebten das Neue sichern
kann und zwar durch die Herrschaft derer, die etwas
gelernt haben, der Wisser, oder derer, welche Stimmen,
Einsichten und Ratschläge der Wisser zu hören oder zu
verwerten vermögen 8.
Der Zürcher Sozialwissenschafter E. Großmann warnte
vor kurzem davor, sich in diesem Forschungsgebiet allzusehr
auf rein logisches Denken und statistische Daten
zu verlassen, da volkswirtschaftliches Geschehen aus
Massenhandlungen von Menschen bestehe, die ihrerseits
wieder vom Fühlen und Denken der Massen abhängen.
Wenn in einem demokratischen Staat jedes Unternehmen
als Kampf gegen Armut und Not sozialwirtschaftlich
arbeiten soll, so muß es gleichzeitig über Auswertung
der physischen und psychischen Arbeitsphysiologie und
der psychischen und physischen Arbeitspathologie ein
sozialpsychologisches Erziehungswerk sein. Der hervorragende
Genfer Wirtschaftspraktiker Louis Maire (,,Au
delà du salariat — L'organisation social du travail") weist
mit Nachdruck auf diesen sozialpsychologischen Wertfaktor
hin: Die tiefe Sehnsucht der werktätigen Massen
ist heute darauf gerichtet, als gleichberechtigter und mitverantwortlicher
Partner an der Leitung der Wirtschaft
teilzunehmen: schlechte Bilanzen sind nur allzuoft nichts
anderes als allzu schlechte Beziehungen zwischen Unternehmer
und Arbeiterschaft einer asozialen Organisation
der Arbeit.
Die Volkswirtschaft wird in der Nachkriegszeit eine
entscheidende Entwicklung nehmen. Auch für unser Land
bedeutet seine Wirtschaft gleichzeitig sein Schicksal (,,Das
Werk der Arbeit ist das Weltschicksal schlechthin")!
Die schweizerische Volkswirtschaftswissenschaft, von
Sismondis Geistesschwung vor bald anderthalb Jahrhunderten
erweckt, wird außer der Mitarbeit an landeigenen
Problemen sich durch den Zwang der internationalen
Wirtschaftsnot tiefer in den internationalen Lehr- und
Praxiskreis einfügen müssen. Sie kann dabei nur gewinnen;
ist doch "der wirtschaftliche Nationalismus der
größte Fluch unserer Epoche" (William Rappard), und
sind doch die wirtschaftlichen Sorgen der anderen Länder
auch die unsern (S. a. Guglielmo Ferrero: "Discours aux
Sourds"). -
Die Krönung eines solchen organisatorischen Aufbaues
wäre ein eidgenössischer Wirtschaftsrat aus freien, politisch
ungebundenen Männern, welcher — gleich dem
"New-Deal-Rat" —ohne die Schwerfälligkeit eines großen
Wirtschaftsparlamentes und freigehalten von vorstoßenden
Interessengruppen und Gruppenintrigen ein sachlicher,
von Regierungs-wie von Parteiengunst gleich unabhängiger
Brain-Trust sein müßte.
IV.
Die Studentenschaften werden in der heutigen Zeit
des "Phrasensturmes" (Ortega y Gasset) leicht Spielball
unbesehener Anwendung von Theorien und Ideologien,
welche, je nach dem Schicksal solcher Ideologien, oft
rasch eine nicht immer charakterfeste Kehrtwendung
nötig machen. Es zeigt sich weiter, daß in unsern städtischen,
kantonalen und eidgenössischen Parlamenten, von
den gesetzes- und wortkundigen Juristen abgesehen, frühere
Hochschulabsolventen in der politischen Arena trotz
oder wegen ihres Vielwissens nicht immer mit Logik und
Ironie kämpfende Fechter sind, Kämpen, die nicht durch
den Prunk der Rede, sondern durch die Kraft der Sachlichkeit
und des fair play. zu überzeugen und durchzudringen
wüßten. Erfahrungen an Studentenversammlungen
lehren, wie notwendig eine Erziehung zu sachlicher,
schlagfertiger, knapper und unpersönlicher Debattierkunst
ist.
