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Die kulturellen Beziehungen zwischen Italien und der Schweiz

Festrede gehalten von

Prof. Dr. Reto Roedel,

St. Gallen, am

Hochschultag der Handels-Hochschule St. Gallen, 14. Mai 1960

Meine Damen und Herren!

Es fehlt nicht an Zeugen dafür, daß seit dem 3. Jahrhundert Beziehungen rechtskultureller Art bestanden haben zwischen Reichenau und Pavia. Man darf annehmen, daß gewisse Texte von Reichsgesetzen, so die Institutionen Justinians und einige Sammlungen nichtrömischer Gesetze unzweifelhaft italienischer Herkunft, die sich schon im 9. Jahrhundert in der Abtei St. Gallen befanden, von Mönchen hergebracht worden waren, die von Norden nach Süden die berühmten Alpenpässe überquerten, um sich zum Studium nach Pavia oder andern Städten Italiens zu begeben.

Gewiß, das Rechtsstudium, das in Italien nie aufgegeben worden war, erlangte gegen Ende des 11. Jahrhunderts außerordentliche Bedeutung. Bekanntlich führte die Neuentdeckung des Corpus Juris Civilis, streng genommen jener vollständigen Ausgabe der Digesten, die «Fiorentina» genannt wird, zu neuem Forschungseifer und befruchtete vor allem in Bologna das berühmteste Studium Europas. Nun gut; mit den vielen Studenten aus allen Teilen Europas nahm die Universität Bologna auch schweizerische Studenten auf. Verschiedene Veröffentlichungen von Professor Sven Stelling-Michaud geben darüber ganz bestimmte Angaben. Von 1265 an, dank der Memorialia Communis und nach 1289 dank der Matrikel ist es möglich, mehr oder weniger regelmäßig die Anwesenheit der Schweizer nachzuweisen. Sie waren zahlreich bis 1370, bis zu ihrer Übersiedlung an die neugegründeten Reichs-Universitäten von Prag im Jahre 1348 und von Wien im Jahre 1365. Ich möchte zum Beispiel daran erinnern, daß während der 35 Jahre zwischen 1265 und 1300 die Universität Bologna 175 Schweizer Studenten aufnahm. Daß dies eine beträchtliche Zahl darstellt, zeigt der Vergleich mit der Anzahl der übrigen Studenten. Im Jahre 1265/66 waren als ausländische Studenten 170 Franzosen, 31 Spanier, 26 Deutsche, 24 Engländer, 15 Schweizer, 10 Ungarn, 3 Polen, 2 Belgier und 1 Holländer immatrikuliert, und so blieb ungefähr das Verhältnis während vieler Jahre. Es waren in erster Linie Theologen, doch fehlten auch Laien nicht — 18 auf 175 —natürlich alles Adelige oder reiche Bürgerssöhne.

Selbstverständlich ließen das Studium und der freie Geist der italienischen Kommunen ihren Eindruck in diesen Scholaren zurück. Spuren italienischen Einflusses finden sich in den Rechtsbestimmungen Basels und anderer Städte des 13. und 14. Jahrhunderts. Es wurde festgestellt,

daß die Ars Notaria und die Praxis des notariellen Vertrages wie des römischen Testaments in der Schweiz durch jene verbreitet wurden, die sich in Bologna den Doktorhut geholt hatten. Es kam sogar oft vor, daß die schweizerischen Richter des 13. Jahrhunderts ihre Schiedssprüche mit Ausdrücken schmückten, die sie den Glossatoren von Bologna entlehnt hatten. Ganz augenfällig ist der Einfluß auf die in der Schweiz neuen Formeln italienischen Ursprungs (Rainer von Perugia hatte ihnen in seiner Ars Notaria ein Kapitel gewidmet), mit denen man seit der Mitte des 13. Jahrhunderts, um den Vertragsbruch unmöglich zu machen, auf bestimmte, zugelassene Sonderrechte verzichtete, die nur zu oft von den Listigen zum Verderben der Einfältigen und der Ehrlichen benützt wurden.

