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Festrede gehalten bei der Fünfhundertjahrfeier der Universität Basel

am 1. Juli 1960 im Münster zu Basel
von
Ernst Staehelin
d. Z. Rektor
Verlag Helbing &Lichtenhahn Basel 1960

© Copyright 1960 by Helbing &Lichtenhahn, Verlag, Basel
Druck von Friedrich Reinhardt AG., Basel

Hochgeachteter Herr Bundespräsident, Hochgeehrter Herr Regierungspräsident, Exzellenzen, Magnifizenzen, Hochansehnliche Festversammlung!

Wenn in dieser feierlichen Stunde dem Rektor der Universität die ehrenvolle Aufgabe zufällt, die eigentliche Festrede zu halten, so dürften von ihm vor allem zwei Dinge erwartet werden, erstens daß er den Blick in die Vergangenheit wende und Derer gedenke, die die Universität gegründet und während eines halben Jahrtausends weitergeführt und hindurchgetragen haben, zweitens aber daß er zu einer Besinnung auf den Zweck und die Aufgaben aufrufe, denen sich die Universität in der Gegenwart und in der Zukunft verpflichten und hingeben soll.

Die Entstehung der Universität hängt aufs engste mit dem von 1431 bis 1448 in den Mauern Basels tagenden Konzil zusammen. Dieses hatte schon 1432 für die zahlreichen Begleiter der Prälaten Vorlesungen eingerichtet; und als es dann in Gegensatz zum römischen Papst getreten war und einen Gegenpapst erhoben hatte, schuf dieser im Jahre 1440 als Gegenstück zur päpstlichen Universität in Rom eine eigentliche Kurienuniversität in Basel.

Mit dem Wegzug des Konzils und seiner Auflösung nahm jedoch auch diese Kurienuniversität ein baldiges Ende. Dadurch entstand aber in Basel eine von den geistig aufgeschlossenen Kreisen bitter empfundene Leere.

Um so mehr horchten diese auf, als am 19. August

1458 Enea Silvio Piccolomini von Siena, der von 1432 bis 1442, allerdings mit größeren Unterbrechungen, als Sekretär des Konzils in Basel geweilt hatte, als Papst Pius II. den Stuhl Petri bestieg, und rasch faßten sie den Plan, von ihm, dem alten Freunde Basels, die Stiftung einer städtischen Universität zu erlangen. An die Spitze der Bestrebungen stellten sich der Bürgermeister Hans von Flachsland, dessen Bruder als Kammerherr an der Kurie weilte, und der Stadtschreiber Konrad Kienlin, der einst mit Pius II zu den Schreibern des Konzils gehört hatte: nicht nur führten sie mehrere Gesandtschaften an den päpstlichen Hof aus, sondern vermochten auch, was wohl noch mehr besagen will, alle aus der Bürgerschaft erhobenen Bedenken glücklich zu zerstreuen. In der Tat kam es am 12. November 1459 zum Erlaß der Stiftungsbulle durch Papst Pius II., und am 4. April 1460 konnte der von ihm zum Kanzler der Universität bestimmte Basler Bischof Johannes von Venningen im Verlauf einer im Münster zelebrierten «Missa solemnis de spiritu sancto» in der Person des Dompropstes Georg von Andlau den ersten Rektor ernennen und die Universität eröffnen. Schließlich stellten zur Vollendung des ganzen Werkes nach kurzer Zeit der Bürgermeister Hans von Bärenfels, der Kleine Rat und der Große Rat der Universität auch noch einen Schutz- und Freiheitsbrief aus.

Damit nahm der erste Abschnitt der Geschichte der Universität Basel seinen Anfang. Gemäß der Bestimmung der Stiftungsbulle, daß durch das Allgemeine Studium zu Basel der katholische Glaube verbreitet werde, die Einfältigen unterrichtet werden, Billigkeit erhalten werde, verständiges Urteil kräftig gedeihe,

die Geister der Menschen erhellt und ihr Verstand erleuchtet werden, trug dieser Abschnitt im wesentlichen das Gepräge eines vom Frühhumanismus beeinflußten Katholizismus und dauerte bis zu dem durch den am 9. Februar 1529 erfolgten Durchbruch der Reformation verursachten Zusammenbruch des alten Wesens.

