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Die Suche nach dem Gral

Die ritterliche Dichtung des Mittelalters hat in ihren Erzählungen um die Helden der Tafelrunde des König Artus, um die Suche des Grals und die Geheimnisse des Grals selbst einen Vorstellungskreis entwickelt, der die Dichtung aller europäischen Sprachen für Jahrhunderte beschäftigt hat. Der Wiederentdecker des deutschen Mittelalters, der Zürcher Johann Jacob Bodmer, hat von einer eigentlichen ritterlichen Mythologie gesprochen, zu der diese Dichter «so gut berechtiget gewesen» seien wie «die Griechen zu der ihren». Es soll hier versucht werden, dieses eigentümliche Phänomen als Ganzes zu umschreiben und das geschichtliche Schicksal dieser Gralsmythologie zu verfolgen.

Irgendwo im undurchdringlichen Wald, für den gewöhnlichen Sterblichen unerreichbar, steht die geheimnisvolle Burg. In ihr wird ein heiliges «Ding» aufbewahrt, das als das letzte Ziel aller menschlichen Sehnsucht gilt. Dieses Ding ist selten klar beschrieben und bei den vielen verschiedenen Autoren immer wieder anders: als Kelch, als Stein, als Edelstein, als Schale; sein Name «Gral» ist den mittelalterlichen Dichtern wie noch heute den Gelehrten ein Rätsel. Seine wunderbaren Eigenschaften sind zahlreich und wechselnd: es leuchtet und übermittelt himmlische Botschaften, es liefert Speis und Trank, soviel man will, sein Anblick verleiht Leben, doch ist es nur den Gläubigen sichtbar; seine Kraft wird durch eine vom Himmel gebrachte Hostie an jedem Karfreitag erneuert. Der Gral ist der Mittelpunkt einer seltsamen Liturgie, die halb als Messe, halb als höfisches Festmahl

geschildert wird; auch andere heilige Gegenstände spielen dabei eine Rolle oder gehören zu den gesuchten Wundern der Gralsburg: die blutende Lanze, silberne Geräte, ein Gralsschwert.

Die edelsten Ritter sind auf der Suche nach dem Gral, von dem sie doch wissen, daß nur der Erwählte und der Berufene hingelangt; vor allem ist es Parzival, der Held Wolframs von Eschenbach und vor ihm Chrétiens von Troyes; aber auch Gawein, Lancelot und schließlich vor allem Galaad treten an seine Stelle. Manche kommen zum Gral, doch nur wenige sind auserwählt; die andern versagen vorübergehend oder scheitern ganz wegen ihrer Sündhaftigkeit; oder sie gelangen —wie Gawein bei Chrétien und Wolfram — zu anderen Wunderschlössern, die sich wie verwirrende Parodien des Gralsschlosses ausnehmen. Diese Ritter sind aber gewöhnlich nicht nur Gralssucher: sie stehen auch im Dienst einer geliebten hohen Dame; für den Minneritter können Gral und Geliebte fast vertauschbare Begriffe werden; aber sie können auch wieder in Konflikt geraten: irdische Minne kann den Weg zum Gral verhindern.

Im Grunde ist jeder der ungezählten irrenden Ritter der höfischen Romane des Mittelalters ein Sucher und Gralssucher, ja man könnte sagen, der Gral sei nur der Vorwand des Suchens selber. Die Suche, die Queste, das abenteuerliche Unterwegssein ist der eigentliche Habitus des ritterlichen Menschen, wie er sich im höfischen Abenteuerroman darzustellen sucht; und damit ist diese romanhafte Suche und die neue Form dieser Erzählung nur die literarische Entsprechung eines allgemeinen Aufbruchs, der sich in der Renaissance des 12. Jahrhunderts in der Wissenschaft, in Scholastik und Mystik, im wirtschaftlichen Leben und im Lebensgefühl überhaupt ereignet hat.

ine wil deheiner freude jehn,
ine müez alrerst den gral gesehn,
diu wile si kurz oder lanc.
mih jaget des endes min gedanc,
davon gescheide ich niemer
mines lebens iemer.