Stelling-Michaud bestätigt den fruchtbaren Kulturkontakt, den wir eben erwähnten. In den Archiven und in den weltlichen und geistlichen Bibliotheken hat man juristische Schriften unzweifelhaft italienischer Herkunft gefunden, die gewiß die in Bologna benutzten Übungstexte sind und in vielen Fällen von Heimkehrenden über die Alpen gebracht wurden. Von 187 von Stelling-Michaud aufgezählten Manuskripten sind 91 deutscher, gut 70 italienischer Herkunft in «littera bononiensis» geschrieben; nur 14 sind französischer und 12 verschiedener Herkunft. Es leuchtet ein, daß eine so beträchtliche Zahl die große Verbreitung der bolognesischen Glossatoren durchaus zu beweisen vermag.

Seit dieser Zeit also schon zogen nach Norden über die berühmten Alpenpässe nicht nur die Händler mit florentinischem Tuch oder die mit Geld und Handelsbriefen ausgestatteten Wechsler und nach Süden nicht nur die Bauern mit ihrem begehrten Vieh oder die Kaufleute mit Leinwand und gefärbter Wolle... über diese berühmten und gefährlichen Pässe zog auch die Kultur.

Bekanntlich kam ein anderer einzigartiger Handel mit Codices zwischen der Schweiz und Italien kurz nachher, zur Zeit der humanistischen Hochblüte, in Schwung. Über dieses Kapitel bekunden italienische Texte größte Zufriedenheit, während in gewissen schweizerischen Berichten ein anderer Ton angeschlagen wird.

Ich erinnere daran auf Grund von zum Teil eigenen Forschungen. In Konstanz, von 1414-1418, wurde das Konzil abgehalten, mit dem die Kirche das abendländische Schisma beendigen wollte. Apostolischer Schreiber der römischen Kurie ist Poggio Bracciolini. Doch, trotz der Teilnahme an den großen Problemen der Stunde, hat er den Sinn bei andern Dingen, und während die weiche Gänsefeder Rapporte über die zähen kanonischen Dispute kritzelt, schweifen seine Gedanken über Purpur und Samt des Konzils hinweg, über Täler und Hügel hinaus zu

den Abteien von Reichenau, von Weingarten und ganz besonders von St. Gallen, die mit alten Codices wohlversehen waren. Zu gegebener Zeit, es scheint im Sommer 1416 gewesen zu sein, kommt er nach St. Gallen. Es läßt sich nicht genau feststellen, in welchem Zustand er die Abtei gesehen hat. Unzweifelhaft war sie zu dieser Zeit vernachlässigt. Man kann aber auch nicht genau sagen, wie viele und welche Codices dieser berühmte Humanist mit sich genommen hat. Jedenfalls trugen diese Funde, die ein ganz besonderes Kapitel des Kulturlebens jener Zeit ausmachen, nicht wenig dazu bei, die große Flamme des Humanismus zu nähren.

Poggio Bracciolini selber erklärt in einigen Briefen — die von seinem «De infelicitate Principum» und von der Grabrede für Niccolò Niccoli bestätigt werden —, daß er Quintilians «Institutio oratoria», die ersten drei Bücher und die Hälfte des vierten des «Argonauticon» des Valerius Flaccus und den historischen Kommentar des Asconius Pedianus zu acht Reden des Cicero gefunden habe. Concio Rustici aber, der in Konstanz und St. Gallen bei ihm war, in einem Brief an Francesco da Fiana, dann Francesco Barbaro von Venedig in einem Schreiben an Bracciolini zählen weiter «De architectura» von Vitruv, «De finibus bonorum et ma lorum», «De legibus» und verschiedene Reden von Cicero, «De utroque homine» des Lattantius, die Kommentare des Priscianus zu einigen Gesängen Vergils, «De rerum natura» von Lukrez, den «Bellum punicum » von Silius Italicus, die «Silvae» von Statius, «Astronomicum» von Manilius, «De re rustica» von Columella und anderes mehr auf.

Während man die Funde in Italien als das glücklichste Unternehmen eines der erfolgreichsten Humanisten feierte, nahmen die St. Galler, die in ihrem rechtmäßigen, kostbaren Besitz geschädigt worden waren, die Sache natürlich übel auf, um so mehr als, wie nach mehr als einem Jahrhundert in den Annalen des St. Gallers Johannes Rütiner vermerkt wurde, Poggio Bracciolini sogar zwei Karren voll Bücher mit sich geführt haben soll: «libros quos Poggius duobus curribus abduxit ad urbem Costantiensem.»