Aber schon in der am 1. April 1529 erlassenen Reformationsordnung bezeugten die verantwortlichen politischen Behörden, nämlich der Statthalter des Bürgermeistertums Adelberg Meyer, der Kleine Rat, der Große Rat und außerordentliche Vertreter der Bürgerschaft, den festen Willen, die Universität im Geiste des neuen Wesens fortzusetzen, indem sie bekannten: «Da wir zur Verkündung des Wortes Gottes und Pflege eines friedsamen, christlichen, bürgerlichen Wesens gelehrte Leute nötig haben, wollen wir mit Gottes Hilfe die Schulen für die Jugend und unsere Universität mit guten, gelehrten Schulmeistern und Professoren, nicht bloß in lateinischer, sondern auch in griechischer und hebräischer Sprache so schicklich versehen, daß dadurch Junge und Alte in aller guten Kunst zu christlichen Tugenden und Vorstehern der Gemeinde wie in einer Pflanzschule herangezogen werden.» Um die Verwirklichung dieser Absicht bemühte sich vor allem der Reformator Johannes Oekolampad. So kam es durch die Statuten vom 12. September 1532 zu einer Neugründung der Universität im «Geiste eines christlich-reformierten Humanismus». Und diese Prägung blieb der Universität im wesentlichen bis zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert eigen. Noch Isaak Iselin, der hervorragende Vertreter einer edlen Aufklärung, sagt in seinen «Unvorgreiflichen

Gedanken über die Verbesserung der Baslerischen Hohen Schule» von 1758: «Das erste, das ich diesorts festsetzen wollte, ist, daß sich eine jede Universität den wahren, den erhabenen und den einzigen Zweck aller Gelehrtheit vorschreiben und alle ihre Einrichtungen gemeinsamlich nur nach demselben zielen sollte; dieser ist ganz allein die Verherrlichung des göttlichen Namens und die Beförderung sowohl der moralischen als physikalischen Glückseligkeit der menschlichen Gesellschaft durch Bekenntnis, Frömmigkeit, Tugend und Künste.»

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts jedoch wurde die Universität durch verschiedene Umstände, wie die großen politischen Umwälzungen und die ganz Europa aufwühlenden Kriege, eine antiquierte Organisation und ein gewisses wissenschaftliches Erstarrtsein in eine Krisis auf Leben und Tod hineingeführt. Da bestellte der Kleine Rat eine Kommission mit dem Auftrag, zu beraten, «wie die hiesige Universität auf eine den Zeiten angemessenere Weise könnte eingerichtet und gemeinnütziger gemacht werden». Vor allem durch die Arbeit der drei Staatsmänner Peter Ochs, Johann Heinrich Wieland und Abel Merian kam es so zu dem neuen Universitätsgesetz vom Jahre 1818. Mit ihm aber brach für die Universität Basel das Zeitalter eines neuhumanistischen Liberalismus an, wie ihm besonders schön der aus der Welt Weimars stammende Wilhelm Martin Leberecht de Wette in seiner Rektoratsrede von 1823 Ausdruck verliehen hat: «Der Geist der Wissenschaften läßt sich keine Fesseln anlegen, und wären sie von Gold geschmiedet; er flieht den trüben Dunstkreis roher Gewalt und feiger Knechtschaft; empor zum lichten Aether, in welchem die

Freiheit, die Liebe, die Begeisterung leben, hebt er die Schwingen.» Und dieser Geist eines neuhumanistischen Liberalismus ist der Universität Basel über die Universitätsgesetze von 1835, 1866 und 1937 bis in die Gegenwart hinein weithin eigen geblieben.