So umschreibt Wolfram von Eschenbach die Gesinnung seines

Helden Parzival, der für unser Bewußtsein der stellvertretende Gralssucher geblieben ist: der Witwensohn, der im Walde aufwächst, in glückhafter und schuldhafter Torheit zum Artushof gelangt, am Gral versagt, sich gegen Gott erhebt und dann, nach Einkehr und Buße, die Vollendung doch erreicht in der unlöslichen Verkettung von unverzagtem Streben und Gnade, von Zweifel und Treue.

Der Gral ist, als höchstes Abenteuer, das Ziel des Ritters, wo er sich selber findet, wo er erlöst wird. Aber er hat meistens auch umgekehrt die Aufgabe, dort selbst zum Erlöser zu werden: der Gralskönig Anfortas ist unheilbar erkrankt, Trauer und Fluch lasten über der Gralsgemeinde, und der Erwählte hat auf irgendeine Weise den Bann zu lösen, ein neues Gralskönigtum aufzurichten. Gral und Gralsburg oder später auch ein Gralstempel sind ja nun auch gedacht als Mittelpunkt eines heimlichen Reiches, das die entferntesten Völker umfaßt: eine Ordensgemeinde von Gralsrittern, Wolframs «Templeisen», sorgt durch ihre Sendboten für einen Zusammenhalt der politischen Ordnung; der Gral wird die Mitte eines utopischen Weltreichs, dessen Grenzen in Indien verdämmern oder das den Charakter eines rein spirituellen dritten Reiches annimmt, eines Reichs des heiligen Geistes.

Was wir mit Bodmer als «Mythologie» bezeichnet haben, gewinnt den Charakter einer Mystifikation oder einer Utopie. Ob überhaupt von Mythus im eigentlichen Sinn zu sprechen ist, bleibt fraglich. Denn die Ursprünge sind dunkel; er tritt uns bereits in hochliterarischer Form entgegen, zuerst wohl bei Chrétien von Troyes in seinem unvollendeten Perceval (Conte del Graal), und es ist bis heute umstritten, ob so etwas wie eine Gralssage wirklich vorangeht. Undurchdringlich scheinen sich keltische Wurzeln der Gralsvorstellungen mit biblisch-christlichen und mit verschiedenartig orientalischen zu verflechten. Gerade dieser Mischcharakter deutet darauf hin, daß es die Leistung des Romandichters war, anscheinend Unvereinbares in Spannung zu setzen; vor allem hat wohl Chrétien die Gralsmotivik mit dem Artusrittertum verschmolzen, wodurch er die höfische

Ideologie ins Licht religiöser oder genauer: parachristlicher Symbolik gerückt hat.

Wolfram hat Chrétiens unvollendetes Werk umgedichtet und fortgeführt und dabei eine Fülle neuer Bezüge auf den Gral gehäuft, die vorwiegend auf orientalische Traditionen verweisen. Gleichzeitig entsteht aber auch ein rein christlich-legendarischer Gralsroman, dem die ritterlichen und heidnischen Elemente fehlen: das Werk des Robert de Boron. Hier ist der Gral —primär oder sekundär —nichts anderes als der Abendmahlskelch Christi, in welchem bei der Kreuzigung das Blut des Erlösers aufgenommen wurde: die Schicksale und Wunderwirkungen dieses heiligen Gefäßes und ihrer Hüter werden erzählt. Bei den Fortsetzern Roberts und Chrétiens und vor allem in dem mächtigsten Romanwerk des Mittelalters überhaupt, in der Prosaromanfolge um Lancelot, Galaad und den Gral, begegnet eine ins Mystische gesteigerte Gralssuche; in einem späteren deutschen Werk eines Wolfram-Fortsetzers — dem sogenannten «Jüngeren Titurel» — wird der Gral schließlich ein nach dem Osten versetztes Heiligtum der Weltmitte, mit einem gewaltigen Gralstempel, der als riesenhafter Rundbau den Kosmos symbolisch in sich zusammenfaßt.