Nach der Übertreibung in dieser Notiz muß man einmal leidenschaftslos daran erinnern, daß diese Codices weggeführt wurden, um sie zu bewundern und bekanntzumachen, wie es die neue humanistische Bildung verlangte, zum zweiten, daß Abt Heinrich III. von Gundolfingen die Erlaubnis dazu gegeben zu haben scheint. Die Annalen «Actorum monasterii Sancti Galli» bestätigen es: «Poggius Florentinus in monasterium nostrum veniens concessu atque permissione Abbatis multos perelegantes libros asportavit», also mit der Bewilligung und der Erlaubnis des Abtes. Und so sehr uns heute dieses Wegschaffen merkwürdig scheinen mag und muß, sollten wir uns doch fragen, wie es zu

jener Zeit beurteilt wurde. Ein Bibliothekar unserer Stiftsbibliothek, Pius Kolb, erinnert in der Vorrede zu zwei seiner Kataloge daran, daß die Geistlichen des Konzils von Konstanz, später desjenigen von Basel, Büchersendungen aus den umliegenden Abteien, besonders von der sanktgallischen, verlangten, die sie mehr oder weniger regelmäßig nicht zurücksandten. Jeder trachtete darnach, seine eigenen humanistischen Entdeckungen zu machen. Daß dann, nachdem das edle Fieber der humanistischen «Rettungen» vorbei gewesen war, der eine oder andere sich über diese Ausführungen ereifert hat, ist wohl begreiflich. Aber ich glaube nicht, daß die Handlungen einer so außerordentlichen und bestimmt nicht kleinlichen Epoche mit den Maßstäben gewöhnlicher Zeiten gemessen werden können.

Es bleibt aber zu betonen, daß die schweizerischen Mönche kein geringes Verdienst hatten, soviel Texte gerettet zu haben. In ihrem Ursprungsland waren diese Schriften während langer kulturfeindlicher Jahrhunderte zerstört worden und verlorengegangen. Auch in Montecassino, Bobbio, Saint-Maur-sur-Loire, Fulda und überall dort, wo das mönchische Sprichwort galt «claustrum sine armano quasi castrum sine armamentario», waren Bücherschätze sichergestellt worden. St. Gallen jedoch stand unter jenen Zitadellen des Glaubens und des antiken Wissens keineswegs im zweiten Rang.

Wenn auch die Buchdruckerkunst, das neue mächtige Verbreitungsmittel der Kultur, nicht eine italienische, sondern eine deutsche Erfindung ist, und wenn sich auch Italien ihrer in starkem Maße bemächtigte, so daß die Buchproduktion der Manuzio, Grifi, Giunti, Remondini, Orfini bei weitem die aller übrigen Länder übertraf (das beweist auch Proctor in seiner Liste der Wiegendrucke des Britischen Museums), gab es doch auch in der Schweiz bemerkenswerte Buchdruckzentren in Basel, in Genf und anderswo, sogar in Poschiavo. Was uns hier wichtig erscheint, ist die Tatsache, daß die Schweiz oft in ihren Ausgaben Italien berücksichtigte. Es scheint nun — um uns an die wichtigsten dieser Zentren zu halten — daß es Italiener gewesen sind, die Brüder Galliziani, die sich in Basel der Buchdruckerkunst zuwandten, nachdem sie die Papierherstellung zur Blüte gebracht hatten. Die Basler Drucker machten in dieser Kunst dann beträchtliche Fortschritte. Ich halte mich hierbei besonders an die Studie von Friedrich Luchsinger über «Der Basler Buchdruck als Vermittler italienischen Geistes» und die von Peter Bietenholz über «Der italienische Humanismus und die Blütezeit des Buchdrucks in Basel» mit einigen persönlichen Beifügungen. Johannes Amerbach, aus Deutschland stammend und in Basel beheimatet, konnte sich nach einem langen Aufenthalt in Venedig von der gotisch-gutenbergischen