Aller derjenigen, welche im Laufe dieser verschiedenen Zeitalter am großen Werk des Studium generale Basiliense teilgenommen haben, seiner Gründer, seiner Förderer aus Staat und Bürgerschaft, der immer neuen Scharen der akademischen Jugend und vor allem der über tausend Dozenten, die mit den ihnen verliehenen Fähigkeiten in treuer Hingabe ihres verantwortungsvollen Amtes gewaltet und deren wissenschaftliche Leistungen zum Teil in das geistige Gut der ganzen Menschheit eingegangen sind, sei in dieser Stunde in Ehrerbietung und Dankbarkeit gedacht, und wir hören sie, soweit sie bereits den irdischen Schauplatz verlassen haben, mit innigster Zustimmung im Geiste die Worte des Dichters sprechen:

«Wir Toten, wir Toten sind größere Heere
Als ihr auf der Erde, als ihr auf dem Meere!
Wir pflügten das Feld mit geduldigen Taten,
Ihr schwinget die Sichel und schneidet die Saaten.
Wir suchen noch immer die menschlichen Ziele —
Drum ehret und opfert! Denn unser sind viele!»

Doch diese Stunde des Gedenkens und die ganze Fünfhundertjahrfeier überhaupt laden uns nicht nur zu einer Rückschau in die Vergangenheit ein, sondern sie rufen uns zugleich mit größtem Nachdruck zu einer Besinnung auf die Gegenwart und die Zukunft auf.

Für eine solche Besinnung dürfte es wesentlich sein,

daß wir uns des ganzen Ernstes der gegenwärtigen weltgeschichtlichen Situation bewußt werden. Zwar ist die Universität Basel kein machtvolles Gebilde, sondern nur eine Universität, und zwar eine im Kreise ihrer etwa sechshundert Schwestern, die auf dem ganzen Erdkreis am Werke sind, verhältnismäßig kleine Universität. Aber wie jeder einzelne Mensch, der sein Menschsein ernst nimmt, für das Ganze der Menschheit mitverantwortlich ist, so kann auch eine aus Menschen bestehende Körperschaft, selbst wenn sie noch so gering erscheint, sich nicht dem Bewußtsein entziehen, ihre Wirksamkeit in den Gesamtzusammenhang des menschlichen Lebens hineinstellen zu sollen.

Natürlich kann es sich in dieser Stunde nicht darum handeln, die ganze Problematik der heutigen weltgeschichtlichen Lage vor unserm Geiste zu entrollen. Aber im Hinblick auf die ungeheure Vermehrung der Menschheit, im Hinblick auf den Eintritt neuer zum Teil gewaltiger Völker in die Arena der weitgeschichtlichen Auseinandersetzung, im Hinblick auf die unheimlichen technischen Möglichkeiten, die dieser im Aufbruch und Aufruhr befindlichen Völkerwelt in die Hand gegeben sind, im Hinblick auf den Zerfall bisheriger geistiger Welten auf der einen Seite, auf die siegesbewußte Propagierung neuer Konzeptionen auf der andern Seite muß doch wohl gesagt werden, daß gegenüber den Umbrüchen, die gegenwärtig in der Völkerwelt auf allen Gebieten im Gange sind oder wenigstens begonnen haben, die großen Umbrüche der vergangenen Weltgeschichte, wie etwa die Völkerwanderung oder der Aufbruch der islamischen Völker oder die Mongolenstürme oder die Napoleonischen Kriege, in den zweiten und dritten Rang zurücktreten.

In diesen Zusammenhängen also steht die Universität Basel im Zeitpunkt des Jubiläums ihres fünfhundertjährigen Bestehens, und diese Zusammenhänge muß sie im Auge haben, wenn sie den Anforderungen der Gegenwart und der Zukunft Genüge leisten will. «Hic Rhodus, hic salta!» muß ihre Losung sein.

Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß die Universität Basel nicht immer offen gewesen sei für die großen Menschheitsfragen, und daß von ihr nicht Wirkungen bis in die fernsten Erdteile ausgegangen seien. Doch soll sie damit dazu aufgerufen werden, sich mit allem Ernst zu prüfen, ob ihr wissenschaftliches Wollen und Wirken dem ganzen existentiellen Ernst der Weltlage, den Aufbrüchen neuer Potenzen und der Gewalt der Menschheitsprobleme gegenüber noch einen genügenden Tiefgang, noch einen genügenden geistigen Hintergrund habe, oder ob nicht entweder der überlieferte Hintergrund zu neuer Leucht- und Durchschlagskraft erweckt oder aber eine neue Begründung und Ausrichtung mit heißem Bemühen gesucht werden sollte.