Wieder gehen wir epizyklische Entwicklungskreise
zurück und dürfen in historischer Rückschau staunend
feststellen, daß das alte Bern bereits eine solche Erziehungsschule
besaß: Es war dies der sog. Aeußere Stand,
"eine Vereinigung junger bernischer Bürger vor ihrem
Eintritt in die Regierung zu einer Verbindung, welche
die mannigfachen Funktionen der gesamten Staatsverwaltung
möglichst getreu nachahmte und so gleichsam
ein Miniaturgemälde der Regierung, des Inneren Standes,
darstellte"(D. Hidber, "Der ehemalige sog. Aeußere Stand
der Stadt und Republik Bern", Neujahrsblatt für die
bernische Jugend 1858): Ein Schultheiß mit seinem Statthalter
bildete das Haupt dieses seit 1556 nachgewiesenen
Schattenstaates, dem nichts fehlte als das zu regierende
Volk. Ihn umgaben Großer und Kleiner Rat, Seckelmeister,
ferner Stadtschreiber, Venner, Großweibel, Landvögte
und untere Beamte. Der auch Jünglingen aus der
bernischen Landschaft und aus anderen Schweizer Städten
zugängige "Aeußere Stand" war eine Vorschule für die
Regierung, das "Innere Regiment"; Wappen war ein sich
im Spiegel beschauender, auf einem Krebs sitzender Affe.
Dieser Aeußere Stand löste sich 1798 auf. Noch am
13. November 1792 hatte Philipp Albert Stapfer, der spätere
verdiente Unterrichtsminister der Helvetik, bei
Antritt seines Amtes als Professor der Akademie und
des Politischen Institutes Bern eine Antrittsvorlesung
gehalten "Ueber die fruchtbarste Entwicklungsmethode
der Anlagen des Menschen": Dieses Institut für Staatslenkung
und Regierungskunst sollte über die Staatsverfassungen
der Welt, Verfall und Untergang der Staaten,
die Quellen der öffentlichen und privaten Wohlfahrt,
aber auch über Philosophie, Moral, antike Sprachen und
Literatur unterrichten, alles im Sinne von Kants Kategorischem
Imperativ.
Inzwischen sind in unserm Lande Bestrebungen zur
Gründung von "Jugendparlamenten"in Gang gekommen,
welche jedoch politisierende Uebungsparlamente sind,
da jede politische Partei mit einer "parlamentarischen
Fraktion" vertreten wird. Was die Hochschule jedoch
braucht und will, das ist nicht eine Nachahmung und
Vorwegnahme eines Großen Rates oder des Nationalrates
mit Wechselrhetorik parteipolitisch vorgefärbter Jünglinge.
Dies erinnert an ein Postulat Wilhelms II., der
1890 in den Schulen eine "politische Erziehung" wollte
mit Kampfrichtung gegen die Sozialdemokratie, was psychologisch
und nach der ganzen Zeitsituation ein Atavismus
war. Was der Student als staatspolitisches Erziehungsmittel
braucht, ist die Kunst eines unter Respektierung
der Spielregeln durchgeführten Redegefechts. England,
uns in vielem so vorbildlich, liefert auch hier das erforderliche
Modell in der seit 1823 in Oxford bestehenden
United Debating Society, welche Muster wurde für gleiche
Gründungen an allen übrigen Universitäten Englands.
Nicht wenige der hervorragendsten Parlamentarier und
Minister Englands sind aus diesen Schulungszellen parlamentarischer
Debattierkunst hervorgegangen. Aufbau
und Debattierregeln dieser Union Society wurden im
Basler Studentenblatt von unserem English Lecturer
Dr. Mason geschildert. Verbindet man die Schulung einer
solchen Debating Society mit Exkursionen in Sitzungen
der kantonalen und eidgenössischen Parlamente der
deutschen und welschen Schweiz und an Tagungen der
Landsgemeinden, so könnte sich eine solche staatspolitische
Erziehung an der Praxis der parlamentarischen Demokratie
über das, was ihr ausbildungsmäßig notwendig ist,
orientieren.