Tradition lösen, nahm die Antiqua und die kursiven Typen der italienischen Drucker auf und brachte damit prachtvolle Werke hervor. Johann Froben tat dasselbe; unter seinen Auspizien bildete sich eine Art «res publica litteraria», die berühmt geworden ist. Erasmus von Rotterdam pries sie in einem Brief aus dem Jahre 1516, in dem er an die vielseitige und reiche Gelehrsamkeit ihrer Angehörigen erinnerte. Uns interessiert dabei die Tatsache, daß diese Basler, und nicht nur die zwei erwähnten, außer vielen klassischen Texten auch solche von Italienern, von Petrarca, Ficino, Valla, von Poliziano, gedruckt haben. Die «Angeli Politiani Opera», in Basel 1553 gedruckt, sind die vollständigste Sammlung der lateinischen Schriften dieses köstlichen Renaissancedichters. Den bereits erwähnten Namen müßte man wenigstens den Pietro Vernas, eines Buchdruckers aus Lucca, der nach Basel gezogen war, beifügen; Verna hat 1560 die erste lateinische Übersetzung des «Principe» herausgegeben und so das Werk Machiavellis den Lesern aller Länder zugänglich gemacht. Nachdem man letztes Jahr in Perugia den 600. Todestag von Bartolo di Sassoferrato gefeiert hat, der an der dortigen Universität mit höchstem Ruhm Rechtswissenschaft lehrte, freut es mich, festzuhalten, daß in Basel zum ersten Male zwischen 1588 und 1589 seine vollständigen Werke in zehn Bänden veröffentlicht wurden. Erst im folgenden Jahr (1590) wurden sie in Venedig nachgedruckt. Wenn man bedenkt, daß Amerbach und die anderen Basler Buchdrucker mehr oder weniger regelmäßig ihre und andere in Italien gekaufte Erzeugnisse auf die Messen von Frankfurt und Leipzig brachten, wo die Käufer aus Wien, aus Gent, aus Kopenhagen und von überallher zusammenkamen, ist man sich bewußt, daß Basel, dank dieser Kunst und diesem Unternehmungsgeist, der wichtigste nördliche Brückenkopf des italienischen Geistes wurde. Noch heute liefern die 2800 Wiegendrucke der reichhaltigen Universitätsbibliothek Basel den Beweis dafür.

Der Einfluß der humanistischen italienischen Texte mußte in erster Linie in Basel selbst beträchtlich sein, da es schon seit geraumer Zeit seine eigene Universität besaß, nach der nun die überwiegende Zahl der schweizerischen Studenten zog. Diese Universität war nach dem Brauch jener Zeit von Papst Pius II. gegründet worden. Als Kardinal war Enea Silvio Piccolomini ans Konzil von Basel gereist und dort von 1433-1444 geblieben, auch da er diese Stadt sehr liebte, wie aus einem Brief an Kardinal Santangeli hervorgeht. Dazu kommt, daß die Gesandten, die Basel 1459 nach Rom geschickt hatte — nämlich Bürgermeister Hans von Flachsland und Meister Konrad Künlin —, um den Papst um die Gunst zu bitten, in Basel eine Universität zu gründen, anregten, sie nach dem Vorbild von Bologna einzurichten. Man weiß

auch, daß unterdessen in Basel die Statuten der Universitäten von Pavia und Turin studiert wurden. Letztere war noch sehr jung, aber doch schon berühmt. Die vom 12. November 1459 datierte päpstliche Gründungsbulle jedoch beruft sich auf das Vorbild von Bologna. Wenn sich auch keine Spuren italienischer Studenten in den ersten Jahren der 1460 eingeweihten Basler Universität finden, weiß man doch, daß ziemlich viele italienische Humanisten dort unterrichtet haben. Wir erinnern an Giovanni Augustini von Vicomercato, Bonifacio von Gambarossa, Pietro Perotto aus Gabureto. Es scheint jedoch, daß diese an den Scharfsinn und die Eleganz des italienischen Denkens gewöhnten Humanisten sich nicht leicht mit den nordischen Methoden abfinden konnten und daß es nachgerade zu regelrechtem Zank gekommen ist. Es steht nicht fest, wann sie über die Alpen zurückgekehrt sind; aber nach 1468 findet sich in Basel keine Spur mehr von ihnen. Wir treffen dort wieder italienische Lehrer, als die vom 1. Juni 1529 bis 12. September 1532 geschlossene Universität nach der Glaubensspaltung reformiert geworden war. Doch davon werde ich in der Folge noch sprechen.