Wir haben gehört, daß hinter der Alma Mater Basiliensis sowohl im Zeitalter des frühhumanistisch geprägten Katholizismus als in demjenigen des humanistisch geprägten reformierten Protestantismus eine ganz bestimmte geistig-metaphysische Welt stand, aus der heraus sie mehr als drei Jahrhunderte lang ihr wissenschaftliches Werk tat. Im Zeitalter des neuhumanistischen Liberalismus änderte sich der Sachverhalt; da finden wir mehr nur positivistische Formulierungen über den Zweck der Universität; so heißt es etwa im Universitätsgesetz von 1835, ihr Zweck sei «einerseits Weiterbildung der sich den Wissenschaften widmenden

Jünglinge, entweder bis zur Vollendung ihrer Studien oder bis zur Erlangung derjenigen wissenschaftlichen und Altersreife, mit welcher sie fremde Anstalten mit Erfolg benützen können, anderseits Verbreitung derjenigen allgemein menschlichen Kenntnisse, welche den Geist des Bürgers ausbilden oder im Berufsleben nützlich sein können»; und im Universitätsgesetz von 1937 lesen wir die Formulierung, Zweck der Universität sei «die Pflege der Wissenschaft, die Vorbildung für die wissenschaftlichen Berufsarten und die Förderung des geistigen Lebens».

Gewiß sind diese Zweckbestimmungen aus einem ganz bestimmten Hintergrund heraus gebildet worden. Aber wenn sie so positivistisch verstanden werden, wie sie lauten, und wenn sie als selbstverständliche, problemlose Programme genommen werden, dann dürften sie für die gewaltigen Auseinandersetzungen der Gegenwart und Zukunft und als Richtlinien für die Mission der Universität in diesen nicht genügen. Vielmehr ruft uns die gegenwärtige Stunde der Weltgeschichte mit unüberhörbarer Dringlichkeit zu, die Zweckbestimmung des Universitätsgesetzes in voller Bewußtheit wieder mit einem hohen und höchsten Inhalt zu füllen, das ganze Wesen und Wollen unserer Universität wieder in letzte metaphysische Zusammenhänge hineinzustellen.

Selbstverständlich kann diese Aufgabe nicht kollektiv gelöst werden. Vielmehr muß jeder Einzelne in voller Freiheit sie in sein geistiges Ringen aufnehmen und zu bewältigen suchen. So kann auch der Sprechende keine allgemeinverbindliche Lösung vorschlagen; er kann nur in aller Bescheidenheit versuchen, in Kürze seine eigene Schau der Dinge darzulegen, und

hoffen, damit vielleicht die eine oder andere Anregung zu geben.

Im Universitätsgesetz von 1937 steht nach der genannten Zweckbestimmung der Satz: «Die wissenschaftliche Lehre und Forschung ist frei.» Und dieser Satz soll wie in Marmor eingemeißelt bleiben. Wir wissen, daß in der Periode des vom Frühhumanismus geprägten Katholizismus und in derjenigen des vom Humanismus gestalteten reformierten Protestantismus diese Freiheit nicht herrschte, und wir bedauern es. Um so stolzer sind wir darauf, daß gerade ein Lehrer der Universität Basel es war, Sebastian Castellio, der in jenen Jahrhunderten des Glaubenszwanges machtvoll seine Stimme zu Gunsten geistiger Freiheit erschallen ließ, und wir freuen uns, daß mit dem neuhumanistischen Liberalismus die Freiheit der Wissenschaft zum Prinzip erhoben wurde, und daß gerade wiederum von Basel aus durch den Waadtländer Alexandre Vinet der Ruf der Gewissens- und Denkfreiheit besonders mächtig in die Welt hinein erging.

Aber diese Freiheit der Lehre und der Forschung ist kein Freibrief für ein unbesonnenes und verantwortungsloses Schalten und Walten mit der Wissenschaft. Im Gegenteil, je weniger äußere Mächte die Verantwortung für das geistige Leben übernehmen, desto mehr ist es Pflicht des Einzelnen, nach den letzten Maßstäben und Richtlinien zu ringen, nach denen er das gewaltige Instrument der Wissenschaft handhaben darf und soll.