Es ist eine Art Triumph der mittelalterlichen Gralsdichter, daß der Mythus, den sie in die Welt gesetzt haben, noch heute sein Entstehungsgeheimnis hütet. Der Gral narrt die Gelehrten genau so wie einst die ritterlichen Sucher und führt zu analogen abenteuerlichen Spekulationen; sein Geheimnis, seine Vieldeutigkeit, der strahlende Klang des ungedeuteten Wortes Gral macht seine Faszination gerade aus. Der Sinn dieser Gralsmythologie kann und soll nur ganz allgemein umschrieben werden, wobei allerdings bei den verschiedenen Dichtern verschiedene Aspekte vorherrschen. Wenn wir uns zunächst an Wolfram halten, so zeigt sich hier der Gral als das Ziel schlechthin, von dem die Vollkommenheit des Menschlichen und die Erlösung von aller Unvollkommenheit erwartet wird. Gerade der umgreifende, komplexe, totale Charakter der Symbolik zeigt sich in der Attraktion der aus den verschiedensten Bereichen stammenden Wunderzüge und Bedeutungen.

Bei Wolfram kann man vielleicht drei Bedeutungsebenen und vielleicht auch entsprechende Quellenbereiche unterscheiden, die sich allerdings nicht ausschließen. Wenn wir, wie es u. a. die Schule C.G. Jungs tut, den Gral als eine Art Stein der Weisen auffassen, so geraten wir ins Kraftfeld alchemistischer Seelensymbolik, wie sie dem 12. Jahrhundert aus dem arabischen Spanien zugekommen ist.

Doch nicht nur der Parzivalroman, vielmehr schon der klassische Artusroman überhaupt, läßt sich als dichterische Form eines Individuationsgeschehens deuten, dessen einzelne Stationen mit ihren traumhaften Bildern sich aus dem Archetypenarsenal der Jung-Schule ohne weiteres illustrieren lassen; daß Parzival, als Erlöser des kranken Gralskönigs, sich zugleich selbst erlöst, deutet auf diese psychologische Problematik der Selbstwerdung hin. Im übrigen steht dahinter eine alte christliche Ethik der Selbsterkenntnis, die in der demütigen Annahme der eigenen Schuld zur Gotteserfahrung wird. So lagert sich über die psychologische Symbolik ein Vorstellungs- und Problemkomplex konkret kirchlich-religiöser Art. Zentrale Elemente der Gralsvorstellung betreffen Christi Opfertod und das Abendmahl: der Gral als Hostienwunder, die blutende Lanze (des Longinus), die Karfreitagssymbolik, die Gralsliturgie — wenn auch alles märchenhaft oder höfisch verfremdet ist.

Nach Wolfram stammt das Wissen um den Gral von einem Heiden, Flegetanis, der eine jüdische Mutter hatte und Christ geworden war: hier ist, im Zeichen der Kreuzzüge, der Gedanke eines christlichen Glaubens verkörpert, der die anderen Weltreligionen zur Voraussetzung hat und gleichsam einschließt. Der Gral wird, so erfahren wir im späteren Roman, unter Parzivals Nachfolgern nach Indien übergeführt werden und dort Mittelpunkt eines Osten und Westen umfassenden christlichen Weltreichs unter einem Priesterkönig sein. Damit ist eine dritte Ebene berührt: Hochmittelalterliche Imagination tastet hier nach den neuen Horizonten eines utopisch-chiliastischen Universalreiches, in welchem Christen und Heiden vereinigt wären. Dabei mag die Hoffnung auf ein erneuertes Königreich Jerusalem beteiligt sein,

zugleich aber dessen Überhöhung durch ein himmlisches Jerusalem, aus dessen biblischen Schilderungen gewisse Einzelzüge in die Gralsmotivik eingeflossen sind. Schon bei Robert von Boron tritt — wie Kurt Ruh gezeigt hat — die Geschichte des Grals in eschatologisches Licht: aufgrund der Lehre Joachims von Fiore von der trinitarischen Struktur der Heilsgeschichte wird der Gral in einem letzten Status zur Verheißung des dritten Reichs, des Reichs des Geistes. Es ist kein Zufall, daß sich die bedeutendste utopische Lehre des Mittelalters, der Joachimismus, mit der Gralsvorstellung verbindet. Die utopischen, spiritualistisch-mystischen Züge von Roberts Gralslegende dringen dann in den großen Prosaromanen beherrschend durch.