Wieder kommen wir zum Menschen- und Menschheitslehrer
Platon. Im Protagoras-Dialog stellt Protagoras der
theoretischen Naturwissenschaft die politisch-ethische Bildung
gegenüber, die noch dem Manne und gerade ihm unentbehrlich
ist, damit der Mensch durch sie seine Soteria,
seine Rettung aus den Irrungen und Verwirrungen der
Gemeinschaft finde: Schon von frühester Jugend soll
alle Erziehung, die faktisch nur mit der politischen Kunst
zu tun habe, der politischen Arete oder Zucht und
Tugend dienen. Gesetze des Staates sind dabei Mittel
der Erziehung, um über und durch sie diese Arete zu
erreichen; während die Schule Spezialkenntnisse verlange
und bringe, werde das Wissen um Bürger- und Staatspflichten
vorausgesetzt. Die athenische Polis forderte
darum neben den Künsten der Palästra die Polites-Aktivität:
"Wir halten den, der sich den politischen Angelegenheiten
fernhält, nicht für einen ruheliebenden, sondern
für einen unnützen Menschen"(Rede des Perikles).
Diese Erziehung zum wahren Polites, als dem Vollmenschen
und Vollbürger, dem die athenische Polis den
faulen Privatmann, den Idiotes, gegenüberstellte, mit dem
Ethos seiner Kollektivverantwortlichkeit, die Entwicklung
zum Staatsbürger und zur Persönlichkeit, war von je Ziel
und Erfolg der Universitäten Oxford und Cambridge, die
dank ihrer besonders sorgfältigen Pflege der Geisteswissenschaften
heute noch Zentren der Intellektuellen sind.
In dem vor kurzem erschienenen Weißbuch über den
"Dienst der Jugend nach dem Krieg" wurde von einem
beratenden Ausschuß des britischen Erziehungsministeriums
gerade auch die Erziehung zum Staatsbürger gefordert
und damit ein Ausbau der sog. "modernen", d. h.
fachschulmäßigen Universitäten Englands, nach dem
Protagoras-Oxford-Cambridge-Modell.
Ein solches Studentenparlament wäre für den jungen
Akademiker nicht bloß eine Schulung in der Geistigkeit,
der Gewandtheit und der Fairneß der Debattierkunst,
sondern gleichzeitig die würdigste Form seiner Initiation
in seine kommenden staatsbürgerlichen Verantwortlichkeiten,
eine freie und moderne Wiederaufnahme der
athenischen Ephebien, welche in ihren Kosmeten und
Sophonisten die erziehenden Ordner und Lenker hatten.
Es ließe sich dafür wohl ein unserer Eigenart angepaßtes
Rituale finden.
V.
Lassen Sie mich noch einer Pflicht gedenken, die wir
der studierenden Jugend gegenüber haben. Der Wille,
unbemittelten Scholaren zu ihrem Studienziele zu helfen,
hat die Universitäten seit ihrem Ursprung begleitet.
Angehörige und Freunde der Universität spendeten
Stipendien und Stiftungen, was für unsere Alma mater
schon aus dem 15. Jahrhundert bezeugt ist. Heute klopft
die Not der jungen Menschen, die geistigen Berufen zustreben,
stark an die Pforten der Hochschulen. Namentlich
in Ländern, deren aus Generationen erarbeitete
Güter und die daraus fließenden Helfemöglichkeiten
ausgeraubt oder zerstört sind.
Dazu einige Beispiele: Unter den etwa 120000 Studenten
der Sowjetunion des Jahres 1926/27 waren die
Hälfte Arbeiter und Bauern; Hilfe kam für mindestens
die Hälfte durch Gebührenbefreiung, durch Schaffung
von Konvikten und Stipendien, welch letztere mehr als
einem Drittel zugute kamen. Das russische Volk, welches
für seine gewaltigen Völkermassen und zur inneren
Eroberung und Festigung seines Riesenraumes schöpferischer
Geisteskräfte bedarf, hatte nur einen Weg, den
einer schnell aufholenden Organisation. Die Ausbildung
seiner Aerzte geschieht auf Staatskosten: der Student
ist von Anfang seines Studiums an bezahlt; während
seiner Studien erhält er unter anderem die Aufgabe,
die gesamten hygienischen Verhältnisse einer bestimmten
Landesgegend zu erforschen. Die Selbständigkeit
seiner Amtspersönlichkeit muß er sich durch landärztliche
Tätigkeit erringen; ausgewählte Begabte werden,
durch ein hohes Sondergehalt unterstützt, in wissenschaftliche
Laufbahn hereingenommen. England sieht für seine
Universitätsepheben unter Mithilfe staatlicher Mittel
großzügige Stipendien vor, welche in ihrer Höhe dem
Studenten die Teilnahme am studentischen Leben in-
und außerhalb von Studentenheimen und Beziehungnehmen
zu Leben und Gemeinschaft erlauben.