Der Anfang eines solchen Ringens wird darin bestehen müssen, daß wir uns auf das Wesen des menschlichen Geistes besinnen.

Ein Hymnus auf die Herrlichkeit des menschlichen

Geistes steht gleich am Beginn der Geschichte unserer Universität: es sind die Anfangsworte der päpstlichen Stiftungsbulle: «Unter den verschiedenen Glückseligkeiten, welche der sterbliche Mensch in diesem hinfälligen Leben durch Gottes Gabe erlangen kann, verdient nicht unter die letzten gezählt zu werden, daß er durch beharrliches Studium die Perle der Wissenschaft zu erringen vermag, welche den Weg zu gutem und glücklichem Leben weist und durch ihre Vortrefflichkeit bewirkt, daß der Erfahrene weit über den Unerfahrenen hervorragt; überdies macht sie Jenen Gott ähnlich und führt ihn dazu, die Geheimnisse der Welt klar zu erkennen, hilft den Ungelehrten und hebt die in tiefster Niedrigkeit Geborenen zu den Höchsten hinauf.»

Aber diesem ungebrochenen Optimismus in Beziehung auf den menschlichen Geist, die menschliche Vernunft und die menschliche Wissenschaft stehen gerade aus dem Schoße der Universität Basel andere Urteile gegenüber. Schon in der Proklamation, in der der erste Rektor, Georg von Andlau, der Welt die Eröffnung der Universität Basel kundtat, ist von den Geistern der Menschen die Rede, welche, verdunkelt durch die Wolke der Urschuld, die Kraft der ihnen anerschaffenen Vernunft verloren hätten. Im Beginn des 19. Jahrhunderts war es sodann der schon genannte Alexandre Vinet, der trotz dem Hohenliede, das er auf die Freiheit sang, doch zugleich aufs tiefste von der Zerbrochenheit des menschlichen Wesens durchdrungen war; seine berühmten «Reden über einige religiöse Gegenstände», die er in der Kirche am Totentanz gehalten hat, beginnt er mit den Worten, daß sich die Menschheit von Gott getrennt habe, daß

die Stürme der Leidenschaften das geheimnisvolle Tau zerrissen hätten, das das Schiff im Hafen zurückgehalten habe; und der Zustand der Menschheit sei jetzt der Zustand eines Verbannten, der den Weg in die Heimat suche, aber in schreckliche Wüsteneien sich verirre; und in seinen Vorlesungen über Blaise Pascal führt er aus, daß für eine tiefe Seele das Leben keineswegs heiter aussehe; ein gewisser Grad von Traurigkeit sei von einer großen Kraft des Nachdenkens nicht zu trennen; je mehr man in die Höhen des Denkens vorstoße, desto mehr erreiche man die Region der Traurigkeit. Und an die Stimme des Literarhistorikers und Theologen Vinet reiht sich diejenige des Philosophen Karl Steffensen: in seinen tiefsinnigen Vorlesungen über Philosophie der Geschichte erklang das Wort: «Wir sind's, nicht unsere Schatten, die klagen wie Achilles in der Unterwelt: lieber ein Taglöhner droben als ein König in dieser Welt; ganz wie der verlorene Sohn zu sich selbst sprach; wir sind Gespenster.»

Das sind bittere Erkenntnisse. Aber wir müssen ihnen standhalten und uns gerade auch in diesen Tagen des Jubiläums bewußt sein, daß die Weltgeschichte darum so wahnsinnig ist, weil sie von gespenstischen Menschen gemacht wird, und daß auch das Werk der Wissenschaft darum nicht nur Segen, sondern auch Fluch in sich trägt und gerade auch durch sein Fortschreiten in immer neue Aporien hineinführt, weil es von gespenstischen Wesen getrieben wird. Es bedarf im Zeitalter der atomaren Entdeckungen und Erfindungen dafür keiner weitern Erläuterungen.

Nun ist das aber nur die eine Seite der Wahrheit, und gerade in der Geschichte unserer Universität ist auch die andere Seite von Anfang an bis zur heutigen

Stunde immer wieder machtvoll verkündet worden. Welches ist diese andere Seite?