Vergessen wir nicht, daß ein Teil der Schweiz, einer jener Teile, die ebenbürtig zusammen die Eidgenossenschaft bilden, gegen Süden offen ist, an Italien grenzt und nach Volkstum und Kultur italienisch ist. Diese Sachlage ist dermaßen offenbar, daß es überflüssig wäre, sie in Erinnerung zu rufen. Doch an eine eminent wichtige Tatsache muß man kurz erinnern, auch wenn sie schon sehr bekannt ist. Ich denke dabei an den Beitrag, den die Tessiner zur großen Architektur der Halbinsel geleistet haben. Wie man auch den Namen der Maestri Comacii auslegen mag, ist es doch sicher, daß unter ihnen in den kurzerhand lombardisch genannten Zünften viele aus den Dörfern rund um den Luganersee stammten. Im 15. Jahrhundert begannen die Solari von Carona nach Venedig zu ziehen, die dann den Namen Lombardo-Solari annahmen und während mehr als einer Generation mit ihren mächtigen, strengen und doch zierlichen Intarsien, mit der Fassade der Scuola di San Marco, mit dem Innern von Santa Maria dei Miracoli die Schönheit der Stadt des heiligen Markus bereichert haben. Im 16. und 17. Jahrhundert, zu einem Zeitpunkt, da der Tessin schon an die Eidgenossenschaft angeschlossen war und da andere Eidgenossen zu Zehntausenden Söldner wurden und so, geschmäht und gefeiert, teilhatten an den Händeln der Großen, zog eine ganze Schar Tessiner, völlig anderer Miliz, durch die Welt, in erster Linie in die italienischen Städte, um dort zu arbeiten, oder besser gesagt, schöpferisch tätig zu sein. Mild und zäh, ohne Hochmut und unangefochten in ihrer Kunst, gelangten sie manchmal zu höchstem Ruhm. Es sind, um sie flüchtig zu erwähnen,

Giovanni und Domenico Fontana aus Melide, von denen der zweite unter Sixtus V. der Stadt Rom seinen noch heute gültigen Stempel aufdrückte. Es sind auch die Maderna aus Capolago, von denen Carlo seinen Namen mit der Fassade von St. Peter verknüpft hat. Es ist Francesco Borromini aus Bissone, der mit den graziösen und feierlichen Rhythmen von San Carlo alle quattro fontane, von Sant'Agnese, vom Collegio di Propaganda fide, vom Oratorio dei Filippini, Zusammen mit Bernini, seinem genialen Rivalen, den unverwechselbaren römischen Barock gar wunderbar belebt hat. Es ist auch Baldassarre Longhena von Maroggia, der mit dem gedrungenen und bilderreichen Gebäude von Ca'Pesaro, mit dem lateinischen und pagodengleichen Komplex von Santa Maria della Salute und mit dem Palazzo Rezzonico einige der solidesten und leichtesten Architekturen der venezianischen Lagune erbaut hat. Es sind so viele andere, die an den berühmten Palästen der italienischen Hauptstadt und an den größten Palästen und Brücken von Venedig gearbeitet haben. Doch hier muß man wiederholen, daß diese Künstler, wenn auch geboren in den politischen Gemarken der Schweiz, sich der Art nach nicht von Italienern unterscheiden und — hier gebrauche ich die Worte von Ugo Donati, dem Tessiner, der sich am eingehendsten mit dieser Frage befaßt hat —ebensogut im Val d'Intelvi oder im Val Solda oder in anderen naheliegenden, aber politisch italienischen Gebieten geboren sein könnten. Sie waren Brüder der Künstler Italiens. Überhaupt, wenn die Geschichte ihrer Kunst dem Buchstaben nach auch schweizerisch genannt werden kann, ist sie doch integrierender Bestandteil der italienischen Kunstgeschichte und nicht denkbar ohne Italien und den künstlerischen Ausdruck der Halbinsel.