In der «Queste du Saint Graal» nämlich wird die Suche nach dem Gral zur romanhaften Allegorie des Heilsweges, zur «himmlischen Ritterschaft»; ihre ritterlichen Helden sind eine pfingstlich berufene Schar von Aposteln, im Gegensatz zu einem irdisch-unzureichenden Rittertum. So versagt Gawein, so scheitert Lancelot wegen seiner sündigen Liebe, und selbst Perceval kommt wegen seiner Verführbarkeit nur bis zur Schwelle des Grals. Der Erwählte ist nun Galaad, Lancelots Sohn, eine reine, christushaft-messianische Gestalt. Galaad stirbt im ekstatisch-gnadenhaften Anschauen des Grals, der Gral selbst wird darauf in den Himmel entrückt. Damit ist die Welt eines gerade im Irdischen gestaltbaren frommen Rittertums, wie sie Chrétien und Wolfram noch anstreben, ins Mystische verdampft, und es ist folgerichtig, wenn der letzte Teil des großen Prosaroman-Zyklus vom Untergang des König Artus erzählt. Die Forschung (Erich Köhler vor allem) hat gezeigt, wie schon bei Chrétien, durch die religiöse Überhöhung des bisherigen Artusrittertums, die Kraft des Abenteuergedankens schwindet und wie sich der geschichtliche Vollzug in Schuld und Vergänglichkeit fühlbar macht. «Die Fortuna beginnt sich der aventiure zu bemächtigen.» Im Roman vom Tod Artus' nimmt das Verhängnis seinen Lauf; das höfische Rittertum fällt der Vergänglichkeit anheim. Der Mythus vom Gral und der Gralssuche hat sich in der Entwicklung seiner selbst aufgehoben und aufgelöst.

Die Erinnerung an die ritterliche Suche geht freilich nicht verloren; dafür sorgen die verschiedenen Bearbeitungen, Fortsetzungen und Kompilationen der Artusbücher in den europäischen Sprachen bis in die Zeit des Buchdrucks. Der suchende, der irrende Ritter bleibt eine archetypische Figur, die vor allem in den spanischen Amadisromanen des 15. und 16. Jahrhunderts triumphale Auferstehung feiert und dann im «Don Quichote» ihre großartige ironische Verklärung findet. Der edle Tor Parzival erscheint verwandelt und seines Rittertums völlig entkleidet im «Simplizissimus» Grimmelshausens und letztlich noch in allen Bildungsromanen der Neuzeit. Grimmelshausen bedarf für den Abenteuerweg seines Helden keines Gralsmythus mehr; er kann ihn aus eigenem Lebensstoff darstellen. Dennoch sind Autor und Held des «Simplizissimus» in ihrem demütig-frommen und zugleich vitalen Humor am nächsten mit Wolfram und Parzival zu vergleichen. Das Motiv von der geheimen Schicksalslenkung durch den Orden der Templeisen ist über freimaurerische Vermittlung zu Goethe gelangt und hat in der «Gesellschaft vom Turm» im Wilhelm Meister eine etwas bläßliche Verwendung gefunden, ebenso wie das Motiv der befreienden Frage.

Ein merkwürdiger literarischer Betrieb, ein eigentliches Kostümfest um Gral und Parzival hebt im 19. Jahrhundert an, nachdem die mittelalterlichen Texte wieder entdeckt worden sind. Die Suche der Wissenschaftler befruchtet nun wieder die Suche der Dichter, diesmal nun auch der Dramatiker und Operndichter.

Richard Wagner, der uns hier in erster Linie interessieren muß, ist von Wolfram und einigen Reminiszenzen an die Prosaromane ausgegangen, hat aber im Sinn seiner Schopenhauerschen Mitleidslehre alles Gewicht auf die Erlösung des kranken Amfortas durch den selbst erlösungsbedürftigen Parsifal verlegt. Wenn es, nach Wagner, «der Kunst vorbehalten ist, den Kern der Religion zu retten», so mahnt das Ergebnis zweifellos zur Vorsicht. Der sonst verdiente Germanist Wolfgang Golther hat die Wagnersche Religionsmischung mit den rührenden Worten umschrieben: sie sei «schlichter deutscher Heilandsglaube, frei von jeder dogmatischen

Beschränktheit, vertieft durch den Einfluß der indischen Weltanschauung». Im Wagnerschen Weihe-Theater wird der sogenannte Karfreitags-Zauber zur Mitte einer Liturgie, die auch das zürcherische Opernpublikum unzählige Male am Karsamstag begangen hat; die Gralsfeier wird dem bildungsfrommen Bürger zum Höhepunkt seines Ersatz-Kirchenjahres. Der opernhafte Synkretismus führt freilich nur etwas ad absurdum, was schon in der Konzeption der Gralsmythologie angelegt ist: die Gefahr einer Verwechslung von Glaube und Einbildungskraft.