Georg von Andlau hat an die Spitze seiner schon genannten Proklamation, in der er die Eröffnung der Universität Basel verkündete, das Wort gestellt: «Der eingeborene Sohn Gottes, der von den höchsten königlichen Sitzen der Himmel herniedergestiegen war, um inmitten der Erde das Heil des menschlichen Geschlechtes zu verwirklichen, hat nach seiner Rückkehr zum Vater geruht, die Welt mit diesem seinem Gnadengeschenk, daß die höchste Wahrheit immer unerschütterlich und unverletzt bleibe, auszurüsten.» Man wird vielleicht zunächst überrascht fragen, was diese gewaltigen Tatsachen, von denen da die Rede ist, mit der Gründung einer Universität zu tun haben. Und doch liegt ein tiefer Sinn darin, daß Georg von Andlau die Proklamation mit diesem Wort beginnt: er hebt damit die Universität mit all ihrem wissenschaftlichen Ringen, Wollen und Schaffen aus dem Bereiche dieser gebrochenen Welt, aus dem Bereiche dieses weithin sinnlosen Daseins in den Zusammenhang eines auf Erlösung abzielenden Handelns Gottes und gibt ihr mit allen ihren Fakultäten und Disziplinen einen letzten tiefen Sinn und eine heilige Ausrichtung, verkündet in machtvoller Weise, daß die «Universitas studii Basiliensis» in der großen Revolution des angebrochenen Reiches Gottes drinstehen und ihr ganzes Werk als ein Werk in diesem gewaltigen, auf ein herrliches Ziel hin gerichteten Geschehen begreifen und gestalten solle.

Diese große Bestimmung aber, die Georg von Andlau in seiner Proklamation der Universität zuweist, ist ihr auch in dem die Madonna mit dem Kinde darstellenden

Siegel, das vielleicht schon der Proklamation angehängt war, aber jedenfalls im Sommer 1460 im Gebrauch stand, mit auf den Lebensweg gegeben. Oder was ruft dieses Siegel anderes aus als die große Frohbotschaft des Evangeliums: «Das Wort ward Fleisch», der Logos, die ursprüngliche Wahrheit, die ursprüngliche Schöpfung hat ihre Invasion in den Bereich der ringenden, irrenden und leidenden Menschheit angefangen, die Erlösung der Welt aus ihrem Wahnsinn hat begonnen! Und indem die Universität Basel dieses ursprüngliche Siegel bis auf den heutigen Tag beibehalten hat und jeden Brief, jede Immatrikulationsurkunde und jedes übrige im Namen der Universität ausgehende Dokument damit beglaubigt, macht sie jedem Leser dieser Schriftstücke eindrücklich, daß sie in einer aus der ewigen Welt herkommenden und auf die universale Befreiung der ganzen Kreatur hinzielenden Bewegung drinstehen und in diesem großen Zusammenhang ihr Werk des Forschens und Lehrens tun möchte.

Wenn aber Georg von Andlau die Universität Basel in den Anfang der großen kosmischen Freiheitsbewegung hineingestellt hat, so hat das «Halleluja» aus dem «Messias» von Georg Friedrich Händel, das wir soeben hören durften, sie auf den großen Endsieg dieser Bewegung ausgerichtet, indem es ihr zwei gewaltige Auditionen des Sehers Johannes zurief, nämlich erstens: «Und ich hörte etwas wie die Stimme einer großen Menge und wie die Stimme vieler Wasser und wie die Stimme starker Donner, die sprachen: Halleluja!; denn der Herr, unser Gott, der Allmächtige, hat die Herrschaft angetreten», und zweitens: «Und der siebente Engel posaunte; da erschollen laute Stimmen im

Himmel, die sprachen: Die Herrschaft über die Welt ist unserm Herrn und seinem Gesalbten zuteil geworden, und er wird herrschen in alle Ewigkeit.» In diesen beiden Auditionen wird der endgültige Triumph Gottes über alles Stückwerk, über allen Wahn und alles Leid, über alle Zerstörungen und alle Unheilsmächte bis in die entferntesten Weiten des Universums hinein verkündet, und es scheint uns ein großes Geschenk für die Universität Basel zu ihrer Fünfhundertjahrfeier zu sein, daß sie durch den machtvollen Hymnus des «Halleluja» in diese ungeheuren Perspektiven hineingehoben wurde.