Kulturelle Beziehungen ganz besonderer Art ergaben sich, als die Schweiz in Erfüllung einer Mission, die ihr eigen war und ist und die sie selbst gewählt hat, zu wiederholten Malen Asylland wurde. Ich möchte an die religiösen Umwälzungen der Reformationszeit und der Gegenreformation erinnern und an die häretischen Italiener, die in der Schweiz Zuflucht suchten. Dieser Umstand wurde schon von Croce, von Ruffini, Comba und kürzlich von Cantimori behandelt. Scharen von Italienern flüchteten damals nach Graubünden, nach Zürich, nach Genf und nach Basel. Nach einer Aufzeichnung von de Ziegler kamen nach Genf, das zur Zeit der Reformation kaum 15000 Einwohner zählte, vier- oder fünftausend italienische Flüchtlinge. Es geht daraus auch hervor, daß sie in der steifen Atmosphäre des Calvinismus nicht alle sich besonders wohl fühlten. Uns interessieren hier vor allem zahlreiche Humanisten, die Gelegenheit hatten, in Fühlung mit den Schweizern ihr Wissen zu vergrößern und zu verbreiten.

An der Universität Basel, die verschiedenen dieser Flüchtlinge Tür und Tor öffnete, war die bedeutendste Gestalt Celio Curione (1503-1569) von Moncalieri, seit seiner Jugend Anhänger des Protestantismus und dank seinem Geist und seiner Beredsamkeit ein sehr geschätzter Lehrer. An der 1559 gegründeten Akademie Calvins, die später zur Universität Genf wurde, begann 1565 Simone Simoni aus Lucca mit Philosophiekursen. Er hatte mit Gerolamo Cardano an der Universität Pavia Medizin studiert und an der Akademie Calvins «desja leu publiquement pour rien et au grand contentement des auditeurs». Neben dem Juristen Burlamacchi, dem Philosophen Benedetto Turrettini und seinem Sohn Francesco, dem Waldenser aus Piemont, Antonio Lèger, muß man an den ebenfalls aus Lucca stammenden Giovanni Diodati erinnern, der die bis vor einigen Jahrzehnten am meisten verbreitete protestantische Bibelübersetzung besorgte. (Auch die jetzt geltende Übersetzung stammt von einem Schweizer, Giovanni Luzzi.) Die Gestalt Diodatis war auch von besonderem Interesse für die engen Beziehungen mit Venedig und mit Paolo Sarpi, dessen «Storia del Concilio di Trento», «Geschichte des Konzils von Trient», er ins Französische übersetzte.

Außer den konfessionellen Flüchtlingen waren zu wiederholten Malen die politischen recht zahlreich. Sofort nach dem Sturz des Königreiches Italien, Ende März 1815, kam Ugo Foscolo. Er blieb einige Wochen in Roveredo im Misox. Zwischen den Bergen, nahe der Quelle des Hinterrheins, im Mai 1815, schrieb er den wunderbaren Schluß seiner Reden «Sopra la servitù d'Italia», «Über das versklavte Italien», und bat Gott, nachdem er aus seinen kurzen Schweizer Erlebnissen neue Erkenntnisse gewonnen hatte «che preservi dalle armi, dalle insidie, e più assai da' costumi delle altre nazioni la Sacra Confederazione delle Repubbliche Svizzere, e particolarmente questo popolo de' Grigioni; affinché, se l'Europa diventasse inabitabile agli uomini incapaci a servire, possano qui almeno trovare la libera quiete» «er möge vor den Waffen, vor den Nachstellungen und noch mehr vor den Sitten anderer Nationen die ,geheiligte schweizerische Eidgenossenschaft' und besonders das Bündnervolk verschonen, damit die Menschen, die sich nicht zu Sklaven machen wollen, hier die freie Ruhe finden, wenn in Europa sonst kein Platz mehr für sie bleibt».

Verschiedene Italiener flüchteten dann nach der Restauration nach 1821, nach 1831 und nach 1848 in die Schweiz und vielleicht besonders in das weltoffene Genf. Sie waren nicht untätig. Sie erlangten oft bedeutende Ämter und hatten Teil am öffentlichen Leben. Unter ihnen war Pellegrino Rossi, der, obschon katholisch, berufen wurde, Vorlesungen über Rechtswissenschaft an Calvins Akademie zu halten. Er wurde nicht nur Bürger von Genf, sondern sogar Abgesandter der eidgenössischen