Im arm gewordenen außerschweizerischen Europa erstehen
aus dem Schoße der Nachkriegszeit echte Kinder
der Gaia, Männer und Frauen, welche aus gerettetem
Vergangenem und mit dem Arbeitsschwunge der Jugend
eine wieder menschenwürdige Zukunft aufbauen. Wie
in diesen Ländern sollte auch in der Heimat Rousseaus
und Pestalozzis jedem anlagegemäß für einen geistigen
Beruf Bestimmten und Begabten die äußere Möglichkeit
geschaffen werden, zu Gestaltung und Schicksal seiner
Begabung zu kommen. Man spricht heute mit Recht von
einem "Stipendienelend"; erlaubt doch die Zersplitterung
und Verdünnung der vorhandenen Mittel nicht das wirklich
nötige Maß des finanziellen Studienunterbaues. Nicht
umsonst kommt der Ruf nach einem eidgenössischen
Stipendienfonds. Wer als Rektor der Universität mitten
durch das Leben der Studenten geht, weiß um das Recht
dieser Forderung. Ein solcher Fonds sollte die edle Form
eines Geschenkes unseres Volkes an seine Jugend sein,
indem die Zuerkennung eines Stipendiums zu einer
Ehrung für den jungen Staatsbürger würde. Die Manchester
Grammar School gibt das Modell, wie die Auswahl
der "Ingenia" zu erfolgen hätte. Es geschieht dies
in einer Art gymnasialer Geistesolympiade: Schüler der
zwei obersten Klassen ringen in geistigem Wettkampf
mit Altersgenossen des ganzen Landes in besonderen,
von den Universitäten und dem Staat festgesetzten ziemlich
schwierigen Examina um eine "Scholarship", deren
Gewinn das spätere Universitätsstudium finanziert. Die
Zulassung wäre nur Schülern erlaubt, denen elterliche
Mittel ein Hochschulstudium nicht gestatten; die Entscheidung
müßte liegen bei einem aus Vertretern der
Mittel- und Hochschule und bedeutenden Männern des
praktischen Lebens zusammengesetzten Arbitrium. Eine
solche Begabtenauslese ist um so nötiger, als der Staat
in der Ausschließung der Unbegabten und Mittelmäßigbegabten
völlig versagte (A. Flexner). Welche Ausgangsplattform
für die Bewilligung eines solchen wirklich ausreichenden
Stipendiums auch gewählt werden mag, der
Fonds müßte ausreichend sein; die Stiftungsgelder wären
zu äufnen aus einem Großbeitrag des Bundes, der bis
heute nur Mater nutrix der E. T. H. ist, aus Leistungen
der Nichtuniversitätskantone, aus Mitteln der weitergeführten
Studienausfallentschädigungen im Sinne eines
Vorschlages der V. S. S., aus Beiträgen akademischer
Fachgesellschaften (Schweizerische Juristen-, Aerzte-,
Chemiker- usw. Gesellschaften) und kirchlicher Organisationen
und aus Zuwendungen Privater. Sammelstelle
wäre das Eidg. Finanzdepartement, Vollzugsorgan ein
Verwaltungsrat, bestehend aus Vertretern des Bundes
(Departemente der Finanzen und des Innern), der Universitätskantone,
der Rektorenkonferenz, der Studentenschaft
und des Wirtschaftslebens einschließlich der Arbeiterschaft.