Doch damit nicht genug. Die Parzivals- und Gralsmotivik erlebt gerade gegen Ende des Jahrhunderts und dann bis in die Zwischenkriegszeit eine unwahrscheinliche Verbreitung in einer neuromantischen und jugendstiligen Literatur. In Reaktion gegen die technisch-wirtschaftliche Entwicklung und den Positivismus des 19. Jahrhunderts gedeiht eine pseudometaphysische oder pseudomystische Strömung, in welcher das nun zum bürgerlichen Bildungsbesitz gewordene Erbe des Mittelalters beliebig verwendbar wird zur Drapierung und Inszenierung der vagsten und verstiegensten Sehnsüchte. Eine Unzahl von Grals- und Parzivaldichtungen in Dramen, Epen, lyrischen Zyklen entsteht, und darüber hinaus geistern einzelne Gralsmotive oder ihre metaphorischen Anwendungen durch die Literatur der nächsten Jahrzehnte nach Wagner. Gralsbünde, Gralsgesellschaften, Gralszeitschriften verschiedenster Art entstehen, man spricht von Gralsburgen und Templeisen, für die sogar ein «Templeisen-Brevier» geschrieben wird.

Was schon bei Wagner sich wogend mischt —schopenhauersches Weltleid, die Erotik von Klingsors Gärten und sieghaftes Gralsrittertum —, das findet in wechselnder Kombination seine Fortsetzungen. Parzival wird in zahlreichen Romanen und Dramen zum Urbild des deutschen Gottsuchers, die Templeisen geben das Leitbild für allerlei bündische oder ordensmäßige Vereinigungen, sei es mehr in romantisch-katholischem Sinn, sei es in der deutschen Jugendbewegung oder auch bei Stefan George, der im «Stern des Bundes» die Mitglieder seines Kreises als «Tempeleisen» feiert. Otto Rahns Buch «Kreuzzug gegen den

Gral» (1933) findet großen Anklang, weil es das aristokratische Ketzertum Südfrankreichs verherrlicht und im Parzivalroman ein katharisches Geheimbuch erblickt. Am gefährlichsten wird es, wenn nun die deutsche Gralsmystik völkisch-nationale Züge annimmt, ja zum Vehikel eines germanisch-deutschen Christentums, ja eines deutschen Glaubens schlechthin wird. Schon Wagner hat, im Sinn französischer Tradition, im Gral den Abendmahlskelch mit Christi Blut gesehen, übrigens aufgrund einer alten Etymologie: le samt graal = le sang real. «Das heilige Blut erglüht» heißt es in Wagners Oper; bei Alfred Schuler, dem Münchner Freund Georges, wird die «Blutleuchte» zum zentralen Begriff, und am Ende steht die Blut- und Rassenmystik des dritten Reichs. Wagner hat sich auf Gobineau berufen, Hitler auf Wagners Parsifal. «Mir sind», sagt Hitler zu Hermann Rauschning, «die Gedankengänge Wagners aufs innigste vertraut.» Er will «einen Orden, die Brüderschaft der Templeisen um den heiligen Gral des reinen Blutes» gründen. Der kranke König Amfortas leide an nichts anderem als am «Siechtum des gemischten, verdorbenen Blutes».

Aber so viel wollen wir nun natürlich nicht Wagner auch noch anlasten. Denn ein anderer Wagner-Jünger ist Thomas Mann, und Thomas Mann hat noch 1939 seinen «Zauberberg» als Initiationsroman bezeichnet; er hat sich dazu bekannt, Hans Castorp sei ein Parzival und auf der Suche nach dem Gral, «will sagen nach dem Höchsten, nach Wissen, Erkenntnis, Einweihung, nach dem Stein der Weisen, dem aurum potabile, dem Trunk des Lebens», oder «nach dem Geheimnis der Humanität».