Es ist natürlich klar, daß unsere Universität, wenn sie sich mit ihrer ganzen Existenz in dieses große Geschehen hineinstellen sollte, im großen und ganzen ihr Wirken in allen ihren Fakultäten und allen ihren Disziplinen in der bisherigen Weise mit letztem wissenschaftlichem Ernst und letzter wissenschaftlicher Hingabe weitertreiben wird. Aber es dürfte doch wohl so sein, daß dann all dieses Wirken in Lehre und Forschung einen letzten heiligen Sinn bekommt, in reichem Maße befruchtet und aus einem gewissen Positivismus heraus in letzte metaphysische Höhen und Tiefen hineingeführt wird. Es dürfte doch wohl so sein, daß dann die Humanität, die so oft im Zusammenhang mit der Universität Basel genannt wird, eine klare und über die Maßen wertvolle Füllung erhält. Es dürfte doch wohl so sein, daß dann die Universität Basel all die Probleme, die in bezug auf die akademische Jugend bereits bestehen und in noch größerer Menge und Schwere wohl künftig aufbrechen werden, ebenso großzügig als weise meistern kann. Es dürfte doch wohl so sein, daß dann die Universität Basel den

großen revolutionären Losungen gegenüber, die gegenwärtig die Weltgeschichte mit ihrem Ruf erfüllen und in Aufruhr versetzen, eine Losung hat, die all diesen saekularen Losungen weit überlegen ist, weil sie ihren Wahrheitsgehalt in sich aufnimmt, aber ihre Zielsetzung an Weite und Tiefe in unvergleichlicher Weise übertrifft. Und es dürfte schließlich doch wohl so sein, daß dann die Universität Basel auch die ganze Welt der Entwicklungsvölker aus einer letzten Verantwortung heraus in ihren Gesichtskreis aufnehmen und sich in ihrer Weise in den großen Kreuzzug einreihen wird, zu dem kürzlich von maßgebender Stelle aus so eindringend aufgerufen worden ist.

Aus innerer Nötigung heraus, wenn auch nicht ohne Furcht und Zittern, haben wir in diesen unsern Ausführungen versucht, im Anschluß an die Proklamation unseres geistigen Ahnherrn, des Rektors vom Jahre 1460, und im Anschluß an das in dieser erlauchten Versammlung erschollene «Halleluja» eines großen Künstlers der ins sechste Jahrhundert ihrer Geschichte schreitenden Universität Basel auf ihren künftigen Lebensweg eine Leitidee mitzugeben. Und zwar ist es die Leitidee, daß sie nicht nur ein «Studium generale», das in dieser gefallenen Schöpfung mit ihrer aus der «grandeur de l'homme» und der «misère de l'homme» gemischten Menschheit sein Wesen treibt und in ihr auf- und untergeht, sein möge, sondern vielmehr eine Zelle in der großen Erlösungsbewegung, die dem unermeßlichen Seufzen der Kreatur ein Ende bereiten und in allen Bereichen des Weltalls die Herrlichkeit einer von allem Stückwerk und allen Mächten des Wahns und des Leidens befreiten Gotteswelt aufrichten möchte.

Allerdings läßt sich eine solche Leitidee auch mit dem besten Willen nicht vom Menschen aus verwirklichen. Vielmehr bedarf es dazu Erleuchtungen aus einer höheren Welt. In klarer Erkenntnis dieses Sachverhaltes wurde daher vor fünfhundert Jahren die feierliche Eröffnung der Universität im Rahmen einer «Missa solemnis de spiritu sancto» vollzogen, und dabei sang der Chor die Pfingstsequenz: «Veni, sancte spiritus, et emitte coelitus lucis tuae radium!»

Diese Bitte möchten wir auch heute aussprechen und zugleich der Hoffnung Ausdruck geben, daß der Schall der Posaune des siebenten Engels ständig in das Leben und Wirken der Universität Basel hineintönen, es heiligen und auf letzte Ziele ausrichten möge!