Ueber unserm Bedürfnis, der großen Not der
außerschweizerischen Studentenjugend zu steuern, übersieht
man die Tatsache, daß eine nicht geringe Zahl
unserer eigenen Studenten ihr Studium nur unter schweren
Entbehrungen und Verzichten durchführen kann.
(Der Kanton Baselland hat inzwischen ein ausgezeichnetes
"Stipendiengesetz" im Wurf als nachahmenswertes Vorbild
für die noch ausstehenden Nicht-Universitätskantone!)
VI.
Wir verlassen den Raum der Hochschule und wenden
den Blick Pflichten zu, zu welchen sie sich als Glied der
internationalen Universitätengemeinschaft stellen und bekennen
muß. Pestalozzis Erziehungswerk, entstanden aus
dem Anblick des Elends und der Verwahrlosung der
Massen, aus der Ueberzeugung, daß aus Vielwisserei kein
goldenes Zeitalter zu schaffen sei, war über aus der Not
der Zeit entstandene Versuchsinseln zerstreut (Stans,
Burgdorf, Buchsee, Yverdon). Es ist eines der schönsten
Menschheitswunder, daß seine Ideen, mit der Kraft seines
Herzens beladen, in alle Kontinente drangen; aber nur
die von Pestalozzis Ausstrahlung auch in ihren Herzen
getroffenen Erzieher wurden wirkliche Pestalozzi-Jünger.
Es rührt dies von der seltsamen Tatsache, daß sein Werk
nicht überall in seelische Entwicklungszentren kam, die
zu neuer Wiederausstrahlung fähig waren, in pädagogische
Provinzen, wie sie Goethe, 1780 von Pestalozzis Schrift
"Abendstunde eines Einsiedlers"mit angeregt, in Wilhelm
Meisters Wanderjahren aufbaut.
Aus dem langsam empordrängenden Bedürfnis nach
Schaffung einer Pflanzschule entwicklungsstarker Erziehungsmethoden
kam es von 1914 an zunächst zögernd
zur Gründung eines "Zentralinstitutes für Erziehung und
Unterricht" in Berlin, dessen Interessenkreis sich über
alle Erziehungsstufen spannte; es kam in Kiel zur Schaffung
einer neuen Form der deutschen Hochschule, der
"pädagogischen Akademie". Es gehört zur deutschen
Tragik, daß beide Schöpfungen, welche in der freien Luft
der Republik von Weimar eine gut gestreute Saat zum
Lichte zu bringen hofften, in der Schlammflut eines blindwütenden
geist- und seelenlosen Regimes versanken,
Schöpfungen, denen der edle Geist des unserer Hochschule
nach dem Sturze Weimars nahegetretenen C. H.
Becker, des Ministers für Wissenschaft, Kunst- und Volksbildung
der Weimarer Republik, Triebkraft gegeben hatte.
Die Universität London hatte sich in ähnlicher Weise ein
"Institute of Education" angegliedert. Es kennzeichnet
die britische Art, Probleme nicht im Inseldenken, sondern
in Weltaufgeschlossenheit griffig anzupacken, daß
einer der leitenden Köpfe dieses Institutes, J.A. Lauwery,
noch während des Krieges (1942/45) im Kreise der in
London versammelten alliierten Erziehungsminister für
den Gedanken eines "Internationalen Erziehungsministeriums
der Vereinigten Nationen" oder eines International
Education Office warb und diesem seinem Gedanken
ein erstes Traggerüst schuf. Die Erziehung als
Grundproblem der Wiedergesundung der Völker ist, was
ja schon das Weltecho der Pestalozzischen Lehre erwies,
nur auf internationaler Plattform zu lösen, als ein Problem,
welches "als theologische Frage"das religiöse Weltgewissen
angeht (,,Es muß stets unser Geist sein, der den
Weg bestimmt", General Mac Arthur).