So steht, nochmals, das Gralsmotiv für die verschiedensten Inhalte zur Verfügung —gleichermaßen für die göttliche Gnade, für Hitlers Rassenwahn und für den Geist der Humanität. Nur hingewiesen sei auf die harmloseren Formen, in denen auch heute noch ein nicht unbeträchtlicher Gralskult lebt: bei den Anthroposophen, in internationalen Gralsbewegungen, Gralsstiftungen, Gralszeitschriften aller Art.

Richten wir unseren Blick zurück und aufs Ganze: wir haben ein Stück Literatur- und Geistesgeschichte vor uns, das in seinem

Ablauf mehr erschrecken als beglücken kann. Es scheint eine Lektion der Vergänglichkeit und Vergeblichkeit, der Korrumpierbarkeit dichterischer Visionen zu sein. Am Anfang steht die Gewalt einer Bild-Idee, eines utopischen Vorstellungskomplexes, ein geistiger Durchbruch, eine Eroberung, die Jahrhunderte fasziniert. Zugleich aber wird deutlich, wie vieldeutig wandelbar und wie interpretierbar und verfälschbar ein derartiger dichterischer Mythus ist und wie er oft gerade von dem zu leben scheint, was er nicht ausdrückt. Gerade die unklare, universale Heilsvorstellung, das bloße Wort «Gral», entwickelt einen Sog, in welchem disparateste Motive und widerspruchsvollste Deutungen sich zusammenfinden. Klitterungen und Synkretismen aller Art, leere Phantastik und bodenlose Utopien werden möglich. Wenn die Utopie nach Ernst Bloch ein «Traum nach vorwärts» sein soll, so verfolgen wir, wie dieser konstruktive Traum unversehens in Romantik oder gar Barbarei umschlagen kann.

In der Tradition der Gralsmotivik ist dies besonders ausgeprägt, weil es um die letzten Dinge geht. Dichterische Mythenbildung wuchert hier über die Inhalte des biblischen und kirchlichen Glaubens hinweg. Die mittelalterlichen Gralsromane sind der kühnste Versuch, die christliche Glaubens- und Erlösungslehre mit den Mitteln romanhafter Erfindung zu paraphrasieren oder eben: zu erweitern. In diesem Sinne sind sie ja auch nur die kühnste Spitze der neuen Gattung des Romans, wie sie im ritterlichen Aufbruch des 12. Jahrhunderts erfunden wurde. Der Roman ist, an sich selbst, eine bezeichnende dichterische Form des christlichen europäischen Geistes. Sein Aufbruch zur Suche, zum Abenteuer, zu einem individuellen oder allgemeinen Ziel der Vollendung oder doch der Einsicht setzt die christliche Überzeugung voraus, daß der Mensch nicht ist, was er sein könnte, daß er sich unterwegs befindet, daß er erlösungsbedürftig ist, daß er geschichtlich auf ein Ende hin existiert. Der hochmittelalterliche Roman, wie ihn vor allem Chrétien mit Hilfe fremder, märchenhafter Stoffe geschaffen hat, ist denn auch weiterhin nichts anderes als ein Stück «Bewußtseinserweiterung», der Versuch, christliche Strukturen im neuen, weltlichen Milieu der

ritterlichen Gesellschaft analogisch zu verwirklichen. Glaubenswahrheiten werden in der neuen, erregenden Symbolik bretonischer Märchenmotivik verfremdet und aktualisiert. Chrétien ist nun aber noch weiter gegangen, indem er aus seinem Artusrittertum noch einen engeren und höheren Kreis, die Gralsritter, heraushob. Mit der Erfindung des Grals schuf er ein eigenes ritterliches Mysterium, das märchenhaftes Geheimwissen und christlichen Glauben eng zusammenband. Der Roman mußte damit selber den Anspruch erheben, Mysterienoffenbarung zu sein, und der Zustrom religiöser Symbolik und Geheimniskrämerei wurde überwältigend. Der Roman wird zum artifiziellen Mythus — ein Vorgang und ein Problem, die in der Neuzeit eben gerade für Thomas Mann besonders wichtig waren.