Tagsatzung. 1832 war er gar Mitarbeiter an der Revision der schweizerischen Verfassung und nahm teil an der Ausarbeitung des Berichtes an die Tagsatzung mit der entsprechenden Empfehlung. Obschon die Ideen in diesem Bericht nicht ausschließlich seine eigenen sind und nicht frei von Zeitirrtümern — man lese dazu die Studien von William E. Rappard —, zeigt er doch klar und sehr beredt, wie die neue Verfassung beschaffen sein müsse, um dem Land Halt zu geben gegen jeden Druck von innen und von außen, nicht mehr eine Verfassung unabhängiger, verbündeter Kantone, sondern eines Bundesstaates, in dem für gewisse, fest bestimmte Befugnisse die Zentralgewalt neben derjenigen der einzelnen Kantone zuständig sein müsse. Der Entwurf, damals noch zurückgewiesen, erstand in veränderter Form in der Verfassung von 1848. Der Fall dieses Italieners, der später Minister Pius IX. wurde und einen so bedeutenden Anteil an der Ausarbeitung der schweizerischen Verfassung hatte, ist einzigartig.

Ein anderer Flüchtling, der die Schweiz nicht nur verstand und liebte, sondern ihr auch die Gaben seines hohen Intellekts vermittelte, ist Carlo Cattaneo. Er war 1848 von Paris herkommend —wohin er nach dem heldenhaften Widerstand der fünf «Mailänder Tage» geflüchtet war —in Lugano eingetroffen und unterrichtete während einiger Jahre Philosophie am dortigen Lyceum. Er untersuchte als erster mit erstaunlichen technischen Kenntnissen gründlich und in alle Einzelheiten die Sanierungsmöglichkeit der Magadino-Ebene, die damals noch ein ausgedehntes Sumpfland war und vor nicht allzulanger Zeit melioriert worden ist. Cattaneo trat auch mit begründeten und kraftvollen Worten für eine «Ferrovia delle Alpi», «Alpeneisenbahn», wie er sie nannte, also für den Gottharddurchstich, ein, als die Angelegenheit für viele noch eine Utopie war. In einer dieser Schriften, in denen er den Gotthard als ein großes Réduit der allgemeinen Verteidigung pries, kommt er auf die Möglichkeit einer schweizerischen Handelsflotte zu sprechen, die in Genua, Ausgangspunkt der Gotthardlinie, ihren Hafen hätte haben sollen. Auch diese Vorhersage hatte nichts Utopisches an sich. Die einmalige europäische Funktion der schweizerischen Neutralität fand in Cattaneo einen ihrer überzeugtesten und gewichtigsten Verteidiger, wenn er schreibt: «la liberta svizzera è un' istituzione che può proteggere le nazioni confinanti dagli effetti dei loro propri errori e dei momentanei loro furori» ; «die schweizerische Freiheit ist eine Einrichtung, welche die Nachbarländer vor ihren eigenen Irrungen und ihrem unvermittelten Übereifer zu schützen vermag».

Ich erinnere nur beiläufig daran, wie der Apostel des italienischen Risorgimento, Giuseppe Mazzini, aus seinem Schweizer Aufenthalt zwischen 1833 und 1837 neuen Glauben an die Ideale europäischer Zusammenarbeit

schöpfte, für die er in Lausanne unter anderem das Programm des «Jungen Europas» diktierte. Ich möchte nur kurz auch erwähnen, daß Francesco de Sanctis, von 1856-1860 Professor für italienische Sprache und Literatur an der Eidgenössischen Technischen Hochschule, vielleicht im Bewußtsein seiner Mission, im Ausland seine Geschichte der italienischen Literatur und sein klares Essay über Petrarca zur vollen Reife brachte. Ich streife lediglich, daß Camillo Cavour, dessen Mutter, Gräfin von Sellon, Genferin war, in seinen häufigen Besuchen in der Schweiz und vielleicht im besonderen aus seiner Verbindung mit dem Pastor Vinet seine Überzeugung stärkte, der unter anderem eine seiner typischen politischen Formeln entsprang «Libera chiesa in libero stato», «eine freie Kirche im freien Staat». Ich möchte nur andeuten, daß zwischen 1830 und 1853, in der dramatischsten Periode des Risorgimento, trotz zuweilen massiven Regierungsprotesten aus Wien, die Tipografia Elvetica von Capolago, für diese Zeit technisch hervorragend ausgerüstet, ganz im Dienst der italienischen Kultur dieser Bewegung stand. Sie druckte nicht nur die Proklamationen und Brandreden, sondern auch die Werke der bedeutenden Schriftsteller der Zeit. Diese Proklamationen und diese Texte gelangten dann über die Grenze, und ganz zurecht steht die Inschrift auf dem kleinen Denkmal in Capolago: «O Italiano, che vai /quando Italia era un sogno in exilio /la tua patria fu qui»; «O Italiener, der du vorübergehst / als Italien nur aus einem Traum im Exil bestand / war deine Heimat hier.»