Erfüllungsstätte der Aufträge eines solchen internationalen
Erziehungsrates könnte eine internationale
Universität sein. Dieser Plan geht wieder in einer Epizykel
auf Gehabtes zurück; waren doch in der lateinsprachigen
Frühgeschichte der Universitäten die Hohen
Schulen Italiens, Spaniens, Montpelliers, der Pariser
Sorbonne, Prags und Wiens Sammelzentren der ganzen
europäischen Scholarenjugend. Aus unseren studentischen
Kreisen entsprang der Gedanke, die alte Rupperta Carola
zu Heidelberg zu internationalisieren. Da in Friedenszeiten
jedem Studenten die Pforten jeder Universität
offenstehen, kann eine einlinig nur über eine Unterrichtssprache
gehende und der Fachschulung verpflichtete Universität
diesen Auftrag nicht erfüllen. Näher kommt der
von Columbien der Londoner internationalen Erziehungskonferenz
gebrachte Vorschlag, eine mehrsprachige "Universität
der Vereinigten Nationen" zu gründen. Dieser
Plan gewänne tieferen Erfüllungssinn, wenn nach dem
Vorbilde der alten Artistenfakultät und der Colleges von
Oxford und Cambridge die Studenten in der Idee der
pädagogischen Provinz Goethes zu einem Convivium,
einer Lebensgemeinschaft, zusammengebracht werden, in
der jenen Studenten, welche die verschiedenen Kulturkontakte
suchen, Unterrichtsmöglichkeiten in den führenden
Sprachkulturen geboten würden.
Notwendiger aber als eine solche polyglotte Fachschule
ist heute eine Art Superuniversität, welche allen Suchenden
in einem internationalen akustischen Geistesraum
ein neues Studium generale auf höchster Stufe böte. In
einer solchen höchsten Bildungsschule könnte vor Geist
und Herz begeisterungsfähiger Epheben alles gebracht
werden, was die Scientiae humanae, humaniores et humanissimae
umfassen und was die Kernbegriffe, die Erkenntnismittel
und Forschungsinhalte der einzelnen Wissenschaften
ausmacht. Wechselaufgebote der führenden Forscher
und Erzieher könnten so eine Gesamtspiegelung
des geistig-moralischen Ringens und Forschens der Völker
schaffen mit dem Goetheschen Ziel: "Eine wahrhaft allgemeine
Duldung wird am sichersten erreicht, wenn man,
das Besondere der einzelnen Menschen und Völkerschaften
auf sich beruhen läßt, bei der Ueberzeugung
jedoch festhält, daß das wahrhaft Verdienstliche sich dadurch
auszeichnet, daß es der ganzen Menschheit angehört."
Wurde eine solche Université des arts humains an
einen Ort gelegt, der erfüllt ist von der Geistessprache
Großer, und in eine Landschaft, deren Schönheit und
erholende Größe die Symphonie des Schöpfungswunders
aufklingen läßt, so träte als stillwirkende Erzieherin die
Natur dazu, die Zungen und Herzen schafft, durch die
sie spricht und fühlt; sie ist im Grunde der große Lehrmeister
des Menschen. Wer dächte hierbei nicht an die
Heimat Jean Jacques Rousseaus, den Eduard Spranger
den "Philosophen der Sehnsucht" nannte. Das vom alten
Völkerbund verlassene Palais des Nations und die Seele
der umgebenden Landschaft böten hierzu den stimmungsvollen
Rahmen. In diese Stätte würden einziehen die
Geister Jean Jacques Rousseaus und Pestalozzis, des
Ehrenbürgers der französischen Republik, Henri Dunants,
de Saussures, de Candolles; in dieser parvulissima republica
sprächen zur Jugend Geist und Kunst Byrons und
Shelleys, Stendhals, Balzacs und Chateaubriands, Dostojewskijs
und Liszts.
Was aber darüber hinaus zu schaffen ist, wiederum
in der Heimat Jean Jaques Rousseaus, das ist ein Areopag
des Weltgewissens. Denn: Quis custodiet custodes? Wer
überwacht die Staatshüter und Gesetzgeber? Von Vinet
kommt das harte Wort: "L'état c'est l'homme moins la
conscience."Ein solcher conseil des consciences humaines,
ein Rat der geistigen Sicherheit, Kerntrupp der besten
Geister der Menschheit, wäre der Gewissensrat der Völker:
des Rechtsgewissens, das dem Menschen nur Ersatz der
göttlichen Gerechtigkeit sein kann (Huizinga), des ethischen
und des sozialen Gewissens. Hätte sich 1933 die
Gesamtheit der deutschen Aerzte in einem Aufstehen
gegen die ihnen von einem Gewaltregime auferlegte Zertrümmerung
ihres Berufsgewissens gewandt, so ware dieser
Akt zu einer Selbstbesinnung ihres Volkes und zu einer
Gewissensweckung geworden und hätte, wenn nicht den
Krieg, so doch unsagbare Kriegsgreuel verhüten können.