Es ist vielleicht der höchste, aber auch gefährlichste Ehrgeiz des Dichters, daß sein Werk zum Mythus werde oder aus vollem Bewußtsein den Mythus erneuere, sei es in pathetischer oder ironischer Form. So verschieden ist das Problem zwischen der Zeit um 1200 und der um 1900 nicht, wie man meinen sollte — auch wenn natürlich die mittelalterlichen Erzähler selbstverständlicher und sicherer imaginierten, als es im Bannkreis von Wagner, Thomas Mann und C.G. Jung der Fall sein konnte. Im Mittelalter freilich wird davon unmittelbar die Substanz des kirchlichen Glaubens bedroht.

Was Chrétien, wahrscheinlich wider Willen und in spielerischer Heiterkeit, eingeleitet hat, trägt alle Züge dessen, was man in der Spätantike Gnosis und Gnostizismus nennt: eine Elite von Eingeweihten verfügt über Mysterien, in denen sich Bibelglaube und mannigfache mythologische Traditionen zu einem eigenen Erkenntnisweg verschmelzen. Die Scheidung in Wissende und Nichtwissende, Reine und Sünder liegt nahe, ja ein streng dualistisches Weltbild mit dem Ausweg in asketische Mystik ist meistens die Folge. Davon zeugen die Prosa-Romane vom Gral.

Wolfram von Eschenbach hat hier eine einzigartige Stellung. In seiner Freude an gnostischen Geheimnissen geht er weit über Chrétien hinaus, und doch ist er im letzten unverführbar dank einer völlig spontanen Frömmigkeit. Wir tun gut daran, uns zum

Schluß Wolframs zu erinnern. Denn sein Parzival, das reichste und größte Erzählwerk des deutschen Mittelalters, bleibt unerreicht in der Nachgeschichte der Gralsdichtungen bis heute. Wolfram vermag es, die Kühnheit seiner erzählerischen Eroberungen unter das Zeichen demütiger Selbsterkenntnis zu stellen — bei seinem Helden wie bei sich selbst. Er scheut sich nicht, den Gedanken höfischer Liebe und ihrer pädagogischen Funktion aus dem Artusroman herüberzunehmen und zu verwandeln. Er setzt in der Ehe Parzivals mit Condwiramurs ein Sehnsuchtsziel an, das sich unlöslich mit dem des Grals verbindet. Sein erzählerischer Humor ist auf das Ganze menschlicher Lebensäußerungen bedacht, indem er immer wieder die phantastische Erfindung oder die Versuchung zum Mystischen unterbricht. Er weiß um die Vorläufigkeit seiner dichterischen Bilder und ist bereit, sie immer wieder zurückzunehmen. Der Gral ist überzeugend, weil auch die übrige Wirklichkeit real ist; Wolfram kann die Suche nach dem Gral als Suche durchhalten und weiß Wirklichkeit und Traum zu scheiden. Parzival erhebt sich gegen Gott und wird doch nicht, vielleicht gerade darum nicht, verworfen. Was den Gral verbürgt, das ist nicht ein Geheimwissen, sondern das göttliche Erbarmen, und von seiten des Menschen nichts anderes als Unverzagtheit, Demut und Treue.

Die vorstehende Rede ist u. a. folgenden Darstellungen verpflichtet: Arthurian Literature in the Middle Ages. A Collaborative History edited by R.S. Loomis. Oxford 1959. — Erich Köhler, Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik. Tübingen 1956. — K.O. Brogsitter, Artusepik. Realienbücher fur Germanisten M 38. Stuttgart 1965. —Wolfgang Golther, Parzival und der Gral in der Dichtung des Mittelalters und der Neuzeit. Stuttgart 1925. —Jost Hermand, Gralsmotive um die Jahrhundertwende. Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 36 (1962), S. 521-543. —Joachim Bumke, Die Wolfram von Eschenbach Forschung seit 1945. Bericht und Bibliographie. München 1970. —Kurt Ruh, Joachitische Spiritualität im Werke Roberts von Boron. In: Typologia litterarum. Zürich 1969, S.167-196. —Derselbe, Der Gralsheld in der «Queste del Saint Graal». In: Wolfram-Studien, herausgegeben von Werner Schröder. Berlin 1970, S. 240-263.