Viele Intellektuelle genossen als politische Flüchtlinge das Gastrecht während des Faschismus. Ich erinnere an Guglielmo Ferrero, den Römer Historiker, der an der Universität Genf dozierte, an Ignazio Silone, Giuseppe de Logu und Egidio Reale, später Minister und erster italienischer Botschafter in Bern; er schrieb das Buch «La Svizzera, un piccolo popolo, un grande esempio», «Die Schweiz, ein kleines Volk, ein großes Beispiel», und brachte damit nicht nur dem Land, das ihn beherbergte, die schönste Huldigung dar, sondern trug auch würdig dazu bei, den Italienern die Schweiz näherzubringen.

Unter den vielen tausend Flüchtlingen am Ende des zweiten Weltkrieges, ungefähr 30000 neben den 100000 Internierten von der einen und von der andern Seite, befanden sich sehr berühmte italienische Gelehrte. Ich nenne einen für alle: Luigi Einaudi, der dann Präsident der Republik wurde. Sie blieben nicht müßig; verschiedene tessinische und andere schweizerische Zeitungen und Zeitschriften nahmen ihre Beiträge auf, ihre Mitarbeit war gesucht und geschätzt und es erwuchsen daraus bedeutende Veröffentlichungen. Daß dies mitgeholfen hat, einerseits das freie Italien vorzubereiten, anderseits den schweizerischen, insbesondere den tessinischen Horizont zu erweitern, liegt auf der Hand.

Wie Sie bemerkt haben, beschränke ich mich darauf, die bedeutendsten Momente des kulturellen Austausches zwischen den beiden Ländern hervorzuheben. Natürlich hätte man Hunderte von Namen nennen können, angefangen von den berühmten italienischen Reisenden in der Schweiz und den Schweizer Reisenden in Italien, die sich über beide Länder geäußert haben. Nicht zu versessen wäre hier auch, daß der Lehrstuhl, der einmal de Sanctis anvertraut war und später von den Tessinern Giuseppe Zoppi und Guido Calgari besetzt wurde, neben seinem spezifischen Auftrag die ideale Bestimmung hat, italienische Kultur als integrierenden Bestandteil des Schweizertums zu pflegen. Aber ich habe es vorgezogen, mich möglichst an konkrete Tatsachen zu halten, und wenn es die Zeit erlaubte, würde ich an noch viele andere erinnern. Doch bevor ich schließe, möchte ich noch folgendes erwähnen: Zu einer Zeit, da Voltaire Dante «profondément obscur, ennuyeux, assomant» fand, verwies in Zürich Johann Jakob Bodmer zum erstenmal nachdrücklich für die Deutschen auf die Größe Alighieris. Die umfangreichste Forschung eines Ausländers über die Bedeutung der italienischen Kommunen, wenn auch überschattet von einem Vorurteil, das Manzoni zurückwies, war die «Histoire des républiques italiennes du moyen age» des Genfers Jean-Charles-Léonard Sismondi. Noch heute das bedeutendste und allgemein bekannte Werk über das ganze komplexe Problem der italienischen Renaissancekultur ist «Die Kultur der Renaissance in Italien» des Baslers Jakob Burckhardt. Einer der gewichtigsten Kommentare zur Divina Commedia ist der von Giovanni Andrea Scartazzini aus Bondo im Bergell. Der erste Sprachatlas Italiens wurde von den Schweizern Jakob Jud und Karl Jaberg geschaffen.

Überhaupt fand im Laufe der Jahrhunderte trotz der hohen Alpenkette zwischen Italien und der Schweiz —wie auch mit andern Grenzländern — ein großzügiger Kulturaustausch statt, der unvergängliche Früchte zeitigte. Diese Osmose geht weiter, und mehr als das: sie wird in einer freiheitlichen, tätigen und verhältnismäßig ruhigen Zeit wie der unsrigen immer intensiver.