Ein von amerikanischer politischer Seite (Commander
Stassen) vorgeschlagenes, der Charta von San Francisco
anzugliederndes "Internationales Amt für Menschenrechte"
hätte von vornherein den Nachteil eines Amtes,
durch welches oberirdische und unterirdische Faden der
Politik durchlaufen müssten, solange eine Weltcharta nicht,
wie es in unserm Bundesbrief von 1291 heisst, ihre Arbeit
vollzieht "im Namen des Allmächtigen". Ein solches
Gremium freier Gewissensträger ihrer Völker, welches
statt des verbum vocis, des tönenden Stimmwortes, das
aus Herz und Gewissen kommende verbum cordis sprechen
lassen könnte, hätte als unbeeinflußbarer Areopag
ein stärkeres moralisches Potential als ein dem Werke
von San Francisco affiliiertes Amt, von dem nicht sicher
ist, daß es vom Geiste des heiligen Franziskus erfaßt
wäre. Staatsführer, welche als Ziele ihres Wirkens Frieden,
soziale Gerechtigkeit und Völkerverstehen anerkennen,
hätten ihrerseits an diesem freien Gewissensrat
der Völker mit ihre stärkste Stütze; ihm angehören müßten
die wahren Narthekophóroi, "die nicht nur den Narthex
tragen, sondern deren Geist des Gottes einen Hauch
verspürt" (Platon, Phaidon, 69: "Denn es gibt, wie die
Betreuer der Weihen sagen, der Tyrsosschwinger viele,
doch echte Begeisterte wenig").
Die Menschheit befürchtet bereits wieder einen dritten
Weltkrieg. Denn der zweite ist wie die lernäische Schlange:
aus den Stümpfen ihrer abgehackten Köpfe drohen in
den Explosionszentren des zentralen und balkanischen
Europas, des mittleren und fernen Ostens neue Höhenungeheuer
nachzuwachsen nach Dantes düsterer Vision im
ersten Buche seiner Monarchia: "O Menschengeschlecht!
Von wieviel Stürmen und Verlusten, von wieviel Schiffbrüchen
mußt du heimgesucht werden, da du ein vielköpfiges
Ungeheuer geworden bist und dein Trachten auseinandergeht."
Gelingt es nicht, mit dem so entzündeten
Licht der Völkergewissen aus dem circulus vitiosus des
Nachkriegschaos herauszukommen, so bliebe der Nachtwandler
von Braunau letzter Sieger. Ein Bund berufener
Träger der Völkergewissen wäre die echte Société des
Nations und — weil aus dem Kriegsgolgatha der Völker
entstanden —dauerhafter als zeitgeborene und zeitgebundene,
aus Kompromissen zugestutzte künstliche politische
Gebilde, die so oft Ephemerien sind.
Der unerquickliche Streit, wer Geheimnisherr der
Konstruktion der Atombombe sein soll, wäre menschheitswiirdig
zu lösen, wenn das Geheimnis in einer wahren
Schutzkammer der Weltsicherheit, beim unabhängigen
Wächtergremium dieser Gewissensträger der Völker in
der Stadt Henri Dunants niedergelegt würde unter dem
Treuhänderschild des Internationalen Roten Kreuzes.
Dieser Geistesareopag der Menschlichkeit, des Menschentums
und der Menschenwürde hätte die doppelte Aufgabe,
alle Wege freier Forschung offenzuhalten, sich
aber als Verwalter der moralischen Kräfte der Völker
gegen die Menschenkultur zerstörende Versuche von gewalthörigen
Wissenschaftern zu stellen. Sonst wird jenes
alte Wort nochmals grauenvolle Wirklichkeit: "quaesivit
lucem, ingemuitque reperta"; er hat das Licht gesucht
und seufzte, es gefunden zu haben. An die Stelle der
"fröhlichen" muß heute die "verantwortliche" Wissenschaft
treten, soll die in die Politik abgeglittene Kultur
wieder auf ihren Hochsitz zurückkommen und soll Kultur
in die Politik gebracht werden.
Als Goethe am 7. Juli 1795 nach Basel kam, nannte
man ihm als dortige Sehenswürdigkeiten das Münster, die
große Rheinbrücke und die Uhren, die sämtliche eine
Stunde vor den Uhren der übrigen Welt vorgingen. Wir
möchten wünschen, daß die Uhr unserer Universität in
ihrem Entwicklungsgange auch eine Stunde vorgehe, auf
daß nicht das vor wenigen Wochen von einem Mitglied
der Labour Party des englischen Parlaments, Kenneth
Lindsey, geäußerte etwas harte Urteil gelte: In der Schweiz
hat man noch nichts von der Notwendigkeit einer Reorganisation
des Erziehungssystems gemerkt; es müssen
hier sehr starke andere individualistische Kräfte wirken,
daß die Demokratie trotz der Schulen noch darin lebendig
ist. Nehmen Sie das Gerüst der Ihnen vorgelegten Gedanken
als Versuch einer Antwort auf diesen Appell
einer außerschweizerischen Völkerstimme. Nehmen Sie
es auch als Confessio magistri academiae und als Signet
der Wünsche des Rektors am Ehrentag seiner Hochschule,
für die er walten muß wie Lynkeus der Türmer, "zum
Sehen geboren, zum Schauen bestellt".
Anmerkungen
and finance; thirdly, they are under an obligation to the common man
outside their walls, who is carrying on the business of the community —
this is sometimes called adult or extra-mural education.
Rektorengremium der belgischen Universitäten gegenüber den gleichen
inneren Anruf nach den Humaniora bezeugten? Die Universität Oslo
schuf bereits vor dem Kriege ein Institut der vergleichenden menschlichen
Kultur und ihrer Entwicklung, dessen Vorlesungen nicht nur Originaluntersuchungen
bringen, sondern in welchem ältere Studenten, ähnlich
den Magistri Artium, ihre Anschauungen dem allgemeinen Publikum
darbieten.
zu fesseln wußte, setzt geist- und aufschlußreiche Parallelen zwischen
der Anatomie und Physiologie des Einzelkörpers und der Struktur,
der Sozialphysiologie, der Sozialpathologie und -psychopathologie des
Gesellschaftskörpers. Jedem naturwissenschaftlich Denkenden mußte
diese Beziehung auffallen; hatte doch Aristoteles in seinem Werk über
den Staat die Gesellschaft unter die «Physei», die Naturerscheinungen
eingereiht. Der soziale Körper hat seine Vererbungsgene (Pascal: «Toute
la succession des hommes, pendant la longue durée des siècles, doit
être considérée comme un seul homme, qui subsiste toujours et comprend
continuellement»), seine Wachstumsstoffe, seine Sicherungsvitamine, seine
Variationen und Mutationen und Erb- und Zeitkrankheiten des Gesamtkörpers
wie seiner Organe und Einzelgewebe. Die Erforschung der Einzel-
wie der Gesellschaftsbiologie und -pathologie hat den Reiz des
analysierenden und synthetisierenden Beobachtens: «Als Uebung der
geistigen Fähigkeiten, in der Heranbildung zur großen Kunst des Beobachtens
kann die politische Oekonomie den hervorragendsten gleichgeachtet
werden. Die Beobachtung verleiht dem Geist Sinn für Genauigkeit,
und nirgends, wenn auch überall notwendig, ist diese Eigenschaft in
hervorragenderem Maße erforderlich als in der politischen Oekonomie»
(s. Alfred Amonn, Simonde de Sismondi, Bd. I, A. Francke-Verlag Bern,
S. 473: «Charakter der Nationalökonomie als Wissenschaft»).